Im Herzen das Meer - Karen Bojsen - E-Book
SONDERANGEBOT

Im Herzen das Meer E-Book

Karen Bojsen

5,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Erste Liebe, zweite Chance – vom Finden und Verlieren der Liebe und vom Mut, den es kostet, zu verzeihen

Nach Jahren in Übersee lebt Lumme Hansen seit Kurzem wieder in ihrer alten Heimat – einer kleinen Insel mitten in der Nordsee. Dort leitet die Meeresbiologin das Inselaquarium und steht ihrem betagten Vater zur Seite. Als ein seltenes Seepferdchen vor der Küste gefunden wird, brechen turbulente Zeiten an. Auf einmal findet Lumme sich im Kampf um die Zukunft der Insel wieder – und steht einem Mann gegenüber, den sie eigentlich nie wiedersehen wollte …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 433

Veröffentlichungsjahr: 2016

Bewertungen
5,0 (16 Bewertungen)
16
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Der Roman

Lumme Hansen liebt das Meer und seine Bewohner. Die Meeresbiologin ist wohl die einzige Frau, die je am Südpol schwanger geworden ist, ein Abenteuer, das ihr einen kälteempfindlichen Sohn und einen amerikanischen Ehemann eingebracht hat. Nach fast zwanzig Jahren kehrt sie nun zurück auf ihre Heimatinsel in der Nordsee. Doch vieles hat sich verändert, und der Bau eines Offshore-Windparks gefährdet das fragile Ökosystem der Insel. Nur ein Wunder könnte das Projekt noch stoppen – so wie ein seltenes Seepferdchen, das im Meer vor den Klippen auftaucht. Kurz darauf steht Lumme einem mächtigen Energiekonzern gegenüber – und Theo Johannson, ihrer ersten großen Liebe.

Die Autorin

Karen Bojsen ist das Pseudonym der Hamburger Autorin Katrin Burseg. Sie studierte Literatur und Kunstgeschichte in Kiel und Rom, bevor sie als Journalistin arbeitete. Hamburg ist ihr Sehnsuchtsort, sie lebt mit ihrer Familie im Herzen der Stadt.

www.katrinburseg.de

KAREN BOJSEN

Im Herzen

das Meer

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt

und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung.

Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch

unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche

Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt

und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten,

so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung,

da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich

auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung

dieses E-Books verweisen.

Originalausgabe 04/2016

Copyright © 2016 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Uta Rupprecht

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotive: © Sabine Lubenow/Look-foto, Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-18471-1V001

www.diana-verlag.de

Besuchen Sie uns auch auf www.herzenszeilen.de

Welkoam iip Lunn

Willkommen auf der Insel

Eins

Immer sind Inseln Orte der Sehnsucht. Nah und fern zugleich. Und das Meer? Es schweigt wohl nie.

An diesem Morgen klang sein Wellenschlag ungeduldig, ja fast zornig, nach aufgestauter Wut und noch mehr Wind. Der Himmel war grau, schiefergrau. Es würde regnen. Nicht sofort, aber noch vor dem Mittag.

Versunken, die Arme vor der Brust verschränkt, stand Lumme am Fenster ihres Büros und lauschte dem Auf und Ab der Brandung. Erst als das Funkgerät in ihrem Rücken summte, zwang sie sich, auf den Schreibtisch zu blicken. Ihr Arbeitsplatz sah aus, als wäre ein Orkantief darüber hinweggefegt. Windstärke zwölf, schwerste Verwüstung. Adrenalin flutete ihren Körper. Wo war die Liste mit den Bestellungen? Hektisch schob sie Kaffeebecher und Wassergläser zur Seite und wühlte sich durch einen Stapel mit Notizen und Unterlagen. Ein Armvoll Pläne und Zeichnungen rutschte vom Tisch und flatterte seufzend zu Boden. »Lumme Hansen«, wisperte es in ihrem Kopf, »du musst unbedingt aufräumen.«

»Bist du so weit?«

Die Stimme ihres Kollegen schwappte aus dem Funkgerät. Henning Krüss befand sich mit dem Boot des Inselaquariums einige Seemeilen vor der Küste. Im Felswatt fischte er nach Pflanzen und Tieren, die das kleine Biologische Institut zu Forschungszwecken in alle Welt versandte: Algen, Krebse, Muscheln und die ebenso robusten wie widerspenstigen Borstenwürmer.

»Hab’s gleich, Henning.«

Da war die Liste. Lumme atmete aus, sie hob den Blick und sah wieder über die kabbelige See. Die meisten Menschen betrachteten das Meer wie ein Gemälde. Sehnsuchtsvolles Blau, die hellen Spritzer der Gischt wie mit dem Pinsel hineingetupft. Und darüber: der weite Himmel, die vom Westwind getriebenen Wolken, der Segelflug der Möwen. Doch für Lumme war da mehr als Postkartenromantik. Dort vor ihrem Fenster lag das, was sie einmal als die Liebe ihres Lebens bezeichnet hatte.

»Kannst loslegen!«

»Aye aye«, spottete Henning, er kannte das Durcheinander in ihrem Büro. Trotz der Entfernung war er so deutlich zu verstehen, als stünde er direkt neben ihr. »Ich hatte dir doch einen Ordner angelegt.«

»Ja, ja …« Lumme wedelte ungeduldig mit den Händen und ließ sich in ihren Stuhl fallen. Sie konnte das Grinsen auf Hennings friesischem Jungengesicht förmlich sehen. »Komm schon, wir haben nicht ewig Zeit.«

»Amphipoda«, begann Henning mit dem Abgleich der Bestellungen, »Cumacea, Decapoda, Mysis mixta …«

Lumme lehnte sich zurück. Der vertraute Klang der lateinischen Gattungsnamen erzeugte ein Glücksgefühl in ihrem Inneren. Eine heitere Welle, die sie durchströmte. Jeder Tropfen Meerwasser war ein Universum für sich, und die Ozeane beherbergten die wundersamsten Kreaturen. Urzeitliche Korallen, leuchtende Quallen, riesenäugige Kalmaren von der Größe eines Fischerbootes. Und die Schulen der geselligen Wale … Eine unfassbare Vielfalt, mehr als eine Million Arten. Dabei war noch nicht einmal ein Bruchteil der Weltmeere erforscht. Der Mensch kannte sich auf dem Mond besser aus als auf dem Meeresboden. Und jeden Tag entdeckte man neue Arten.

»Bist du noch da, Lumme?«

Hennings Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie überflog noch einmal ihre Liste.

»Wir brauchen noch zehn Portionen Plankton – und Meerwasser aus dem Tangwald. Kannst du fünfzig Liter mitbringen?«

»Mach ich. Bin in einer Stunde im Hafen. Over.«

Lumme sah auf ihre Uhr. Es war noch früh, acht Uhr dreißig. Ein zweites, kleineres Zifferblatt zeigte die Uhrzeit in San Diego an. Am Pazifik war es jetzt Nacht: ein Uhr dreißig. Todd war gerade zu Bett gegangen, während Josh, ihr zwölfjähriger Sohn, schon lange schlief. Ihr Mann hatte ihr die schwere Uhr zum Abschied geschenkt. Wasserdicht, bis hinunter in die lichtlosen Abgründe der Tiefsee. »Wir warten auf dich«, hatte er gesagt, mehr Feststellung als Versprechen. »Egal, wie lange das da drüben dauert.«

»Das da drüben«, das war die Insel. Ein schroffer Felsen, ein wenig Sand, mitten in der Nordsee. Ihre Heimat, hier war sie vor achtunddreißig Jahren zur Welt gekommen. Eine echte Insulanerin! Vor einem halben Jahr war ihre Mutter gestorben, und als sie zur Beerdigung herübergeflogen war, hatte man ihr noch beim Leichenschmaus die Leitung des Inselaquariums angeboten. Kommissarisch, für ein Jahr.

Lumme hatte gezögert, aber dann hatte sie doch nicht Nein sagen können. Zum einen, weil sie sich um ihren Vater sorgte. Und weil dieser Job eine Chance war, wieder in ihren Beruf einzusteigen. Schließlich hatte sie nicht Meeresbiologie studiert, um als Pinguinpflegerin im Sea Water Parc von San Diego zu enden. Humboldtpinguine, ausgerechnet.

Todd hatte sie gehen lassen. Aber er hatte ihr prophezeit, dass sie nicht länger als ein halbes Jahr durchhalten würde. »Du wirst die Sonne vermissen«, hatte er gesagt, sein breites Surfergrinsen im Gesicht. Kannte er sie so wenig?

Das hatte sie angespornt. Und tatsächlich hatte Lumme dem kalifornischen Wohlfühlwetter bislang keine Sekunde nachgetrauert, obwohl ein atlantischer Tiefausläufer nach dem anderen über die Insel jagte und sie mit den schweren Cumuluswolken längst wieder per Du war. Die ersten drei Monate waren bereits geschafft.

Lumme bückte sich und sammelte die Pläne auf, die von ihrem Schreibtisch gerutscht waren. Das Inselaquarium, ein schmuckloser Bau aus Backstein und Beton, stammte aus den Fünfzigerjahren, und seine technischen Anlagen waren hoffnungslos veraltet. Im Herbst des vergangenen Jahres hatte die Landesregierung eine Förderung zum Umbau des Aquariums bewilligt. Die Pläne zeigten, was hier entstehen sollte: großzügige moderne Becken und Schauräume mit interaktiven Elementen – ein Naturerlebnis- und Forschungszentrum. Kein Disney World der Nordsee, aber ein Schaufenster zur Unterwasserwelt, ein Leuchtturmprojekt der Meeresforschung, so versprach es jedenfalls der Prospekt. Die Bauarbeiten sollten im Herbst beginnen.

Während Lumme die Pläne an einer Magnetwand befestigte, fiel ihr Blick auf einen Schnappschuss, den sie dort bei ihrem Einzug angepinnt hatte: Todd und Josh, ihre beiden Männer, beim Basketballspiel im Garten ihres Hauses in Del Mar. Josh schien fast schwerelos durch die Luft zu schweben, der Ball berührte den Ring des Korbes, während sein Vater noch versuchte, den Treffer abzuwehren. Josh grinste in die Kamera; es war fast unheimlich, wie sehr er seinem Vater inzwischen ähnelte. Das gleiche verwaschene Blond, der gleiche selbstbewusste Blick, die athletische Statur. Doch während Lumme ihren Sohn fast körperlich vermisste, waren ihre Gefühle für Todd weniger stark. Sie dachte an ihn, aber er fehlte ihr nicht. Die Leidenschaft ihrer Anfangsjahre war in einem Mix aus Alltag und Gewohnheit versandet. Eine vage Enttäuschung, die sie wohl beide spürten, aber nicht thematisierten, überlagerte das, was einmal ein Abenteuer gewesen war. Sie waren beide Verdränger, dachte Lumme nun, die nicht ansprachen, was sie doch nicht ändern konnten.

»Lumme?« Hennings Stimme drang wieder aus dem Funkgerät. Sie konnte seinen Atem hören, schnell und flach. Kaum zu glauben, dass seine Stimme via Satellit zu ihr kam. »Bist du noch da, Lumme?«

»Ja, ich kann dich hören. Was gibt’s?«

Lumme drehte sich um und starrte auf den Kasten des Funkgeräts, der wie ein Laptop aussah. Henning klang aufgeregt, als hätte er etwas Besonderes hochgezogen. Einen uralten Hummer vielleicht oder einen Katzenhai.

»Halt dich fest!«

»Ja?« Lumme schmunzelte, Henning klang wie ein Zirkusdirektor, nach Trommelwirbel und Scheinwerferlicht.

Henning atmete hörbar aus. »Hippocampus hippocampus«, sagte er, ein kindliches Staunen in der Stimme. »Wunderschön und quicklebendig.«

»Ein Seepferdchen?« Lumme schüttelte ungläubig den Kopf, dann ließ sie sich rückwärts auf ihren Bürostuhl fallen. »Du spinnst!«

»Nein, nein.« Henning platzte fast vor Stolz, sein Lachen rollte zu ihr herüber. »Ein Kurzschnäuziges Seepferdchen. Soweit ich weiß, ist seit mehr als dreißig Jahren keines mehr in der Nordsee aufgetaucht.«

»Das gibt’s doch nicht!«

Lumme spürte, wie sich ein Kribbeln in ihrem Körper ausbreitete. Ein Gefühl wie von einer Million Luftbläschen, die durch ihre Adern sausten. Ihr Herz schaukelte wie verrückt. Sie sah auf das Poster mit bedrohten Meerestieren, das links neben ihrem Schreibtisch an der Wand hing.

»Wo steckst du genau?«

»Im Tangwald, kurz vor der westlichen Kardinaltonne.« Henning nannte ihr seine Koordinaten.

Lumme zog das Fernglas von der Fensterbank und suchte die Wasserlinie ab. »Meinst du, da sind noch mehr?«, fragte sie.

»Kann gut sein.«

Lumme schwieg. Die unterschiedlichsten Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Da draußen, rund zwanzig Seemeilen vor der Insel, sollten im kommenden Jahr die Bauarbeiten für einen gigantischen Windpark beginnen. Mehr als hundert Turbinen, ein monströser Wald aus Beton und glasfaserverstärktem Kunststoff. Und eine tödliche Gefahr für Schweinswale, Seetaucher und Zugvögel. Eine Gruppe von Naturschützern kämpfte vor Gericht immer noch gegen die Genehmigung. Und dieses Seepferdchen …

»Soll ich es fotografieren und wieder runterlassen?«

»Nein, bloß nicht!« Lumme schnappte nach Luft und versuchte, die zappelnden Gedanken in ihrem Kopf einzufangen. »Bring es mit. Ich hol dich am Hafen ab – okay?«

»Du meinst …«

»Hast du mich verstanden?«

»Ja, aber …«

»Du bringst es mit. Punkt.«

Henning zögerte kurz.

»Verstanden. Over.«

Das Funkgerät verstummte, ein beleidigtes Schweigen. Lumme atmete aus. Sie hasste es, die Chefin heraushängen zu lassen. Aber das Seepferdchen war eine wissenschaftliche Sensation. Diese Fische waren geschützt und vom Aussterben bedroht. Sie brauchte das Tier, hier in ihrem Aquarium, und nicht da draußen in den Fluten, wo es wahrscheinlich nie wieder auftauchen würde.

Was für ein Fang!

Lumme bemerkte, dass sie immer noch durch das Fernglas starrte. Einen Moment lang verfolgte sie den Flug einer Silbermöwe, die schreiend über der Strandpromenade kreiste. Dann ließ sie das Glas auf die Papierstapel vor sich fallen und sprang auf. Das Chaos auf ihrem Schreibtisch musste warten.

Lummes Büro befand sich im Arbeitstrakt des Inselaquariums. Die Führung hinter die Kulissen, die sie ab und zu veranstaltete, gab einen Einblick in die Labore und das komplexe Pump- und Filtersystem. Ein verwirrendes Netz aus Leitungen versorgte die Becken mit frischem Meerwasser und schuf so Bedingungen, wie sie in der Nordsee herrschten. Ein Surren und Rauschen lag in der Luft, es roch nach Algen und Salz.

Vorbei an der Hummeraufzuchtstation lief Lumme den Gang entlang auf eine Metalltür zu, die den Forschungsbereich vom öffentlich zugänglichen Schausaal trennte. Das Schloss klemmte, ungeduldig ruckelte sie an der schweren Tür.

Bei den Fischen war es noch dunkel, nur die Schilder zu den Notausgängen schufen geisterhaft grüne Lichtinseln in dem quadratischen Saal. Lumme tastete nach den Lichtschaltern, nach und nach schaltete sie die Beckenbeleuchtung ein. Ein Sonnenaufgang im Schnelldurchlauf. Die gläsernen Behausungen begannen wie Bildschirme zu leuchten und gaben den Blick in die Tiefe frei. Direkt vor sich sah Lumme einen über und über mit Seeanemonen bewachsenen Miniaturfelsen. Die prächtigen Blumentiere schillerten in allen Regenbogenfarben, ihre Tentakel wogten in der leichten Wasserströmung. Kleine silberfarbene Seenadeln flitzten zwischen den Anemonen hin und her.

»Schlafen Fische?«, wurde Lumme während der Führungen durch das Aquarium immer wieder gefragt. Denn offensichtlich besaßen die Tiere ja keine Augenlider, und überhaupt war es schwer vorstellbar, dass sie sich nachts zur Ruhe legten.

»Ja, Fische schlafen, sie verschlafen sogar einen guten Teil ihres Lebens«, antwortete Lumme dann. »Manche legen sich zum Schlafen auch auf die Seite.« Und dann erzählte sie noch von den nachtaktiven Jägern, den Muränen, Makrelen und Zackenbarschen zum Beispiel. Bei Tagesanbruch, wenn die übrigen Fische munter wurden, zogen sie sich zurück.

»Guten Morgen, Fische«, murmelte Lumme, während sie schnell von Becken zu Becken ging, nach ihren Schützlingen sah und die Wassertemperaturen kontrollierte. »Guten Morgen, Flundern. Guten Morgen, Dorsche. Guten Morgen, Seewölfe.« Das Ritual der Morgenrunde war ihr heilig, sogar am Wochenende kam sie häufig ins Aquarium. Und auch jetzt nahm sie sich die Zeit – obwohl sie es kaum erwarten konnte, das Seepferdchen im Hafen in Empfang zu nehmen.

Die Flundern und Dorsche kreisten bereits munter durch das große Panoramabecken in der Saalmitte, während das Trio der Seewölfe in seinem Becken mürrisch vor sich hin starrte.

»Schlecht geschlafen?« Lumme blieb einen Augenblick bei den Seewölfen stehen und tippte mit den Fingerspitzen gegen das kalte Beckenglas. Jeder Fisch des Inselaquariums hatte seinen eigenen Charakter, es gab Draufgänger und Zauderer, Clowns und Charmeure – und die drei übellaunigen Seewölfe. Die aalartigen, schiefmäuligen Fische mit dem imposanten Raubtiergebiss waren ausgesprochen hässlich. Ein Anblick wie aus dem Gruselkabinett der Natur. Kleine Kinder kreischten vor dem Becken auf, und die älteren zückten ihre Handys, um Fotos von den Monsterwesen zu machen. Wer den Fisch im Restaurant bestellte, bekam ihn nur als Filet auf den Teller.

»Wird schon«, gab sie dem Trio als aufmunterndes Mantra mit in den Tag. »Wir bekommen übrigens gleich Besuch!« Dann musste sie über sich selbst lachen. Wer sie bei ihrer morgendlichen Tour durch das Aquarium beobachtete, würde sich ganz bestimmt über ihre Macken amüsieren.

Lumme hatte sich diesen ganz und gar unwissenschaftlichen Umgang mit Tieren bei ihrer Arbeit mit den Pinguinen angewöhnt. Doch während die gesprächigen Vögel ihr zutraulich durch das Eismeergehege im Sea Water Parc gefolgt waren, antworteten die Fische lediglich mit einem langen, stummen Blick. Im Moment waren nur Lummes Schritte und das leise Surren der Wasser- und Sauerstoffpumpen zu hören. Und selbst wenn das Aquarium um zehn Uhr öffnete, würde sie die Besucher an einer Hand abzählen können. In der Vorsaison kamen nur Hartgesottene auf die Insel, die wegen des Naturerlebnisses und des Reizklimas auch stürmische Überfahrten in Kauf nahmen. Und so zählte das Inselaquarium kaum mehr als ein paar Tausend Besucher im Jahr, während die großen Aquarien auf dem Festland dank spektakulärer Tropenbecken und Haifischfütterungen jährlich neue Besucherrekorde vermelden konnten.

Doch das sollte sich nach dem Umbau ändern. Das neue Ausstellungskonzept und eine modernisierte Forschungsstation würden den Inseltourismus ankurbeln und zugleich dem Biologischen Institut wieder mehr Bedeutung verleihen. Nach einem letzten Blick auf den ältesten Bewohner des Aquariums, einen fast achtzigjährigen Stör mit melancholischem Silberblick, verließ Lumme den Saal durch die vordere Tür und stand im Eingangsbereich des Aquariums. Auch hier war alles still. Frau Graumann, die an der Kasse arbeitete, würde erst in einer halben Stunde kommen. Lumme schrieb ihr eine Notiz, dann zog sie ihren Parka von der Garderobe, schloss die Eingangstür auf und stemmte sich gegen den Wind.

Zwei

Die Strandpromenade der Insel führte vom Aquarium bis hinunter zum Hafen. Lumme stülpte sich die Kapuze über den Kopf und stopfte das flatternde Haar darunter. Böen aus Nordwest, Stärke fünf bis sechs, das war schon etwas mehr als eine frische Brise. Das Wasser zu ihrer Linken schlug hart auf den Strand, die Flaggen an den Fahnenmasten entlang der Promenade knatterten und fauchten, weiter draußen türmten sich die Wellen unter weißem Schaum. Für eine Landratte wäre es jetzt auf See schon ungemütlich, Lummes Magen begann bei Windstärke acht zu rotieren. Henning dagegen behauptete, ihm sei noch nie schlecht geworden. Nur einmal, nach Lummes Einstand in der Inselkneipe vor ein paar Wochen, hatte er flachgelegen.

»Hey, Johann!«, grüßte Lumme einen Fischer, der ihr in seinem leuchtenden Ölzeug entgegenkam. Auf der Insel kannte jeder jeden, und bei einer Fläche von nicht einmal zwei Quadratkilometern, die vorgelagerte Düne eingeschlossen, begegnete man sich oft mehrmals täglich. »Ein Albtraum«, wie Todd befunden hatte. Er war nur einmal auf der Insel gewesen.

Auch Lumme musste sich erst wieder an die Enge gewöhnen. Und an die vielen alten Leute, die auf der Insel lebten. Doch inzwischen fand sie es herrlich, jedenfalls an guten Tagen. Und an schlechten Tagen zog sie sich die Kapuze einfach noch ein Stück tiefer in die Stirn.

»Hey, Lumme.« Johann hob das Kinn und nickte ihr zu. Sein zerfurchtes Meergesicht hellte sich für einen Moment auf, dann bog er in eine der Gassen ein, die vom Wasser zur rötlich schimmernden Felskante führten. Die Insel teilte sich in das Unter- und das Oberland, sie glich einem Dorf auf zwei Etagen. Eine lange Treppe verband die beiden Ebenen. Wer keine Lust hatte zu laufen, fuhr mit dem Fahrstuhl durch den Felsen nach oben. Die bunten Häuser, einem Architekturwettbewerb aus den Fünfzigerjahren entsprungen und deshalb denkmalgeschützt, waren klein und würfelförmig. Elegante Bäderarchitektur oder friesische Heimeligkeit unterm Reetdach suchte man auf der Insel vergebens, das hatte der Zweite Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt. Auch das Kaiserliche Schauaquarium, einst ein stolzer Backsteinbau mit Gründerzeitfassade und Türmchen, war im Krieg zerstört worden.

Der Wind trieb Lumme voran, sie passierte eines der größeren Hotels und die Seebrücke. Hinter der Brücke blieb sie kurz stehen. In einem Glaskasten hatten die Landesregierung und der schwedische Energiekonzern Informationen zum geplanten Windpark ausgehängt. »Wind als lohnende Zukunftsinvestition«, hieß es da verheißungsvoll. Nachdenklich sah Lumme über den Strand und aufs Meer. Dann winkte sie Henry zu, den sie schon von klein auf kannte. Der windgebeugte Brückenkapitän stand einsam auf seinem Posten und wartete auf die einzige Fähre, die heute kommen würde. Beim Weiterlaufen hörte sie ihren Namen.

»Hast du Zeit?« Boje Hansen, trotz seiner achtzig Jahre immer noch rotblond und kerzengerade, in kariertem Hemd und mit blauer Schürze, stand in der Tür seiner Pension und winkte. Er musste sie schon eine Weile beobachtet haben. Für Lumme war es fast unmöglich, an der Möwe vorbeizugehen, ohne ihrem Vater in die Arme zu laufen.

Sie sah auf die Uhr, Henning würde in einer Viertelstunde anlegen. »Fünf Minuten!«, rief sie zurück und überquerte den Rasenstreifen vor der Pension. Im Windfang zog sie sich die Kapuze vom Kopf. »Gibt’s schon Kaffee?«

Ihr Vater streckte den Daumen nach oben und hielt ihr die Tür auf. »Wir sind unter uns«, murmelte er verschwörerisch, als sie ihm einen Guten-Morgen-Kuss auf die Wange drückte. »Die Drei ist noch im Schwimmbad.«

»Na, der ist ja tapfer.« Lumme schälte sich aus ihrem Parka und ließ sich auf einen Stuhl im Frühstückszimmer fallen. Die Pension hatte zwölf Zimmer. Eins und Zwei, im Erdgeschoss und nach hinten gelegen, bewohnte ihr Vater, und die Zwölf, ein kleines Studio mit Küchenzeile unterm Dach, hatte Lumme bezogen. Die Drei im ersten Stock, Doppelbett, Balkon und Meerblick, beherbergte einen älteren Herrn aus dem Ruhrgebiet. Einer der Hartgesottenen und derzeit der einzige Gast in der Möwe. Wenn er vom Morgenschwimmen zurück war, servierte ihr Vater ihm das Frühstück. Kaffee, Rührei, Krabben und selbst gebackenes Schwarzbrot.

»Ist sein letzter Tag heute.« Boje schob Lumme einen dampfenden Becher und ein Kännchen mit Milch herüber, dann bestrich er ihr schnell ein Stück warmes Schwarzbrot mit Butter und streute Zucker darauf.

Nervennahrung. Lumme lächelte dankbar. Als Kind hatte sie Schwarzbrot mit Zucker immer dann bekommen, wenn sie Kummer hatte. Ein süßer Trost, die Geheimwaffe ihrer Eltern. Die Süßigkeit konnte Tränen trocknen und Streit schlichten. Nur nach der Katastrophe vor zwanzig Jahren hatte sie versagt. Lumme lehnte sich zurück und pustete in den heißen Kaffee, um den Schwall düsterer Gedanken in die hinterste Kammer ihrer Seele zurückzudrängen. Eine Strategie, die sie über die Jahre perfektioniert hatte. Alles Dunkle aus dieser Zeit war dort zu einem schwarzen Block aus Eis gefroren. Tintenfischeis, massig und undurchdringlich. Dann biss sie in das Butterbrot. Der Zucker knirschte zwischen ihren Zähnen. »Ist nicht viel los, oder?«

»Nee …« Ihr Vater schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihr an den Tisch. »Im Mai zieht es dann ein bisschen an.«

»Vielleicht solltest du doch mal über eine Renovierung nachdenken, Papa.«

Während sie aß, ließ Lumme ihren Blick durch den Frühstücksraum schweifen. Dunkles Holz, dunkler Teppich, blau-weiß gestreiftes Geschirr. Der solide Geschmack einer anderen Zeit. Dazu die großformatigen Fotografien ihrer Mutter. Wellen und Möwen, Möwen und Wellen. Damit war sie schon aufgewachsen.

»Ich hab doch erst letztes Jahr gestrichen.«

»Ich meine nicht nur streichen, Papa. Ich meine neue Möbel, neuer Teppich, neue Speisekarte. Ein neuer Look …« Lumme stockte, weil sie spürte, wie kalt das Wort in diesem Moment klang.

»Der Mama hat es immer gefallen. Und die Stammgäste, die kommen doch auch noch.« Boje schüttelte den Kopf, seine Hände verhakten sich unter der Schleife seiner Schürze, die er vor dem Bauch gebunden hatte. Eine kleine aufgestickte Möwe saß über seinem Herzen.

»Mama hätte bestimmt etwas verändert, wenn sie noch die Kraft dazu gehabt hätte.«

Lumme sah auf das Brett mit dem Schachspiel, das auf dem hintersten Tisch am Fenster stand. Die letzte Partie ihrer Eltern – unvollendet. Der Krebs hatte den letzten Zug getan. Ihr Vater weigerte sich, die Figuren einzuräumen. Es sah so aus, als wartete er darauf, dass sie zurückkam.

»Ach, Lumme – in meinem Alter krieg ich doch keinen Kredit mehr.«

Boje sah zur Seite, das volle Haar fiel ihm in die Stirn. In einem anderen Leben hätte er vielleicht als Robert-Redford-Double Geld verdienen können. Doch sein Zögern stand in einem seltsamen Kontrast zu der Vitalität, die sein Körper immer noch ausstrahlte.

»Hast du denn überhaupt einmal bei der Bank angefragt?«, murmelte Lumme. Sie trank noch einen Schluck Kaffee, dann suchte sie in dem Durcheinander ihrer Hosentaschen nach einem Zopfgummi und band sich das Haar zurück. Als sie aufsah, fing sie einen Blick ihres Vaters auf.

Lumme glaubte zu ahnen, was er gerade dachte. Sie wusste, dass sie ihrer Mutter ähnlich sah und dass ihr Anblick ihren Vater manchmal melancholisch stimmte. In ihrer Erinnerung leuchtete das Gesicht ihrer Mutter auf, und diesmal ließ sie die Bilder zu. Isabella Hansen war nicht von der Insel gewesen, ihr Vater hatte sie bei Freunden in Süddeutschland kennengelernt. Ein Großteil der mütterlichen Verwandtschaft stammte sogar aus einem Dorf bei Palermo. Lumme hatte das dunkle, leicht wellige Haar der Mutter geerbt, den vollen Mund, sogar das kleine Muttermal auf der Wange war auf sie übergesprungen, nicht jedoch die ansteckende Fröhlichkeit, das sonnige, fast überschäumende Temperament. Nur beim Schachspiel hatte Isabella länger als zehn Minuten stillsitzen können. Lumme war, als könnte sie die Silhouette ihrer Mutter sehen, die sich im Fensterglas spiegelte. Sie hielt den Atem an, doch im nächsten Augenblick zerstob das Bild.

Lumme schüttelte den Kopf, um die sich erneut anschleichende Traurigkeit zu vertreiben. Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich muss los, Papa. Henning wartet mit der Ladung auf mich. Ich hab ihm versprochen, dass ich ihn abhole.«

»Schaffst du es zum Mittagessen?«

»Ich glaube nicht.« Sie schlüpfte in den Parka, den Boje ihr hinhielt, und begegnete seinem enttäuschten Blick. »Ich helfe dir heute Abend mit der neuen Homepage, okay? Vielleicht tut sich ja was bei den Buchungen, wenn wir die ein bisschen aufmöbeln.«

»Grüß die Fische!«

Ihr Vater drückte sie kurz, dann schob er sie zur Tür hinaus. Draußen war es noch frischer geworden. Das Wasser klatschte auf den Strand, beim Zurückrollen riss es Steine und Muscheln mit sich. Ein ungeduldiges Rauschen, wie der Chor einer dramatischen Oper.

Das Seepferdchen!

Lummes Gedanken eilten ihren Schritten voraus, sie kreisten wieder um den Fang. Hippocampus, das hieß Pferderaupe. Die alten Griechen hatten die seltsamen Tierchen für die Nachfahren jener Rösser gehalten, die Poseidons Streitwagen zogen. Im nächsten Moment hatte sie Josh vor Augen. Als sie das erste Ultraschallbild ihres Sohnes in den Händen gehalten hatte, hatte sie unwillkürlich an ein Seepferdchen denken müssen. Denn was hätte dieser winzige gebogene Schatten in ihrem Inneren auch anderes sein sollen als ein Fabelwesen? Dann erst fragte sie sich, wie sie in der Eiswüste der Antarktis hatte schwanger werden können. Ausgerechnet an einem Ort, der so lebensfeindlich war. Sie hatte ihn sich zum Start ihrer wissenschaftlichen Karriere ausgesucht. In der internationalen Forschungsstation auf dem Ekström-Schelf hatte Lumme die polaren Planktonströme erforscht. Doch dann war ihr Todd begegnet – Todd Summers aus San Diego, Wellenreiter und Meeresbiologe mit deutschen Vorfahren. Sein lakonischer Witz, seine lässige Intelligenz und ein überzeugendes Maß an Testosteron hatten Lumme mitgerissen. Herz über Kopf. Ihre Verliebtheit, stürmisch und hoffnungslos unvernünftig, hatte für eine Weile sogar ihre vereiste Seele erwärmt. Und all ihre Pläne auf den Kopf gestellt. Sie war bei Todd geblieben, ihm nach San Diego gefolgt, hatte ihren Sohn bekommen – und Pinguine gepflegt. Und nun, fast zwanzig Jahre später, war sie wieder auf der Insel. Zurück an jenem Ort, von dem sie damals geflohen war. Bis an den Südpol.

Alles auf Los, dachte Lumme und breitete die Arme aus, als könnte sie fliegen. Der Wind trieb sie voran.

Drei

Der Hafen war eine der malerischsten Ecken der Insel, jedenfalls bei Sonnenschein. Bunte Holzhäuschen flankierten die Promenade, die hier Hafenstraße hieß. Früher hatten Fischer in den Hummerbuden gelebt, heute waren meist Kneipen und Souvenirlädchen darin untergebracht. Maritimer Kitsch, Zollfreies oder Eis am Stiel statt Räucherfisch und Angeltörns. Fischer gab es nur noch wenige, auf dem Wasser schaukelten einige der robusten offenen Holzboote, Segelschiffe und die größeren Passagierfähren legten an den Molen und Kajen der angrenzenden Hafenbecken an. Im Sommer ankerten die weißen Seebäderschiffe auf Reede, wie die kleine Meeresstraße zwischen der Hauptinsel und der Düne genannt wurde, dann wurden die Passagiere mit den Börtebooten an Land gebracht. Das Ausbooten war längst nur noch Folklore, gehörte aber zur Insel wie die Gondeln zu Venedig.

Von der Straße wechselte Lumme auf einen Holzsteg am Wasser. Sie war rechtzeitig da, soeben bog Henning mit dem Motorboot des Inselaquariums ins Hafenbecken ein. Als die Neptun parallel zum Steg lag, fing Lumme die Leinen auf, die er ihr zuwarf.

»Hey, Lumme!« Nachdem das Boot an seinem Platz vertäut war, sprang Henning an Land. Grinsend hielt er ihr einen der kleinen weißen Kunststoffbehälter entgegen, in denen er die Wasserproben sammelte.

»Ist es da drin?«

»Eben war’s noch da.«

»Mensch, Henning!« Lumme verdrehte die Augen. Sie nahm ihm das Gefäß aus der Hand und schraubte den Deckel ab.

Da war … etwas. Lumme legte den Kopf leicht schief, um besser sehen zu können. In dem halben Liter Nordseewasser schaukelte ein kleiner dunkler Körper. Von oben sah sie auf den mit Stacheln bewehrten, gebeugten Nacken. Ein dunkler, gepanzerter Halbmond. Das Kerlchen, so schätzte sie, konnte kaum größer als sieben oder acht Zentimeter sein.

»Hippocampus hippocampus.« Lumme schüttelte staunend den Kopf, der Wind trug ihre Worte davon. Sie konnte es kaum abwarten, das Tier genauer zu untersuchen. Ihr Herz pochte ungeduldig, wilde, schaukelnde Schläge unter ihren Rippenbögen.

Henning sah sie triumphierend an und pflückte sich die Wollmütze vom Kopf. Mit der Hand fuhr er sich durch das salzverklebte lockige Haar. »Ich habe meinen Augen nicht getraut. Hing an einem Algenstrang. Beifang, wenn du so willst.«

Beifang mit Sprengkraft, dachte Lumme. Sie schraubte den Deckel wieder zu und sah Henning an. Ahnte er überhaupt, was er da an Land gezogen hatte?

»Der Inselbote bringt bestimmt ein Foto.« Henning sprang zurück aufs Boot und hievte den Fang an Land. »Vor ein paar Jahren hatten wir hier einen riesigen Taschenkrebs, Scheren wie ein Schaufelradbagger. War ’ne schöne Story. Sogar auf dem Festland haben sie es gebracht.«

»Warte mal, Henning …« Lumme hielt den Probenbehälter hoch. »Das hier bleibt vorerst unter uns, ja?«

Henning stutzte kurz, dann verstaute er eine Kiste mit Proben in seinem Handkarren. Er sah sie nicht an, aber an seinen schnellen, fast trotzigen Bewegungen erkannte Lumme, dass er sie verstanden hatte. Irgendetwas arbeitete in ihm, schließlich drehte er sich mit einem Ruck zu ihr um. Sein orangefarbenes Ölzeug quietschte und flatterte im Wind.

»Du willst es denen da zeigen, oder?« Er wies auf das westliche Hafengelände, wo der schwedische Energiekonzern begonnen hatte, Unterkünfte für seine Monteure und Techniker zu bauen. Die Insel sollte zur Servicestation für den Windpark werden. Die Insulaner erhofften sich davon neue Arbeitsplätze und einen neuen Kurs für die Insel.

»Ja, vielleicht.« Lumme nickte, vor ihrem inneren Auge sah sie den Kasten mit den Informationen zum Windpark. Auf dem Meer waren in einem ersten Schritt einhundertzwanzig Turbinen mit einer Leistung von mehr als siebenhundert Megawatt geplant. Strom für viele Hunderttausend Haushalte. Der Konzern wollte mehr als eine Milliarde Euro vor der Insel investieren.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass ein Seepferdchen den Windpark verhindern kann?« Henning zog die Augenbrauen hoch, als hätte sie den Verstand verloren.

»Na, auf jeden Fall ist es eine Chance, das Genehmigungsverfahren noch einmal zu hinterfragen«, erwiderte Lumme ausweichend. »Die Leute vom Naturschutzbund sind jedenfalls der Meinung, die Baugenehmigung hätte niemals erteilt werden dürfen. Die klagen doch immer noch.«

»Das ist keine Chance, das ist ein Himmelfahrtskommando.« Henning stemmte die Arme in die Seite, wieder quietschte das Ölzeug. »Du weißt doch, dass die Insel den Windpark braucht. Hundertfünfzig neue Arbeitsplätze! Wir sind alle dafür. Ich auch.«

»Wie kannst du dafür sein?« Lumme schüttelte verständnislos den Kopf, denn jeder Gedanke an den Windpark war wie ein Hammerschlag, der in ihrem Inneren hallte. Ein wütender, dröhnender Schmerz. Die Baustelle am Meeresgrund gefährdete vor allem die lärmempfindlichen Schweinswale, die nahe der Küste kalbten. Und der Windpark würde eine Gefahr sein für Abertausende von See- und Zugvögeln, die auf der Insel rasteten oder brüteten. Sie bemerkte, dass sie vor Empörung rote Wangen bekam. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie zeigte aufs Wasser hinaus. Im Naturschutzgebiet rund um den Felssockel fand man so viele verschiedene Tiere und Pflanzen wie an keinem anderen Ort in der Deutschen Bucht. »Bei uns gibt es Arten, die man nirgendwo sonst auf der Welt findet«, fauchte sie ihn an.

»Der Windpark liegt weit vor der Insel. Und vor dem Felswatt. Und dein marines Wunderland beschäftigt gerade mal zwei Personen – dich und mich.« Henning sah sie immer noch an, dann lachte er plötzlich auf. »Und Frau Graumann«, fügte er grinsend hinzu.

»Und Frau Graumann.« Lumme lachte mit, die Spannung zwischen ihnen löste sich. Frau Graumann schien ihren Dienst im Schlaf zu absolvieren. Sobald sie hinter der Aquariumskasse saß, fiel sie in eine Art Trance. Versöhnlich klopfte Lumme Henning auf die Schulter. »Und wenn das neue Aquarium kommt, dann kommen auch wieder mehr Touristen.«

»Ach, Lumme, du warst zu lange weg. Das hier ist nicht Hollywood. Die haben uns auf der Insel schon so viel versprochen. Marina, Wellness, Sandaufspülung und Golfhotel, hü und hott. Der Windpark ist das einzige Projekt, das es über die Planungsphase hinaus geschafft hat.« Henning verstaute die letzten Proben im Handkarren. »Die bauen doch schon, Lumme«, fuhr er fort und klang dabei so, als müsste er sich selbst überzeugen. »Und du glaubst doch nicht, dass die Schweden hier anfangen würden, wenn sie sich ihrer Sache nicht tausendprozentig sicher wären? Die setzen ihre Milliarde doch nicht in den Sand.«

»Tausendprozentig gibt’s nicht, Henning. Hier nicht und anderswo auch nicht.«

Henning sah sie von der Seite her an, seine Stimme klang nun ernst. »Du bist nur für ein Jahr hier, Lumme. Wenn du hier fertig bist, gehst du zurück nach Kalifornien. Du wirst die Veränderungen überhaupt nicht mitbekommen. Aber ich, ich bleibe hier. Und ich hätte auch gern eine Familie – und so etwas wie eine Perspektive.«

So etwas wie eine Perspektive, echote es in Lummes Kopf. Eine zaghafte, sehnsuchtsvolle Stimme. Hätte ich auch gerne, dachte sie. Als Henning ihr den Behälter mit dem Seepferdchen aus dem Arm nehmen wollte, trat sie einen Schritt zurück. »Den Beifang trage ich«, sagte sie trotzig. »Nicht dass er dir noch runterfällt.«

Henning runzelte die Stirn, aber er erwiderte nichts. Mit einem Ruck zog er den Handkarren an. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück zum Inselaquarium.

»Wo lassen wir es denn?«

Sie hatten sich eine Weile schweigend gegen den Wind gestemmt. Der Himmel war noch dunkler geworden. Vereinzelte Tropfen, die ihnen ins Gesicht schlugen, kündigten einen Schauer an. Henning sah sie von der Seite fragend an.

Lumme zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall müssen wir es eine Weile isolieren und beobachten. Nicht dass es uns noch etwas einschleppt. Milben oder Pilze.«

»Ich glaube, es ist ein Männchen.«

Trotz des schweren Handkarrens kam Henning mit seinen langen federnden Schritten schnell voran. Lumme hatte Mühe mitzuhalten, sie schnappte nach Luft. »Hast du eine Bruttasche gesehen?«

Bei den Seepferdchen war das Kinderkriegen Männersache. In einer Tasche am Bauch brütete das Männchen nach der Paarung bis zu zweihundert Eier aus. Am liebsten hätte sie den Fang an Ort und Stelle untersucht.

»Ich glaube schon.«

»Vielleicht ist es sogar trächtig? Stell dir vor, einen ganzen Stall voll Mini-Seepferdchen auf einen Schlag.«

»Ist noch ein bisschen früh, oder?« Henning bedachte sie mit einem skeptischen Blick.

»Ja klar, du hast recht.« Lumme nickte, unter Wasser kannte Henning sich fast ebenso gut aus wie sie. Und bei den Nordseefischen machte ihm so schnell keiner was vor. Natürlich wusste er, dass es für Seepferdchensex derzeit noch zu kalt war. »Noch nicht kuschelig genug, oder?«

Henning lachte leise, und Lumme fragte sich, woran er gerade dachte. Bei ihrem Einstand hatte er ihr nach der dritten RundeFriesengeistanvertraut, dass er sein Glück im Netz suchte. Er war ein paar Jahre jünger als sie und eigentlich ganz ansehnlich, wenn man kein Muskelpaket erwartete und nichts gegen Locken hatte. Lumme mochte seine unaufgeregte Art – und sein Lachen. Henning gehörte zu der Sorte Mann, die über sich selbst lachen konnte. Ein ausgeprägter Lachmuskel stanzte ihm Grübchen in die Wangen, die seinem Gesicht etwas Schelmisches verliehen. Er wirkte stets heiter, selbst wenn es anders in ihm aussah. Nord_Friese, das war sein Nickname im Datingportal. Er hatte sich – ganz Biologe – als »männlich, schlank, Nichtraucher« beschrieben, dazu noch »lange Füße, sportlich und naturverbunden«.

»Vielleicht ein bisschen nüchtern«, hatte Lumme bemerkt, als er sie ganz unbefangen nach ihrer Meinung gefragt hatte.

Henning hatte den Kopf geschüttelt und sich noch einen Friesengeist bestellt. »Da draußen sind doch schon jede Menge Tigerhaie unterwegs. Mein Handicap ist die Insellage. Bislang ist noch jede abgesprungen, der ich verraten habe, wo ich lebe. Als Insulaner ist man eben schwer vermittelbar. Wenn die Mädels hören, dass im Winter nur einmal die Woche ein Schiff aufs Festland fährt, kriegen sie doch sofort Beklemmungen. Als müsste man jederzeit zum Shoppen nach New York fahren können oder sonst was erleben.«

»Dann brauchst du halt ’ne Wasserfrau und keine Shoppingqueen.« Lumme erinnerte sich, dass sie zu diesem Zeitpunkt auf Mineralwasser umgestiegen war, weil ihr der Schnaps zu Kopf stieg. Fünfzig Prozent! Doch Henning hatte munter weitergetrunken, als gäbe es kein Morgen.

»Meinst du, man kann dich klonen?«, hatte er sie irgendwann nach Mitternacht gefragt, während seine dunklen, runden Seehundaugen nach einem Punkt gesucht hatten, an dem sie sich festhalten konnten.

Lumme hatte nur gelacht und bezahlt. Dann hatte sie Henning bis vor seine Haustür gebracht und ihn dort wie einen Koffer abgestellt. Am nächsten Morgen hatte er sich krankgemeldet. Und als er wieder fit gewesen war, hatten sie nicht mehr darüber gesprochen.

»Ich hab übrigens umgestellt.« Henning lachte noch immer. Der Regen war nun stärker geworden, er blieb einen Moment stehen und zog Lumme fürsorglich die Kapuze über den Kopf, bevor er seine Mütze wieder aufsetzte.

»Umgestellt, was denn?«

»Meine Suche auf Net-Dating …«

»Und?« Lumme drückte sich das Gefäß mit dem Seepferdchen gegen die Brust. Der Wind kam nun von vorn, in immer heftigeren Böen, als wollte er ihr den kleinen Schatz aus den Armen reißen. Die Wolken waren schwarze Giganten, der Regen wurde noch stärker.

»Wassermann sucht Wasserfrau. Wie findest du das?«

»Wassermann sucht Wasserfrau.« Da war sie wieder, die Stimme in ihrem Kopf. Wenn sie auf der Suche wäre …

Sie hatten das Aquarium fast erreicht, der Regen rauschte nun herab wie ein Vorhang aus Wasser. Lumme sprintete los, um nicht von Kopf bis Fuß durchnässt zu werden.

»Komm schnell!« Henning überholte sie und riss die Tür für sie auf. Dann zog er den Handkarren um das Gebäude herum. Auf der anderen Seite des Aquariums gab es einen zweiten Eingang, der direkt zum Labor und zu den Arbeitsräumen führte. »Wir sehen uns hinten.«

»Guten Morgen, Frau Graumann.« Lumme stellte den Probenbehälter kurz auf den Kassentresen und schüttelte sich wie ein Hund. Oben herum war sie einigermaßen trocken geblieben, doch Jeans und Sneakers waren pitschnass. Sie hätte Gummistiefel anziehen sollen.

»Ja?« Frau Graumann war schon in ihre Meditationshaltung gesunken, sie sah nicht auf. Lumme vermutete, dass sie unter dem Tresen Kreuzworträtsel löste, während Henning auf einen Stapel Klatschzeitschriften tippte. Ein buntes Allerlei.

»Ich lass die nasse Jacke mal hier, Frau Graumann.« Lumme hängte den Parka über einen der Haken im Eingangsbereich. Nach kurzem Zögern zog sie auch die Schuhe aus. Bei dem Wetter würde ohnehin niemand kommen. Auf klammen Socken, das Seepferdchen im Arm, lief sie durch den menschenleeren Schausaal nach hinten.

Im Arbeitstrakt hatte Henning den Karren in eines der Labore geschoben. Bevor der Tagesfang verschickt wurde, mussten sie die Präparate noch aufbereiten. Einige Organismen wurden konserviert oder getrocknet, andere lebend versandt und so verpackt, dass sie ihr Ziel auch unversehrt erreichten.

»Nasse Füße?«

»Kalte Füße.« Lumme stellte das Seepferdchen auf einem der Labortische ab und sah sich nach einem größeren Behälter um, in dem sie ihrem Schützling ein provisorisches Zuhause einrichten konnten.

»Willst du Puschen?«

»Du hast Puschen – hier?«

»Größe 44.« Henning hatte sich aus seinem Ölzeug geschält, er öffnete einen Schrank mit Verpackungsmaterial und zog einen Schuhkarton daraus hervor. »Noch nie getragen. Hat mir meine Mutter mal zu Weihnachten geschenkt. Sind mir aber zu klein, kannst du also gerne haben.«

»Danke.« Verblüfft nahm Lumme den Karton entgegen. Im nächsten Moment hielt sie ein Paar Hausschuhe aus Lammfell in der Hand. Als sie hineinschlüpfte, wurde ihr sofort wärmer. Vorsichtig schlappte sie in den viel zu großen Schuhen zum Regal mit den Zehn- und Zwanzig-Liter-Behältern.