Lügenglück - Clara Journot - E-Book

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Clara Journot

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Beschreibung

Als Ida und Sofie an einem trüben Herbstnachmittag bei Kaffee und knusprigen Keksen in Sofies Küche zusammensitzen, ahnen sie nicht, dass ihnen bald der erste Tote begegnen wird, der keines natürlichen Todes gestorben ist. Wer hätte auch gedacht, dass der nur spärlich besuchte Krimi-Lesekreis im beschaulichen Städtchen Lindenburg mehr bieten würde, als sich nur über Krimis und ihre Autoren auszutauschen. Bald ermitteln die beiden Freundinnen selbst und lösen ihre erste knifflige Kriminalgeschichte.

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MOBI

Seitenzahl: 308

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Die Idee zu diesem Kriminalroman entstand aus einem

Schreibprojekt der Schreibgruppe, die ich leite.

Vielen herzlichen Dank an die Co-Autorin Petra Lallinger,

die die Figur der Sofie erschaffen und gestaltet und sie in

unvorhergesehene Abenteuer geschickt hat.

Personen der Handlung

Hauptpersonen:

Sofie Bergmann

liest gerne Kriminalromane,

vor allem seit ihr Mann Gustav

vor drei Jahren gestorben ist

Ida Wirtz

recherchiert gerne und löst

ungeklärte Kriminalfälle,

passionierte Privatermittlerin

Vertreter der Ermittlungsbehörden:

Klaus Gastner

Kriminalhauptkommissar

Hans-Peter Walkraft

Pathologe

Familie Klein:

Emma Klein

Leiterin des Krimi-Lesekreises

Johann Klein

Ehemann von Emma Klein

Marius

gemeinsamer Sohn von Emma und Johann Klein

Oliver

Sohn von Emma Klein aus erster Ehe

Eduard Stoneheart

Ex-Ehemann von Emma Klein

Teilnehmerinnen des Krimi-Lesekreises:

Angelika Brettschneider

Immer schick gekleidet

Stefanie Fabius

Studentin

Maria Steinhardt

literarisch gebildet

Nebenfiguren:

Herr Brommer

Hausmeister an einer Schule

Frau Freitag

Eine Nachbarin

Herr Feinstein

Ein Nachbar

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Epilog

PROLOG

»Warum sind es immer Schriftsteller?« Ida knabberte nachdenklich an ihrem Keks. Nie aß sie – einen noch so kleinen Keks – auf einmal. Das führte unweigerlich zu Krümeln. »Oder Journalisten«, ergänzte sie. Ihr Ton war schärfer geworden. Sie saß aufrecht am Küchentisch.

»Es sind ja auch Kommissare und …«, begann Sofie.

»Ja, ja«, sagte Ida gedehnt, »ich meine natürlich, wenn es keine Detektive und Kommissare sind, sind es Schriftsteller – immer.« Sie wurde energischer, so wie Sofie sie kannte, ungeduldig und resolut.

»Und ich denke auch nicht nur an Krimis. Es sind Leute in einer Krise, Schaffenskrise, Lebenskrise, Sinn-krise oder ähnliches. Und sie sind unbeteiligt. Ganz einfach so geraten sie in ein Abenteuer. Sie wollen es noch nicht einmal.«

Ida hatte Recht. Wie so oft. Es waren häufig Schriftsteller, von denen in Romanen die Rede war. In jedem künstlerischen Metier beschäftigen sich die Künstler mit sich selbst, begutachten sich, als ob niemand von außen dazu in der Lage wäre. Es falsch machen würde. Die Preise werden intern vergeben. Ob in der schreibenden, malenden oder musikalischen Zunft.

Am Ende eines trüben Herbsttages hatte Sofie dann auch eine Antwort. »Es würde einfach nichts passieren, wenn du jemanden in den Mittelpunkt stellen würdest, der einen normalen Job hat. Es würde auch kaum gehen, er muss zur Arbeit, kommt müde nach Hause. Was soll er noch unternehmen oder erleben?«

»Ach, komm hör auf, als ob alles so realistisch sein müsste.« Ida war gereizt. »Jedem kann alles Mögliche passieren, in jedem Job«, belehrte sie Sofie.

»Schriftsteller haben Freiraum, zeitlich gesehen. Sie laufen durch die Stadt, können tagsüber Leute treffen, haben keine festen Termine. Sie können vieles als Recherche tarnen, wenn sie Leute befragen. Entweder sind sie bekannt und können in gewisse Kreise gelangen oder sie sind unbekannt, dann kämpfen sie noch ums Überleben. Das macht es spannend. Sie brauchen die Story, in die sie hineingeraten sind, weil sie eben eine Story ist, die sie sich nicht ausdenken konnten. Deshalb sind Schriftsteller ideale Hauptpersonen. Außer Detektive natürlich. Für Krimis gesehen.«

Ida sah sie interessiert an. »Du hast Recht. Dazu das romantische Bild von einem Schriftsteller. Ein Buch und ein Erfolg. Oder der arme, junge Mann, der erst durch eine gute Story zum Erfolg kommt, sich vorher durchschlagen musste.«

Ida nahm einen letzten Schluck Kaffee, der bestimmt schon kalt geworden war.

Sofie sah die vielen Krümel auf dem Tisch und fühlte sich wie eine Taube, die sie nachher aufpicken würde. An diesem Tag war es die Diskussion über Hauptpersonen, Protagonisten literarisch ausgedrückt, am letzten Freitag war es der Schauplatz der Geschichte gewesen. Und alle 14 Tage dienstags war es im Lesekreis immer die Frage, wie fesselnd ein Kriminalroman war. Dieser Lesekreis befasste sich mit Krimis. Aber Sofie kannte noch einen anderen Kreis, den für Liebesromane, einmal im Monat samstags. Für ernsthafte, zeitgenössische Literatur gab es keinen. Literatur fanden sie hier nur in der örtlichen Bücherei und nur weil eine Bücherei zu einer Gemeinde gehörte.

Idas Philosophie von schien oft einfach, aber dabei immer voller Energie und Logik. Ida war geschult im logischen Denken. Sie war Administratorin in der EDV-Abteilung einer Großbank gewesen.

Dass Ida so schlau war und so folgerichtig dachte, machte die Teilnehmerinnen des Krimi-Lesekreises oft wahnsinnig. In jedem zweiten Krimi strotzte es nur so vor Logikfehlern. Sie hatten im Laufe der Zeit eine Übereinkunft getroffen, dass Ida ihre Bedenken erst äußern durfte, wenn andere Themenbereiche besprochen waren. Ida hatte lange Diskussionen mit der Lesekreisleiterin geführt. Obwohl Sofie die letzte, die nur zwischen Ida und Frau Klein stattgefunden hatte, nicht miterlebt hatte, schien es ihr so, als ob Ida nur knapp einem Rauswurf entgangen war.

Sie trafen sich freitags zum Kaffeetrinken, bei Sofie, bei Ida oder im Café. So wurde ihr Geist auch durch die wechselnde Umgebung, das Ambiente, angeregt. Das Café war aber eher ein Vorwand, um auch über andere Menschen sprechen zu können, wirkliche Menschen, nicht Romanfiguren. Außer im Lesekreis hatten sie nämlich keine gemeinsamen Bekannten. Zum einen lag es daran, dass Sofie mit ihrem Mann sehr zurückgezogen gelebt hatte und zum anderen, daran, dass Ida zu ungeduldig mit anderen Menschen war. Ida war über zehn Jahre jünger als Sofie, aber ab einem gewissen Alter verschwimmen Unterschiede.

Kennengelernt hatten sie sich beim Bestatter. Sofie hatte ihren Mann verloren und war verzweifelt, Ida hatte dort irgendwelche Recherchen betrieben. Richtig erzählt hatte sie es ihr nie. Sofie wäre ihr sicherlich auch nicht aufgefallen, hätte sie damals nicht zufälligerweise ein Buch in der Hand gehabt. Es war der Roman Lila, Lila von Martin Suter, dessen Protagonist ein Schriftsteller war oder gerne gewesen wäre. Sie war noch nicht bis zu der Stelle vorgedrungen, an der jemand stirbt, sonst hätte sie es nicht gelesen. Aber damals lenkte es sie im Bus ab, weil es irgendwann peinlich geworden wäre zu weinen. Obwohl sie sich nie geschämt hat dafür.

So war es gewesen, vor drei Jahren, ein Buch hatte sie zusammengebracht und viele Bücher waren als Bindeglied inzwischen hinzugekommen.

1

Den Ort, den Handlungsschauplatz, den hatten sie schon diskutiert und nicht nur einmal. Sofie hatte den Schauplatz in den Büchern, die sie las, immer nur als Beiwerk gesehen. Etwas, das die Autoren zwangsläufig in die Geschichte einflochten, weil es eben passte.

Und jetzt saß sie hier und die zwei Männer vorne auf dem Podium diskutierten über den Handlungsschauplatz. Wie wichtig es wäre, dass die Straße genau so beschrieben war, wie sie wirklich aussah. Der Autor erzählte, dass er Leserzuschriften von Anwohnern bekam, wenn etwas nicht stimmte. Sie nahm sich vor, einen seiner Krimis zu lesen.

Die Buchhandlung in der Stadt veranstaltete öfter Lesungen regionaler Autoren. Vor der Lesung gab es ein kleines Interview über den Werdegang des Autors. Aber es war nicht der Autor, ein großer, gewichtiger Mann mit dröhnender Stimme, der ihr aufgefallen war. Der Mann neben ihm, schlank und drahtig mit verschmitztem Lächeln, war es gewesen. Er hatte eine intensive Ausstrahlung. Er war der Moderator, der dem Publikum den Autor vorgestellt hatte. Er war selbstsicher durch den Laden zum Podium gegangen. Sofie hatte diesen Lesesaal noch nie betreten, obwohl sie schon öfter die Buchhandlung besucht hatte, wenn sie gerade in der Stadt Besorgungen machen musste. So wie heute.

Der Mann hatte sie an Gustav erinnert und sie war ihm in die Buchhandlung gefolgt und hatte eine Karte gekauft und nun saß sie hier und lauschte der Lesung eines Autors, den sie nicht kannte und dessen Geschichte ihr nichts bedeutete.

Der Moderator stellte danach seine Fragen wohlwollend, aber gezielt, es wirkte nicht abgesprochen. Er hatte graumeliertes Haar und war leger gekleidet. Er hätte von einer längeren Fahrradtour durch Europa wiedergekommen sein können. Vor Jahren hatten Gustav und sie viele solcher Diavorträge besucht. Sie hatten geträumt und gestaunt. Aber sie hatten nie eine so lange Reise gemacht.

In der folgenden Diskussion mit dem Publikum rief ein Interessierter hinter ihr, es sei doch Fiktion. Er meinte wohl, dass man den Ort nicht so genau nehmen müsse, es gäbe ja die dichterische Freiheit. Sofie stimmte innerlich zu, genau das war es, was sie eben nicht in Worte hatte ausdrücken können.

Das Bedeutende eines Schauplatzes war in ihren Augen nie, dass alles auch so aussah wie in der wirklichen Welt, sondern, ob und inwieweit es zu der Geschichte passte. Inwieweit der Ort das Innenleben der Figuren ausdrückte oder die Figuren von ihm beeinflusst waren. Die Äußerungen des Autors waren ihrer Meinung nach nur oberflächlich und allgemein. Aber dann sagte er den Satz: »Schreiben Sie doch darüber.«

Eine grauhaarige Frau in der vorderen Reihe hob die Hand. Sie hatte eine Frage, die sich als Kommentar entpuppte. In der Stadt hätte sich in den letzten Jahren so viel verändert und es wäre doch interessant, dies in einem Krimi zu lesen. Sie war hinzugezogen und las die Krimis des Autors, um mehr über die Stadt zu erfahren. Die Veränderungen, das wäre eine interessante Facette, gab der Autor zu bedenken. »Aber schreiben Sie doch darüber.«

Zu Hause setzte Sofie sich an den Küchentisch und griff zu ihrem kleinen Einkaufsblock. Die Worte flossen aus ihrem Stift auf das Papier:

Dieser Mann hatte eine intensive Ausstrahlung. Er hatte sie beeindruckt, keine Frage. Er war ein Mann, den man für lange Zeit nicht vergessen würde. Er war ein Mann, an den man sich erinnerte und der einen an jemanden erinnern konnte. Er erinnerte sie an ihren Mann, an ihre große Liebe, an ihren Verlust, an ihr früheres Leben und sie sah dabei ihr jetziges Leben. Es war eigenartig, weil sie sich doch tagtäglich an ihn erinnerte und daran, dass er nicht mehr da war. Sie hatte sich nicht daran gewöhnt alleine zu sein. Sie stellte zwar keine zwei Teller mehr auf den Tisch und im Badezimmer hing nur noch ihr Handtuch, aber das sind nur Äußerlichkeiten. Woran merkt man, dass man vergessen hat?

Sie legte den Stift beiseite, sah ihre geschriebenen Worte. Ihre geschwungene Schrift von früher war einem zittrigen Aneinanderreihen von Buchstaben gewichen.

Sie schluckte, ihre Kehle war trocken. Ihre Hand hielt noch immer den stumpfen Bleistift. Sie hatte nicht nur gelesen in ihrem Leben. Sie hatte auch geschrieben, aber niemand hatte es gelesen.

Am Freitag war Ida bei Sofie, um ihr den neuen Krimi von Anne Gold zu zeigen, den sie aus Basel vom Literaturfestival mitgebracht hatte. Sie schaute nur kurz auf den Titel und legte das Taschenbuch dann achtlos auf den Küchentisch, neben einen kleinen Einkaufsblock, dessen oberstes Blatt vollständig mit einer schnörkeligen Handschrift bedeckt war. Bisher hatte Sofie nie die Finger von einem neuen Krimi lassen können, hatte immer sofort begeistert darin geblättert, hätte am liebsten mit Ida den Handlungsaufbau oder den Spannungsbogen besprechen wollen. Doch dieses Buch schien sie nicht zu interessieren. Sie grummelte nur, dass sie keinen Krimi zu lesen bräuchte, um mehr über eine Stadt zu erfahren.

Als sie den Kaffee zubereitete, schnappte Ida sich in einem unbeobachteten Augenblick den kleinen Einkaufsblock. Sie hatte die Schrift von ihrem Platz aus nicht lesen können, da der Text mit einem weichen stumpfen Bleistift hin gekritzelt worden war. Sofie hatte also angefangen zu schreiben. Ida hatte sich schon lange gefragt, wann für sie der Zeitpunkt kommen würde, selbst zu schreiben anstatt immer nur darüber zu reden.

Ida las, was auf dem Blatt stand. Verlust und Trauer über ein verlorenes, früheres Leben. Dass sie sich daran gewöhnt hätte, alleine zu leben. Woran merkt man, dass man vergessen hat? Nach Idas Meinung müsste Sofie erst einmal anfangen zu trauern, bevor sie mit dem Vergessen begann. Aber vielleicht irrte sie sich auch. Vielleicht waren diese eilig auf das erstbeste greifbare Papier niedergeworfenen Zeilen ein Zeichen dafür, dass sie allmählich in eine andere Trauerphase überging? Dass sich diese Bedrücktheit und Niedergeschlagenheit, die sie umgab, auflösen würde?

Sofie war immer noch wortkarg, fast griesgrämig, als sie sich Ida gegenüber an den Tisch setzte. Als sie bemerkte, dass diese den Block in der Hand hielt, weiteten sich ihre Augen vor Schreck. Dann stieg eine flammende Röte ihren Hals hinauf.

»Schreiben Sie doch darüber, hat er gesagt. Der Krimiautor, auf dessen Lesung ich war. Und dann sind die Wörter einfach so aus mir herausgeflossen.«

Sie schlug die Augen nieder und griff nach der Tasse, die vor ihr stand, nicht um sich daran zu wärmen, sondern so, als suche sie Halt.

Ida rührte in ihrem Kaffee, der Löffel zog gleichmäßige Kreise, schlug dabei an die Innenseiten des Porzellans und erzeugte einen monotonen hellen Klang. Dann legte sie den Löffel beiseite, griff nach einem dieser köstlichen krümeligen Kekse, die Sofie immer bereitstellte, und biss genüsslich hinein.

Sofie trank vorsichtig einen kleinen Schluck des heißen Getränks und schaute sie über den Rand ihrer Tasse fragend, fast ängstlich an.

Ida ließ sie noch eine Weile zappeln und kaute erst einmal zu Ende. Dann nahm sie einen Schluck Kaffee. Nachdem sie die Tasse wieder hingestellt hatte, beugte sie sich vor. Sie konnte ihr Lächeln nicht mehr unterdrücken. Auf diesen Augenblick hatte sie lange gewartet. »Lass uns gemeinsam etwas schreiben!«

Nachdem Ida gegangen war, räumte Sofie mechanisch das Kaffeegeschirr vom Tisch. Als das Wasser ins Spülbecken lief, hielten ihre Gedanken an. Sie war aus Gewohnheit sehr vorsichtig mit ihrem Porzellan und deshalb hatte sie sich auch angewöhnt, diese Handlungen, Abspülen und Abtrocknen, bewusst zu tun ohne andere Gedanken. Es war eine eigentümliche Art der Meditation.

Erst im Wohnzimmer, als sie sich in den Sessel gesetzt hatte, liefen sie weiter. Was hatte Ida gemeint? Zusammen schreiben. Früher hatte Sofie geschrieben, sie hat es niemandem erzählt, außer Gustav natürlich, aber es war mehr ein Zeitvertreib gewesen. Wie viele junge Mädchen schrieb sie Tagebuch, weil sie sich in der Welt unverstanden fühlten. Später wurden aus ihren Aufzeichnungen über das alltägliche Leben kleine Essays ungeordneter Gedanken über das Leben an sich, über verschiedene Aspekte des Lebens, wie die Menschen werden, die sie sind.

Ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Wohnzimmertisch. Sie hätte noch einiges zu lesen gehabt, aber sie musste an Frau Klein denken, die Lesekreisleiterin. Sie ging ganz in den Krimis auf, redete über Figuren und Motive und Hinweise und spielte am liebsten selbst Detektiv, dabei hatte sie ein so sicheres Leben mit ihrem Mann und den erwachsenen Söhnen, wie man es sich nur vorstellen konnte. Viele Menschen haben sichere Leben und man denkt nie darüber nach, bis man herausgerissen wird.

Am Sonntag nach dem Treffen mit Ida hatte Sofie sie im Park gesehen. Frau Klein ging mit ihrem Mann Arm in Arm, wie es nur noch ältere Ehepaare tun. Sie grüßte Sofie und sie grüßte höflich zurück und schritt schnell vorbei. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie ein kurzes Zögern in ihrem Schritt, aber vom Arm ihres Mannes wurde sie sanft wieder in das gleichmäßige Voranschreiten geführt. Sie dachte an Gustav. Hatte er sie auch so durch ihr Leben geleitet? Sie waren gleichberechtigte Partner gewesen, so hatte sie es immer gesehen. Die Momentaufnahme sagte nichts aus, schalt sie sich sofort selber. Sie sollte keine unnützen Mutmaßungen anstellen.

»Lass uns zusammen schreiben«, hatte Ida gesagt, aber sie hatte nicht gesagt, worüber. Als Anfang wäre Frau Klein doch ideal. In Sofies Kopf tauchten Gedanken auf, rauschten Ideen, ein Krimi. Frau Klein taugte nur für einen Krimi, sollte sie die Leiche sein?

Seufzend erhob sie sich aus dem Sessel und schlug den Krimi zu, den sie kaum angesehen hatte, machte sich einen Kaffee und setzte sich an den Küchentisch mit dem Briefblock, der jahrelang in der Schublade gelegen hatte, eine Nummer größer als der kleine Einkaufsblock, und schrieb.

Frau Klein als Leiche, wer sollte sie ermordet haben und vor allem warum? Das Motiv musste zuerst klar sein. Eigentlich war sie nicht gut im Konstruieren. Einfach schreiben, sagte sie sich. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie nicht wissen, dass ihr tatsächlich schon sehr bald der erste Tote in ihrem Leben begegnen würde, der nicht eines natürlichen Todes gestorben war.

2

Wer wir sind, was wir waren, schwangen die Worte des Liedermachers Klaus Hoffmann in Idas Ohren, begleitet von den leichten Moll-Akkorden seiner akustischen Gitarre. Noch als sie am Sonntagabend in der S-Bahn saß, auf dem Weg nach Hause, klang das Konzert in ihr nach, fühlte sie sich eins mit dem Barden, dessen Chanson-Stimme sie fast ihr ganzes Leben begleitet hatte. Lieder von Sehnsucht und dem Drang, aus der kleinbürgerlichen Enge auszubrechen, der Mittelmäßigkeit zu entkommen.

Wie die Menschen werden, die sie sind, diese Frage hatte sie schon ein Leben lang beschäftigt und Klaus Hoffmann gab die Antwort darauf. Um zu werden, wer ich bin, lautete das simple und doch so tröstende Fazit.

Ich war schon immer Ich, stand für Ida fest. Von Anfang an. Und alle Versuche aus dem herkömmlichen konventionellen Lebenskonzept auszubrechen, waren Ausdruck ihrer hilflosen Suche nach ihrer wahren Identität. Es zog sich wie ein roter Faden durch ihr Erwachsenwerden. Als kleines Mädchen wollte sie, dass alle erkennen, wie klug sie war, dann, auf der Schwelle zum Jugendalter, dass sie kein Kind mehr war, später, dass sie eine erwachsene, überaus intelligente Frau war, die sich keinem Mann unterordnete. Und die deshalb auch immer alleine lebte.

Fast immer. Denn hin und wieder fand sich ein Mann, der sich auf ihre direkte und ungeschminkte Art einlassen konnte. Ihre Liebschaften waren jedes Mal nur von kurzer Dauer. Sie verliebte sich sofort und intensiv und litt heftig, wenn der Mann bald darauf nichts mehr von ihr wissen wollte, weil sie sich so schnell auf ein sexuelles Abenteuer eingelassen hatte, ohne dass er große Anstrengungen hatte unternehmen müssen, sie zu erobern. Immer war sie willig, dabei dominant, nicht verschämt. Eigentlich war sie diejenige, die verführte. Dabei ging sie bestimmt und zielstrebig vor, ohne die Ziererei und scheinbare Schamhaftigkeit, die andere Frauen anwendeten.

Keiner blieb für ewig.

Wer wir sind, was wir waren.

Ida wäre so gerne Staatsanwältin geworden. Die äußere Erscheinung hätte sie mitgebracht, um die nötige Dominanz und Autorität, Entscheidungsfreudigkeit und Willensstärke auszustrahlen. Kräftiger Körperbau, groß gewachsen, kastanienbraune Haare, einen breiten Mund, tiefe Stimme.

Aber sie war in die falsche Familie hinein geboren worden. Ihr Vater war ein kleiner Beamter und ihre Mutter als Teilzeitkraft in der städtischen Bibliothek tätig gewesen, das Geld reichte nicht für eine langwierige Ausbildung. Also ging Ida zu einer Großbank in die IT-Abteilung und setzte dort ihre Fähigkeit zum logischen Denken ein.

Aber Kriminalgeschichten verfolgte sie weiterhin mit großem Interesse. Fast zwanghaft las sie Bücher und Berichte über ungeklärte Kriminalfälle und versuchte sie zu lösen. Sie spielte Kriminalfilme nach und wollte herauszufinden, welche Fehler die Täter, aber auch die Ermittler gemacht hatten. Sie wollte das perfekte Verbrechen aufdecken. Es war ein Denksport.

Bis sie begann, selbst Krimis zu schreiben. Bissige kurze Geschichten über alltägliche Grausamkeiten und die dunklen Schattenseiten gewöhnlicher Menschen. Bisher hatte sie sich noch nicht daran getraut, einen Roman zu schreiben. Nun aber hatte sie Sofie gefunden. Eine Gleichgesinnte. Sie hatte sich so ausführlich und gründlich mit Krimis und mit dem Schreiben beschäftigt, dass sie wirklich Ahnung hatte. Nur musste sie es endlich umsetzen.

Deshalb konnte Ida es am folgenden Dienstag kaum erwarten, Sofie vor dem Raum des Krimi-Lesekreises zu treffen. Sie wollte ihr erzählen, wieso sie keine Lust mehr hatte, nur noch Krimis zu lesen und darüber zu sprechen. Sie wollte schreiben. Zusammen mit Sofie schreiben.

Doch als sie am Gruppenraum ankam, war alles anders. Frau Klein war immer vor ihnen da gewesen. So war es auch an diesem Dienstag. Nur, dass sie diesmal nicht mehr lebte. Frau Klein war tot.

Der Gruppenraum befand sich ebenerdig in einem Pavillon auf dem Schulgelände des hiesigen Gymnasiums, einer Nebenstelle der Volkshochschule. Als Ida eintraf, wartete Sofie schon auf sie und die Tür war verschlossen, und das, obwohl sie beide für ihre Verhältnisse spät dran waren. Aber unter der Türritze schimmerte Licht hindurch. Und als Ida von außen um das Haus herumgegangen war und durch das Fenster in den Seminarraum schaute, sah sie Frau Klein am Pult sitzen, die Unterarme auf der Tischunterlage abgelegt, die Hände gefaltet. Ihr Kopf lag in der Kuhle, sie hatte das Gesicht zur Seite gedreht. Ihre Unterarme bildeten eine Höhle, einen geschützten Raum. Ihre halblangen, dunklen Haare mit den grauen Strähnen waren ihr über das Gesicht gefallen, so dass sie es nicht erkennen konnte. Es sah aus, als ruhte sie sich einen Augenblick lang aus. Als sei sie eingenickt, eingeschlafen für einen kurzen Sekundenschlaf.

Ida lief zur Eingangsseite zurück, wo Sofie auf sie wartete.

»Wir müssen den Hausmeister holen.«

»Stimmt etwas nicht?«

»Frau Klein. Ich weiß nicht, was mit ihr ist. Sie sitzt im Gruppenraum und rührt sich nicht.«

Sofie begann, wie wild gegen die Tür zu hämmern. »Frau Klein!«, brüllte sie. »Frau Klein, machen Sie die Tür auf!« Allmählich wurde sie hysterisch.

»Was ist denn hier los?« Der Hausmeister war aus dem Nachbarpavillon aufgetaucht. Sofie hatte ihn mit ihrem Geschrei herbeigerufen.

Ida erklärte ihm die Situation und er suchte hektisch an einem klimpernden Bund nach dem passenden Schlüssel für den Gruppenraum.

Die Luft in dem Raum roch abgestanden und schal und säuerlich nach Schweiß. Die Heizung war voll aufgedreht. Es war zu heiß. Das war ungewöhnlich, denn üblicherweise öffnete die Kursleiterin immer das Fenster zum Lüften, damit das Gehirn Frischluft bekommt.

Frau Klein reagierte nicht auf Ansprache. Sofies Gesicht war weiß geworden. »Das kann doch nicht sein!«, stammelte sie immer wieder.

Sie schnappte nach Luft und wollte einem Instinkt folgend die Fenster aufreißen. Aber Ida hielt sie davon ab. Alles sollte so bleiben wie es war.

Der Hausmeister war unsicher. »Soll ich die Polizei rufen? Oder besser den Krankenwagen? Vielleicht schläft sie nur. Oder ob sie einen Schlaganfall hatte?«

Ida hob vorsichtig eine Strähne von ihrem Gesicht. Ihre Augen waren geöffnet und starrten blicklos ins Leere. Es sah aus, als hätte sich ein Film über ihre Pupillen gelegt.

»Wir müssen die Polizei rufen«, sagte Ida. »Frau Klein lebt nicht mehr.«

3

Frau Klein war tot. Der Hausmeister hatte die Polizei gerufen. Ida machte einen gefassten Eindruck, während die anderen, die inzwischen eingetroffen waren, verwirrt und betroffen aussahen. Geschockt fassten sie sich an den Hals, die Augen aufgerissen, wie Frau Brettschneider, oder saßen zusammengesunken auf den an der Wand stehenden Stühlen, möglichst weit weg vom Pult, und schüttelten nur langsam den Kopf wie Frau Fabius und die alte Frau Steinhardt.

Es war still geworden, nach den vielen Oh Gott, Meine Güte und Wie schrecklich. Sie dachten an einen Herzinfarkt oder an einen Schlaganfall. Ein Sekundentod. Ach wie schön, wenn er nicht zu früh käme und ach wie grausam für die Angehörigen.

Im Zimmer war es heiß, kein Fenster war gekippt, aber es sollte alles so gelassen werden, wie es war, wie Ida und Sofie es vorgefunden hatten.

Die Rettungssanitäter trafen gleichzeitig mit den uniformierten Polizisten ein. Sie konnten nur noch den Kopf schütteln. Der junge blonde Polizist mit dem Grübchen am Kinn sah Sofie direkt an, der einzelne Stern auf seiner Schulter hob sich hell von der Jacke ab. Er fragte, ob sie alle zur VHS gehörten.

Der zweite Polizist, kleiner und stämmiger, schaute ziemlich verdutzt in die Runde. Er dachte sicherlich, warum die Frauen nur alle hierblieben. Aber hier waren die Stühle, nicht draußen, im Dunkeln.

Ida fragte den Sanitäter, woran Frau Klein gestorben sei, aber der zuckte nur mit den Schultern.

»Das klärt die Autopsie«, tönte eine dunkle Männerstimme. Ein Mann mittleren Alters mit grauem Haar und kurzen grauen Bartstoppeln betrat den Raum und riss die Aufmerksamkeit an sich. Er stellte sich den beiden Polizisten als Kommissar Gastner von der Kripo vor, aber seine Stimme war laut genug, dass Ida und Sofie es ebenfalls hören konnten. Dann nahm er die Polizeikollegen beiseite und kurz darauf ertönte ein kurzes Lachen.

»Ein Krimi-Lesekreis, na, das passt ja wie die Faust aufs Auge.« Sie sollten es hören. Ida runzelte missmutig die Stirn.

Sofie zuckte zusammen, sie überkam der dringende Wunsch mit Ida allein zu sein, mit ihr zu reden und ihr von den drei Seiten auf ihrem Briefblock zu berichten. Nervös blickte sie wieder zu dem Stuhl, auf dem Frau Klein gesessen hatte und auf den Boden darunter. Kein Blut. Sie atmete tief ein. Es war zu heiß, ihr wurde schwindelig. Gedanken wirbelten in ihrem Kopf umher, es gab kein Blut, kein Messer. Sie schluckte, die Luft war zu trocken, staubig. Frau Klein hatte einen Herzinfarkt. Bestimmt. Schicksal.

»Ida, glaubst du …«, aber der Kommissar unterbrach sie. Er sprach zu ihnen allen, sie sollten die Personalien angeben.

»Zunächst einmal handelt es sich nur um einen ungeklärten Todesfall«, sagte er mit ironischem Unterton.

Sofie folgte Idas Blick, die beobachtete, wie Frau Brettschneider sich von einem zweiten Sanitäter ein Beruhigungsmittel geben ließ. Frau Brettschneider, relativ jung noch, immer schick gekleidet, immer zu viel geschminkt. Im Lesekreis gab es zurzeit keinen männlichen Teilnehmer, das war in ihren Augen wohl ein Manko, aber kein Grund sich nicht zu stylen.

Der Kommissar hielt in der Mitte des Raumes seine kleine Ansprache. Er fragte nach den genauen Umständen des Auffindens. Auf Sofie wirkte seine Handlung nicht sehr durchdacht. Sollte die Polizei nicht zuerst mit Jedem einzeln sprechen und die Ergebnisse sammeln? Den Hausmeister hatte sie vorhin schon mit einem der Polizisten reden gesehen.

»Hat jemand die Frau berührt oder in ihre Tasche gesehen?«

Sofie sah zu Ida und sie zu ihr. Frau Kleins Tasche stand neben dem Pult und war geöffnet.

»Warum sollten wir?«

»Vielleicht brauchte sie bestimmte Medikamente?« Der Kommissar sprach wie mit Kindern. »Hatte sie Beschwerden? Wissen Sie von bestimmten Krankheiten?«

Sie schwiegen. Anscheinend bestand seine Ermittlungsarbeit darin, ins Blaue hinein zu fragen.

»Frau … äh, ihre Dozentin …«

»Frau Klein«, sagte Ida bestimmt und bekam einen sehr ernsten Blick von Kommissar Gastner. Immerhin war er jetzt zum Profi geworden, denn er fuhr ungerührt fort.

»Ja, genau. Frau Klein kommt also immer als Erste und erwartet Sie, richtig?«

»Das stimmt«, antwortete Ida knapp.

Einige Männer in Overalls betraten den Raum. Gastner ging ihnen entgegen.

Sofie sah Ida an. »Du, das ist ein Klassiker«, flüsterte sie aufgeregt.

Ida sagte nichts, aber Sofie merkte, dass sie verstand, dass sie genauso dachte. Der Klassiker: der geschlossene Raum.

Die Tür zum Unterrichtsraum war verschlossen gewesen und Kommissar Gastner hatte noch nicht einmal gefragt, wo der Schlüssel war. Frau Klein hatte ihn immer auf das Pult gelegt, damit ihn sich die Teilnehmerinnen nehmen konnten, wenn sie zur Toilette wollten. Die Toiletten befanden sich auf der gegenüberliegenden Seite des Schulhofs in einem überdachten Nebengebäude. Die Türen waren abgesperrt.

»Der Schlüssel lag nicht auf dem Pult«, stellte Ida fest. Sie war mit zu Sofie nach Hause gegangen. Nun saßen sie in ihrer Küche und tranken eine Tasse Kakao. Sofies Hände zitterten, als sie den heißen Becher umfasste. Sie musste einen kleinen Schock erlitten haben. Auf dem Weg hatte sie ununterbrochen geredet. Alle Eindrücke und Gefühlsregungen waren unreflektiert aus ihr herausgesprudelt. Nun war sie still und bibberte vor sich hin. Immerhin hatte ihr Gesicht wieder etwas Farbe bekommen.

»Er war auch nicht in Frau Kleins Handtasche.»

»Woher weißt du das?« Sofie schaute sie mit großen erstaunten Augen an.

»Du hast doch sicher auch bemerkt, dass die Tasche geöffnet auf dem Boden neben dem Pult stand.«

Sofie nickte zustimmend.

»Ich brauchte nur einen Blick hineinzuwerfen. Geldbörse, Handy, Notizbuch. Mehr war nicht drin.«

»Jemand muss Frau Kleins Schlüssel benutzt haben.«

»Oder eine Person hat den Raum betreten und wieder verlassen, die selbst einen Schlüssel besaß«, ergänzte Ida. »Wer hatte einen Schlüssel zu dem Raum?«

Sie hatte Sofies Neugierde geweckt. »Frau Klein, der Hausmeister, jemand von der Schule muss auch noch einen Schlüssel besitzen, zumindest einen Generalschlüssel«, zählte sie auf.

»Was ist mit Frau Brettschneider?«, fragte Ida. »Hatte sie nicht auch einen Schlüssel gehabt, als Frau Klein im Oktober krank war und wir uns ohne sie getroffen haben?«

»Wir müssen herausfinden, ob Frau Klein ihr ihren Schlüssel geliehen hatte oder ob sie ein eigenes Exemplar bekommen hat.«

Sofie nickte eifrig.

»Weiter! Was fällt uns noch auf?«

»Es war viel zu heiß in dem Raum«, rief Sofie aus. »Mir ist fast übel geworden, weil die Luft so abgestanden und stickig war.«

»Die Heizungen waren voll aufgedreht«, ergänzte Ida. »Für gewöhnlich hatten wir es eher zu kühl in dem Raum. Wenn wir eine Weile in der Runde saßen und diskutierten, wurde einigen von uns zu kalt.«

Sofie hatte Feuer gefangen: »Frau Brettschneider«, warf sie ein. »Immer schick und modisch gekleidet, aber viel zu dünn für die Jahreszeit.« Schon wieder war der Name Brettschneider gefallen. »Sie musste sich vom Sanitäter ein Beruhigungsmittel geben lassen«, erinnerte sich Sofie.

»Welche Personen haben wir noch?«

Sofie runzelte die Stirn, während sie überlegte: »Was ist mit Frau Steinhardt und Frau Fabius?«

Ida schüttelte nachdenklich den Kopf. Frau Steinhardt war eine alte Dame, noch älter als sie oder Sofie, eine pensionierte Deutschlehrerin, sehr gebildet, wohlerzogen und korrekt, wenn auch etwas bissig in ihren Kommentaren, Frau Fabius eine junge Studentin, die erst vor kurzem in die Kleinstadt gezogen war und Kontakt suchte. Sie war an diesem Dienstag erst das zweite Mal dabei und dann gleich dieses schreckliche Erlebnis!

»Ich glaube nicht, dass sie ein Motiv hätten.«

Kaum hatte Ida den Satz ausgesprochen, wurde Sofie grau im Gesicht. »Denkst du, sie wurde umgebracht?«

Ida glaubte nicht, dass Frau Klein eines natürlichen Todes durch Herzinfarkt oder Schlaganfall gestorben war. Dann wäre sie gestürzt und hätte nicht so – scheinbar – friedlich am Schreibtisch gesessen.

»Was wäre, wenn es niemand aus unserem Kreis war, sondern jemand anderes, der sie kannte? Jemand, der ihr nahestand? Zum Beispiel ihr Ehemann?« Und Sofie erzählte von der Begebenheit, als sie Frau Klein und ihrem Mann im Park begegnet war. Arm in Arm waren sie gegangen. Sofie schien etwas verlegen, als sie erklärte, weshalb sie aus seiner Geste auf ein bevormundendes Verhalten geschlossen hatte.

»Ich wunderte mich, dass Frau Klein zögerte, um stehenzubleiben und sich mit mir zu unterhalten. Aber ich kann mich auch irren«, beendete sie zaghaft den Satz.

»Wir sollten ihn auf jeden Fall mit einbeziehen«, erwiderte Ida.

Sofie fasste zusammen: «Der Täter muss ein Motiv, das Mittel und die Gelegenheit haben.«

»Über das Mittel wissen wir noch gar nichts.«

»Es gab kein Blut«, stellte Sofie fest. »Es wird schwierig werden, an die Informationen von der Polizei heranzukommen.« Sie zog die Stirn in Falten. »Irgendwie kommen wir jetzt nicht weiter.«

»Schreib alles auf, was wir bisher zusammengetragen haben«, schlug Ida vor. »Dann können wir alles dokumentieren, was passiert ist und eine Strategie entwickeln.«

Sofie sprang begeistert auf. »Ich hole nur schnell meinen Block. Ich habe ihn, glaube ich, im Wohnzimmer abgelegt.«

Als sie mit dem Schreibblock in der Hand in die Küche zurückkehrte, hatte sich ihr Gesichtsausdruck verändert. Sie sah aus, als hätte sie einen erneuten Schock erlitten. Entsetzen hatte ihre Wangen und ihre Mundwinkel nach unten fallen lassen. Alle Energie schien aus ihr geglitten zu sein. Sie hatte das oberste Blatt des Schreibblocks angehoben und starrte auf das Geschriebene.

»Ich habe sie umgebracht«, sagte sie. »Ich habe Frau Klein getötet.« Und sie hielt Ida den Block hin.

4

Frauen morden bevorzugt mit Gift. Das ist ihre Art zu töten, es erfordert keine Kraft, keine direkte körperliche Gewalteinwirkung, und der Tod ist unblutig. In den meisten Geschichten von Agatha Christie, der Old Lady of Crime, war das Opfer durch Gift getötet worden und der Modus Operandi deutete auf eine weibliche Täterin hin. Auf eine Giftmischerin. Man könnte es auch anders herum formulieren: Giftmorde sind Frauensache, Morde aus Leidenschaft und aus Lust am Töten, hinterhältig und heimtückisch.

Sie hatten im Lesekreis den Krimi Morphium von Agatha Christie gelesen. Frau Klein hatte ihnen bis ins kleinste Detail dargelegt, förmlich seziert, dass Frauen meist aus Eifersucht oder Habgier töten und dass ihre Opfer immer die Ehemänner oder nahe Verwandte sind. Tatsächlich ist das Motiv in Morphium Habgier, und der Mord wurde von einer Frau verübt. Aber auch das Opfer ist eine Frau und deshalb stimmten Frau Kleins Ausführungen nicht. Auch Männer haben zahlreiche Giftmorde begangen. Nur richtet sich das öffentliche Interesse immer auf die Taten von Frauen, weil es spektakulärer ist.

Ida stellte sich die Frage, ob Frau Klein vergiftet worden war. Äußerlich war die Todesursache nicht festzustellen gewesen. Kein Blut. Keine erkennbare Waffe. Also schloss sie auf eine innere Einwirkung.

Sofie hatte Frau Klein nicht umgebracht. Sie hatte sich eine fiktive Geschichte ausgedacht, in der die Kursleiterin mit einem Messer erstochen worden war. Ida beruhigte sie, so gut es ging. Aber Ida wollte die Bestätigung, dass tatsächlich ein Fremdverschulden vorlag. Sie hatte auch schon eine Idee, wie sie an das Ergebnis der Autopsie herankommen könnte.

Aber vorher wollten sie sich über Frau Klein informieren und mehr über ihre Person und über die Hintergründe ihres Todes erfahren. Ida schlug Sofie vor, sie solle die Familie Klein aufsuchen, dem Ehemann ihre Anteilnahme aussprechen und bei dieser Gelegenheit die Familie befragen und etwas im Haus herumschnüffeln.

»Zu dir hatte sie ein freundlicheres Verhältnis als zu mir«, brachte sie zur Begründung vor. »Vielleicht kann sich ihr Mann an dein Gesicht erinnern. Dann hast du einen guten Einstieg ins Gespräch.«

»Sollten wir nicht lieber zusammen hingehen? Vier Augen sehen mehr als zwei.«

»Ich werde mich in der Zwischenzeit anderweitig umschauen. Wir müssen herausfinden, woran genau sie gestorben ist.«

Sofie schaute sie skeptisch an. »Willst du wieder irgendwelche ominösen Recherchen anstellen?«

Obwohl sie sich seit nahezu einem Jahr nicht mehr gesehen oder gesprochen hatten, erkannte Hans-Peter Idas Stimme sofort am Telefon. Er schien erfreut zu sein von ihr zu hören. Und er hatte überhaupt nichts dagegen, sie in der Kantine des gerichtsmedizinischen Instituts zu treffen.

Seit ihrer letzten Begegnung war er noch hagerer geworden, was bei seiner Länge deutlich hervortrat. Er kam mit leicht geneigter Körperhaltung, den Kopf nach vorne gestreckt wie ein Geier, auf Idas Tisch zu. In seinen Händen hielt er ein Tablett mit einem dampfenden Pastagericht. Nach der Menge an Mahlzeiten zu urteilen, die er täglich zu sich nahm, hätte er mindestens den doppelten Körperumfang haben müssen. Wahrscheinlich lag es daran, dass er täglich unzählige Tassen Kaffee trank, die ihn in eine nervöse und aufgekratzte Stimmung versetzten.

»Ida!« Er setzte sich auf den Platz gegenüber und grinste sie mit einem schiefen Lächeln an. »Ich kann mir schon denken, weshalb du hier bist.«

Ida kannte Hans-Peter von einer ihrer früheren Recherchen für einen Kriminalfall. Er war Pathologe und Handlanger des berühmten Rechtsmediziners Professor Hübner, in dessen Schatten er stand. Obwohl Hans-Peter einen Großteil der gerichtsmedizinischen Untersuchungen im Auftrag des Professors durchführte, war er nie selbst zu Ruhm gelangt. Daher war er zugänglich für Schmeicheleien und Komplimente und kleine Liebesdienste, die in leicht perversen Sexspielchen bestanden. Er war leicht zu befriedigen. Im Gegenzug gab er bereitwillig von seinem Wissen preis. Seinem erwartungsvollen Grinsen konnte Ida entnehmen, dass er voller Vorfreude auf eine weitere Kostprobe ihrer vielfältigen Liebeskünste war. Zuvor aber erwartete sie Informationen von ihm.

Ida beugte sich vor, so dass ihr Gesicht dem seinen näher kam und er ihrem fixierenden Blick nicht ausweichen konnte. »In Lindenburg ist eine Lehrerin tot aufgefunden worden, Todesursache unklar. Deshalb hat die Polizei sie zur Autopsie hierher bringen lassen.« Das gerichtsmedizinische Institut der Universität in der Bezirkshauptstadt war für alle Untersuchungen aus den Kleinstädten der Umgebung zuständig.

Hans-Peter wich ihrem Blick aus, nahm einen großen Schluck Kaffee und machte sich dann über sein Mittagessen her. »Du weißt, dass ich dir keine Auskünfte geben darf, Ida«, antwortete er kauend.

Sie lehnte sich wieder zurück und griff nach ihrem Wasserglas. »Ich verlange von dir nicht, dass du deine Schweigepflicht verletzt. Aber allgemeine Fragen kannst du mir doch sicher beantworten.«

Er blickte sie über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg prüfend an. »Was verbindet dich mit der Toten?«

»Sie war die Leiterin meines Lesekreises.«

»Krimi-Lesekreis? Ich verstehe.«

»Ich habe sie gefunden.«

Hans-Peters Augenbrauen hüpften in die Höhe. Sie hatte sein Interesse geweckt.

»Im Gruppenraum, Türen und Fenster waren verschlossen, die Heizung voll aufgedreht.«

»Das könnte der Grund dafür sein, dass wir keine Verfärbungen der Haut an der Leiche gefunden haben«, platzte er heraus. Er bereute sofort, dass er etwas gesagt hatte und nahm einen weiteren Schluck Kaffee.

»Was für Verfärbungen?«

Hans-Peter sträubte sich, weitere Angaben zu machen und verschlang mit gesenktem Kopf seine Nudeln.

»Nur ganz allgemein gesprochen: Nehmen wir an, an einer Leiche findet man keine äußeren Spuren von Gewalteinwirkung. Würde dann nicht der Verdacht nahe liegen, dass die betreffende Person etwas zu sich genommen hat, was ihren Tod verursacht hat? Beispielsweise Gift?«

Hans-Peter hörte auf zu kauen und schaute sie erstaunt an.

»Welche Untersuchungen würdet ihr durchführen?«

Er schluckte laut und trank schnell noch etwas Kaffee hinterher.

»Auf welche Verfärbungen hin würdet ihr eine Leiche untersuchen?«