Im kalten Schatten des Doms - Lena Olsen - E-Book

Im kalten Schatten des Doms E-Book

Lena Olsen

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Beschreibung

In Köln wird der Referent eines Stadt-Dezernenten ermordet. Während HK Frings dabei ist, das Dickicht zu lichten, gibt es ein zweites Opfer im Umfeld, einen Amtsleiter. Ist Frings auf der richtigen Spur, wenn er einen Zusammenhang vermutet, welche Rolle spielt die Politik? Er taucht ein in diese fremde Welt und sieht, dass nichts fest gefügt ist, nicht einmal sein Privatleben. So ergeht es auch dem unbescholtenen Karl K., der in Not ist und dem von Amts wegen leicht zu helfen wäre. Nichts dergleichen geschieht. Bald unterscheidet Karl nicht mehr Traum von Realität und benimmt sich immer merkwürdiger. Eines Tages ist er so verzweifelt, dass er nur noch einen Ausweg sieht. HK Frings ahnt mehr als er weiß, dass Karl K. kein Mörder ist, und schafft Indizien beiseite. Währenddessen geht ein Mann in der Stadtverwaltung seiner Arbeit nach, den nie jemand des Mordes verdächtigen wird. Frings ist bei der Aufklärung der beiden Mordfälle auf dem besten Weg, wieder zum Opfer einer Frau zu werden, die ihn an der Nase herum führt. Erst beim dritten Mordfall sieht er, wie sich die Mosaik-Steinchen zu einem Bild formen. Emotional involviert, hängt er seinen Beruf an den Nagel, bevor er den Verstand verliert.

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Nehmen Sie sich etwas Zeit,

in eine Ihnen vielleicht fremde, aber komische Welt

einzutauchen.

Inhaltsverzeichnis

Der Abend ist gerettet

So beginnt doch kein Tag

Der nicht gewöhnliche Kommissar Frings

Business as usual

Amtsleiter Petersen behält die Nerven

Dieter, der freundliche Außenseiter

Wichtige Daten verschwinden

Der „freie“ Bensberg

Fragespiel im Dezernat: Warum musste Mittler sterben?

Kommissar und Amtsleiter beschnuppern sich

Mona wird wach

Dieter sieht alles

Karl – ein weiterer Außenseiter

Kommissar Frings sinniert

Bernd, der Mann von der falschen Partei

Petersen zeigt seinen wahren Charakter

Weihnachtsfeier mit Folgen

Monas Beweise

Monas nächtliche Besucher

Ein Toter verwirrt den Kommissar

Das führerlose Amt

Mona wirft das Netz aus

Karl leidet und muss handeln

Karls neuer Fernseher

Frings’ Unbehagen an seiner Liebesbeziehung

Amts-Intrigen - Dieter mischt sich ein

Politische Machtspiele: Frings braucht Mona

Karl zwischen Traum und Wirklichkeit

Frings puzzelt weiter

Bernd und Selma, wortlose Veränderungen

Dieters Pläne

Frings ermittelt weiter

Karl in Not

Frings, vom Tod verfolgt

Begegnung zweier Frauen

Die neue Domina

Pläne

Michael Frings blüht auf

Zufall

Weihnachts- und andere Vorbereitungen

Die eigenartige Wandlung des Dieter

Eine kleine Katastrophe

Frings’ Abrechnung

Das Jahr endet so …

… wie das neue Jahr beginnt

Frings versteht die Welt nicht mehr

Was danach geschah…

Der Abend ist gerettet

„Mein Gott“, sagte Jan Petersen, „sei doch nicht so empfindlich! Und hör’ auf zu weinen, es reicht langsam. Du wusstest, auf was du dich einlässt, als du mich geheiratet hast.“

Er reichte seiner Frau, die auf dem Beifahrersitz immer weiter in sich zusammengesunken war, so dass sie kaum noch aus dem Fenster sehen konnte, ein Papiertaschentuch, das er mit einer ungeduldigen Bewegung dem Handschuhfach entnommen hatte.

Sie schniefte noch einmal kräftig, richtete sich dann auf. Worte hatte sie nicht; ihr Blick war starr auf die Straße gerichtet. Die Wortlosigkeit dauerte fort, als sie schon zu Hause angekommen waren und das Haus betreten hatten.

Der mächtige Mann legte in der geräumigen Diele seinen Wintermantel ab. Das änderte an seiner Figur kaum etwas. Seine Frau, die es ihm nachtat, stand, fast zwei Köpfe kleiner, verloren vor dem Spiegel und gönnte ihrem Spiegelbild einen Blick voller Selbstmitleid. Diese Empfindung war neu. Sie wandte sich ab, als könne sie diesen Anblick nicht ertragen.

“Was möchtest du zu Abend essen?“

„Ich habe keinen Appetit“, war seine kurze Antwort.

„Toller Dialog“, schoss es aus der kleinen Frau heraus.

„Das kannst du öfters haben, wenn du Wert darauf legst.“ Sie verschwand in der Küche, während er in das Wohnzimmer hinüber ging, gemächlich, mit dem ganzen Gewicht seines träge gewordenen Körpers und in dem Bewusstsein seiner Überlegenheit, die er gewöhnlich zur Schau stellte, nun also auch zu Hause. Das war neu. Mona klapperte, so gut es ging und noch glaubwürdig war, mit dem Geschirr, um das leere Gefühl in sich zu übertönen und ihm zu zeigen, dass sie lebte. So lange sie klapperte, brauchte er sich keiner Hoffnung hinzugeben, dass er sie klein gekriegt hatte. Sie stolzierte hoch erhobenen Hauptes auf den Esszimmertisch zu, so dass sie ihren Gatten im Blick hatte. Sie kramte in einer Schublade und wählte eine besonders bunte Serviette aus. Demonstrativ, unter Einsatz fast aller Finger, an denen sie genüsslich leckte, verspeiste sie ihr kaltes Abendbrot, wischte zwischendurch immer mal mit der Serviette an den Fingern herum.

Du kriegst mich nicht klein, war ihr einziger Gedanke.

Jan lachte innerlich, zufrieden über diese Show.

„Du wirst schon noch lernen müssen, wo die Grenzen deiner Freiheit verlaufen“, murmelte er sehr leise vor sich hin, so dass seine Frau es nicht verstehen konnte.

“Komm doch zu mir rüber“, forderte Jan seine kleine runde Frau auf.

„Rauchen wir die Friedenspfeife“.

„Ich rauche doch nicht“.

„Sei nicht so kleinlich, du hältst das doch nicht durch. Verdirb uns nicht den Abend.“

Mona näherte sich langsam, setzte sich auf die Lehne seines Sessels. Er zog sie zu sich hinunter. Da lag sie nun quer auf seinen Oberschenkeln und besah sich den Teppich aus geringer Höhe. Als ihr das Blut lange genug in den Kopf geschossen war, richtete sie sich auf.

Er lachte sie an und zog sie an sich. „Du weißt, ich bin abends oft dienstlich unterwegs wegen der wichtigen Kontakte, die uns beiden nützen. Das hat bald ein Ende, dann habe ich mein Ziel erreicht. Dann kommt das Frühjahr, der Sommer, unser Urlaub, inzwischen ist Wulff von seinem Dezernentenposten freigestellt und ich habe mein Ziel erreicht. Alle Pläne sind künftig ohne Hindernisse zu verwirklichen, niemand steht mir mehr im Weg. Das musst du doch auch wollen.“ Mona schmiegte sich enger an ihn. Er hatte Recht. Warum reagierte sie in letzter Zeit so sensibel auf seine Abwesenheit. Es gab keine eindeutige Erklärung, nur so ein diffuses Gefühl. Als müsse sie unbedingt etwas festhalten, was ihr zu entgleiten drohte. Sie befreite sich sanft aus seiner Umarmung. „Ich hole uns eine Flasche Rotwein, oder möchtest du lieber einen weißen?“

Jan machte eine Handbewegung, mit der er signalisierte, dass es ihm gleich war. „Der Abend ist gerettet“, sagte er sich, als sie auf dem Weg in die Küche war, und rieb sich selbstbewusst die Hände.

So beginnt doch kein Tag

Es war wieder so ein Tag im späten November, dem man schon an der Art der Morgendämmerung anmerkte, dass er nicht richtig hell werden würde.

So ein Tag, an dem man auch mittags das Licht im Büro eingeschaltet lässt und der Bildschirm auf dem Schreibtisch das einzig Bunte im ganzen Raum ist. Das fördert die Konzentration auf das Wesentliche.

Es war für ihn außergewöhnlich früh, als Frank Bensberg an diesem Dienstagmorgen vom Parkhaus hinüber zum Verwaltungsgebäude ging, seine Magnetkarte an den Automaten hielt und sich die Nebentür ins Gebäude öffnete.

Die Pförtnerloge war noch nicht besetzt und er hatte das Gefühl, allein in dem großen Gebäude zu sein. Normalerweise hätte Bensberg ausschlafen können, wie er überhaupt - beneidet von seinen Kollegen - kommen und gehen durfte, wann er wollte. Als freier Mitarbeiter hatte er eben einige Vorteile.

Allerdings stand die Arbeit, die er für die Stadtverwaltung fertig zu stellen hatte, kurz vor dem Abschluss. Einige kleinere Korrekturen waren noch erforderlich. Für den Donnerstag war eine Pressekonferenz anberaumt. So befand er sich am Ende doch noch unter leichtem Zeitdruck, den er bisher durch sorgfältige Planung seiner Arbeit und ein gehöriges Maß an Disziplin hatte vermeiden können.

In dem für ein amtliches Gebäude großzügig konzipierten lichten Treppenhaus war es ruhig.

Als Bensberg den Knopf für den Lift drückte, war das surrende Geräusch des herabkommenden Fahrstuhls deutlich hörbar. Das Geräusch veränderte sich, als der Lift das Erdgeschoss erreichte und der Gong über der Tür ertönte. Die zweiteilige Stahltür öffnete sich mit einem schnarrenden Ton, und Frank Bensberg trat ein. Im selben Moment bekam er einen Schlag versetzt, dass er das Gleichgewicht verlor und auf den Boden des Fahrstuhls fiel. Im Halbdunkel des Treppenhauses konnte er die Gestalt, die aus dem Fahrstuhl stürzte, nur schemenhaft erkennen.

Dass er sich aber in einen Zeugen verwandeln würde, hatte er noch nicht ahnen können, als er die leblose Gestalt im Aufzug entdeckte. Vom Schein der Neonröhren beleuchtet, sah der in der Ecke kauernde Mann mit den weit aufgerissenen Augen doch etwas zu gespenstisch aus, als Bensberg es sich an diesem frühen Morgen gewünscht hätte. Zwei Stunden später war Frank Bensberg noch immer nicht in seinem Büro, der Gedanke an die Arbeit am „Armutsbericht“ war in weite Ferne gerückt. Dafür hatte sich die Szenerie im Treppenhaus geändert. Uniformierte Polizisten und die mit Routine und Präzision arbeitenden Beamten der Spurensicherung bestimmten das Bild.

Der Fahrstuhl mit dem einsamen Insassen war weiträumig durch ein rotweiß gestreiftes Band abgesichert, das behelfsmäßig an den Vitrinen mit Artefakten aus vergangenen Jahrzehnten ordentlicher Verwaltungstätigkeit befestigt worden war.

Den Lift hatte der Hausmeister stillgelegt, nachdem sich vor den Augen der kurz zuvor eingetroffenen Polizisten die Türen geschlossen hatten und der Fahrstuhl mitsamt Leiche nach oben entschwand. Der Schrei der Kollegin, die ihn für eine Fahrt zur Kantine nutzen wollte und das Klirren des Tellers, den sie vor Entsetzen hatte fallen lassen, waren programmiert und hatten - streng genommen - etwas Komisches an sich. Gelacht hatte niemand. Mittlerweile war auch die Identität des Mannes bekannt, dem hier der Tod aufgelauert hatte. Einige Mitarbeiter, die einen schnellen Blick in den Lift gewagt hatten, erkannten Rolf Mittler, den Kollegen aus einer der Dezernatsverwaltungen. Wer je mit ihm zu tun hatte, war von seiner ruhigen und immer freundlichen Art beeindruckt gewesen.

Das war aber auch alles, was haften geblieben war, wenn jemand sich an eine Begegnung mit Mittler erinnerte. Blass und wenig beeindruckend war seine Persönlichkeit, wenn man gutwillig voraussetzte, dass er eine hatte. Rolf Mittler war also umgebracht worden, und niemand konnte sich vorstellen, warum. Mit dem Messer rücklings erstochen, einfach so.

Es war der erste offensichtliche Mordfall in diesem Haus, in dem seit Jahren täglich Hunderte von Menschen aller sozialen Schichten mit den unterschiedlichsten Beweggründen ein- und ausgingen.

Der nicht gewöhnliche Kommissar Frings

Andererseits gibt es Dinge, so schön und edel, dass sie sogar in eine drückende Stimmung ein Glanzlicht werfen und die Menschen, die das Glück haben, ihrer teilhaftig zu werden, ein klein wenig aufzuheitern in der Lage sind.

Das Regenwasser perlte in großen Tropfen von der makellos glänzenden Oberfläche ab. Über die geschwungenen Rundungen der silbergrau lackierten Karosserie des ‚Porsche 911’ bewegten sich die Tropfen, je nach Gefälle, mal schneller und mal langsamer. Die Bewegung auf der Karosserie unterstrich die Tatsache, dass das Auto stand.

Es war geparkt worden und ein nicht weniger edel wirkender Mann war ausgestiegen, hatte die Tür zugeschlagen und sie sorgfältig abgeschlossen. Der Mann hatte das Verwaltungsgebäude betreten, wobei er die Wassertropfen von seiner hellbraunen Wildlederjacke abschüttelte. Nun hielt er auf die Absperrung um den Fahrstuhl zu, und einer der Polizisten hob das Band an, so dass Hauptkommissar Frings darunter hergehen konnte.

Er war spät dran, denn die Spurensicherung hatte ihre Arbeit schon beendet. Doch Frings hatte Glück, der Schnüffler Pütz war noch nicht gegangen. Er hatte mit Pütz schon häufig zu tun gehabt und er wusste, dass er vor Abschluss der Labortests kaum mit einem Hinweis auf Zeitpunkt und Umstände des Todes von Mittler rechnen konnte.

„Wie sieht’s aus, habt ihr schon was herausgefunden?“ fragte er trotzdem.

„Er lebte noch, als man ihn in den Krankenwagen brachte; jetzt ist er tot. Wenn du sonst noch was wissen willst, warte bis morgen. Wieso fragst du eigentlich immer wieder? Du weißt doch, dass ich nichts sage, wenn ich nicht sicher bin. Es werden sowieso zu viele Gerüchte in die Welt gesetzt. Ich muss nicht auch noch dazu beizutragen.“

„Schön, dass du so gewissenhaft bist und deinen Berufsstand ernst nimmst. Aber stell‘ dir vor, genau das tue ich auch und deshalb ist jeder Hinweis für mich wichtig. Hier in der Gegend läuft nämlich ein Mörder herum und ich werde dafür bezahlt, ihn zu fangen, am besten, bevor er noch einmal zuschlägt.“

Frings drehte sich um, zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz wütend weg. Es war zwecklos, Pütz zu irgendetwas bewegen zu wollen.

Einer der uniformierten Polizisten, die gerade Zeugen vernahmen, wandte sich zu Frings um und grinste. Es war kein freundliches Grinsen, eher etwas schadenfroh. Nicht, dass Michael Frings bei seinen Kollegen unbeliebt war, aber man hielt gerne Abstand zu ihm. Mit den Gerüchten, die sich im Laufe der Zeit um ihn rankten, wollte niemand etwas zu tun haben.

Der gewöhnliche Beamte reagiert immer befremdet, wenn ein Kollege sich anmaßt, einen Lebensstil zu pflegen, der weit über die Möglichkeiten seines Einkommens hinausgeht, und dies nicht einmal zu kaschieren versucht. Immerhin war bekannt, woher die Mittel stammten, die es Frings ermöglichten, einen Sportwagen zu fahren, seinen Urlaub in der Karibik oder an der Cote d’Azur zu verbringen und gern gesehener Gast in einigen einschlägigen Nobel-Restaurants der Stadt zu sein.

Es war ihm gelungen, im Verlauf einer Ermittlung mit einer offenbar wohlhabenden Zeugin anzubandeln, die ihn seitdem durch regelmäßige Zuwendungen in seiner Lebensführung wesentlich unterstützte. Das war zumindest die Sichtweise im Kollegenkreis. Dass sich Frings und seine Zeugin auch jetzt, nach immerhin fünf Jahren, noch liebten, fast wie am ersten Tag, sah niemand. Jetzt war Frings erst einmal ungehalten und versuchte, nachdem die Untersuchungen am Tatort bisher auch ohne ihn ganz gut vonstatten gegangen waren, die Leitung an sich zu ziehen. Frank Bensberg, der einzige Zeuge, den er vorweisen konnte, hatte schon dreimal seine Geschichte erzählt und sah langsam nicht mehr ein, was er noch zur Aufklärung beitragen könnte.

Wie hatte der Flüchtende ausgesehen? War etwas Besonderes an ihm? Bensberg erinnerte sich nicht an ein einziges Detail. Alles war so schnell gegangen, bevor er mit der Leiche allein gewesen war.

Business as usual

In der Chefetage, natur- und standesgemäß die oberste Büroetage in diesem Gebäude (darüber lag nur noch die geräumige, lichte Kantine mit dem wunderbaren Ausblick auf den nördlichen Teil des städtischen Grüns), ging der Amtsleiter Petersen unruhig in seinem gut aufgeräumten Büro auf und ab.

Was war angemessen, die Pressekonferenz kurzfristig abzusagen oder, diesem Unglücksfall eine nicht so große Bedeutung beimessend, alles seinen Gang gehen zu lassen?

Dass Jan Petersen sich diese Frage überhaupt stellte, war zumindest ungewöhnlich. Er war nicht der Typ, den Skrupel überkamen, also war der Grund für diese Überlegungen woanders zu suchen.

Das Haus beherbergte Arbeitsplätze für Hunderte von städtischen Mitarbeitern verschiedener Ämter. Dass ausgerechnet einer seiner Leute, und dazu noch der Bensberg, in diesen Fall involviert war, ärgerte ihn. Der wurde als Zeuge gebraucht in einem höchst unpassenden Moment, wo Wichtigeres zu bewältigen war.

Dass der Tote derjenige war, der ihm durch seine Aufgaben im Dezernat sozusagen direkt vorgesetzt gewesen war, beeindruckte ihn nicht besonders. Fast hätte man meinen können, dass Jan Petersen die ganze Sache nichts anging. Für ihn war das Ereignis nur ärgerlich.

Er beschloss kurzerhand, den groß angekündigten und schon vorab mit Lorbeeren bedachten „Armutsbericht“ allein den Pressehanseln vorzustellen. Er wies seine Sekretärin an, entsprechende Mitteilung an die Abteilung zu geben, in der Bensberg tätig war, unter der Mitteilung, die er selbstverständlich als großmütiges Angebot übermitteln ließ, Bensberg könne sich für den Rest des Tages frei nehmen. Er bat seine Sekretärin, ihm einen Vorabdruck des Berichts aus dem Bensbergschen Büro zu besorgen, wozu er ihr den Generalschlüssel überließ, und gab ihr die Anweisung, alle telefonischen Anfragen zu den morgendlichen Ereignissen freundlich, aber bestimmt abzuwehren.

Er ließ sich schwerfällig in seinen großen schwarzledernen Sessel hinter dem Schreibtisch nieder und spielte gedankenverloren auf der Tastatur seines Computers. Diese Bewegungen lösten nichts aus, da der Computer, wie an den meisten Tagen, nicht eingeschaltet war. So wie andere Menschen, die nie ein Buch zur Hand nahmen, in ihrem Wohnzimmer mindestens eine Buchreihe aufgestellt hatten, waren auch dieser Computer und der große Monitor lediglich Staffage.

Jan Petersen nahm mit einer überaus langsamen Bewegung den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer. Mit seiner Frau Mona (er wusste nicht, dass sie von allen anderen Honey genannt wurde) sprach er in gemäßigtem Ton und einer Lautstärke, die vermuten ließ, dass er sich nie sicher war, ob jemand zuhörte oder nicht.

Das war ihm nach Jahren des Geredes über diese Beziehung, die erst zwei Jahre zuvor zu einer ehelichen Gemeinschaft avanciert war, so zur Gewohnheit geworden, dass er das schon nicht mehr empfand. Mona war letztlich in eine andere Dienststelle versetzt worden, wie es den Vorschriften entsprach.

So waren mit einem Schlage alle seine Bemühungen zunichte gemacht worden, die Frau in eine Position zu bringen, in der sie ihm noch weitaus mehr von Nutzen sein konnte, seine eigenen Pläne, die immer auch zu den ihren wurden, leichter durchzusetzen, vorbei an einer Reihe störender amtlicher Verfügungen.

Es war unglaublich, aber er konnte ihr nichts Neues erzählen, als er von dem Mord im Fahrstuhl berichtete. Sie war bereits unterrichtet. Jans Stimme ging in ein Flüstern über, als er sie nach ihren Vermutungen fragte, warum ausgerechnet Rolf Mittler zum Opfer geworden war. Sie hatte wohl eine humorvolle Bemerkung in den Hörer gesprochen, denn Jan lachte vergnügt in sich hinein. Wasserträger, der doch eigentlich weder Ahnung noch großartige Beziehungen in der CDU hatte, so nannte Jan den Toten.

Unwichtiger Wichtigtuer, nein schlimmer, er war regelrecht dumm zu nennen, Würstchen, wiederholte er mit Genuss die Bezeichnung, die seine Frau ihm offensichtlich vorgegeben hatte.

Er lachte. „Na, der kann uns wenigstens nicht mehr schaden und auch nicht ärgern“, ließ er sich herab zu kommentieren.

Sie verabredeten sich für den späten Nachmittag zu einer Hausbesichtigung; ein weiteres Appartement sollte ihr Eigentum werden. Als Jan Petersen den Hörer auflegte, schien er ziemlich befreit, keine Sorgenfalte verunzierte seine hohe Stirn. Er sah kurz auf seine teure Armbanduhr und zog sie mit dem rechten Zeigefinger ein wenig höher auf den Arm.

Dann zitierte er seinen Lieblingsabteilungsleiter zu sich, um ihm die sicher schon von diesem erwartete tägliche Zurechtweisung zukommen zu lassen.

Wolfgang Heller war der Mann, den er sich vor einiger Zeit auserkoren hatte, ihm soviel wie möglich seiner Lasten in der Amtsleiter-Funktion aufzubürden, vor allen Dingen personalpolitische. Dieser Mann bedurfte des beständigen Drucks, um nicht auf Abwege oder zum Nachdenken zu kommen. Er war ein trockener Mathematiker, der an die Notwendigkeit und Berechtigung der hierarchischen Strukturen mehr als jeder andere glaubte. So jedenfalls sah ihn Jan Petersen, wenn der Mann erwartungsvoll, aber kein bisschen keck vor seinem Schreibtisch stand und auf ein Fachgespräch oder auf eine Anweisung, einen neuen Auftrag wartete. Jan war stets höflich und korrekt in seinem Benehmen dem Abteilungsleiter gegenüber.

Aber wer Jan kannte, erblickte die zuweilen aufflackernde Verachtung für seinen fleißigsten Mann. Hin und wieder legte dieser recht brauchbare Ideen auf den Tisch, über die er selbst am meisten erstaunt war und die er oft auch sehr schnell gern wieder zurück genommen hätte.

Er begab sich selten freiwillig in die Nähe seines Chefs. Er war still und zurückhaltend und um keinen Preis geneigt, aufzufallen.

Das alles zusammengenommen reichte Jan, um ihn in die Schublade für die „Devoten“ zu drücken und den Deckel geschlossen zu halten. Daran wurde nicht gerührt.

In dieser Schublade war Jan Petersens Schatz eingeschlossen: die Devoten, die gleichzeitig die Dankbaren waren, jene, die stolz darauf waren, unter Jans Regentschaft arbeiten zu dürfen. Daraus war das Beste zu machen.

Einige Minuten zuvor hatte sich Jan bei der Idee, seinem Abteilungsleiter Heller die alleinige Teilnahme an der Pressekonferenz am Donnerstag zu übertragen, ein Lächeln über diesen Schachzug und die Reaktion darauf nicht verkneifen können. Natürlich hatte er das nicht ernsthaft erwogen.

Heller war denn auch unmerklich zusammengezuckt bei diesem Wunsch seines Vorgesetzten. Nein zu sagen, traute er sich nicht. So suchte er blitzschnell nach einer Ausrede, verhaspelte sich dabei, als er die Sätze zu formulieren begann, dass er mit einigen der Kollegen einen wichtigen Termin bei einer Software-Firma habe, der lange vorbereitet und auf das sorgfältigste geplant worden war. Wie gut, dass ihm das überhaupt eingefallen war. Er strahlte seinen Amtsleiter an wie ein Kind, das seine Rechenaufgabe letztlich doch noch gut gelöst hatte. Der Amtsleiter zeigte sich ratlos, ja fast verzweifelt. Heller sah seine Felle davon schwimmen. Was hatte er anzubieten. Ihm brach der Schweiß aus. Er fühlte sich mehr als unbehaglich und hätte viel darum gegeben, schon das Zimmer verlassen zu haben. Der Amtsleiter ließ ihn zappeln, strich sich immer wieder über das glatt rasierte Kinn und schien dann einen Ausweg gefunden zu haben.

Er beugte sich in seinem Sessel nach vorn. “Herr Heller, Sie erledigen Ihren Termin und kümmern sich dann schnellstens um die Abmahnung dieses renitenten Winter. Ich werde das mit der Presse schon hinkriegen.“

Der Abteilungsleiter bedankte sich förmlich für das Verständnis und verließ das Büro. Er war froh über diesen Tausch, wenn auch nicht richtig. Diese Abmahnung war ein heikles Ding. Aber man würde sehen. Er schob das erst einmal beiseite.

Eigentlich hatte er wenigstens einen Satz seines Chefs zu dem Mord erwartet. Als dieser ausblieb, hatte er sich nicht getraut, ein Gespräch darüber zu beginnen. Er fragte sich nur, warum Jan Petersen das nicht für notwendig erachtete. Schließlich war er auf die Kooperation mit Mittler immer angewiesen gewesen. Gewesen, sagte sich Heller, ist ja nun vorbei. Gut, dass Herr Petersen den Mittler nicht besonders schätzte, war auch Heller nicht verborgen geblieben. Dennoch, irgendwie störte ihn die Abwesenheit jeder Pietät.

Ein Leben geht gewaltsam zu Ende, und der Chef verliert darüber nicht ein Wort. Stattdessen ist dieser in Gedanken schon bei der Pressekonferenz. Business as usual.

Wolfgang Heller schüttelte leicht den Kopf, den er meistens gesenkt hielt, wenn er über die Flure ging. In seinem Büro angekommen, sah er eine Weile gedankenverloren aus dem Fenster, bevor er sich wieder an die Arbeit begab. Er seufzte tief, als er sich die Akte seines Mitarbeiters Winter bringen ließ. Dann schloss er seine Bürotür von innen ab.

Amtsleiter Petersen behält die Nerven

Jan Petersen sah auf seine Armbanduhr. Es war bereits elf Uhr dreißig. In diesem Moment klopfte es an die Bürotür. Er hatte den Eindruck, dass seine Sekretärin sich kaum traute, die Tür richtig zu öffnen.

„Was gibt es, Frau Albrecht?“ er sah sie freundlich an. Die Frau trat zögernd ein und schloss langsam die Tür hinter sich.

„Herr Petersen, ich finde keinen Vorabdruck des Berichts. Die zwei Exemplare, die wir ausgedruckt hatten und die gestern noch bei Bensberg auf dem Schreibtisch lagen, sind nicht mehr dort. Ich habe ihn auf seinem Handy angerufen, er war noch bei der Kripo. Er sagte, das könne nicht sein, sie müssten auf dem Schreibtisch liegen.“

Petersen schaute seine Sekretärin an, nahm dann ruhig seine Brille ab, steckte einen der Bügel in den Mundwinkel und dachte nach. Drei-, viermal schritt er sein Büro ab, blieb dann stehen. Die Pressekonferenz war für Donnerstag vorgesehen, 14.00 Uhr. Zeit genug also, um in Ruhe ein paar Druckexemplare herzustellen, vielleicht sogar schon vorab an die Presse zu liefern.

„Nehmen Sie noch mal Verbindung mit Bensberg, Herrn Bensberg, auf und lassen Sie sich das Kennwort für seinen Rechner geben. Sagen Sie ihm, falls er einen Gegenvorschlag haben sollte, das sei ein Befehl von mir. Er wird sich da heraushalten. Ich allein werde die Pressekonferenz übernehmen, muss ja sowie letztlich alles selbst machen hier. Unglaublich, finden Sie nicht auch?“

Dabei lächelte er sie an. Sie zog resigniert die Schultern hoch. „Ja, so ist es wohl. Ich werde das schnell erledigen.“ Als er wieder allein war, kam er ins Nachdenken. Was alles so an einem Tag geschehen kann. Endlich hatte er einen Anlass, seinen so genannten freien Mitarbeiter den Kameras und Interviews zu entziehen. Es wurde auch Zeit; der Bensberg war schon viel zu lang auf Erfolgskurs, mit seiner Unterstützung natürlich.

Er freute sich erst einmal auf den Nachmittag, wenn er mit seiner Frau die Wohnung besichtigen würde. Danach könnten sie noch in die Bar in der Nähe des WDR gehen und ein wenig entspannen.

Die Typen, die sie dort antreffen würden, kannten sie durchweg seit langer Zeit, eine eingeschworene Gemeinschaft Gleichgesinnter. Die meisten waren in seinen Augen jedoch phantasielose arme Schweine, die ihm nicht das Wasser reichen konnten, schwache Leute ohne Power, manche Alkoholiker, zum Teil Parteigenossen am unteren Ende der Seilschaften. Darin war er sich mit Mona einig.

Mona wurde bewundert, ebenso wie er selbst. Man hing an seinen Lippen und an ihren strahlenden warmen, grünbraunen Augen, wenn sie mit ihrem immer noch vorhandenen leicht fremdländischen Akzent die Gespräche in seichtere Gefilde lenkte. So manch einer kam dann ins Träumen und beneidete Petersen um seine rundliche kleine Frau, die so anschmiegsam und lieb, dabei nicht dumm, war.

Telefonläuten unterbrach die Stille. Auf dem Display sah er den Namen seiner Sekretärin. Wo ist sie denn, warum kommt sie nicht hierher? Er wunderte sich, nahm dann den Hörer ab.

“Herr Petersen, auf der Festplatte sind keine Daten mehr!“ Das war zunächst alles, was sie hervorbrachte.

Er schaltete wie immer, schnell und sachlich: „Wer weiß davon?“

„Nur der Systemverwalter, den ich gerufen habe.“ „Nicht Bensbergs engster Mitarbeiter, Sie wissen schon?“ „Nein.“ „Dann ist alles in Ordnung. Schicken Sie mir den Systemverwalter!“ „Ja, sofort“, sagte die Sekretärin ohne Erstaunen ins Telefon.

Immerhin kannte sie ihren Chef seit einigen Jahren. Petersen erledigte, was zu tun war, sagte selbstbewusst vorsichtshalber den Pressetermin ab, selbstverständlich, ohne seinen Dezernenten zu unterrichten. An diesem besonderen Tag würde niemand es wagen, ihn eines Versäumnisses wegen zu belästigen.

Dann nahm er wieder in seinem Sessel Platz und griff eben zum Telefonhörer, als seine Sekretärin in der Tür erschien und ihm mitteilte, die Kripo wisse, dass er einer der Amtsleiter sei, die das Opfer gekannt hatten und wünsche am kommenden Tag gern gegen 11.00 Uhr mit ihm ein Gespräch zu führen.

“Okay“, sagte Petersen, „und danke. Schönen Feierabend, Frau Albrecht!“

Dieter, der freundliche Außenseiter

Nachdem er am Vortag fassungslos den Abtransport des Referenten Mittler, besser gesagt, seines schmalen Leichnams miterlebt und am Abend aus diesem Grunde einige Kölsch in seiner Stammkneipe zu sich genommen hatte, wandte sich Dieter Kalscheuer am Mittwochmorgen wieder seiner Arbeit zu.

Es gelang ihm jedoch nicht, die Konzentration zu finden, die notwendig gewesen wäre, um die noch bestehenden Fehler in einer der Datenbanken zu identifizieren und zu beschreiben.

Er beschloss, gegen seine Gewohnheit, sich an diesem Tag den Kollegen zum Frühstück in der Kantine anzuschließen. Es war jedoch eine stumme Runde, selbst für Dieter, dem Wortlosigkeit vor Jahren schon zur Gewohnheit geworden war.

Er war jetzt ein wenig verlegen, auch eine seiner Eigenschaften, allgemein bekannt. Rolf Mittler war in diesem Kreis zwar kein unbeschriebenes Blatt, aber auch kein Kollege gewesen. Die Gedanken der hier anwesenden Männer - Frauen gab es so gut wie gar nicht in diesem Amt, oder wenn, dann in untergeordneten Tätigkeiten - beschäftigten sich eher abstrakt mit dem Mordfall. So, als ginge es lediglich darum, den Mörder zu finden und - natürlich - das Motiv.

Bei dem Motiv begann ihr eigentliches Interesse. Man sah es ihnen an, zumindest Dieter sah es. „Das kann nicht nur politische Gründe haben“, denke ich. „Das wäre viel zu gefährlich für den Täter. Der würde seine Karriere damit aufs Spiel setzen. Immerhin wird jeder dritte Mord aufgeklärt. Das ist bestimmt eine private Geschichte.“

Der Systemverwalter hatte diese Vorlage gegeben, biss wieder in sein Brötchen und sah seine Kollegen herausfordernd an. „Wie kommst du denn darauf?“ fragte ihn Manfred Hundenborn. „Weil das im Stadthaus geschehen ist und aussehen soll, als sei dahinter ein Bezug zur Karriere von Mittler zu vermuten.“

„Ich finde, das reicht nicht für den Ausschluss dienstlicher oder gar politischer Gründe. Schließlich war er wer in der Partei.“

„Ja, was war er denn? Einer unter vielen!“

Manfred begann sich zu ärgern: „Kennst du dich denn so gut aus in der CDU?“ fragte er hintergründig und herausfordernd.

„Das nicht“, erwiderte Max verunsichert.

Triumphierend sah Manfred Hundenborn seine Kollegen an. „Was denkt ihr denn so?“

Der Tote war ungefähr im gleichen Alter wie sie alle. Sie stellten sich wohl vor, wie das sein würde, so plötzlich abberufen zu werden und dann noch auf diese Weise und quasi vor der gesamten Öffentlichkeit.

Keiner von ihnen war parteipolitisch gebunden, und wenn, hätte das in ihrer Funktion auch keine Rolle gespielt. Sie hatten sich darauf eingerichtet, in dem Amt zu bleiben, in das sie - dank der hervorragenden Beziehungen des Amtsleiters zum Oberbürgermeister - nach dem Studium aufgenommen worden waren und in dem es ihnen ganz gut erging.

Die meisten konnten zwar keinen direkten Vergleich mit der Qualität anderer Arbeitsplätze ziehen, da dieser ihr erster war, aber richtig unglücklich war keiner von ihnen.

„Kommt Bernd heute später“, fragte Manfred in die Runde.

„Den habe ich gestern Abend noch auf dem Flur herumrennen sehen, als es schon nach 18 Uhr war. Er wirkte auf mich ziemlich hektisch, hat auf meine scherzhafte Frage, ob er hier übernachten wolle, nicht geantwortet.“ „Der war doch heute schon ganz früh an Bord“, wusste Max zu berichten. „Merkwürdig“, befand Manfred. Bernd war der für die Stadtforschung neben dem zum Zeugen aufgestiegenen freiberuflichen Mitarbeiter Bensberg maßgeblich verantwortliche Kollege. Hektik war diesem eigentlich fremd. Aber jeder hatte mal einen schlechten Tag. Das bedeutete nichts.

Max war der Systemverwalter des Amtes. Er hatte seine Arbeitszeit so geregelt, dass er an den meisten Tagen schon vor sieben Uhr im Büro war, um sich ab dem frühen Nachmittag seinem Hobby zu widmen. Er ging fast täglich in den Zoo, fotografierte und zeichnete die Viecher dort. Ihn trieben die Pedanterie seiner Bleistiftstriche und die Nähe zu den Tieren an. Mit Menschen hatte er nicht viel im Sinn.

Wie sich zu seinem Bedauern herausstellte, hatte er an diesem Morgen den zweiten Fahrstuhl erwischt, der sich bereits im Parterre befand und sich daher sofort für ihn öffnete. Auf diese Weise war der Tag für ihn einer wie jeder andere geblieben.

„Stellt euch vor, ich hätte den anderen Fahrstuhl nehmen müssen und die Leiche entdeckt!“ Er war in Ermangelung eigener Erlebnisse stets auf die Entdeckung von Sensationen aus, mit denen er dann hausieren gehen konnte.

Einige seiner Kollegen hielten ihn für einen Schwätzer und Informanten. Niemand konnte so richtig benennen, wo das Defizit lag, mit dem dieser Mann durchs Leben ging.

„Stand denn heute schon etwas in der Presse?“ Manfred Hundenborn ließ nicht locker. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte keiner von ihnen eine lokale Tageszeitung gelesen. Das Frühstück schien beendet, das Gespräch war nicht richtig in Schwung gekommen, also begab man sich wieder an seine Arbeit.

Dieter ging den anderen nachdenklich hinterher. Wieso war das für die alles so einfach, wo er erst anfing, sich Gedanken zu machen. Bensberg war als Zeuge vernommen worden; war er wirklich Zeuge oder war er nur zu dem Toten in den Fahrstuhl gestiegen? Der Fahrstuhl war angeblich von oben gekommen, ja konnte nur von oben gekommen sein. Und der Täter?

Auf Befragen hätte Dieter nicht zu sagen gewusst, warum er sich für diesen Fall überhaupt interessierte. Aber wann sieht man schon mal einen Ermordeten. Dem stillen Dieter mangelte es nicht an Humor. Wenn er sich die Szene nochmals vor Augen führte, als der junge Notarzt dem Toten das Messer aus den Rippen gezogen hatte, und das Blut aus dem Fahrstuhl heraus gespritzt war, so waren die Folgen dieses einfachen, aber offensichtlich falschen Handgriffs schon eine Erwähnung wert.

Und das nicht nur, weil der noch anwesende Beamte der Spurensicherung ungläubig den Kopf geschüttelt und mit dem erschrockenen Arzt gemeinsam zum Krankenwagen gegangen war und auf ihn eingeredet hatte, sondern es passierte genau in dem Augenblick, als die Kollegin Tiefenthaler einen Blick in den Fahrstuhl warf. Sie, eine Mitarbeiterin Bensbergs, war gerade als eine der letzten in das Gebäude gekommen, als sie den Menschenauflauf wahrnahm.

Nun ist dazu zu sagen, dass diese Dame in den Mittdreißigern etwas zu korpulent geraten ist. Dieses langhaarige Weib wackelte wie immer erhobenen Hauptes durch den Raum. Meistens jedoch registrierte sie ihre Umgebung nur, ließ sich nicht anmerken, ob sie etwas wahrgenommen hatte oder nicht.

An diesem Morgen aber hatte sie sich den Weg gebahnt, um offensichtlich den Grund für den Auflauf zu erfahren. Das geschah so gründlich, dass die umstehenden Kollegen keine Zeit mehr hatten, darüber nachzudenken, an welcher Stelle der Dame sie zum Auffangen bereit sein sollten. Es gab eigentlich keine Reaktionszeit, wie das bei Reflexen so ist, jenseits des Steuerbaren, dafür aber nicht weniger unangenehm. Sechs Hände fingen die Ohnmächtige auf. Drei Männer dachten nur eines: hoffentlich schaut sie nicht mich als ersten an, wenn sie die Augen aufschlagen sollte. Miss Tiefenthaler war nämlich eben im Begriff, rücksichtslos - nach Meinung der Kollegen und vor allem der weiblichen - die Karriereleiter zu erklimmen, wobei sie nicht müde wurde, die Erklärung für den Anspruch auf eine Beförderung mit ihrem Akademikerstatus zu begründen. Aber nun dies. Sie wurde von drei Männern gehalten, was diesen einerseits eine gewisse Genugtuung bereitete, aber eben nur, solange die Dame nicht bei Bewusstsein war.

Sie legten sie ab, das heißt, einer opferte seine gepolsterte Jacke, um ihren Kopf ein wenig höher zu betten. Dann sahen sie sich hilfesuchend um. Natürlich hatten alle an diversen Erste-Hilfe-Kursen teilgenommen und hätten wissen müssen, was zu tun war.

So war es ihnen nur wenig unangenehm, als ein Mann von der Spurensicherung sich an der Dame sozusagen amtlich zu schaffen machte. Die Männer wandten sich wieder dem Geschehen im Fahrstuhl zu. Dieter fand es im Nachhinein bemerkenswert, dass ausgerechnet Miss Tiefenthaler in Ohnmacht gefallen war. Das hätte er ihr nicht zugetraut. Wenn er ihr manchmal auf dem Flur begegnete, drückte er sich meistens eng an der Wand entlang und grüßte verschämt, als hätte er krumme Gedanken in Bezug auf sie. Was aber nicht stimmte; er war beeindruckt, eigentlich ohne jede Wertung.

Denn sie war eine Frau, und mit Frauen hatte er den Umgang nicht erlernt. Außer mit seiner Mutter. Aber das war etwas anderes. Die war lieb gewesen, hatte sich immer nur um ihn gekümmert, keine Forderungen an ihn gestellt, außer dass sie ihren einzigen Sohn gern in ihrer Nähe sah. Und das war einfach, da sie ja die Wohnung teilten seit dem Tod des Vaters. Seine Mutter war wirklich eine mütterliche Frau gewesen, nicht so eine kalte Zicke, dachte er. Auch auf die Gefahr hin, dass er Miss T. unrecht tat, blieb er dabei, dass sie eine merkwürdige Erscheinung war. Und nun spritzte ausgerechnet ihr, die immer so wie geleckt aussah, das Blut von Mittler auf die Bluse. Was hatte die wohl für ein Theater gemacht, als sie wieder zu sich gekommen war und die Bescherung gesehen hatte?

Und erst der arme Notarzt; einen derartigen Fehler zu begehen! Man konnte für ihn nur hoffen, dass der Tote schon ein wenig tot gewesen war.

Dieter wunderte sich dann doch eine Sekunde lang über seinen gedanklichen Exkurs. Vieles von dem, was an diesem Tag geschehen war, passte nicht zusammen. Und war dennoch so abgelaufen.

Wichtige Daten verschwinden

Amtsleiter Petersen saß nicht mehr ganz so ausgeglichen wie noch am Vortag in seinem Sessel. Abwechselnd ging und saß er; seine Gesprächspartner waren bis zum frühen Vormittag der Systemverwalter, Bensberg, die Sekretärin und Bernd Wasserschaff gewesen. Bensberg und der Systemverwalter gemeinsam, um die Aussagen zum PC deckungsgleich zu gestalten.

Noch war nichts von der Tatsache, dass Bensbergs PC-Festplatte keine Daten mehr enthielt, in andere Büroräume gedrungen.

Der Systemverwalter war nach der dreimal wöchentlich stattfindenden Datensicherung befragt worden, so als wäre das eine Routinefrage. Jeweils Montag, Mittwoch sowie Freitagabend fand die Datensicherung auf einem Server statt. Die Termine waren - wie meistens - eingehalten worden.

Für den Amtsleiter war damit klar, dass der „Armutsbericht“ in seiner letzten Fassung nicht verloren sein konnte.

Damit die Sache geheim blieb, wurde Herr Bensberg gegenüber dem Systemverwalter vom Amtsleiter zum unfähigsten aller PC-User erklärt, der aus Versehen seine Festplatte gelöscht hatte.

Diese Notlüge passte dem Verfasser des umstrittenen, hochexplosiven Gutachtens nicht, war aber unumgänglich. Schließlich sah er ein, dass dem Amtsleiter keine andere Wahl blieb, willigte in diese Version ein und spielte kurzfristig den Trottel.

Möglicherweise würde sowieso niemand sonst davon erfahren. Bensberg interessierte sich überhaupt nicht für das Geschehene. Ja, er versuchte nicht einmal, sich vorzustellen, wie das mit seiner Festplatte hatte entstehen können. Das war eine amtsinterne Geschichte, mit der man ihn als Wissenschaftler nicht belästigen sollte. Er ärgerte sich jedoch umso mehr darüber, dass der Amtsleiter den Pressetermin allein wahrzunehmen gedachte und ihn dafür mit Kollegen zu dieser Software-Firma schickte. Er hatte Mühe, sich nicht entsprechend zu äußern. In einer solchen Situation war es natürlich ein Nachteil, als Freiberufler nicht den Mund aufmachen zu können, ohne seine Geldquelle richtig zu verärgern. Auch war sich Bensberg der Eitelkeit seines Amtsleiters bewusst. Die verletzte man nicht ungestraft.

Max war den ganzen Tag damit beschäftigt, den PC neu zu konfigurieren und die gesicherten Dateien wieder in ihre alte Struktur einzubetten. Er wunderte sich über die Unachtsamkeit von Bensberg. Der war in letzter Zeit schon manches Mal mit Anliegen an ihn herangetreten, die einigermaßen ungewöhnlich waren. Da Max aber um die oberflächlich gute Beziehung zwischen Bensberg und dem Amtsleiter wusste, wollte er seine Beobachtungen nicht zu früh weitergeben, und hatte erst einmal geschwiegen. Seine Stunde würde noch kommen, dann aber richtig!

Er hielt Bensberg für einen arroganten Fachidioten. Dass er ihm damit unrecht tat, hing mit der Selbstüberschätzung seiner eigenen Person zusammen. Außerdem konnte Bensberg ein reguläres Studium nachweisen, eine Tatsache, die für so manchen in diesen Ämtern der öffentlichen Verwaltung ein Dorn im Auge war.

Für alle galt jedoch, dass die Hierarchie etwas war, auf das man bauen konnte, wenn es darum ging, Verantwortung abzuwälzen.

Das hatten auch die Freiberufler wie Bensberg schnell gelernt. Sie wollten gern im Rampenlicht stehen und ein wenig von dem Ruhm ernten, der häufig nur den Amtsleitern oder gar den Dezernenten vorbehalten war.

Auf diese Weise bildeten sich die merkwürdigsten Konstellationen und hatten Leute miteinander Verbindung, die - objektiv betrachtet - nichts miteinander verband. Bernd Wasserschaff, eines der wenigen bekennenden Mitglieder eines CDU-Ortsvereins im Amt Petersens, wurde kurz und knapp vom Amtsleiter in dessen Büro zitiert. Die zu besprechende Angelegenheit war nur ein Vorwand, um zu testen, in wie weit Wasserschaff von den Vorgängen um Bensbergs Rechner etwas mitbekommen hatte.