Möwenherz - Karen Bojsen - E-Book

Möwenherz E-Book

Karen Bojsen

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Beschreibung

Eigentlich will Ebba das Erbe ihrer Großmutter nicht antreten. Sie reist mit dem Stargeiger Jona Bennett um die Welt, wie soll dazu ein altes Kapitänshaus samt Museum passen? Doch unerwartet muss auch Jona sein rastloses Leben ändern, und so landen die beiden an der Nordseeküste statt in New York. Während Ebba versucht, vor einer alten Schuld davonzulaufen, stellt Jona das Museum auf den Kopf – und ihr Herz auf die Probe. Denn da ist auch noch Finn, Ebbas große Liebe aus Kindertagen, dem sie unverhofft in diesem langen Sommer am Meer wiederbegegnet …

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EPUB

Seitenzahl: 475

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Zum Roman

Ebba kehrt für die Beerdigung ihrer Großmutter an die nordfriesische Küste zurück. Es ist der erste Besuch seit jenem schrecklichen Ereignis in ihrer Kindheit, das sich tief in ihre Erinnerung eingebrannt hat. In dem beschaulichen Emilienkoog scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, und Ebba will von dem alten Kapitänshaus und dem kleinen Heimatmuseum samt Café nichts wissen. Wie bekommt sie so schnell wie möglich ihr aufregendes Leben im Musikbusiness zurück?

Jona jettet als gefeierter Stargeiger um die Welt, doch als er kurz vor einem geplanten Flug in die USA eine Panikattacke erleidet, landet er stattdessen gemeinsam mit seiner persönlichen Assistentin Ebba an der Nordsee. Von einem auf den anderen Tag rührt er seine Stradivari nicht mehr an. Lieber entdeckt er die Schätze von Ebbas Großvater, die von Seefahrermythen und alten Legenden erzählen. Bald beginnt Jona sich zu fragen, was – und wen – er sich für sein Leben wirklich wünscht.

Finn ist in seine Heimat Emilienkoog gekommen, um Abstand zu gewinnen. Aus dem Jungen mit den großen Träumen ist ein erfolgreicher Herzchirurg in München geworden. Doch während er im OP routiniert Leben rettet, ist sein Privatleben ein einziges Chaos. Eine Affäre reiht sich an die nächste, obwohl Finn sich nach etwas ganz anderem sehnt. Als er Ebba wiedertrifft, sind die alten Gefühle für das verrückte Mädchen von damals sofort wieder da …

Karen Bojsen erzählt voller Poesie von drei Leben im Umbruch und einem unvergesslichen Sommer, nach dem nichts mehr so ist, wie es war.

Zur Autorin

Karen Bojsen ist das Pseudonym der Hamburger Autorin undDELIA-Preisträgerin Katrin Burseg. Sie studierte Literatur und Kunstgeschichte in Kiel und Rom, bevor sie als Journalistin arbeitete. Hamburg ist ihr Sehnsuchtsort, sie lebt mit ihrer Familie im Herzen der Stadt. Nach Im Herzen das Meer ist Mövenherz ihr zweiter Roman im Diana Verlag. Mehr über die Autorin und ihre Bücher erfahren Sie unter www.katrinburseg.de.

Karen Bojsen

Möwen

herz

Roman

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Originalausgabe 07/2018

Copyright © 2018 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Uta Rupprecht

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: ©zhu difeng, Anita Melkova, DoozyDo, LenLis, zaxenart, panki, Karoline Bevre, Shaliapina / Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-21829-4V001

www.diana-verlag.de

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Das ist das Größte,

was dem Menschen gegeben ist,

dass es in seiner Macht steht,

grenzenlos zu lieben.

THEODOR STORM

Prolog

Der Wal lag weit draußen im Schlick, majestätisch und still wie ein gekentertes Schiff, das ein nächtlicher Sturm an Land geworfen hatte. Er war tot, das sah Gesa Koenig sofort. Sie blieb stehen und packte den Hund, der leise neben ihr winselte, am Halsband.

Schon auf dem Weg zum Deich hatte sie gespürt, dass da draußen etwas nicht stimmte. Die Sonne war soeben über den Feldern aufgegangen, ein flammendes Spektakel in Rot und Gold, das ihr die kurzen, schlaflosen Nächte versüßte, aber die Vögel schwiegen. Als wären sie nicht in der Stimmung, den tauglänzenden Junimorgen zu begrüßen.

»Dar is doch wat in’n Busch«, hätte ihr Mann früher gesagt. »Ik kiek mol na.« Und dann wäre er den Deich hinaufgestapft bis zur Krone, dorthin, wo der Blick bis ins Unendliche reichte, um nachzuschauen, was das Meer ihnen wieder an den Strand gespült hatte.

Aber Henri war tot, seit zwanzig Jahren schon. Und nach ihm waren so viele andere gegangen. Auf dem Friedhof an der kleinen Kirche war es eng geworden, während das Dorf nur noch von Erinnerungen lebte. Und die Jungen … Gesa schüttelte den Kopf, um die trüben Gedanken, die sie bedrängten, zu vertreiben. Vorsichtig tastete sie sich ins Watt hinein, den aufgeregt witternden Hund an ihrer Seite.

Beim Näherkommen bemerkte sie, dass es ein Pottwalbulle war, der sich in die Nordsee verirrt hatte. Er war noch jung und vielleicht zwölf Meter lang, vermutlich war er auf seiner Wanderung vom Äquator ins Eismeer einfach falsch abgebogen und dann verhungert. Misstrauisch umkreisten ein paar Austernfischer den riesigen Kadaver, während die Lachmöwen immer noch sprachlos schwiegen.

Gesa seufzte und befahl dem Hund, sich zu setzen. Dann faltete sie die Hände und hielt einen Moment inne, überwältigt von der beklemmenden Schönheit dieser Kreatur. Der plumpe Kopf nahm fast ein Drittel des Körpers ein und sah wie ein Rammbock aus, die feucht glänzende, zerfurchte Haut ließ sie an Marmor denken, die spitzen Zähne des Unterkiefers schimmerten wie Elfenbein. Über den Rücken des Riesen zog sich eine Reihe von Buckeln und Zacken bis hinab zur mächtigen Fluke. Pottwale konnten bis in die dunklen Abgründe der Tiefsee hinabtauchen, und sie sangen so schön wie die Sirenen. Jedenfalls hatte das Henri behauptet. Ihr Mann war noch auf Walfang gewesen, als Schiffsjunge in den Fünfzigerjahren. Doch die blutige Jagd hatte ihn so schockiert, dass er sich geschworen hatte, diesen Tieren nie wieder Leid zuzufügen.

Henri.

Wieder überflutete sie die Trauer, aber in die Traurigkeit hinein mischten sich auch hellere Töne. Silbrige Erinnerungen an ihre Ehe und das Glück ihrer Liebe strömten auf sie ein. Und nach einer Weile hob sie den Kopf und blinzelte die Tränen zurück. Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie die weite Fläche des Wattenmeeres ab, die sich wie ein schimmernder Teppich vor ihr ausrollte. Pottwale waren meist in Gruppen unterwegs – kämpften da draußen noch mehr Riesen um ihr Leben?

Aber das Watt lag wie unberührt vor ihr. Eine stille, glänzende, von Pfahlmuscheln und Austernschalen geschmückte Fläche. Die Sonne stieg nun über den Deich, und ihr Licht tanzte in den Pfützen und Prielen. Gesa beschirmte die Augen. Dunklen Walbuckeln ähnlich erhoben sich die Halligen am Horizont. Habel, Gröde und Langeneß. »Schwimmende Träume«, so hatte der alte Storm die Inselchen im poetischen Überschwang seiner Heimatliebe einst genannt.

Schwimmende Träume.

Ein Lächeln malte sich in ihr Gesicht. Gesa mochte die Verse des alten Storm. Das Leben an der Küste war hart, verheerende Stürme und vernichtende Fluten hatten diese Landschaft geschaffen. Aber das, was geblieben war, berührte die Seele, und der Dichter wusste davon zu erzählen.

Noch einmal ließ sie den Blick schweifen, um den morgendlichen Zauber tief in sich aufzunehmen, und auf einmal erschien ihr dieser Wal nicht länger wie ein düsteres Menetekel, sondern wie der Vorbote eines Neuanfangs.

Gab es nicht doch noch Hoffnung für das Dorf?

Für den Hof und den Garten.

Und für Henris Schätze.

Für all das, was noch nicht zu Ende war.

Warum sollte es nicht weitergehen? Sie jedenfalls hatte alles dafür getan.

Gerührt lauschte Gesa ihrem Atem, ihr Herz pochte, wie ein altes Herz bisweilen pochte. Unruhige, wuchtige Schläge. Sie dachte, dass sie umkehren sollte, um Meldung zu machen, bevor die heranrollende Flut das Tier wieder verschluckte, aber etwas, das sie nicht benennen konnte, hielt sie fest und lockte sie ins Watt hinaus.

Die Neugier eines Kindes.

Fast war ihr so, als nähme da jemand ihre Hand, um sie mit sich zum Wal hinauszuziehen.

Mit einer vagen Sehnsucht im Herzen lief sie weiter. Sie konnte den Wal nun riechen, die geheimnisvollen Aromen der Tiefsee, das Salz, das auf seiner Haut trocknete, die halb verdauten Tintenfische seiner letzten atlantischen Mahlzeit. Eine Ahnung von Fäulnis und Zerfall lag in der Luft und überdeckte den Schlickgeruch. Winselnd folgte ihr der Hund, und sie schalt ihn dafür.

Das winzige, kindlich-runde Auge des Pottwals erstaunte sie. Sie war nun so nahe bei dem Tier, dass sie nur noch die Hand ausstrecken musste, um es zu berühren.

Ihr Herz schlug noch schneller, ein aufgeregtes Klopfen unter ihren Rippenbögen, das sie an ihren ersten Tanz mit Henri erinnerte. Frisch und kühl strömte die salzige Luft in ihre Lungen, und plötzlich fühlte sie sich so jung und unbeschwert wie schon lange nicht mehr.

Behutsam legte sie eine Hand an die Flanke des Wals, dann drehte sie sich um und folgte seinem Blick.

Was hatte er zuletzt gesehen?

Die blühenden Salzwiesen und den Deich, der die Halbinsel vor dem Meer schützte?

Das Ende der Unendlichkeit?

Oder vielleicht den Himmel?

Die aufziehende Morgenröte und die ineinanderfließenden Farben.

Die vom Wind getriebenen Wolken.

Das Kreisen der Möwen.

Womöglich Gott?

Wieder spürte sie ihr Herz unter den Rippen, es fühlte sich so an, als ob es tanzte. Die leichte Brise bauschte ihren Rock, und sie hob die Arme, um den Wind zu umarmen.

Nur noch einmal tanzen, dachte sie. Mit Henri. Sich in seine Arme zu stürzen, ausgelassen vor Glück. Ihr Mann war ein ausgezeichneter Tänzer gewesen, er hatte sie kopfüber durch die Luft wirbeln können.

Gesa schloss die Augen und probierte ein paar Schritte. Da war eine Stimme, ein Lied, wie schwerelos hing es über dem Watt.

War das Henri, der da sang?

Gesa wiegte sich zur Melodie, vor und zurück, vor und zurück.

Ratlos sah der Hund ihr zu.

Sie merkte nicht, wie ihre Stiefel immer tiefer in den knisternden Schlick sanken. Sie empfand nur eine grenzenlose Freude, so wie sie Kinder erleben konnten. Oder Liebende.

Henri.

Sie war ihm so nah, so nah.

»Sag mir, dass es weitergeht«, flüsterte sie. Und Henri lächelte, so wie er immer gelächelt hatte, wenn er sie in seinen Armen hielt.

Ja, es würde weitergehen. So wie es immer weitergegangen war. Nach jedem Sturm, nach jeder Flut hatten die Leute von Emilienkoog wieder Häuser in den Muschelgrund gesetzt. Sie hatten Träume geboren und Kinder bekommen, Gärten angelegt und Rosen gepflanzt.

Sie waren nie sorglos gewesen, aber sie hatten auch getanzt. In den kurzen, aber leuchtenden Sommern zwischen Himmel und Meer.

»Nicht wahr, Henri?«

Außer Atem öffnete sie die Augen und sog gierig die prickelnde Luft ein.

Der Deich schien viel weiter entfernt als zuvor, oder war es das Licht, das sich verändert hatte? Gesa tätschelte den Hund. Sie überlegte, dass sie sich einen Moment ausruhen sollte, bevor sie sich auf den Rückweg machte.

Benommen trat sie ein paar Schritte zurück, um sich gegen die mächtige Flanke des Wals zu lehnen, dann zog die Erschöpfung sie sanft zu Boden.

Henri.

Ihre Hände tasteten nach einer Muschel im Schlick, während der Hund den Kopf in ihren Schoß legte und seufzte.

Gesa lächelte. Wieder hörte sie diese Melodie, die sie wiegte.

Ja, es war gut.

Alles war gut.

Endlich.

1

Ebba

Champagner?«

Mit einem zuvorkommenden Lächeln beugte sich die Stewardess über Ebbas Sitz und hielt ihr ein Glas Moët & Chandon entgegen.

»Nein, vielen Dank.« Ebba deutete auf die Karaffe mit frisch gepresstem Orangensaft, die auf dem Trolley stand. Der Tag war hektisch gewesen, Pressetermine und Interviewanfragen bis kurz vor dem Check-in. Selbst in der Lounge hatte sie noch ein paar Interviews mit Jona abgestimmt. »Ich könnte ein paar Vitamine vertragen.«

»Sehr gern.«

Der Champagner verschwand. Gleich darauf platzierte die junge Frau mit den feinen asiatischen Gesichtszügen ein Glas Saft auf der Leinenserviette ihres Tischchens, doch da hatte Ebba sich schon wieder über ihren Laptop gebeugt.

Das Boarding war fast abgeschlossen, nur noch acht Stunden bis New York. Und in der First Class des riesigen Airbus A 380 verging die Zeit sowieso wie im Flug.

Ebba öffnete den elektronischen Kalender, der ihr Leben mit Jonas Reisen rund um den Globus synchronisierte: Abflug Amsterdam Schiphol 17.20 Uhr, Ankunft New York JFK19.20 Uhr. Sie nippte kurz an ihrem Orangensaft, die Zeitverschiebung ließ ihnen noch Gelegenheit zu einem Business-Meeting. Also schnell ins Hotel, bevor sie zum Dinner mit den Leuten vom Musiklabel fuhren. Tony und Caroline erwarteten sie im Daniel’s auf der Upper East Side. Danach vielleicht noch ein Drink in der Hotelbar, damit sie einschlafen konnte. Morgen dann die ersten Pressetermine zum Frühstück um neun, bevor die Proben mit den New Yorker Philharmonikern begannen. Der große Jona Bennett würde Bachs Violinkonzerte spielen, auf seine eigene, virtuose, das Publikum elektrisierende Art.

Und dann … Ebba strich sich das helle, glatte Haar zurück und überflog die Termine der kommenden Tage, bevor sie den Blick hob und Jona betrachtete. Wie immer saß er zwei Reihen vor ihr, auf der rechten Seite des Oberdecks. Sie konnte seine Stradivari nicht sehen, aber sie wusste, dass er die Geige bis zur Ankunft in New York nicht aus den Augen lassen würde. Nur wenn er zur Toilette ging, vertraute er ihr die kostbare Schöne für ein paar Minuten an.

Die Airline hatte von seinem Label ein detailliertes Briefing mit Sonderwünschen bekommen: In der First Class hatte ein totales Handy- und Fotoverbot zu herrschen, er brauchte eine warme Decke aus Yakwolle und mindestens zwei Luftbefeuchter. In der Bordtoilette warteten ein eigener Sitz und nach Lavendel duftende Handtücher, die Stewardessen mussten sich regelmäßig die Hände desinfizieren und sollten möglichst jeden Blickkontakt vermeiden. Auch die Liste fürs Catering las sich wie das Who’s who der Starneurosen: kein Fisch, kein Fleisch, kein Zucker, kein Gluten und keine Laktose. Unterwegs ernährte er sich vorwiegend von Energy Balls aus Trockenfrüchten, Nüssen und grüner Rohkost. Dazu Champagner, Ruinart Rosé. Schon vor dem Start benötigte er zwei Gläser, um nicht darüber nachzudenken, dass er sich gleich zehntausend Meter über dem Atlantik befinden würde.

Sie sah, wie Jona das erste Glas hinunterstürzte und der hübschen Asiatin winkte. Eigentlich war die junge Frau sein Typ, schmal und zierlich, mit dunklem, glänzendem Haar und sinnlichen Lippen, aber er würdigte sie keines Blickes, während sie ihm aus seiner persönlichen Jona-Bennett-Superstar-Flasche nachschenkte.

Ebba runzelte die Stirn, als er das Glas hastig leerte, um es sich dann ein drittes Mal auffüllen zu lassen. Schon in der Lounge war er fahrig gewesen, er hatte sich kaum auf die Interviewtexte konzentrieren können, die sie ihm zur Abstimmung vorgelegt hatte. Schließlich hatte er sie einfach machen lassen und sich die monströsen Kopfhörer über die Ohren geschoben, mit denen er den Lärm der Außenwelt ausblendete. Seitdem hatte er die schwarzen Designerbeats, mit denen er wie eine Kreuzung aus Fußballprofi und hippem DJ aussah, nicht mehr abgesetzt. An den Fingerbewegungen seiner linken Hand konnte sie ablesen, dass er Mozart hörte. Das Violinkonzert Nummer drei G-Dur: zwei Violinen, Viola, Bass, Oboen und Hörner. Seine Playlist gegen den Stress.

Ebba nahm noch einen Schluck von ihrem Orangensaft. Das Konzertjahr war lang gewesen, seit September tourte er schon, Flugmeilen bis zum Mond. Weihnachten waren sie in Sydney gewesen, zu Ostern in Moskau. Sogar die Chinesen hatte Jona mit seinem Mix aus virtuosem Spiel und unkonventioneller Interpretation begeistert. Es wurde Zeit, dass die Saison endete und sie sich in die Sommerpause verabschiedeten. Nur noch das Konzert in New York und ein Festival in Kalifornien, dann würde Jona sich für zwei Monate in seinem Haus auf Long Island einnisten, während sie sich endlich um ihr Apartment in Kopenhagen kümmern wollte. Sie hatte es vor anderthalb Jahren gekauft und noch immer nicht eingerichtet.

Ebba lehnte sich zurück, versonnen schaute sie aus dem Fenster in den verregneten Amsterdamer Nachmittag. Sie träumte von einem Bett so groß wie ein Schiff, duftender Bettwäsche in Meerfarben und einem kleinen verwunschenen Terrassengarten, den sie von ihrer Putzfrau pflegen lassen würde. Und dann war da noch Magnus, der ihr das Apartment in der Nähe des Kopenhagener Zoos vermittelt hatte. Hin und wieder skypten sie, wenn die Umstände und die Zeitverschiebung es zuließen. Sie freute sich darauf, ihn wiederzusehen. Und auch auf etwas mehr Zeit für sich selbst. Lange Spaziergänge durch den Tiergarten und ein Ausflug mit Magnus zu den Inseln in der Ostsee.

Auf dem Rollfeld steuerte ein letzter Wagen mit Gepäck auf den Airbus zu, die Koffer glänzten feucht. Am Gate nebenan löste sich eine Boeing 777 vom Finger. Als Ebba wieder auf den Bildschirm vor sich sah, bemerkte sie, dass Jona alle Termine für den Abend gecancelt hatte. Er hatte sie über seinen Zugang einfach gelöscht. Und offenbar war ihm das noch nicht genug: Wie von Geisterhand fraß sich der blinkende Cursor durch den Kalender, löschte einen Termin nach dem anderen und zerstörte die Arbeit von Wochen. Meetings, Pressegespräche, Probentermine und Reisedaten, die sorgfältig ausbalancierte Architektur seines Lebens – einfach dahin.

»Jona!«

Ebba war so fassungslos, dass sie noch nicht einmal aufschreien konnte. Es kam nur ein heiseres Krächzen, das ihr im Hals stecken blieb. Das Blut schoss durch ihren Körper, eine heiße Welle aus Schreck und Entsetzen. Sie schlug die Hand vor den Mund, dann riss sie den Laptop hoch, als ob sie so etwas retten könnte. Wie in Zeitlupe kippte ihr der Orangensaft in den Schoß.

»Verdammter Mist!«

Aber Jona hatte noch nicht genug, immer noch fuhrwerkte er in seinen Terminen herum. Sie sah, wie er hektisch mit dem Finger über sein Handy wischte.

Was zum Teufel trieb er da?

Wie hypnotisiert starrte Ebba auf den Bildschirm, während eine letzte funktionierende neuronale Verbindung in ihrem Gehirn betete, dass es irgendwo ein Back-up ihres Kalenders gab.

Auch die anderen Passagiere in der ersten Klasse bemerkten, dass da in Reihe eins etwas Merkwürdiges vor sich ging. Natürlich hatten sie den schlaksigen Typen mit dem pinkfarbenen Geigenkasten erkannt. Alle Welt kannte Jona Bennett und sein mitreißendes Vibrato. Mit seinen Cross-over-Programmen hatte er die Geige aus den Tempeln der Hochkultur befreit und in die Arenen der Rock- und Popmusik gebracht. Er beherrschte die alten Meister genauso souverän wie die Hits von Adele, Beyoncé oder Coldplay. Und er liebte das augenzwinkernde Spiel mit den Konventionen. Jona hatte kein Problem damit, Bach und David Guetta mit derselben Ernsthaftigkeit zu spielen.

Ebba löste den Gurt und tupfte sich die Hose mit einer Serviette ab, die ihr die aufmerksame Stewardess reichte. Als sie aufstehen wollte, sprang auch Jona plötzlich auf. Mit dem Geigenkasten unter dem Arm stürzte er wortlos zur Treppe und verschwand nach unten.

»Jona!«

Ebba schnappte sich ihre Handtasche und warf den Laptop hinein. An der verdutzten Stewardess vorbei lief sie ihm nach.

Jona war schon unten. Sie hörte, dass es einen kurzen, scharfen Wortwechsel mit einem Steward gab, was ihr die Chance ließ aufzuholen. Im Übergang zwischen Flieger und Finger hatte sie ihn erreicht.

»Jona!« Beruhigend legte Ebba ihm eine Hand auf den Arm. »Was ist denn los?«

Konnte er sie durch die Kopfhörer überhaupt hören? Jona starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Ein panischer Blick wie von einem gehetzten Tier. Er schwitzte und schien gleichzeitig zu frieren, er zitterte.

Vorsichtig streifte Ebba ihm die Beats ab, und er ließ sie gewähren.

»Jona«, sagte sie noch einmal, weil sie wusste, dass er ihre Stimme mochte. »Komm, setz dich wieder. Du hast morgen Probe. Die Halle ist ausverkauft. Alan würde es dir nie verzeihen, wenn du das Konzert mit den Philharmonikern schmeißt. Das Dinner heute Abend können wir doch absagen, wenn dir das zu viel ist.«

Jona schüttelte den Kopf. Er sah aus, als würde er gleich ertrinken, in einer für sie nicht sichtbaren stürmischen See. Seine schönen, schlanken Hände umklammerten den Geigenkasten, als hielte er einen Rettungsring im Arm.

»Brauchen Sie einen Arzt?«

Der Steward war wieder da, er sah sie mit einer Mischung aus Neugier und Verärgerung an.

»Nein, nein, vielen Dank.« Ebba versuchte, Jona sanft über die Schwelle in den Flieger zurückzuziehen. »Alles in Ordnung. Wir setzen uns wieder.«

Aber Jona schüttelte den Kopf.

»Jona, bitte.«

Sie strich ihm über den Arm. Das Zittern hatte nachgelassen, und sie schöpfte ein wenig Hoffnung.

»Madam, das Gate hat bereits geschlossen. Wir schließen jetzt die Außentüren.«

Herr im Himmel.

Wütend funkelte Ebba den Steward an. Sah er denn nicht, dass sie versuchte, die Wogen zu glätten?

Jona zuckte erneut zusammen. Sie spürte, wie er sich wieder verspannte, starr wurde wie ein Stück Treibholz, das die Gischt hin und her warf.

»Jona …«, murmelte sie beruhigend, aber da hatte er sich schon losgerissen und stürmte den Finger hinauf zurück zum rettenden Gate.

Der Flieger nach New York war weg. Gestartet mit einer halben Stunde Verspätung, weil die Bodencrew ihr Gepäck wieder ausladen musste. Safety first, auch wenn sich zwischen den Hoodies und Bühnenoutfits in Jonas Koffern gewiss keine Bombe befand.

Ebba telefonierte hektisch, um Jona schnell zu erlösen. Seine Augen flehten sie förmlich an. Es war ihre Aufgabe, auch schwierige Situationen zu meistern, und sie bemühte sich darum, Jona eine halbwegs unauffällige Rückfahrt in die Stadt zu ermöglichen. Limousinenservice, Security, Hotel. Dazwischen ein Gespräch mit Caroline von Global Music, um sie über den verpassten Flug zu informieren.

»Kann er morgen fliegen?«

Caroline hatte ihr vorgerechnet, welche Summen auf dem Spiel standen, falls sie das ausverkaufte Konzert in New York absagen mussten.

Ebba hatte kurz geschwiegen und sich etwas von Jona entfernt, damit er sie nicht hören konnte. »Er braucht einen Arzt«, hatte sie dann gesagt und ihr seine Panik geschildert. So etwas war noch nie vorgekommen, und sie wusste nicht, ob sie der Situation gewachsen war. Caroline hatte versprochen, sich darum zu kümmern. Es gehörte zu ihrem Job, die Stars des Labels mit allen möglichen legalen und weniger legalen Hilfsmittelchen zu versorgen, und sie kannte eine Menge diskreter Ärzte und Psychiater, die eine überspannte Künstlerseele wieder erden konnten.

Jona saß in der Zwischenzeit teilnahmslos in einem Sessel und starrte auf den Boden. Er zitterte nicht mehr, aber er war sehr blass. Verstrubbeltes Haar und violette Schatten unter den Augen. Wieder dachte Ebba, dass er wie ein Schiffbrüchiger aussah. Der Geigenkasten lag in seinem Schoß, sie konnte seine feuchten Fingerabdrücke auf dem Lack erkennen. Der Tee mit Honig, den sie für ihn bestellt hatte, stand unberührt auf einem kleinen Tisch an seiner Seite. Ebba trat zu ihm. In ihr Unverständnis über seinen Aussetzer mischte sich so etwas wie Mitgefühl. Seit drei Jahren reisten sie gemeinsam von Konzert zu Konzert, und aus der gegenseitigen Achtung war so etwas wie Freundschaft geworden. Jona tat ihr leid, und sie wünschte sich, sie könnte ihn in den Arm nehmen und trösten.

»Wir fahren zurück ins Canal House«, sagte sie behutsam. »Die Limousine wartet unten. Morgen sehen wir weiter.«

Jona nickte. »Was hat Caroline gesagt?«, fragte er leise. Seine Stimme klang dünn wie die eines Kindes. Alle Kraft und Tiefe waren daraus verschwunden.

»Sie versucht, die Probe auf Donnerstag zu verschieben«, antwortete Ebba. »Und wir canceln alle Pressetermine. Wenn wir morgen fliegen, dann …«

Jona schüttelte den Kopf, ein entschiedenes Nein, in seinem Blick lag etwas Dunkles, Verzweifeltes. Sie sah, dass er mit etwas kämpfte, das mächtiger war als er selbst.

»Jona, du kannst doch jetzt nicht alles absagen! Es sind doch nur noch drei Wochen bis zum Ende der Tour.«

»Doch«, sagte er und stand schwerfällig auf. Ebba folgte ihm zum Ausgang der Lounge.

»Tony dreht durch.«

»Der kann mich mal.«

Jona zog sich die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf, mit dem Fahrstuhl und über einen Seitenkorridor gelangten sie zum VIP-Eingang, wo die Limousine auf sie wartete.

Auf der Fahrt zurück in die Stadt starrte Jona durch die abgedunkelte Seitenscheibe, aber Ebba war sich nicht sicher, ob er die Außenwelt überhaupt wahrnahm. Seine Augen waren leer, als hätte er den Blick nach innen gerichtet. Wahrscheinlich war er über seinen Aussetzer genauso entsetzt, wie sie es war. Mit dem Handy checkte sie, ob irgendetwas über diesen Vorfall ins Netz gelangt war.

»Und?«, fragte Jona nach einer Weile tonlos von hinten, als ob er durch ihren Sitz hindurchsehen könnte.

Ebba schüttelte den Kopf und drehte sich zu ihm um. »Nichts«, sagte sie schnell, um ihn zu beruhigen. »Die letzten Posts stammen vom Konzert gestern Abend.«

Jona nickte, er schob sich die Kopfhörer über die Ohren und schloss die Augen. Ebba betrachtete ihn sorgenvoll. Hätte sie nicht etwas von seiner Krise merken müssen? Seine Launen, die zunehmenden Stimmungsschwankungen, der unruhige Schlaf und die Appetitlosigkeit. Er hatte abgenommen, und dann waren da noch der viele Champagner und dieser winzige Patzer gestern Abend bei der Zugabe.

Hatte er sich zu viel zugemutet? Oder hatten sie ihm zu viel abverlangt – Tony und Caroline und all die anderen, die sein einzigartiges Talent vermarkteten und ihn durch die Konzerthäuser dieser Welt trieben? Wie viele freie Tage hatte er im letzten halben Jahr gehabt? Oder Stunden?

Ebba drehte sich wieder nach vorn und ließ das Handy in die Tasche gleiten. Sie fühlte sich unbehaglich, ein Gefühl von Beklemmung, das von Minute zu Minute stärker wurde. Und die nasse Hose machte es auch nicht besser.

Als sie die Amsterdamer Altstadt erreicht hatten, atmete sie auf. Das Canal House lag mitten im Zentrum, direkt an der alten Keizersgracht. Ebba mochte die hohen Decken und schmalen Stiegen des ehemaligen Kaufmannshauses, den ruhigen Garten und die in blaues Licht gehüllte Bar, durch die um Mitternacht die Geister der Vergangenheit wehten.

Langsam fuhr die Limousine am Kanal entlang auf das Hotel zu, die Fassaden der historischen Giebelhäuser spiegelten sich im dunklen Wasser der Gracht. Es hatte aufgehört zu regnen, und ein Pulk von Fahrradfahrern umringte sie und eskortierte die Limousine die schmale Straße hinab.

Ebba drehte sich wieder zu Jona um und berührte sein Knie. Nach ein paar Sekunden öffnete er die Augen, dann schob er langsam die Kopfhörer herunter. Als er das fröhliche Fahrradklingeln hörte, sah sie ihn zum ersten Mal an diesem Tag zaghaft lächeln.

In der Hotellobby erwartete man sie bereits. Jona und Ebba waren schon ein paar Mal im Canal House abgestiegen, und so fuhren sie gleich hinauf in die Suite. Während Jona im Bad verschwand, nahm Ebba das Gepäck entgegen und bestellte ein leichtes Abendessen. Gedünstetes Gemüse und auf der Haut gebratenen Wildlachs, den Jona hier sehr gerne aß. Nur unterwegs bekam er kaum etwas hinunter, die Flugangst schnürte ihm buchstäblich die Kehle zu. Dann zog sie sich schnell in ihrem angrenzenden Zimmer um.

Ebba hörte die Dusche lange rauschen, so lange, bis das Essen kam. Der Zimmerservice deckte den Tisch am Fenster ein und entkorkte den Weißwein. Ebba setzte sich und wartete auf Jona.

Im nächsten Moment summte ihr Handy. Auf dem Display leuchtete die Nummer ihrer Mutter auf. Überrascht nahm Ebba das Telefon in die Hand, sie hörten nur sporadisch voneinander, und meist war es Ebba, die ihre Mutter anrief.

»Mama?«

»Wo bist du, Ebba?«

Die Stimme ihrer Mutter klang seltsam, etwas, das Ebba nicht deuten konnte, schwang darin. Ihr Herz schlug schneller.

»Amsterdam. Wir …«

»Du bist in Europa, wunderbar. Gesa ist gestorben, heute Morgen. Ich habe eben einen Anruf bekommen, sie konnten dich nicht erreichen. Es tut mir so leid, Schatz.«

»Aber …«

»Du musst nach Emilienkoog. Ich habe gesagt, dass du kommst.«

»Was ist denn passiert?«

Ebba sah zum Fenster hinaus, ein Touristenboot fuhr den Kanal hinab in Richtung Hafen. Blitzlichter flackerten auf. Wie ein vergilbtes Polaroid tauchte plötzlich das Gesicht ihrer Großmutter in ihrer Erinnerung auf und ließ ihr die Tränen in die Augen steigen.

»Das wissen sie noch nicht. Sie haben sie im Watt gefunden, neben einem Wal.«

»Einem Wal?«

Ebba schüttelte den Kopf. Im nächsten Moment dachte sie, dass das Szenario zu Gesa passte. Ihre Großmutter hatte schon immer ein Gespür für Hintergründiges besessen.

»Ja, ein gestrandeter Pottwal.«

»Mama, ich kann nicht. Ich fliege morgen mit Jona nach New York.«

Sie hörte ein Geräusch in ihrem Rücken und drehte sich um. Jona kam aus dem Bad, er trug einen Bademantel, sein dunkles Haar glänzte feucht. Fragend schaute er sie an.

»Schatz, ich bin in Dubai. Und es gibt Probleme auf der Baustelle. Ich kann hier nicht weg, sonst verliere ich das Projekt. Ich komme nach, so schnell ich kann«, drang die Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr. Ebba meinte, die dröhnende Stille der Wüste im Hintergrund zu hören.

»Versprochen?«

Ebba biss sich auf die Lippen. Wann hatte ihre Mutter je ein Versprechen gehalten?

»Melde dich, wenn du dort bist, ja?«

»Ich …« Ebba wollte noch etwas sagen, aber da hatte ihre Mutter schon aufgelegt.

»Alles klar?«

Jona kam näher, sie konnte den herben Kräutergeruch seines Shampoos riechen. Er sah wieder besser aus, so als hätte die heiße Dusche die Panik fortgespült. Eigentlich wirkte er wie nach einem seiner Konzerte, wenn er ausgepowert, aber erleichtert war, das herausfordernde Programm wieder einmal bezwungen zu haben.

»Meine Großmutter … Sie ist heute Morgen gestorben.« Ebba legte das Telefon neben ihren Teller auf den Tisch. Auf einmal flutete sie die Trauer mit Wucht. Ihr fiel ein, dass sie ihre Großmutter gestern noch hatte anrufen wollen. Vielleicht hätte sie ihr von den kleinen Perlenohrringen erzählt, die sie sich in Paris gekauft hatte. Und von Jonas umjubeltem Konzert im Spiegelsaal von Versailles. Warum hatte sie es nur vergessen? Ihr Magen krampfte sich zusammen. Vermutlich würde sie nichts essen können.

Jona sagte nichts, er sah sie nur an. Violettes Abendlicht sickerte von draußen herein und hüllte ihn ein. Bei seinem Anblick musste Ebba unwillkürlich an einen Abend am Meer denken, an den Moment, wenn der Tag friedlich davondämmerte und Himmel und Meer in der Dunkelheit verschmolzen.

Sie blinzelte, wieder brannten Tränen in ihren Augen. Sie wollte sich abwenden, nach einer Serviette greifen, aber da war Jona schon bei ihr und schloss sie in die Arme.

Seine Umarmung war so unerwartet wie überwältigend, tröstlich und fordernd zugleich. Ebba schnappte nach Luft. Einen winzigen Moment lang wehrte sie sich gegen das Verlangen, das wie prickelnder Champagner durch ihren Körper schwappte. Aber dann ließ sie sich doch darauf ein und suchte seine Lippen. Jonas Küsse waren so, wie er spielte, mitreißend und voller Gefühl. Seine Hände wanderten ihren Rücken hinab und unter ihr Shirt. Ebba konnte spüren, wie er nach ihrer Melodie suchte, als streiche er mit dem Bogen über die Saiten seiner Geige.

Noch einmal flackerte so etwas wie ein Rest von Vernunft in ihr auf, ein hoher, irritierender Ton wie von fern. Ganz kurz musste sie an Magnus denken. Was um Himmels willen tat sie hier eigentlich?

Aber als Jona sie mit sich auf das Bett zog und sie neben ihm lag, dachte sie, dass sie wohl beide etwas Trost gebrauchen konnten.

2

Finn

Kurz vor Mitternacht hatte es noch einen Notfall gegeben. Till Sauter, der Chef de Cuisine eines Szenerestaurants, war über einem späten Tuna Tartar zusammengebrochen. Herzinfarkt. Der Notarzt hatte den stadtbekannten Gastronom zunächst stabilisieren können, aber dann erlitt der Koch im Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus einen zweiten Infarkt.

Keine Chance für Katheder und Stent, das hatten sie auf den Röntgenbildern sofort gesehen. Stattdessen lag Sauter nun mit geöffnetem Brustkorb und stillgelegtem Herzen auf ihrem OP-Tisch im Münchner Herzzentrum, während die Herz-Lungen-Maschine ihn schnaufend am Leben hielt.

Es war inzwischen zwei Uhr früh, und Finn wusste, dass die Nacht noch lang werden würde. Sauter hatte das Leben in vollen Zügen genossen – zu viel Wein, zu viel Fleisch, zu viele Frauen. Die dritte Scheidung lief, das hatte die Boulevardpresse gerade erst vermeldet. Dazu gesellten sich eine fatale familiäre Disposition für Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen und der Stress, den der Hochseilakt der Sterneküche mit sich brachte. Das Geflecht seiner Herzkranzgefäße war jedenfalls so verstopft wie die Münchner City zur Rushhour. Kein Durchkommen, nirgends. Drei Bypässe würden nötig sein, um dem Koch ein zweites Leben zu schenken.

Soeben hob Professor Feldhusen das kranke Herz aus dem Herzbeutel heraus und drehte es etwas auf die Seite, damit Finn die erste Kranzarterie mit einem feinen Schnitt eröffnen konnte. Dies war nicht Finns erster Eingriff, aber er verspürte immer noch Ehrfurcht vor der Arbeit, die sie taten. Jede Operation am offenen Herzen war wie ein Date mit Gott, und trotz aller Routine erschien es ihm bisweilen wie ein Wunder, dass das, was sie hier taten, in den meisten Fällen auch tatsächlich funktionierte. Sie waren Handwerker und Zauberer zugleich – ein eingespieltes Team, das die Lebensuhr des vor ihnen liegenden Patienten um ein Viertelstündchen zurückdrehen konnte.

Der Schnitt war geglückt, mit einer Sonde überprüfte Finn die Durchlässigkeit der Ader. Er nickte, und einer der beiden Kollegen, die zwischenzeitlich die benötigte Überbrückungsarterie aus dem Unterarm des Kochs herauspräpariert hatten, reichte ihm ein Stück der Umleitung an. Schlaff hing das lebensrettende Aderstück an der Pinzette herab. Finn hielt es so, dass Feldhusen mit dem Nähen beginnen konnte. Mit wenigen präzisen Stichen setzte der Professor den Bypass auf die Kranzader auf.

Feldhusen summte im Takt der Herz-Lungen-Maschine die jazzige Version eines alten Johnny-Nash-Klassikers: »I can see clearly now, the rain is gone …« Finn bewunderte seine Ruhe und die absolute Gelassenheit, die er zu jeder Tages- und Nachtzeit ausstrahlte. Der hagere Asket mit den schmalen Lippen und dem nachlässig zurückgestrichenen Künstlerhaar schien nur für seinen Beruf und seine Berufung zu leben – jedenfalls war Finn nichts von einer Familie oder anderen zeitraubenden Vergnügungen bekannt. Nach seinem Medizinstudium in Kiel und ersten Stationen in Hamburg und Kapstadt hatte Finn hier am Münchner Herzzentrum von Arthur Feldhusen das große Einmaleins der Herzoperationen gelernt. Der Professor mochte ihn, und vielleicht würde er es in ein paar Jahren sogar bis zum Oberarzt bringen: Doktor Finn Grothe, Internist und Kardiologe, Oberarzt und Leitung der interventionellen Kardiologie. Das wäre nicht schlecht für einen gebürtigen Nordfriesen, dessen Horizont in den ersten achtzehn Jahren seines Lebens gerade bis zu den Halligen im Wattenmeer gereicht hatte.

Der erste Bypass saß. Finn setzte einen weiteren Schnitt und nahm das nächste Aderstück für die zweite Überbrückung entgegen. Wieder begann der Professor zu nähen, die Hände so ruhig, als ob er meditierte, die wintergrauen Augen hinter der Lupenbrille verborgen. »Gone are the dark clouds that had me blind …«

Wie im Zeitraffer verstrichen die Minuten im OP und summierten sich zu Stunden. Finn bemerkte, dass seine Gedanken wieder zu dem Koch wanderten, der unter den sterilen OP-Tüchern um sein Leben kämpfte. Wenn alles gut ging, konnte Sauter in zwei oder drei Wochen mit der Reha beginnen. Irgendwo in den Alpen, mit Blick auf Bergwiesen und weiße Wipfel. Nach weiteren vier oder fünf Wochen würde er wahrscheinlich unruhig werden, sich langweilen und den Köchen des Sanatoriums auf die Nerven gehen. In einem halben Jahr stünde er wohl längst wieder am eigenen Herd, lediglich die Narbe über dem Brustbein oder die Zubereitung eines Tuna Tartars würden ihn dann noch an den dramatischen Kollaps erinnern. Und an die eigene Endlichkeit. Oder würde Sauter sein Leben ändern und etwas Neues beginnen? Vielleicht eine kleine Strandbar eröffnen – auf Ibiza oder irgendwo in der Südsee?

Finn musste unwillkürlich lächeln, während er Feldhusen beim Nähen zusah. Die Operation am offenen Herzen war relativ unblutig, das meiste Blut floss bei der Eröffnung der Brust, wenn das Skalpell Haut und Fettschicht durchtrennte. Dann waren sie schon am Ort des Geschehens. Nach dem Abklemmen der Hauptschlagader und einem kräftigen Guss mit sterilem kalten Wasser setzte das kranke Herz einfach aus. Der Puls des Lebens stand still, von einer Sekunde zur nächsten. Finn hätte alles darum gegeben zu erfahren, ob die Patienten etwas davon spürten, wenn die Maschine das Kommando übernahm und Herz und Lunge für eine Weile ersetzte. Übernahm das Gerät auch das, was manche als Seele bezeichneten? Übertrug sich der fremde Rhythmus auf den Körper? Veränderten sich die Träume?

Der dritte Bypass. Diesmal diente eine Brustwandarterie als Überbrückung des verengten Gefäßes. Schnitt und Nähen.

»It’s gonna be a bright, bright sun-shiny day …«

Das hier war nicht der Emergency Room in irgendeiner amerikanischen Fernsehserie, sie trugen keine bunten Kopftücher über dem Haar und schliefen nicht mit den jungen Assistenzärztinnen, und doch war so etwas wie ein Flow zwischen ihnen spürbar. Eine Konzentration, die sich nur mit Sex vergleichen ließ. Extrem anstrengend, aber auch extrem gut.

Finn schnaufte tief durch, als Professor Feldhusen nach fast vier Stunden die letzte Naht verknotete. Das Herz wanderte zurück in den Brustkorb. Der Professor nickte ihm zu, und Finn zog die Klemme von der Brustschlagader. Das Blut strömte zurück ins Herz, und der Techniker konnte die Herz-Lungen-Maschine herunterfahren.

»I think, I can make it now, the pain ist gone …«

Normalerweise fing das Herz von allein an zu schlagen. Doch Sauters Herz flimmerte, die Überwachungsgeräte piepsten alarmiert.

»Na, der will wohl noch nicht zurück«, murmelte Feldhusen, fast ein wenig empört. Einen Moment lang beobachteten sie das zitternde Herz in seiner Höhle, dann reichte er Finn den Schocklöffel, um das Flimmern mit einem gezielten Stromstoß zu beenden.

Finn legte die Elektroden direkt an den Herzmuskel an, doch als er den Impuls auslöste, rutschte einer der beiden Löffel ab. Ungläubig starrte er auf seine Hände, beinahe hätte er einen der Bypässe zerfetzt. Im nächsten Moment jagte eine heiß-kalte Welle des Entsetzens durch seinen Körper. Er spürte seinen Puls bis in die Fingerspitzen.

Feldhusen sagte nichts, aber er hörte auf zu summen. Eine ohrenbetäubende Stille, die alle OP-Geräusche überlagerte. Eine lange Sekunde sah er ihn über den Rand seiner Brille an, bevor er ihm ruhig den Schocklöffel abnahm.

Der nächste Schuss saß. Das Herz begann zu schlagen, ein gleichmäßiges, koordiniertes Pumpen.

Feldhusen begann wieder zu summen.

»All of the bad feelings have disappeared …«

Routiniert maßen sie die Fließgeschwindigkeit des Blutes im Herzen. Die Umleitungen arbeiteten gut, ihre Haltbarkeit hing davon ab, ob sich Sauter auf seine zweite Chance besinnen würde. Dann begannen sie, das Brustbein mit Silberdraht zusammenzuflicken.

»Here is the rainbow I’ve been praying for …«

Fünf Stunden nachdem Till Sauter in den OP-Trakt gefahren worden war, wurde er auf die Intensivstation des Herzzentrums verlegt.

In der Umzugsschleuse spürte Finn Feldhusens fragenden Blick von der Seite. Sollte er etwas sagen? Finn zögerte, er wusste ja selbst nicht, was da gerade im OP vor sich gegangen war. Als der Strom floss, hatte er für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl gehabt, jemand würde ihm über die Schulter blicken.

Jemand, der nicht zum OP-Team gehörte.

Der Koch?

Oder war da noch jemand anders im Raum gewesen?

Finn kam es so vor, als hätte ihm diese Person etwas ins Ohr geflüstert. Irritierenderweise hatte die Stimme, die er gehört zu haben meinte, geklungen wie die seines Vaters.

»Töffel«, hatte Finn verstanden. Tölpel.

Der eisige, verächtliche Ton hatte ihn bis ins Mark getroffen.

Verunsichert schüttelte er den Kopf, während er seine OP-Kleidung in den Wäschebeutel stopfte.

»Eine Begegnung der dritten Art?«, fragte der Professor von der Seite, als könnte er seine Gedanken lesen. Feldhusens Stimme klang ruhig, fast verständnisvoll. Vielleicht hatte er in der Vergangenheit bereits Ähnliches erlebt.

Finn sah auf und zuckte mit den Schultern, erleichtert, dass der Professor ihn nicht anfuhr. »Jemand hat mich Tölpel genannt«, sagte er.

Feldhusen nickte, er strich sich das Haar zurück, dann rieb er sich die müden Augen.

»Was machen Sie im Urlaub, Grothe?«, fragte er ihn, als sie die Umkleide verließen.

»Gardasee«, antwortete Finn. »Mit meiner Freundin. Ferienhaus der Eltern, sie ist schon da.«

»Ist das noch die vom letzten Mal?«

Finn unterdrückte ein Lächeln, anscheinend hatte es sich bis zum Professor rumgesprochen, dass seine Beziehungen nie länger als ein halbes Jahr hielten.

»Wir kennen uns seit sechs Wochen«, murmelte er.

»Na dann, gutes Gelingen.« Feldhusen drehte sich noch einmal um und reichte ihm zum Abschied die Hand. Wieder sah er ihn etwas länger als nötig aus seinen wintergrauen Augen an. »Gehen Sie dem Tölpel mal auf den Grund«, sagte er noch, bevor er in Richtung Fahrstuhl verschwand. »Seinen Geistern sollte man sich stellen.«

Draußen war die Sonne längst aufgegangen. Kein Wind und kaum Feuchtigkeit in der Luft. Finn konnte die staubige Hitze riechen, die aus dem Süden herankroch und sich in ein paar Stunden wie eine schwere Glocke über die Stadt legen würde.

Müde warf er seine Reisetasche auf den Rücksitz des Cabriolets, an einer Tankstelle kaufte er sich einen Kaffee und ein Croissant mit Käse, dann fuhr er auf die Autobahn Richtung Salzburg. Finn hatte geplant, via Innsbruck und über Bozen, Trient und Rovereto bis nach Verona zu fahren. Er freute sich auf den Blick ins Stubaital, auf den kleinen flaschengrünen Brennersee und die Täler Südtirols mit ihren Weinbergen, Obstplantagen und mittelalterlichen Burgen an den schroffen Felswänden. Es war inzwischen halb acht, wenn er zügig durchkam, würde er um die Mittagszeit bei Julia eintreffen.

Hungrig biss er in das Croissant, dann nahm er einen Schluck von dem faden Kaffee.

Julia.

Er hatte sie in einer Bar am Odeonsplatz kennengelernt. Groß und schlank, mit langem, glänzendem Haar, porzellanblauen Augen und einem stolzen Lächeln war sie eine Frau, die man nicht übersehen konnte. Doch noch mehr als ihre Schönheit hatte ihn ihr Selbstbewusstsein fasziniert. Am Anfang hatte Julia ihn ein bisschen zappeln lassen, aber nach ein paar Dates – teure Lokale, hippe Bars, eine Ausstellungseröffnung – hatte er sie ins Bett bekommen. Finn mochte den Sex mit ihr, sie hatten beide ihren Spaß und genossen den Kitzel des Neuen, aber er wusste auch, dass sie nur miteinander spielten. Wenn sich in ein paar Monaten die Routine einschlich und nach der Lust die Langeweile kam, würde er sie ohne Bedauern ziehen lassen. Und auch Julia würde ihm keine Träne nachweinen, dafür war sie zu tough. Wahrscheinlich würden sie sich einfach irgendwann aus den Augen verlieren.

Vielleicht hatte er deshalb ein wenig gezögert, ihre Einladung an den Gardasee anzunehmen? Finn beschleunigte und überholte ein paar Lkws. Die Morgensonne tauchte die Felder links und rechts der Autobahn in ein mattes, gelbliches Grün, ein Krähenschwarm beackerte einen frisch gepflügten Streifen schwarzer Erde. Eigentlich hatte er keine Lust auf familiäre Verstrickungen, aber Julia hatte ihm versichert, dass ihre Eltern nicht am Gardasee auftauchen würden. »Da steht noch nicht mal ein Familienbild rum«, hatte sie lachend gemeint, während sie ihm einen munteren Ich-weiß-schon-was-du-meinst-Blick zugeworfen hatte. »Nur du und ich und meine Bikinisammlung.«

Finn lächelte, er stellte sich ihre Fohlenbeine im Gegenlicht eines flirrenden Sommernachmittags vor. Sie würden lange schlafen, auf dem Bootssteg frühstücken, ab und zu ins Wasser springen, Pasta essen und sich lieben. Zwei herrlich träge Wochen lang, wenn sie es denn überhaupt so lange mit sich und ihren jeweiligen Egos aushielten.

Und wenn nicht?

Finn fegte sich die Krümel von der Jeans. Er war jetzt eine Dreiviertelstunde unterwegs, in der Ferne erhob sich die bläulich schimmernde Kette der Alpen. Die Landschaft veränderte sich, wurde hügeliger, beschaulicher, ländlicher, doch der Verkehr war nach wie vor dicht und erforderte Konzentration. Noch vierhundert Kilometer. Finn spürte, dass er müde wurde. Er löste eine Hand vom Steuer und wischte sich über die trockenen Augen. Das Fahren strengte ihn an, und auf einmal erschien ihm die noch vor ihm liegende Strecke wie ein langer, dunkler Tunnel. Seufzend trank er den Kaffee aus, dann stellte er das Radio an, um sich ein wenig abzulenken. Eine Zeit lang halfen ihm die Musik und das Koffein über das Tief hinweg, aber dann wurden die Lider immer schwerer. Die Müdigkeit vernebelte seine Gedanken. Auf einmal flackerten blutige Bilder aus der Notaufnahme vor seinem inneren Auge auf. Julia würde warten müssen, dachte er, als er wenig später den Blinker setzte und an einem Parkplatz von der Autobahn abfuhr. Wenn er sich jetzt keine Pause gönnte, riskierte er einen Unfall.

Auf dem Rastplatz war nicht viel los. Finn fuhr ganz nach hinten durch und parkte. Als er ausstieg, um zu pinkeln, bemerkte er ein Schild, das dort jemand an einen Baum genagelt hatte. Zum Seehaus. Ein Pfeil zeigte auf einen Trampelpfad, der in ein Waldstück führte. Finn meinte, den Duft frisch gekochten Kaffees zu riechen, als hätte jemand eine Fährte aus Lockstoffen gelegt. Dann fiel ihm ein, dass es hier, direkt an der Autobahn, einen Stausee gab. Ein Kollege hatte ihm davon erzählt.

Neugierig folgte er dem Pfad. Nach etwa fünf Minuten sah er das dunkle Wasser des Sees durch die Baumreihen glitzern.

Das kleine Gasthaus lag idyllisch am Ufer des Sees, eine Steintreppe führte hinunter zum Wasser. Obwohl es noch früh war, saßen ein paar Trucker bei Currywurst und Pommes frites auf der Sonnenterrasse. Finn bestellte sich am Tresen einen Kaffee und eine Breze, dann fragte er, ob er sich auf die Wiese legen dürfe. Die Wirtin nickte freundlich und wies auf einen Stapel Decken auf der Terrasse, aber Finn schüttelte den Kopf. Er hatte Lust, das warme Gras auf seiner Haut zu spüren. Er nahm sein Tablett, suchte sich ein ruhiges Plätzchen am Rande der Wiese und schloss die Augen.

Das ferne Rauschen der Autobahn und der Duft nach Klee und wilden Blumen umfingen ihn wie ein angenehmer Traum. Finn schlief sofort ein. Als er wieder aufwachte, lag ein Schatten auf seinem Gesicht. Ein Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, blickte auf ihn herab.

»Schläfst du?«

»Jetzt nicht mehr.«

Benommen richtete Finn sich auf und sah auf die Uhr. Er hatte fast zwei Stunden geschlafen.

»Was machst du hier?«

Die Kleine ließ sich im Schneidersitz vor ihm nieder und verschränkte die Arme. Ihr langes Haar hatte einen rötlichen Schimmer, und die zarte, durchscheinende Haut war von Sommersprossen übersät. Irgendwie sah sie aus wie ein Schmetterling, der aus einem fernen Land zu ihm gekommen war.

»Ich war müde.« Finn lächelte über die Beharrlichkeit des Kindes, er nahm einen Schluck von dem kalten Kaffee, dann brach er die Breze in zwei Teile. »Willst du?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Stattdessen wickelte es sich eine Haarsträhne um den Finger und begann daran zu saugen.

»Die Breze ist gut.«

»Ich weiß.«

»Bist du öfter hier?«

Finn linste auf sein Handy, keine Nachricht von Julia, wahrscheinlich schlief sie noch. Er würde sie später anrufen.

»Ich wohne hier. Da oben.« Das Mädchen drehte sich um und zeigte auf das Gasthaus. »Wenn ich aufwache, sehe ich das Wasser.«

»Da bin ich aber neidisch.« Finn aß die Breze auf, er dachte, dass es auch in seinem Leben eine Zeit gegeben hatte, wo er jeden Morgen am Wasser aufgewacht war. »Ich hab mal am Meer gewohnt«, murmelte er leise. »An der Nordsee.«

»Und warum bist du da weg?«

Die Kleine kaute auf der Haarsträhne herum und sah ihm direkt in die Augen. Ihr Nasenrücken kräuselte sich, und Finn meinte, sich in ihren Pupillen spiegeln zu können. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab.

So könnte meine Tochter aussehen, dachte er plötzlich, dann musste er den Blick von dem Mädchen abwenden.

»Weiß nicht«, sagte er und stand auf. »Hast du Lust auf ein Eis?«

Als er wieder im Wagen saß, war es schon kurz vor elf. Das Auto hatte in der Sonne gestanden, und die dunklen Ledersitze waren unerträglich heiß. Finn startete den Motor und ließ die Klimaanlage laufen. Nachdenklich betrachtete er den dunklen Fleck auf seiner Jeans. Geschmolzenes Schokoladeneis – Kinderglück. Anni, so hieß die Tochter der Seehaus-Wirtin, hatte ihm verraten, wo im Frühjahr die Frösche laichten, und ihm die besten Stellen zum Angeln gezeigt. Dann hatten sie barfuß im stillen, dunklen Wasser gestanden und schweigend ihr Eis gegessen.

»Musst du nicht los?«, hatte sie ihn schließlich gefragt, als die beißende Kälte des Wassers schon bis zu seinen Knochen vorgedrungen war.

»Ja, das muss ich wohl«, hatte er geantwortet, sich aber nicht gerührt. Der Schlick unter seinen Füßen hatte sich wie Samt angefühlt.

Ja, warum war er damals fortgegangen?

Finn seufzte und ließ den Wagen langsam vom Parkplatz rollen. Auf der Autobahn schaltete er das Radio wieder ein und hörte die Nachrichten. Politik, Kultur, Vermischtes. Die letzte Meldung kam aus Norddeutschland. An der nordfriesischen Küste waren drei Pottwale gestrandet. Vor Husum, Pellworm und Helgoland.

Finn drehte das Radio lauter. »Was die Tiere zu dieser Jahreszeit von ihrem Kurs abgebracht hat, ist noch unklar«, sagte die Sprecherin. »Experten schätzen, dass sich die Bergungsarbeiten noch bis in die kommende Woche ziehen werden.«

Ein Pottwal.

Vor Husum.

Eine Abfolge von Kindheitsbildern spulte sich vor seinem inneren Auge ab, längst Vergangenes wehte ihn an. Finn trat aufs Gas, mit mehr als hundertachtzig Sachen schoss der Wagen über die Autobahn. Und trotzdem entkam er seinen Erinnerungen nicht.

Husum.

Und das Wattenmeer mit dem Wal.

An der nächsten Abfahrt setzte Finn den Blinker und fuhr ab. Er wendete, ohne noch einmal an Julia zu denken. Mit der Sonne im Rücken fuhr er nach Norden, ans Meer.

3

Jona

Jona hatte nicht gewusst, dass Ebba so gut Auto fahren konnte. Er hatte vieles nicht gewusst, dachte er, während er auf dem Beifahrersitz saß und sie aus den Augenwinkeln heraus beobachtete.

Er hatte nicht gewusst, dass es noch eine Großmutter in ihrem Leben gegeben hatte.

Oder dass ihre Tränen nach Meerwasser schmeckten.

Und dass sie küsste wie ein wilder Vogel, der gleich über die See davonfliegen würde. Ihre Küsse waren scheu und lockend zugleich. Sie hallten nach, eine eindringliche Melodie, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.

Was für eine seltsame Nacht!

Jona schloss ganz kurz die Augen. Er hatte seine sämtlichen Vorsätze über Bord geworfen. Hatte er sich nicht geschworen, die Musik und alles Private voneinander zu trennen? Immer schon – und gerade, wenn es um Ebba ging.

Ebba, die ihn nicht nur durch das Labyrinth seiner Verpflichtungen lotste, sondern ihm auch eine Freundin war. Sie war wohl seine einzige Vertraute, auch wenn das Netz viele Hunderttausend Friends und Likes für ihn bereithielt. Virtuelle Freunde, die ihn mit ihren begeisterten Kommentaren und ihrer öffentlich zur Schau gestellten Zuneigung überschütteten.

Aber dann hatte er sie da stehen sehen, in Tränen aufgelöst. Die unerschütterliche Ebba. Ihr Anblick hatte etwas irritierend Weiches und Wehrloses in ihm getroffen, und er wollte sie einfach nur in die Arme nehmen. Als er sie an sich zog, trommelte ihr Vogelherz flach und schnell unter den Rippen – ein Takt, der ihn mitriss. Zusammen hatten sie sich in die stürmische See der Begierde gestürzt.

Hatten sie überhaupt geschlafen?

Jona wischte sich über die Augen, er fühlte sich benommen, aber nicht wirklich müde. Da war eine Anspannung in ihm, die seinen Puls in die Höhe jazzte. Ein spitzer Ton, schmerzhaft und laut, als wäre er noch nicht ganz in diesem verwirrenden Zustand von Wirklichkeit angekommen, der sich seines Lebens bemächtigt hatte. Alles hatte sich verändert, von einem Augenblick zum nächsten, so als hätte ihn die Druckwelle einer Explosion erwischt und zu Boden geschleudert. Verstört erinnerte er sich an die panische Angst, die ihn kurz vor dem Abflug nach New York erfasst hatte. Ganz kurz hatte er geglaubt, verrückt zu werden.

Was war nur los mit ihm?

Jona presste die Lippen zusammen, ihm war, als stünde er vor einer unüberwindlichen Wand aus Fragen, die er nicht beantworten konnte. Da war nur eine Gewissheit: dass er so wie bisher nicht weitermachen wollte.

Unsicher strich er über den Geigenkasten auf seinem Schoß. Die Sonne fiel schräg durch die Windschutzscheibe und zeichnete Muster auf den Lack. Am frühen Morgen hatte jemand an die Tür seiner Suite geklopft. Erschrocken waren sie aus ihrem Dämmerschlaf aufgefahren. Als das Pochen nicht nachließ, war Ebba fluchend aufgesprungen. Das Tageslicht, das durch die Vorhänge ins Zimmer sickerte, schimmerte golden auf ihrer Haut. Ganz kurz blitzte das Tattoo auf Höhe ihres Herzens auf. Dann hatte sie sich seinen Bademantel übergeworfen und vorsichtig die Zimmertür geöffnet.

»Ich bin Doktor Frans«, hatte der Besucher sich vorgestellt, mit einer lauten, unangenehmen Stimme.

Caroline von Global Music hatte ihm einen ihrer hiesigen Spezialisten geschickt, und dieser Akt vermeintlicher Fürsorge rief sofort wieder das Gefühl in ihm wach, in der Falle zu sitzen. Jona hatte sich geweigert, sich untersuchen zu lassen. Stattdessen hatte er sich einfach im Bad eingeschlossen und alle Wasserhähne aufgedreht, um die Fragen des Arztes ja nicht hören zu müssen.

»Schick ihn weg!«

»Sie brauchen etwas, ein Attest, damit die Versicherung einspringt, falls du das Konzert am Samstag absagen musst«, hatte Ebba ihm durch die Badezimmertür zugerufen. In ihrer Stimme flackerte etwas von der resoluten Assistentin auf, die sie vor ihrer Umarmung gewesen war.

»Ich will ihn nicht sehen.«

Die alte Ebba hätte nicht so schnell aufgegeben, aber das hinreißende Wesen, das mit ihm geschlafen hatte, zögerte nur kurz, bevor es den Arzt hinauskomplimentierte.

Danach war alles sehr schnell gegangen. Ein hastiges Frühstück in der Suite und ein paar Telefonate, die Ebba tätigte, während er unter der Dusche stand und sie durch die offen stehende Badezimmertür beobachtete. Jetzt saßen sie in einem unauffälligen, PS-starken Mietwagen und hatten Amsterdam bereits hinter sich gelassen.

Ebba fuhr konzentriert, die Augen leicht zusammengekniffen. Ein rätselhafter Zug umspielte ihren Mund, und Jona war sich nicht sicher, ob sie überhaupt wusste, was sie da gerade tat.

Hatte sie einen Plan? Oder fuhren sie einfach aufs Geratewohl ins Blaue?

Nachdenklich drehte er den Kopf zur Seite und sah aus dem Fenster. Sie fuhren auf der Landstraße, kleine, aufgeräumte Ortschaften mit merkwürdig klingenden Namen zogen an ihm vorbei: Volendam, Edam, Hoorn. Die Welt schien zu schrumpfen, ein Miniaturwunderland mit properen Häuschen, Kanälen, Zugbrücken und stolzen Windmühlen. Immer wieder schimmerte das Ijsselmeer durch das Grün zu seiner Rechten. Gerne hätte er irgendwo angehalten, um einen Spaziergang am Wasser zu machen.

Wann war er zum letzten Mal auf dem Land gewesen? Jona konnte sich nicht daran erinnern. Genauso wenig wie er sich erinnerte, wann er zum letzten Mal dem Wind oder dem Rauschen des Meeres gelauscht hatte, ohne dabei an eine Partitur oder ein Konzert zu denken. Immerzu hatte er den Klang der Natur auf seinen musikalischen Wert hin überprüft.

»Wohin fahren wir?«

»An die Nordsee.«

»Willst du mich entführen?«

»Nein.« Ebba lachte kurz auf, aber sie sah ihn nicht an. Er bemerkte, dass ihre Nasenflügel ganz leicht zuckten. »Ich muss nach Hause. Und ich kann dich jetzt nicht allein lassen.«

»Nach Hause?«

Jona überlegte, wo ihr Zuhause war. Ebba war in Dänemark zur Welt gekommen und danach mit ihrer Mutter, einer gefragten Architektin für Vergnügungsparks, um die Welt gereist. »Von Großbaustelle zu Großbaustelle«, wie sie zu sagen pflegte. Sie hatte zehn verschiedene Schulen besucht. Von ihrem deutschen Vater sprach sie nie. Soviel er wusste, hatte sie sich vor einiger Zeit eine Wohnung in Kopenhagen gekauft.

Als er schon dachte, dass sie nicht mehr antworten würde, sagte sie: »Emilienkoog.«

»Ist das ein Ort?«

Ebba nickte. »Ein Dorf in Norddeutschland, bei Husum. Ein paar alte Häuser hinterm Deich. Schafe, Vögel, Wind.«

»Das klingt …« Jona sprach den Namen noch einmal leise vor sich hin. Sein Deutsch war ganz passabel, seine Mutter stammte ursprünglich aus Heidelberg, und er sprach es gern, um der Melancholie der großen deutschen Komponisten nachzuspüren. Ebba und er wechselten oft zwischen dem Englischen und Deutschen hin und her. E-mi-lien-koog – war das so etwas wie eine alttestamentarische Wortschöpfung? Ein Ort zwischen Himmel und Hölle? »Hört sich seltsam an, wie aus der Zeit gefallen«, sagte er.

Ebba lächelte gequält, wieder schwieg sie für einen Augenblick, den Blick auf die Straße gerichtet. »Ein paar Tage nur«, sagte sie schließlich, wie um sich selbst Mut zu machen. »Bis alles geregelt ist.«

»Du meinst die Beerdigung deiner Großmutter?«

»Hm.« Sie nickte bestätigend und hielt an einer roten Ampel. Kinder mit Schultasche überquerten die Straße. Jona sah ihnen nach, sie sahen glücklich aus, fast schwerelos. Flink und miteinander scherzend liefen sie weiter.

»Wir haben ein paar Tage Zeit«, fuhr Ebba fort. »Du setzt dich ans Wasser und kommst ein bisschen zur Ruhe. Dann können wir nächste Woche nach Kalifornien fliegen, und du spielst das Festival. Wenn du möchtest, begleite ich dich danach in die Hamptons, das wird dich wieder auf die Beine bringen.«

Jona schwieg, er dachte über ihr Angebot nach. Wer hatte da gerade mit ihm gesprochen – die alte Ebba, die sich um seine Karriere sorgte? Oder das verletzliche Vogelwesen, das er gerade erst kennengelernt hatte? Vor seinem inneren Auge blitzte die Weinflasche von gestern Abend auf, und er verspürte ein kaum zu kontrollierendes Verlangen nach dem Sancerre. Warum nur hatte er die Flasche heute Morgen auf dem Tisch stehen lassen?

»Können wir irgendwo anhalten?«, fragte er nach einer Weile. Er sah auf den Geigenkasten, dann legte er eine Hand auf ihr Knie.

Ebba registrierte die Berührung mit einem kurzen, schnellen Seitenblick.

»Hör mal, Jona«, sagte sie dann, ein wehmütiger Ton durchzog ihre Stimme, ein Fis, teuflisch schwer zu spielen. »Heute Nacht, das war sehr schön. Wirklich. Aber ich denke, wir sollten …« Sie brach ab, doch ihr Schweigen sagte ihm deutlich, dass sie die Nacht für einen Irrtum hielt. Eine einmalige Sache, die schon wieder vorbei war.

»Ja.«

Verletzt zog Jona die Hand zurück. Er schob sich die Kopfhörer über die Ohren und sah wieder zum Fenster hinaus. Vermutlich hatte sie recht. Wenn sie weiterhin zusammenarbeiten wollten, wäre es besser, ihr freundschaftliches Verhältnis nicht mit Emotionen aufzuladen. Und auf Long Island? Er stellte sich vor, wie sie in einem Top und Jeansshorts aussah. Das helle Haar, die kleinen Brüste, die schlanken, aber muskulösen Beine – sie hatte nichts mit den Frauen gemein, die bislang mit ihm über den roten Teppich geschwebt waren.

Verwirrt schloss Jona die Augen. Er wartete darauf, dass die Musik ihn wiegte – auf ihre eigene, tröstliche Art. Schon als Kind hatte er auf ihren Zauber vertraut. Sein absolutes Gehör und das Geigenspiel hatten ihm stets einen kostbaren Raum eröffnet, der nur ihm gehörte. Immer wenn er sich einsam fühlte oder traurig war, hatte er an diesem wunderbaren Ort Zuflucht gefunden. Doch der beruhigende Effekt blieb aus, sein Herz pochte, und der nervöse Puls übertönte jede Melodie. Da war nur ein Durcheinander schriller, gläserner Töne, die in seinem Kopf zersplitterten, und das Entsetzen darüber trieb seinen Herzschlag noch weiter in die Höhe. Das Blut rauschte in seinen Ohren und unterspülte sein Selbstvertrauen.

Gequält ballte Jona die Hände zu Fäusten. Wie konnte etwas, das immer so selbstverständlich zu ihm gehört hatte, so plötzlich fort sein?

Wieder kroch dieses panische Gefühl in ihm hoch. Gestern noch hatte er geglaubt, die Panik hinge mit seiner Flugangst zusammen. Aber heute, im Auto und an Ebbas Seite?