Im Jahr des Wolfes - Rex Schulz - E-Book

Im Jahr des Wolfes E-Book

Rex Schulz

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Beschreibung

In ferner Zukunft. Deutschland liegt hinter einem riesigen Energieschirm verborgen und nennt sich nun Neu Germanien. Nur wenige Außenposten stellen die Verbindung zur übrigen Welt her. Tagtäglich kommen Menschen aus Krisengebieten, die hier um Aufnahme als germanischer Bürger bitten. Dies ist die Geschichte von Sarulf Rabenfeder, Sohn des suebischen Königs und angehender Wolf Wotans, der Polizei Neu Germaniens. Die Geschichte schildert einige seiner Erlebnisse eines Jahres. Ausbildung, Abschluss und Arbeit beim Heimatschutz. Und Schutz ist vonnöten, denn nicht nur nette Menschen klopfen an die Tür des Landes. Einige treten einfach die Tür ein ...

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Rex Schulz

ist 1961 geboren und lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Neuss am Rhein. Er ist zwar gelernter Dachdecker, war aber in vielen Berufen tätig: Gabelstaplerfahrer, Schuster, Außenhandelskaufmann und Hotelangestellter sind nur einige davon. Zurzeit arbeitet er in einem großen Aluminiumwalzwerk in Neuss.

Zum Schreiben ist er über die Malerei gekommen. So entstand bei der Niederschrift der Story für einen geplanten Comic sein erster Roman „Schroeders Turm“.

In seiner Freizeit ist er gern Familienmensch und trifft sich, wann immer es geht, mit Freunden, er liest viel und beschäftigt sich mit germanischer Religion und Geschichte.

Mehr könnt ihr auf seiner Homepage erfahren: www.rex-comix.de.

Rex Schulz

Im Jahr des Wolfes

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Für Odin

(M)einen wahren Freund

Inhaltsverzeichnis

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Epilog

Anmerkungen des Autors

Anhang

Quellen

Vorwort

Die Welt hat sich verändert. Wir befinden uns in Neu Germanien. Neu Germanien umfasst das ehemalige Deutschland, Österreich, Holland und Teile der Schweiz. Es grenzt westlich an das Gebiet der Gallischen Gilde und rechts an Großrussland, das neben Russland, Polen, Tschechien, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien auch große Teile des ehemaligen Jugoslawien einschließt, die das ehemalige Russland „annektiert“ hat.

Rund um das Schwarze Meer liegt das Gebiet der Schwarzmeerkoalition. Im Norden befindet sich die Grenze zum Kalifat.

Zwar ist die zweite große Völkerwanderung nun fast vierhundert Jahren her, doch noch immer sind tausende Menschen auf der Suche nach einer Heimat, in der sie in Frieden leben und arbeiten können. Die Menschen besinnen sich aber auch wieder auf die wahren Werten des Lebens, weshalb Begriffe wie Familie, Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt großgeschrieben werden.

Viele fanden in der Religion ihrer Ahnen Antworten, und was im Kleinen begann, wurde im Lauf der Zeit zu einer Massenbewegung. Seitdem leben die Menschen in Neu Germanien wie ehedem nach alten Bräuchen und Riten. Also ist nach fast anderthalb Jahrtausenden Vorherrschaft durch die Jünger des Wanderpredigers aus Judäa das Heidentum erneut zur Volksreligion geworden. Vorbei ist die Zeit, als Druiden und Kräuterfrauen von der katholischen Kirche als Ketzer gemartert und verbrannt wurden. Stolz tragen Alemannen, Sueben, Markomannen, Cherusker, Angeln, Friesen, Sachsen oder Gepiden ihre Stammes-Runen auf der rechten Schläfe, ehren ihre Ahnen und gehen aufrechten Hauptes ihrer Arbeit nach.

Enttäuscht von dieser Entwicklung hat sich die Kirche Christi nach Rom zurückgezogen. Ihre unermesslichen Güter und Schätze dienen nun dem Gemeinwohl.

Trotzdem gilt die absolute Glaubensfreiheit im Lande, und jeder Mensch ist willkommen, wenn er sich denn in die Gesellschaft einfügen will.

Das Wohl des Landes steht an erster Stelle. Nachdem in jahrzehntelanger Mühe das Land gesäubert und vom Müll befreit wurde, leben die Menschen nun im Einklang mit der Natur und hüten, was ihnen von den Göttern an Schönheit und Reichtum gegeben wird. Atomkraftwerke gibt es nicht mehr, ebenso wie Stein- und Braunkohlekraftwerke vom Gebiet Neu Germaniens verschwunden sind. Stattdessen wird die Energie aus der kalten Fusion gewonnen. Die Größe eines Meilers richtet sich nach dem jeweiligen Gerät oder der Anlage, wofür er benötigt wird. Durch Miniaturisierung können selbst kleinste Maschinen mit einem autarken Energiesystem versehen werden.

Massentierhaltung ist verpönt, ein Sonntagsbraten ist wieder ein Sonntagsbraten.

Jeder lebt so, wie er es möchte. Ob in einer kleineren Gemeinschaft oder auf einem der zahllosen Bauernhöfe des Landes, in kleinen oder großen Städten.

Tradition und Fortschritt sind eng miteinander verbunden und gehen in Harmonie miteinander.

Es ist das Jahr 355 NGZ – Neuer Germanischer Zeitrechnung. Geburtenregelung schützt das Land vor Überbevölkerung. Losgelöst von alten Vereinigungen und Verbindungen blüht das Land und gedeiht. Vereint mit den Samurai Japans, den freien Wikingern Islands und Dänemarks und der Gallischen Gilde Nordfrankreichs sehen die Bürger Neu Germaniens einer freudigen Zukunft entgegen. Wirtschaftlich hat sich das Land mit Großrussland alliiert: während Neu Germanien Großrussland mit den neuesten Technologien versorgt, kann es im Gegenzug auf die fast unerschöpflichen Ressourcen dieses riesigen Landes zugreifen. Was vor Zeiten undenkbar war, ist nun wahr geworden – Germanen und Slawen leben friedlich miteinander.

Heimdalls Horden wachen über die Grenzen und versuchen, den Zustrom von Menschen in das Land in geregelte Bahnen zu bringen. Wotans Wölfe sorgen für die innere Sicherheit und haben damit alle Hände voll zu tun, denn es schleichen sich immer wieder Psychopaten, Verbrecher und religiöse Fanatiker über die Grenzen ein und wollen Unheil im Lande anrichten.

Über allen weht die Fahne mit dem schwarzen, grünen und blauen Streifen. Schwarz symbolisiert die fruchtbare Erde, die Felder und Wälder Neu Germaniens bedeuten das Grün und mit Blau werden die Flüsse, die das Land durchlaufen, versinnbildlicht. In der Mitte der Flagge prangt, rot auf weißem Grund, der Wotansknoten, Symbol der Neun Welten des Yggdrasil, der Weltesche, mit all den Göttern und mystischen Wesen, die die Menschen tagtäglich begleiten.

Über die Geschicke des Landes entscheidet der Rat der Könige, der aus den frei gewählten Herrschern der einzelnen Stämme besteht.

Wissenschaft und Kultur blühen, eine bahnbrechende Erfindung folgt der nächsten, die Menschen sind zufrieden und die Zeit des Friedens hält unvermindert an. Doch heißt es, stets wachsam zu sein!

Kapitel 1

In der Zeit der Raunächte haben alle Räder still zu stehen.

Zu Ehren der Wiedergeburt des Sonnenkindes warten wir,

bis Freyrs Eber am Ende dieser Zeit das Jahresrad wieder

in Gang setzt, und feiern dieses Ereignis mit der traditionellen

Schlachtung eines Wildschweins.

(CHARTA GERMANIA)

Sarulf Rabenfeder erwachte. Wohlig kuschelte er sich unter seiner Decke. Viel Zeit bis zum Aufstehen blieb ihm nicht mehr, obwohl heute Sonntag war. Er würde abends pünktlich in der Kaserne sein müssen, da kannten seine Vorgesetzten keine Gnade. Königssohn hin oder her, diesbezüglich unterschied ihn nichts von allen anderen Kadetten. So wie sie hatte auch er sich den Ausbildungsplatz bei den Wölfen Wotans hart erkämpfen müssen. Denn die Auswahlkriterien waren sehr streng. Und das Erreichte wollte er sich nun durch ein Zuspätkommen nicht verderben. Außerdem war im Frühjahr die Ausbildung zu Ende und dann würde er sicher endlich die beiden gekreuzten Wunjo-Runen auf den Ärmel seiner Uniform bekommen und den ersten Wolf.

Das erfüllte ihn schon jetzt mit Stolz! Es war schon immer sein Wunsch gewesen, zu den Hütern der Ordnung zu gehören und das große Volk der Germanen zu beschützen. Nach dem großen Fest zu Ehren von Ostara hatte er es geschafft, dann war er ein Teil dieser würdigen Hüter von Neu Germanien.

Sarulf sprang aus dem Bett und streckte seinen athletischen Körper. Er begab sich in die Hygienekabine seines Zimmers, startete das Intensivprogramm und ließ sich reinigen. Zahlreiche Düsen sprühten heißes Wasser auf seinen Leib und Reinigungslotion. Schallwellen massierten seine Muskeln. Danach ließ er sich föhnen und entfernte die Stoppeln in seinem Gesicht mit Rasiercreme.

Schließlich schlüpfte er in seinen schwarzen Overall, zog die Stiefel an und band sich den Multifunktionsgurt um seine Hüften. Zufrieden betrachtete er sein Spiegelbild und trat an das Fenster. Das Wetter war so, wie es Anfang November sein sollte, kühl und nass. Der Regen hatte einen Schleier über das Gehöft seiner Eltern gelegt. Trotz des dichten Rieselns konnte Sarulf die einzelnen Gebäude erkennen, die den rechteckigen Hof umstanden. Linkerhand neben dem schmucken Wohnhaus lagen die Stallungen für das Vieh sowie die Scheunen für Futter und Heu. Das daran anschließende Langhaus war den ledigen Knechten und Mägden vorbehalten, die auf dem Gut arbeiteten. Es folgte rechts die Unterkunft für die Bewerber, die auf Aufnahme in den Stamm hofften, die sie nur durch harte Arbeit erringen konnten und den Beweis, dass sie es wert waren, zum Stamm der Sueben zu gehören. Sie trugen bereits einen Kreis auf der rechten Schläfe und würden nach der Aufnahme in den Stamm die Stammes-Runen tätowiert bekommen: Othala und Gebo. Sie symbolisieren den Reichtum, den die Heimat allen schenkt: fruchtbarer Boden, endlose Wälder und überreichlich Tiere für die Jagd.

Wenn sie jedoch versagten, straffällig wurden oder den Anforderungen nicht genügten, sodass ihre Aufnahme abgelehnt wurde, würde dieser Kreis geschwärzt werden und sie müssten Neu Germanien ohne Chance auf einen erneuten Aufnahmetest verlassen.

Neben dem Bewerberhaus gegenüber dem Wohngebäude standen eine Mühle für Getreide und Öl, der Hofladen und die Käserei. Gegen sie wirkte das Hühner- und Gänsehaus fast winzig, das sich daran anzuschmiegen schien. Rechter Hand zog sich bis zum Wohnhaus das Vorratsgebäude. Die Ernte war bereits eingebracht, so strotzte es von reifen Früchten, frischem Gemüse, gemahlenem Korn und gepresstem Öl. Auch waren die Rinder schon von den Wiesen geholt, kurzum der ganze Hof bereitete sich auf den kommenden Winter vor. Etwas abseits stand ein Energiehaus mit dem Fusionsmeiler. Seit es germanischen Wissenschaftlern gelungen war, das Verfahren zur Entstehung der kalten Fusion soweit fortzuentwickeln, dass man es praktisch überall einsetzten konnte, stellte die Energiegewinnung kein Problem mehr da. Wasser wurde im Reaktor in Sauerstoff und Wasserstoff aufgespalten, und die dabei freigesetzte Energie für Wärme, Strom und den Antrieb von jeder Art von Maschinen genutzt.

Zu dieser frühen Stunde lag der Hof noch wie verlassen da, doch schon bald würden die Bewohner ihn mit buntem Treiben und Geschäftigkeit füllen.

Sarulf verließ sein Zimmer und begab sich hinunter in die Küche. Es duftete nach frischen Brötchen, Rührei mit Speck und Kaffee. Als er den Raum betrat, sah die Magd, die eben das Geschirr spülte, zu ihm auf und grüßte freundlich.

„Guten Morgen, junger Herr!“

„Guten Morgen, Alida! Du sollst mich doch nicht Herr nennen. Gieß mir einen Kaffee ein und setz dich bitte zu mir!“

„Sehr wohl, junger Herr!“

„Alida!“

„Ja, Herr … äh Sarulf!“

„Na, geht doch! Wie geht es dir heute Morgen?“

Alida goss Sarulf dampfenden Kaffee ein und stellte die Kanne zurück auf den Herd. Der junge Mann betrachtete sie mit unverhohlener Neugier. Alida war ein hübsches Mädchen, geradezu eine Augenweide! Ihr langes rotes Haar hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten, der über ihrer Schulter lag.

Sie kam zurück an den Tisch, raffte ihre Schürze und setzte sich auf den am weitesten von Sarulf entfernten Stuhl.

„Danke, Herr … Sarulf! Mir geht es gut! Wie geht es Ihn… dir?“

„Gut, Alida! Muss gleich in die Kaserne. Die Wölfe rufen, mein freies Wochenende ist leider heute Abend vorbei!“

Sarulf biss beherzt in sein Brötchen, er schaufelte das Rührei in sich hinein und schlürfte genussvoll den Kaffee dazu. Alida fühlte sich nicht recht wohl, doch saß sie brav daneben und sah ihm mit großen Augen zu. Als Sarulf sein Frühstück beendet hatte, wischte er sich den Mund mit einer Serviette ab und stand auf.

„Danke für das Frühstück, Alida! Ich muss zum Vater, dann mach ich mich auf den Weg. Wirst du noch da sein, wenn ich das nächste Mal wieder komme?!“

„Ja, natürlich bin ich dann noch da! Warum sollte ich den Hof wechseln?“

„Schön, dann bis nächstes Mal, Alida!“

Sarulf verließ die Küche und stieg die Treppe zum Büro seines Vaters empor. Er klopfte an die Tür und betrat den Raum. Wie der Thronsaal eines Königs sah es hier nicht aus, eher wie das Refugium eines Geschäftsmannes. Was sein Vater ja auch in erster Linie war, das Amt des gewählten Königs der Sueben übte er darüber hinaus aus. Seine Reputation, sein Sinn für Gerechtigkeit und seine Weitsicht hatten ihm dieses Amt eingebracht, und die Sueben waren überaus zufrieden mit seinen Entscheidungen.

„Guten Morgen, Vater! Ich muss mich von dir verabschieden, ich breche nach Wolfsheim auf!“

„Guten Morgen, Sarulf! Schön, dass du noch mal vorbeigekommen bist. Deine Ausbildung läuft gut, oder?“

„Ja, Vater! Es läuft alles prima, zum Fest der Ostara bekomme ich sicher meinen Wolf auf die Schultern und die Runen auf den Ärmel!“

„Sehr gut, streng dich trotzdem an, noch besser zu werden! Ich wünsche dir eine gute Fahrt. Ich freue mich schon auf das nächste Wiedersehen. Dann können wir hoffentlich etwas mehr Zeit miteinander verbringen. Zurzeit gibt es viel Arbeit für mich, aber zum Julfest ist das meiste getan, dann habe ich sicher endlich mal wieder etwas freie Zeit. Mach’s gut, mein Junge!“

„Auf Wiedersehen, Vater!“

Sarulf umarmte seinen Vater, und Swidger Rabenfeder drückte ihn fest an seine Brust.

„Halt die Ohren steif, mein Sohn!“

„Mach ich, Vater!“, sagte Sarulf und verließ das Büro. Er stieg die Treppe hinab und ging über den Hof in die Käserei. Sieglunde Rabenfeder schritt ein Regal mit reifendem Käse ab, sie nahm hie und da einige Stichproben.

„Hallo, Mutter!“

„Hallo, mein Sohn!“

„Es wird Zeit für mich, Mutter, ich möchte mich von dir verabschieden!“

„Oh, ist das Wochenende schon wieder vorbei? Wie die Zeit doch verfliegt!“

„Ja, leider! Aber zu Jul habe ich Urlaub und komme nach Hause!“

„Das ist schön, mein Sohn! Pass auf dich auf und komm gesund wieder. Möge Odin dich beschützen!“

„Dich auch, Mutter! Jetzt muss ich aber los, ich will nicht zu spät kommen. Bis Jul, Mutter!“

„Bis Jul, mein Junge!“

Sarulf warf seiner Mutter eine Kusshand zu und ging zurück in sein Zimmer. Er schnappte sich den gepackten Rucksack, schulterte ihn und ging hinter das Wohnhaus, wo sein Antigrav-Scooter geparkt war. Die Technik dieser Fahrzeuge faszinierte ihn immer wieder. Wenn man bedachte, dass das Fahrzeug nur durch seinen Generator, der ein Feld erzeugte, welches Schwingungen aussendete, vom Boden abhob, konnte man schon ins Stauen kommen. Er musste nur noch den Fahrhebel betätigen, der den Generator startete. Die Schwingungen trafen schräg auf die Oberfläche auf und schoben das Fahrzeug vorwärts. Erhöhte er die Intensität der Schwingungen, beschleunigte das Fahrzeug. Sarulf strich über die glatte Oberfläche des Scooters und lächelte. Dann legte er seine Hand vor den Scanner, worauf dieser mit einem Piep meldete, dass er bereit war. Sarulf schwang sich auf die Sitzbank, rückte den Rucksack zurecht und startete. Mit einem leisen Surren hob der Scooter ab, Sarulf schob den Fahrthebel langsam nach vorn und schwebte vorwärts. Automatisch baute sich das Kraftfeld vor Sarulf auf, er schob den Hebel weiter vor. Mit zunehmender Geschwindigkeit fuhr Sarulf Rabenfeder in den diesigen November hinaus und in den nächsten Abschnitt seiner Ausbildung hinein.

* * *

Eine einsame Kerze versuchte die tiefe Dunkelheit des Raumes zu durchdringen und verbreitete ein diffuses Schimmern. Auf einem schlichten Lager, den ausgemergelten Körper umhüllt von verschlissenen Laken, ruhte eine bleiche Gestalt. Regungslos lag sie da, ein schwaches Röcheln verriet, dass sie noch lebte. Seit Wochen bekam der Mann nur das Nötigste an Nahrung und Flüssigkeit von seinen Glaubensbrüdern. Doch störte ihn dieses Martyrium nicht, im Gegenteil, es erfüllte ihn mit Stolz. Er war etwas Besonderes! Er war es, der den vernichtenden Schlag gegen die Ketzer und Frevler einläuten würde. Er würde dafür sorgen, dass seine Brüder und Schwestern über dieses verruchte Land kommen und seine führenden Köpfe abschlagen konnten.

Für seinen Gott würde er alles tun, wirklich alles. Er war ein heiliger Krieger, und bald würde er in den Krieg ziehen und die Welt von diesen Teufeln befreien.

Doch noch musste er etwas warten. Bis sein heiliger Leib gereinigt und wieder aufgebaut war. Erst dann war die Zeit gekommen, mit Feuer und Schwert über diese Brut der Hölle niederzugehen und sie mit Stumpf und Stiel auszurotten. Die Ketzer würden in Scharen ihren verderbten Göttern den Rücken kehren und ihr Heil bei dem einzig wahren Gott suchen. Doch der würde ihnen in seiner unermesslichen Gnade den Tod bescheren und sie von ihrem sündhaften Leben befreien. Ja, Gott war groß, und er war weise!

Er hörte er ein leises Schlurfen vor seiner Unterkunft. Einer seiner Brüder kam, um ihm Nahrung und Wasser zu bringen. Die Zeit der Reinigung war noch nicht vorbei, er musste sich in Geduld fassen. Leise murmelte er ein Gebet, welches ihn mit neuer Kraft und Zuversicht erfüllte.

Sachte öffnete sich die Zimmertür, ein fahler Schein durchdrang die Finsternis. Eine große Gestalt trat ein. Sie war in eine Art schwarze Kutte gehüllt, die Kapuze tief in das Gesicht gezogen. Wie ein Schatten kam sie an das Lager, schob dem Liegenden eine Hand unter den Kopf und setzte ihm eine Schale mit dampfender Flüssigkeit an den Mund.

„Trink, Bruder, trink!“

Er trank.

* * *

Ein Schemen, in eine Kutte gehüllt, dessen Kapuze sein Gesicht fast völlig verbarg, beugte sich über den Laptop. Dann lehnte er sich zufrieden zurück. Alles lief bestens, bald schon würde die Zeit gekommen sein, dass sie zuschlagen konnten. Er überflog noch einmal seine Eintragungen auf dem Bildschirm und hämmerte dann grinsend mit dem knochigen Finger auf die Entertaste. Erstes Ziel erreicht: In der Tiefe des Tempels lagen dreizehn heilige Krieger, die auf ihren Einsatz vorbereitet wurden. Wenn ihre sündigen Körper erst gereinigt wären, konnten sie daran gehen, ihre Leiber wieder aufzubauen und zu präparieren. Dann wären sie bald wieder so kräftig wie früher, nur eben ganz anders. Ja, ganz anders als normale Menschen – lebendige feurige Schwerter ihres Gottes, bereit, auf sein Zeichen hin auf die Ungläubigen hinabzufahren und Vernichtung zu bringen.

Ja, bald, bald war es endlich Zeit für die Rache.

FEHU – Vieh (Rune der Fruchtbarkeit und Heilung; Notbann-Rune)

Kapitel 2

Die Bürger unseres Landes werden ermahnt, während der Raunächte

keine Wäsche im Freien hängen zu lassen. Auf dass kein

Geist, der mit Odins wilder Schar durch die Nacht zieht, sich darin

einnistet und den Träger des Kleidungsstückes fortan besetzt!

(CHARTA GERMANIA)

Siegfried schaute auf die Uhr. In einer halben Stunde hatte er Schluss. Die letzte Gruppe der Bewerber, die er eben in Empfang genommen hatte, verließ die Halle in Richtung Schwebebus. Sie wurden in das zentrale Aufnahmelager im Zittauer Wald gebracht. Dort konnten sie sich entscheiden, zu welchem der germanischen Stämme sie wollten. Oder ihnen wurde einer zugewiesen, damit sie durch harte Arbeit, ein straffreies Leben und den Dienst an der Gesellschaft ihren Bewerberstatus gegen einen vollwertigen germanischen Bürgerstatus eintauschen konnten. Dann würden sie ihre Stammes-Runen tätowiert bekommen und wären ab sofort freie Germanen.

Ein Signal ertönte, Siegfried schaute zum Eingang, wo gleich eine Lücke im Feldschirm, der die Landesgrenze Neu Germaniens umschloss, geschaltet werden würde.

Nach einem kurzen Flackern erlosch ein Teil des Kraftfelds und eine Bewerberschar trat unsicher in die Halle. Diesmal waren auch zwei Kinder darunter. Selten kamen ganze Familien, um in Neu Germanien Asyl und Heim zu finden. Meist waren es alleinstehende junge Männer, die hier Bürger werden wollten.

Verschüchtert um sich blickend bewegten sich die zehn Personen auf die Schleuse zu, die Kinder pressten sich scheu an ihre Mütter. Nun trat der erste entschlossen vor und legte sein Handgepäck auf das Band. Die Tasche verschwand surrend im Scanner. Mit einem Piep kam sie auf der anderen Seite wieder heraus. Das grüne Leuchten eines Lämpchens verriet, dass sie „sauber“ war. Der Mann stand weiterhin still an der Schleuse und wartete die Durchleuchtung und den Scanvorgang geduldig ab. Als kurze Zeit später das nächste Lämpchen grün flimmerte, winkte Siegfried den Mann zu sich heran.

„Papiere bitte!“, sagte er und streckte die Hand aus.

Der Mann griff in seine Jackentasche und zog einen zerknitterten Pass heraus, er schob ihn zögernd durch den schmalen Schlitz in der Scheibe zu Siegfried hin. Der schlug den Pass auf und las laut vor.

„Antropow, Valerie, 27 Jahre, geboren in Kiew, Schwarzmeerkoalition, am 31. Januar 2259 alter europäischer Zeitrechnung.“

„Ja“, sagte der Mann.

„Was führt Sie zu uns, Herr Antropow?“

„Ich möschte Birger in dieses Land werden!“, erwiderte der Mann.

„Gut!“ Siegfried legte den Pass unter das Lesegerät und wartete auf das Ergebnis. Der Pass wurde auf seine Echtheit untersucht, die Identität des Mannes nachgeprüft, schließlich wollte niemand hier einen abgetauchten Verbrecher oder Terroristen haben.

Aber auch diesmal leuchtete es grün, der Mann war in Ordnung, er konnte den Bewerberstatus und seine Tätowierung bekommen.

„Alles in Ordnung, Herr Antropow! Sie können durchgehen und sich an der Theke etwas zu essen und trinken holen. Wenn Ihre Gruppe vollständig ist, kommen Sie alle ins zentrale Aufnahmelager und dann zu den einzelnen Stämmen. Haben Sie schon einen bestimmten Stamm ins Auge gefasst?“

„Ja, isch möschte zu Sakzen, isch auf Meer fahren. Isch Seemann!“

„Na, dann viel Glück und herzlich willkommen in Neu Germanien!“, wünschte Siegfried und winkte dem nächsten, einer Frau, näherzutreten.

Zögernd trat sie an die Schleuse heran, ihre Tochter fest an sich gedrückt.

„Gehen Sie rein, es tut nicht weh!“, ermunterte Siegfried die Frau. Sie legte ihre Tasche auf das Band und trat gemeinsam mit dem Kind in die Schleuse, der Scanvorgang begann. Die Tasche kam auf der anderen Seite des Gepäckscanners wieder heraus, das Gerät gab grünes Licht. Von der Schleuse wurde ebenfalls grünes Licht gegeben, Siegfried winkte die beiden zu sich.

„Geben Sie mir bitte Ihre Dokumente!“

Die Frau kramte in ihrer Manteltasche, zog einen Pass und einen Kinderausweis hervor und reichte beides an Siegfried weiter.

„Özdemir, Ayscha, 28 Jahre, geboren in Stambul, Großosmanisches Kaiserreich, am 13. August 2258 alter Zeitrechnung. Und Özdemir, Rubina, 6 Jahre, geboren 6. März 2282.“ Siegfried legte die Ausweise in den Scanner und wandte sich wieder der Frau zu.

„Sie kommen nur mit Ihrer Tochter?“

„Ja, main Mann tott! Kommen von Sieden, bei Grenze Islamischer Kalifat. Da Krieg!“

„Oh, das tut mir leid!“, sagte Siegfried ehrlich betroffen. Mal wieder das Islamische Kalifat! Kamen denn die Grenzregionen nie zur Ruhe?!

Das Gerät gab einen Signalton von sich: alle Papiere in Ordnung!

Siegfried reichte die Dokumente an die Frau zurück.

„Alles in Ordnung, Frau Özdemir! Sie können hinten mit ihrer Tochter essen und trinken. Herzlich willkommen in Germanien!“

Die Frau nahm ihre Tochter an die Hand und ging zum Servicetresen, und Siegfried winkte dem nächsten Bewerber.

Bis zur Herbstsonnenwende nächstes Jahr würde er noch hier Dienst tun. Dann waren seine zwei Jahre Grenzdienst vorbei und er konnte endlich zur Luftwaffe gehen. Die Tests hatte er mit Bravour bestanden und er freute sich auf seinen Dienst als Pilot auf einer der neuen Maschinen „Mjölnir 7“!

Der nächste Bewerber stand vor der Schleuse, Siegfried bedeutete dem Mann, seine Tasche auf das Band zu legen und die Schleuse zu betreten.

* * *

Swanhild Rabenfeder nahm sich ein Bündel getrockneter Kräuter und rubbelte die Blätter von den Stielen. Der Geruch von Pfefferminze breitete sich im ganzen Zimmer aus und Swanhild atmete ihn tief ein. Welche Schätze uns die Natur doch schenkt! Gegen jedes Leiden war ein Kraut gewachsen! Pfefferminze – antibakteriell, entzündungshemmend, keimtötend und schmerzstillend.

Das Glas füllte sich langsam, Swanhild nahm ein letztes Bündel Minze vom Haken und füllte es auf bis an den Rand. Zufrieden verschloss sie das Gefäß und stellte es in das große Regal zu den anderen Gläsern.

Ihr Vorrat an Kräutern würde sicher bis zum nächsten Frühjahr reichen, und ab Ostara konnte sie ja wieder mit der Kräutersuche beginnen!

Swanhild wollte heute einen Hausbesuch bei einer der Mägde auf dem Nachbarhof machen, die unter starken Regelbeschwerden litt. Sie suchte mit den Augen die Reihe der Kräutervorräte ab und griff dann zielstrebig nach einem braunen und einem grünem Glas – Taubnessel, Frauenmantel … und da! Noch etwas Wermut. Sie entnahm jeweils eine kleine Dosis und füllte diese in einen Beutel. Sie würde der Magd einen frischen Sud kochen, dann würden die Schmerzen bald nachlassen. Schließlich griff sie sich noch ein kleines Töpfchen mit Ringelblumensalbe, zur Wundheilung für einen der Knechte desselben Hofes. Er hatte sich die Hände verletzt, die Salbe würde die Heilung fördern. Swanhild band den Beutel an ihren Gürtel, verstaute die Salbendose in einer ihrer Taschen und nahm sich den regenfesten Umhang vom Haken. Draußen nieselte es immer noch, sie tat gut daran, sich warm einzupacken. Sie durfte auf keinen Fall krank werden, die Menschen brauchten ihre Hilfe, schließlich war sie die einzige heilkundige Kräuterfrau im Umkreis von fast dreißig Kilometern. Und die Menschen vertrauten ihr mehr als den Ärzten.

Zugegeben, alles konnte sie nicht heilen. Manche Krankheiten machten eben doch einen Arzt nötig. Aber das, was sie tun konnte, tat sie mit Freude!

Swanhild schlang den Umhang um ihre Schultern, trat hinaus ins Freie, blieb unter dem Vordach stehen und schaute zum Firmament. Der Regen würde wohl noch eine ganze Weile anhalten, der Himmel zeigte sich in einem einheitlichen Grau. Sie raffte ihr langes blondes Haar zusammen und zog sich die Kapuze über den Kopf. Entschlossen trat sie hinaus in den Nieselregen.

Egal welches Wetter ist, meine Hilfe wird benötigt!, dachte sie, und beherzt setzte sie den Fuß auf den aufgeweichten Weg, dann schritt sie zügig aus.

URUZ – Auerochse (Heil-Rune)

Kapitel 3

Der Allvater erschuf die Welt aus dem Körper des Riesen Ymir.

Odins Volk ist angehalten, diese Gabe zu hegen und zu pflegen.

Der Schutz unserer Fauna und Flora hat oberste Priorität und

gegen Umweltsünder wird mit äußerster Härte vorgegangen!

(CHARTA GERMANIA)

Sarulf lief der Schweiß in Strömen den Körper herab. Sein Hoodie war klatsch nass und auch seine Hose zeigte deutlich die Spuren seiner Anstrengung. Seit Stunden übte er den Umgang mit dem Sax am Trainingsroboter.

Selbstredend war die Waffe, die er benutzte, nur eine Übungsklinge. Das wahre Sax würde Sarulf erst nach Beendigung seiner Ausbildung erhalten. Es bestand aus hochverdichtetem Stahl, der Griff aus geweihtem Eichenholz, und die Klinge umschloss ein zerstörerisches Kraftfeld.

Zwei Wochen sind seit meinem Besuch zu Hause vergangen und schon vermisse ich Alida. Er schien wohl mehr für sie zu empfinden, als er sich eingestehen wollte.

Surrend drehte sich das metallene Ungetüm und versuchte, Sarulf mit seinen Auslegern zu treffen. Doch Sarulf war schneller und parierte den Angriff mit ein paar wohl gezielten Schlägen.

Ob Alida auch mehr für mich übrig hat als nur Respekt gegenüber ihrem Dienstherrn?

Angriff und Schlag! Der Roboter fuhr seinen Arm zurück, er verharrte.

Sie blickt mich doch immer so an!

Einer der Arme der Kampfmaschine zuckte auf Sarulf zu, er duckte sich und schlug zu! Wieder fuhr der Roboter den Arm ein und verhielt in der Grundstellung.

Der Gedanke an Alida erfreute ihn! Ja, da ist ganz bestimmt etwas zwischen uns, bald ist Jul und ich kann wieder nach Hause fahren!

Erneut zuckten mehrere Arme auf Sarulf zu, mit ein paar klugen Hieben konterte er auch diesen Angriff.

Eine blecherne Stimme ertönte.

„Übungssequenz beendet! Trainingsziel von einhundert Prozent erreicht!“

Die Übungsmaschine zog ihre Arme ein und schaltete sich ab.

Sarulf wischte sich über die Stirn, er hängte das Sax auf den Waffenständer zu den anderen Klingen. Dann ging zur Bank, griff sich ein Handtuch, wischte sich das Gesicht ab. Er schnappte sich seine Tasche und begab sich in den Duschraum.

Für heute war die Trainingseinheit gemeistert, aber von Tag zu Tag verlangte der Übungsroboter ihm mehr ab.

Na ja, der Nachmittag würde ruhiger werden. Germanisches Recht stand auf dem Lehrplan, da kannte er sich aus, schließlich war sein Vater König der Sueben, und Sarulf hatte bei vielen Things eine ganze Menge über die Rechtsprechung lernen können!

Mit einem letzten Gedanken an Alida trat Sarulf unter die Dusche und genoss das Prasseln der heißen Wasserstrahlen auf seiner Haut.

* * *

Mit abgeblendeten Scheinwerfern schwebte die Limousine vor die Schranke neben dem Wachhäuschen. Einer der Wärter trat heran und ging zur Fahrerseite des Fahrzeugs.

Die Scheibe senkte sich lautlos, der Insasse blickte dem Wachmann in die Augen.

„Guten Abend, Herr Drachenstein! Noch so spät zu arbeiten?“

„Natürlich, sonst wäre ich ja nicht hier! Mach die Schranke hoch, Krähenzahn!“

Der so angesprochene gab seinem Kollegen im Torhaus ein Zeichen und die Schranke zum Farmgelände öffnete sich.

„Schönen Abend, Chef!“, sagte der Wächter und trat vom Wagen zurück.

„Dito, Krähenzahn, dito!“

Das Auto fuhr an, entfernte sich rasch und surrte zügig zu den Parkplätzen. Vor dem Schild „Geschäftsführung“ hielt es an.

Brunold Drachenstein stieg aus dem Wagen und begab sich in das Gebäude zur Linken. Zügig durchschritt er den Eingang und wandte sich dem Lift zu. Er fuhr in die Vorstandsetage und schritt den dunklen Gang entlang. Alles lag wie ausgestorben da!

In seinem Büro angekommen, knipste er das Licht an und zog die schweren Vorhänge zu. Man konnte ja nie wissen!

Brunold trat an einen Sockel neben seinem Schreibtisch. Er schaute sich nochmals im Raum um, griff nach einem Arm der Bronzeskulptur, die auf dem Sockel stand, und zog ihn nach vorn.

Schutz der Heimat, Leben im Einklang mit der Natur – Mann!, er konnte das nicht mehr hören! Schließlich musste er Geld verdienen und die Entsorgung der Hühnerscheiße kostete ihn jeden Monat ein Vermögen!

Und so tat er, was er an jedem Monatsersten tat. Mittels eines geheimen Ablaufrohres ließ er tausende von Litern der übelriechenden Gülle in die Elbe fließen und sparte sich somit eine Menge goldener Scheine. Mit ein bissel Cleverness konnte man eine schöne Menge Kohle scheffeln! Trottel, die!

Plötzlich öffnete sich die Tür zu seinem Büro und zwei schwarzuniformierte Männer traten ein!

Was zum Teufel …?

„Guten Abend, Herr Drachenstein! Man kann sagen, dass wir Sie auf frischer Tat ertappt haben! Und auch noch auf Film festgehalten das Ganze!“

Der schwarze Kerl, der das von sich gegeben hatte, trat nun an Brunold Drachenstein heran und hielt ihm seine Marke vor das Gesicht.

Verdammte Scheiße, Wotans Wölfe!

„Drehen Sie sich rum und nehmen Sie Ihre Hände auf den Rücken! Übrigens, Ihr ‚geheimes‘ Abflussrohr ist schon seit einiger Zeit stillgelegt! Uns fehlte zu den Verdachtsmomenten nur noch der Beweis, und den haben wir jetzt! Sie können sich in Kürze beim Thing vor unserem König erklären. Jetzt geht es erst mal in eine schöne Zelle!“

Der Wolf ließ die Handschellen zuschnappen und schob Drachenstein zum Ausgang.

* * *

Swanhild trat aus der Dunkelheit in ihr Haus ein und genoss die wohlige Wärme, die ihr entgegenschlug.

Weit war der Weg vom Nachbargehöft gewesen, durch die Dunkelheit und den Regen. Aber sie hatte helfen können, und allein das zählte!

Sie nahm den Umhang ab und hängte ihn zum Trocknen über eine Stuhllehne. Dann ging sie hinüber zum Herdfeuer, goss Wasser in den Kupferkessel und hängte ihn über die noch glimmenden Scheite. Swanhild griff sich zwei Stück Holz und legte sie auf die Glut. Sie bückte sich und pustete kräftig in das schwelende Feuer. Sofort leckten Flammen hervor und begannen sich in das Holz zu fressen.

Sie trat an das Regal und entnahm hier und da ein paar trockene Blätter und Blüten. Die gab sie in die Kanne und wartete darauf, dass das Wasser zu kochen anfing. Währenddessen band sie sich ihr Haar im Nacken zusammen und schlüpfte in ihre dicken Haussocken.

Endlich warf das Wasser im Kessel Blasen. Swanhild nahm ihn vom Feuer und goss die Teekanne voll. Sie stellte den Kessel auf den Herd, holte sich eine Tasse und ihre Zuckerdose und stellte alles auf den Tisch zur Teekanne. Dann ließ sie sich erschöpft auf den Stuhl fallen, tat etwas Zucker in ihre Tasse und frischgebrühten Tee. Sie nahm die Tasse an die Lippen, blies hinein und nahm einen kleinen Schluck. Sofort durchflutete Wärme ihren Körper. Swanhild trank noch etwas mehr vom Tee.

Wie lange ist es eigentlich her, dass ich hier mit Fenja Rabenherz gesessen habe?

Ihre Mentorin war vor einem Sommer zu den Göttern gegangen, und seitdem war sie, Swanhild Rabenfeder, die heilkundige Kräuterfrau des Rabenclans. Schon als junges Mädchen war sie zu Fenja gekommen und hatte sich deren Wissen aneignen dürfen. Es hatte vieler Jahre bedurft, bis sie sich mit jedem Kraut, jeder Wurzel und jedem Pilz auskannte und deren Wirkung im Schlaf herunterbeten konnte. Dazu kamen noch die Heilsteine, auch hier dauerte es Jahre, bis Swanhild deren Wirken kannte.

Jeden Abend hatten sie gemeinsam hier an diesem Tisch gesessen und zusammen Tee getrunken.

Wehmütig seufzte Swanhild und nahm noch einen Schluck von dem heißen Gebräu.

Langsam sollte ich mich wohl auch mal nach einer geeigneten Schülerin umsehen! Ich werde schließlich auch nicht jünger!, bei diesem Gedanken lächelte sie leise vor sich hin.

THURISAZ – Dorn (Rune des Gottes Thor, Schutz-Rune)

Kapitel 4

Ich weiß, dass ich hing

am windigen Baum

Neun lange Nächte,

Vom Speer verwundet,

dem Odin geweiht,

Mir selber ich selbst,

Am Ast des Baums,

dem man nicht anseh’n kann

Aus welcher Wurzel er spross.

Sie boten mir

nicht Brot noch Met;

Da neigt’ ich mich nieder

Aus Runen sinnend,

lernte sie seufzend:

Endlich fiel ich zur Erde.

(DIE EDDA, ODINS RUNENLIED)

Knisternd und mit hellem Schein loderte das Feuer im Kamin. Still war es im Raum und wohlig warm. Kerzen tauchten das Zimmer in ein heimeliges Licht. Riesige Regale, gefüllt mit alten und uralten Büchern und Folianten, die sämtliche Wände bedeckten, strömten eine geheimnisvolle Atmosphäre aus.

Zwei Adepten saßen auf dem Boden, der mit dicken Fellen ausgelegt war, vor ihrem Meister, der auf dem Lehnstuhl neben dem Feuer thronte. Er beobachtete Hasso Hirschhorn und Steinar Rabenfeder, die in die Lektüre eines vor ihnen liegenden Wälzers vertieft schienen, mit Argusaugen.

Weißbart Rabenzahn, Druide der Sueben, unterwies Hasso und Steinar, die, wenn man seiner Aussage glauben wollte, dumm wie Bohnenstroh waren und eine Last auf seinen alten Schultern, in der Kunst der Magie. Nun, vielleicht reden alle Meister so über ihre Lehrjungen. Aber in beiden musste doch ein wacher Verstand stecken, denn Rabenzahn nahm nicht jeden als Lehrbursche.

Der Meister war eine Koryphäe auf seinem Gebiet und hellseherisch begnadet. Er wusste um die Kraft der Runen und deren Zauber, und war Meister des Orakels. In punkto germanischer Mythologie konnte ihm kaum einer was vormachen. Jede Göttin, jeden Gott kannte er quasi mit Vornamen, sämtliche Fabelwesen waren ihm so vertraut wie der Kram in seiner Hosentasche.

Als Berater des Königs fehlte er zudem bei keinem Thing!

„Beim Schweif des Sleipnir! Hirschhorn, du sollst lesen, nicht schlafen!“, schalt er den Kleineren.

Der so Angesprochene zuckte vor Schreck zusammen und grub seine Augen tief in das Buch auf seinem Schoß.

„Meinst du, ihr sollt das aus Spaß lesen? Oder weil heute Märchenstunde ist? Mitnichten! Frau Holle muss jeder Druide kennen! Das ist reinste germanische Geschichte und Mythologie, nicht wahr, Rabenfeder?“

„Ja, Meister!“, antwortete Steinar brav.

Weißbart Rabenzahn blickte ihn streng an.

„So, so, dann erzähle mir doch mal, was deiner Meinung nach daran so mystisch ist!“

„Ja, Meister! Ja … also … als das fleißige Mädchen in den Brunnen gefallen war, um seine Spindel herauszufischen, erwachte es auf einer Blumenwiese. Diese nennt man groni godes wang – grüne Gotteswiese.“

„Richtig, Rabenfeder! Hirschhorn, hör gut zu, hier kannst du was lernen!“

Steinar fuhr fort: „Auf dieser Wiese beginnt der Helweg, der Weg in das Totenreich Hel. Deshalb setzen wir unsere Toten mit gutem Schuhwerk bei, damit sie den langen staubigen Weg ohne Mühe gehen können.“

Meister Rabenzahn unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Geste und wandte sich Hasso zu:

„Du machst weiter!“

„Ja, Meister!“ stammelte der, „mh … dann kam das Mädchen zur Kuh. Und hat die gemolken!“

Stolz schaute Hasso zu seinem Meister.

„Hasso, du trottliges Produkt besoffener Eisriesen! Was für eine Kuh denn?“

„Äh … Audhumbla, die Urkuh, die Ymir nährte!“

„Geht doch, Hirschhorn! Mach weiter, Rabenfeder!“

„Dann kam das Mädchen an einen Backofen. Da lag ein Brot drin und wollte raus, weil es sonst verbrennt. Das Mädchen nahm die Backschaufel und zog das Brot aus dem Ofen.“

Rabenzahn nickte und sprach: „Merkt an, Schüler! Sieht ein Brot nicht aus wie ein frischgewickeltes Neugeborenes? In alten Zeiten und bis heute glaubt man, dass die Ahnen Gebärenden beistehen, und das Mädchen war ja tot und in der Unterwelt! Hasso!“

„Ja! Als das Mädchen den Helweg weiterging, kam es an einen Apfelbaum, der geschüttelt werden wollte, was sie auch tat.“

„Gut. Äpfel waren und sind eine wichtige Vitaminquelle in der Zeit des Winters! Rabenfeder, du bist wieder dran!“

„Das Mädchen kam zu Frau Holle, die war gar schrecklich anzusehen, sodass es sich fürchtete. Aber die alte Frau gab sich freundlich und nahm es bei sich auf. So sah das Mädchen sie mit anderen Augen, denn Frau Holle war nicht nur eine Erdgöttin, sondern auch die Göttin der Schönheit und Liebe.“

„Sehr gut, Steinar!

Meister Weißbart war zufrieden mit seinen Schülern, sie schienen endlich Feuer und Flamme und in der Geschichte aufzugehen. Er deutete auf Hasso.

„Das Mädchen blieb bei Frau Holle und war sehr fleißig. Morgens schüttelte es die Betten auf und dann fiel Schnee auf der Erde. Wenn sie für Frau Holle das Essen kochte, stieg der Dampf als Nebelschwaden aus den Schluchten auf. Ein Tag bei Frau Holle war auf der Erde ein ganzes Jahr. Dem Mädchen gefiel es sehr gut bei Frau Holle!“

Ein kurzer Blick zu Steinar.

„Aber dann wurde das Mädchen traurig, es hatte Heimweh. Das sagte es Frau Holle! Die freute sich, dass das Mädchen so ehrlich war, und übergab ihm die verlorene Spindel. Sie führte das Mädchen zu einem großen Tor. Als Dank für seine guten Dienste ließ Frau Holle Gold auf das Mädchen regnen. Das Mädchen kam zurück auf die Erde und ward wiedergeboren!“

Rabenzahn klatschte in die Hände. Er strahlte über das ganze Gesicht.

„Prima, Jungs! Hab ich euch am Ende doch noch etwas beigebracht! Ihr habt mich sehr glücklich gemacht. – Somit können wir uns also der Runenkunde zuwenden!“

Die Knaben grinsten sich an und stießen ihre Fäuste gegeneinander.

„Werdet mal nicht übermütig! Ab mit euch auf eure Kammer, morgen wird ein langer Tag. Euer König hat zum Thing gerufen, wir werden dabei sein!“

„Jawohl, Meister! Gute Nacht, Meister!“, riefen die Lehrlinge wie aus einem Mund und stiegen die Treppe zu ihrer Kammer empor.

Meister Rabenzahn blickte zufrieden in das Feuer, schließlich stand er auf und blies die Kerzen aus. Auch er brauchte seinen Schlaf!

* * *

Heute war der Tag. Die Zeit der Reinigung war endlich vorbei, nun würden sie damit beginnen, seinen Körper wieder aufzubauen.

Die Tür zu seiner Zelle öffnete sich, grelles Licht durchflutete den Raum und stach ihm schmerzhaft in die an die Schwärze gewöhnten Augen. Er kniff seine Lider fest zusammen. So sah er nicht, wie mehrere Schwarzkutten eintraten. Als sie seinen ausgezehrten Leib auf eine Schwebetrage betteten, stöhnte er vor Schmerzen auf.

„Alles wird gut, Bruder!“, spendete einer der Männer ihm Trost.

Vorsichtig öffnete er die Augen einen winzigen Spalt und sah sich um. Sie leiteten ihn über einen schmalen Gang. An der Decke waren in regelmäßigen Abständen Lichtröhren angebracht, links und rechts zweigten Türen ab.

Plötzlich blieben die Kuttenträger vor einer Tür stehen. Der erste von ihnen öffnete sie, die Bahre schwebte in einen riesigen Raum.

Riesige gläserne Behälter standen in dieser Halle, in ihnen schwamm eine trübe Flüssigkeit.

Ein alter Mann trat an ihn heran und blickte ihm tief in die Augen.

„Sei mir gegrüßt, Bruder! Deine Zeit ist gekommen, wir werden eine Waffe des einzig wahren Gottes aus dir schmieden. So, wie es dein Wille war! Während du hier in einem der Behälter aufgebaut wirst, sorgen wir für dich. Schließlich wirst du stark sein und mächtiger als je zuvor, und niemand wird dich aufhalten können! Halte durch, Bruder, die Rache wird unser sein!“

„Tod und Verderben den Ungläubigen!“, presste er mühsam hervor.

„Tod und Verderben den Ungläubigen!“, wiederholte der alte Priester, wandte sich ab und gab den anderen ein Zeichen.

Einige Weißkittel traten heran. Einer hielt eine Atemmaske in der Hand.

„Sie wird dich mit Luft versorgen!“, sagte er, streifte ihm das Teil über das Gesicht und fixierte es am Kopf. Jemand anderes befestigte Schläuche an ihm. Sein geschundener Körper bestand nur noch aus Haut und Knochen, ein lebendiges Skelett. Die Haut war bleich und wundgelegen.

Den Einschnitt in der Bauchdecke spürte er kaum, und auch den Schlauch, der in seinen Magen eingeführt wurde, nahm er nicht wahr. Der würde ihn mit Nahrung versorgen. Und mit Anderem, worüber er aber noch nichts wusste.

Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, fuhren die Männer ihn an den nächsten Behälter heran, hoben seinen Leib von der Trage und ließen ihn langsam in die warme Flüssigkeit gleiten.

Die Wärme beseelte seinen Körper, er trieb träge durch diesen Sirup.