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Meine Geschichte findet ihren Anfang in der Zeit des zweiten Weltkrieges. Bereits als Kind durfte ich erfahren, was es bedeutet, in ständiger Angst zu leben, meine liebsten Menschen zu verlieren und Verantwortung für meine kleine Schwester zu übernehmen. Es gab Zeiten, da wusste ich nicht wie ich weiterleben soll und was ich tun soll, um uns vor Hunger, den Tod oder sonstigen beängstigenden Situationen zu schützen. Doch meine Hoffnung auf bessere Zeiten hat mich immer geleitet, durch die Tiefs und Hochs - eigentlich durch das ganze Leben...
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Seitenzahl: 243
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Widmung
Meine liebe Oma,
dein Leben war sehr anstrengend und herausfordernd. Man kann es sich kaum vorstellen, was du erlebt hast. Dennoch schaffst du es immer freundlich, höflich und liebevoll zu bleiben und zeigst deiner ganzen Nachkommenschaft was es bedeutet ein Mensch zu sein. Dafür danke ich dir vom ganzen Herzen.
<<Wenn ein Stern vom Himmel fällt,
Erlischt das Licht in wenigen Sekunden,
Eines geliebten Menschen Seele nie.>>
Verfasser unbekannt
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Nachwort
Meine Geschichte beginnt in der Vorkriegszeit. Unsere Familie ist nicht wohlhabend, doch wir haben alles Notwendige zum Leben, und kommen eigentlich ganz gut über die Runden. Wir leben in einem kleinen Haus mitten in der Wolgaregion, besitzen mehrere nicht allzu große Anbaugrundstücke und betreiben Viehzucht. Viele Tiere haben wir nicht. Es sind nur ein Paar Kühe, Schweine und einige Hühner. Wir sorgen selbst für unser Leben, was höchstwahrscheinlich gar nicht anders funktionieren würde, denn wer nicht arbeitet, isst auch nicht und nach diesem lebenswichtigen Prinzip lebt unsere kleine Familie. Ich bin es gewohnt im Haushalt und bei der Pflege unserer Tiere mitzuhelfen, schließlich wird es mir von Klein auf so beigebracht. Ich kenne es gar nicht anders und weiß noch nicht, dass dieser Fleiß, der mir in die Wiege gelegt wird, mich mein ganzes Leben begleiten wird.
“Mama, Mama. Schau, es schneit draußen. Schau wie schön es ist. Der Winter ist da. Der Winter ist da. Lass uns raus gehen. Bitte.”
“Else, komm her, mein Schatz. Wir können jetzt nicht raus. Es ist zu kalt. Wir können uns doch die Schneeflocken vom Fenster aus anschauen. Komm her und setz dich zu mir hin.”
Sie setzt sich auf einen Hocker und nimmt mich auf ihren Schoß.
“Warum schneit es? Und warum ist es so schön, wenn es schneit?”
“Wenn das Wasser verdunstet, steigt es nach oben.
Daraus bilden sich Wolken und diese Wolken bringen den Regen mit sich. Und wenn es draußen so kalt ist, wie jetzt, dann schneit es. Der Schnee ist das Gleiche wie der Regen, nur gefroren.”
“Warum ist er gefroren?”
“Weil das Wasser bei 0°C Grad Kälte gefriert.”
“Und warum gefriert Wasser?”
“Weil das die Natur so festgelegt hat. Im Winter ist es kalt und im Sommer heiß.”
“Ja, aber warum ist es in Winter kalt und im Sommer heiß?”
“Das hängt mit dem Umlauf der Erde zusammen. Wir als Menschen spüren die Bewegung unserer Erde nicht, aber sie dreht sich um die Sonne und zusätzlich noch um sich selbst.”
“Aber wie geht das denn?”
“Ich kann dir nicht sagen, wie das funktioniert, es ist schon immer so gewesen, auch als wir Menschen die Erde nicht bewohnt haben.”
“Wo haben wir dann gewohnt?”
“Nirgends. Es gab uns damals nicht.”
“Und wie sind wir dann hergekommen?”
“Es gibt dazu zwei Theorien. Die einen sagen, wir sind aus den Affen entstanden und wiederum andere glauben, dass Gott uns erschaffen hat.”
“Aber, wenn die erste Theorie stimmen würde, dann würden wir heute noch aus den Affen entstehen, oder?
Warum habe ich niemanden gesehen, der einem Affen ähnelt?”
“Weil diese bestimmten Klimabedingungen momentan nicht gegeben sind. Man sagt, dass es wohl damals einen Urknall auf der Erde gegeben hat und das hat das Klima verändert, sodass im Laufe von mehreren Jahrhunderten aus Affen Menschen entstanden sind.”
“Und was hat Gott damit zu tun?”
“Du kennst doch die Bibel. In diesem Buch steht geschrieben, dass Gott unsere Erde und uns in sieben Tagen erschaffen hat.”
“Wie hat er das angestellt?”
“Wenn du groß genug bist, wirst du die Bibel mit Sicherheit selbst lesen und dir dann selbst ein Urteil darüber bilden.”
“Aber, wann bin ich denn groß genug?”
“So in zehn Jahren, denke ich. Aber, was stellst du denn heute so viele Fragen?” - sie kitzelt mich ein Wenig und drückt mich anschließend an sich. Ihre warmen Hände geben mir ein Gefühl von Geborgenheit und nehmen mir die Angst vor dem Winter, vor Kälte, vor dem Großwerden.
Der Winter ist eine sehr anstrengende Zeit für uns. Wir arbeiten zwar nicht so viel wie in den Sommermonaten, allerdings wird während der kalten Zeit sichtbar, ob wir genügend Vorräte haben und ob wir in den frühen Frühlingsmonaten hungern müssen. Ja, einmal haben wir die Hungersnot erfahren müssen. Es gab vor einigen Jahren einen ziemlich heißen Sommer und kaum Regen, also fiel auch die Ernte dementsprechend aus. Unsere Vorräte haben nur bis Anfang März gereicht und bis Anfang Juni haben wir uns nur von Milchprodukten ernährt. Zum Glück hatten wir unsere Tiere und genügend Heu. Man hat gehört, dass einige Menschen an Hunger gestorben sind und Kinder waren leider auch unter den Toten. Ich weiß nicht, ob ich mich glücklich schätzen kann, dass ich diese Zeit nicht wirklich miterlebt habe, denn ich war viel zu klein, um zu verstehen, was um mich herum geschieht.
Vielleicht ist es auch ganz gut so, denn momentan geht es uns hervorragend. Meine Eltern, jedoch, führen es uns Kindern immer wieder vor Augen, damit wir unser Essen zu schätzen wissen.
Meine kleine Schwester kommt die Treppe herunter.
“Mutter, was macht ihr da?”
“Schau, Emma, es schneit, schau wie schön es ist.”
“Kann ich auch zu dir auf den Schoß, Mutter?”
“Schatz, du weißt doch, dass du bald ein Geschwisterchen bekommst, und ich habe durch meinen dicken Bauch keine zwei Plätze frei. Aber Else will dir sicher den Platz überlassen?”
Sie schaut mich mit bittenden Augen an.
“Ist ja schon gut.” - antworte ich etwas enttäuscht und stelle mich daneben hin.
“Nimm dir doch ein Hocker und setz dich neben uns hin, Liebes.”
Ich schnappe mir ganz schnell einen Holzhocker, der neben dem Kamin steht und hole noch ein kleines Sitzkissen und eine kuschelige Decke. In die Decke eingewickelt schaue ich einen Moment lang aus dem Fenster, betrachte die herunterfallenden Schneeflöckchen und bewundere die Harmonie. So langsam wird es dunkel und Mutter dreht die Öllampe auf.
“So, jetzt können wir uns wieder sehen.” - sagt sie mit einem netten Lächeln im Gesicht und schaut erst Emma an und dann mich.
Plötzlich geht die Eingangstür auf und unser Vater steht ganz verfroren und von Schnee bedeckt im Flur.
“Mensch, ist es kalt draußen geworden. Ohne Handschuhe im Stall kriegt man nichts hin. Die Finger werden sofort taub.”
“Deswegen hat es so lang gedauert. Ich habe mir heute beim Melken auch gedacht, dass mir die Finger jeden Moment abfallen.” - sie läuft auf ihn zu und gibt ihm die Hand. “Und ihr zwei solltet so langsam ins Bett.
Geht nach oben, aber davor wascht euer Gesicht.”
Mutter begrüßt unseren Vater mit einem Kuss und hilft ihm beim Ausziehen der nassen Kleidung. Ich höre nur noch, wie sich die beiden über die alltäglichen Dinge unterhalten.
“Wie ist heute dein Tag gewesen?”
“Mit dem Schnee habe ich heute nun gar nicht gerechtet. Es hat ja auch nichts darauf hingedeutet. Es kam ganz plötzlich und ich musste noch ganz dringend das Heu verstauen.”
“Das hätten wir doch gleich unters Dach bringen sollen. Nicht umsonst sagt man, was du heute kannst besorgen, das verschieb nicht auf Morgen, nicht wahr.”
“Du hast ja recht, aber wir haben es liegen lassen und ich musste nun mal heute dran. Wie geht es dir und dem Ungeborenen?” Er legt seine Hand auf ihren Bauch und streichelt es ganz sanft.
“Ich kann mich nicht beklagen. Die Schwangerschaften mit unseren zwei Großen waren viel anstrengender. Ich fühle mich ganz wohl in meiner Haut.”
“Das freut mich, mein Schatz.”
Ich weiß nicht genau, wie lange meine Eltern am Tisch saßen und gesprochen haben. Kaum war ich im Bett fielen mir schon die Augenlider zu und ich schlief ein.
Später in der Nacht vernehme ich laute Stimmen an unserer Haustür. Bis mein Verstand wach ist und ich die Situation realisieren kann, dauert es noch ein Wenig. Ich weiß nicht, ob ich gerade träume und drehe mich von einer Seite auf die andere. Jetzt bin ich doch wach. Ich horche. Es sind Männerstimmen, die mir überhaupt nicht bekannt sind. Wie aus dem nichts, ganz plötzlich, Fragen über Fragen: Was ist denn passiert? Warum sind fremde Männer in unserem Haus? Vielleicht sind es Bekannte meiner Eltern, die ich noch nicht kenne. Leider kann ich mir die Situation nicht erklären und meine Neugierde gibt mir keine Ruhe. Ich blicke noch kurz zu Emma, die ganz fest zu schlafen scheint und schleiche mich auf den Zehenspitzen langsam aus dem Zimmer, und verstecke mich hinter einer Ecke gleich neben der Treppe. Die Sicht von der hölzernen Treppe aus ist ganz bequem, denn ich kann alles erkennen, was sich unten, in unserer Diele abspielt. Hoffentlich sieht man mich nicht und ich versuche mich so gut wie möglich verdeckt zu halten. Ich schau ins Wohnzimmer. Es sind drei Männer, die auf meine Eltern in einem befehlenden Ton ununterbrochen einreden. Meine Eltern sitzen ganz schockiert am Tisch und blicken auf den Boden. Ihr Gesichtsausdruck verrät, dass der Schock tief sitzt und sie wohl nicht genau wissen, wie sie reagieren sollen.
“Ihr habt 24 Stunden eure Sachen zu packen und das Haus zu verlassen.” - der fremde Mann hat eine laute und vornehme Art. Er tritt sehr sicher auf, als ob er von dem was er tut, sehr überzeugt ist. Die anderen zwei Männer stehen im hinteren Bereich des Flurs. Sie alle tragen militärische Uniformen, was mir sofort verrät, dass diese Männer im Auftrag der Regierung da sind.
Einer von ihnen schaut die ganze Zeit aus dem Fenster und verhält sich sehr nervös. Höchstwahrscheinlich macht er diese Arbeit zum ersten Mal oder sein Gewissen lässt ihm keine Ruhe. Ich denke, dass er seine Arbeit mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann und wäre jetzt sicherlich lieber wo anders.
“Das ist aber unmöglich.” - erwidert mein Vater. Das ist der erste Satz, den er ausspricht. Er zittert und wirkt eingeschüchtert.
“Wie sollen wir denn unser Vieh so schnell verkaufen.
Das alles ist nicht möglich in dieser kurzen Zeit!”
“Dann verkaufst du dein Vieh eben nicht. Deine Familie und du müsst Morgen um diese Zeit am Bahnhof stehen. Wenn ihr nicht da seid, droht euch der Tod höchstpersönlich. Unsere Leute werden Haus für Haus durchsuchen und alle, die noch da sind, erschießen. Du hast die Wahl. Entscheide, ob deine Familie leben soll oder nicht. Schließlich bist du der Mann im Haus und trägst die Verantwortung.“
Es folgt ein rachefreudiges Lachen aus dem Munde dieses fremden Mannes, dann zieht er eine Waffe und hält sie meinem Vater an die Schläfe.
“Wenn du das bis jetzt nicht kapiert hast, dann hast du ein Problem, Freundchen.”
Ich schrecke auf und muss mir den Mund zuhalten, damit ich bloß keinen Ton von mir gebe. Meine Augen füllen sich mit Tränenflüssigkeit. Ich habe Angst.
Im selben Moment hebt mein Vater die Hände und sagt, dass er bereit ist sein Haus zu verlassen und Morgen um diese Zeit am Bahnhof sein wird. Er bettelt drum, uns zu verschonen und uns nichts anzutun.
Nach der verzweifelten Zusage meines Vaters drehen sich die Männer um und verlassen rasch unser Haus.
Als die Tür hinter ihnen zufällt, bricht meine Mutter in Tränen aus.
“Was passiert mit uns jetzt, Alexander? Unsere Kinder, unser Haus, unser Vieh, unser ganzes Hab und Gut?” - sie zittert. Für die beiden scheint die Welt zusammenzubrechen. Man sagt zwar es gibt immer einen Ausweg, doch in diesem Moment sucht man danach und findet es nicht.
“Ich weiß es nicht.” Er blickt kurz zur Seite, gibt meiner Mutter einen liebevollen Kuss auf die Stirn und legt seinen Arm um ihre Schultern.
“Wir müssen jetzt zusammenhalten, Maria. Lass uns überlegen, was wir am besten mitnehmen und was wir hierlassen können.”
“Das ist jetzt nicht dein Ernst!“ - meine Mutter hebt ihre Stimme und schaut meinen Vater fragend an.
Allerdings beruhigt sie sich ganz schnell:
“Entschuldige bitte. Denkst du, wir werden hierher zurückkehren?”
“Ich weiß es nicht. Ich weiß noch nicht mal, wohin sie uns bringen werden und wieso. Fakt ist aber, wir müssen dem Folge leisten. Du hast ja gehört, was passiert, wenn wir nicht folgen.”
“Und wenn wir flüchten und uns verstecken?”
“Wo willst du dich in diesen kalten Tagen verstecken?
Das Haus auf eigene Faust zu verlassen, ist in deinem Zustand nicht möglich. Du bist im achten Monat. Und hier zu bleiben ist wie Selbstmord. Sie werden ganz bestimmt das ganze Haus durchsuchen und uns töten.”
“Lass uns bitte fliehen.”
“Spinnst du? Du bist hochschwanger, wir haben Minus 15 Grad draußen. Außerdem, wo willst du denn hin?
Die werden uns doch finden. Außerdem haben wir nicht so viel Zeit uns Gedanken zu machen, wie wir am besten aus dieser Situation rauskommen.”
Er macht eine kurze Pause und auch er kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
“Alexander, du denkst doch nicht ans Aufgeben?”
“Maria, lass uns bitte schauen, was wir mitnehmen können.”
“Warum antwortest du nicht auf meine Frage?”
“Beruhige dich, mein Schatz. Es bringt nichts sich quer zu stellen. Diese Männer haben Macht und die Menschen, die vielleicht unsere Freunde sind, jedoch mit ihnen zusammenarbeiten, werden uns verraten.
Wir können niemandem vertrauen und wo willst du dann hin? Ich denke nämlich, wenn wir jetzt fliehen, haben wir vielleicht einige Tage, vielleicht Wochen an Zeit gewonnen. Allerdings habe ich Angst, dass man uns irgendwann mal findet, und dann wird man uns eine äußerst schmerzvollere Strafe auferlegen und das kann ich nicht zulassen. Verstehst du? Ich kann nicht zulassen, dass unsere Kinder und du, mein Schatz, leiden. Bitte verstehe mich.”
“Und wenn sie uns nicht finden?”
“Kannst du das voraussehen?”
“Nein.” - sagt meine Mutter abrupt und blickt nach unten.
“Na, siehst du. Ich kann einfach nicht zulassen, dass euch etwas passiert.” Er legt seinen Arm um ihre Schulter und gibt ihr einen Kuss auf die Wange.
Sie merkt, dass es nichts mehr bringt, ihn umzustimmen und kann ihre Emotionen nicht mehr verstecken, sie weint lautlos.
“Beruhige dich, bitte. Bitte denke an unser Kind. Ich will es doch kennen lernen und das ist jetzt in deiner Macht, Maria.”
Ich beobachte sie einen Moment lang. Sie weint ganz leise und hält ihre Hände an ihren Bauch. Dann steht sie auf und läuft auf die Treppe zu. Ich muss mich wieder in mein Bett begeben, um ihr weiteren Ärger mit mir zu ersparen.
Die Gedanken an den Vorfall lassen mich überhaupt nicht los. Wer waren diese Männer? Was wollen sie von uns? Was erwartet uns in den nächsten Tagen? Viele Fragen tauchen in meinem Kopf auf. Ich bin aufgeregt und traurig. Da ich keine Antworten darauf finde, versuche ich mich selbst zu beruhigen, indem ich mir selbst einrede, dass alles wieder gut wird und unserer Familie nichts Schlimmes passieren wird. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht mehr genau, wie lange ich wach geblieben bin. Wahrscheinlich waren es ein paar Stunden und doch irgendwann mal packt mich der Schlaf.
Heute wache ich von allein auf. Die hellen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster hindurch scheinen, haben mich geweckt. In der ersten Aufwachphase stelle ich fest, dass es sehr schön ist von der Sonne geweckt zu werden und wünsche mir, dass jeder Morgen so beginnt.
Es ist gegen zehn Uhr morgens. Normalerweise weckt uns unsere Mutter um acht, doch heute Morgen ist alles anders. Es ist so ruhig und ich höre niemanden reden.
Emma ist auch nicht da. Als ich dann endlich wach bin, erinnere ich mich an die letzte Nacht und realisiere die Zustände, was mir Angst macht.
“Wo ist meine Familie?” - ist die erste Frage, die mir in den Kopf kommt. Ich stürze mich sofort die Treppe hinunter, ins Wohnzimmer. Schaue mich um und stelle fest, dass ich hier ganz allein bin. Eine eiskalte Angst überkommt mich:
“Mama, Papa, wo seid ihr? Emma melde dich. Wo seid ihr alle?”
Ich gerate in Panik, weil mir niemand antwortet. Das Haus scheint leer zu sein und wirkt jetzt so groß, einsam und kalt. Ich laufe von einem Zimmer ins Andere und suche jede Ecke ab. Alle Versteckmöglichkeiten überprüfe ich in meiner Panik und rufe meine Familie.
Doch es meldet sich niemand auf meine Rufe. Wo sind sie? Hat ihr Verschwinden etwas mit diesen Männern von letzter Nacht zu tun? Was ist passiert? Ganz aufgeregt entschließe ich mich warm anzuziehen und draußen weiter zu suchen - vielleicht sind sie ja bei den Tieren im Stall. Ich ziehe mir einige Pullover über und eine warme Jacke und schon stehe ich draußen:
“Mutter, Emma! Wo seid ihr? Bitte antwortet.”
Wieder keine Antwort…..
Meine Verzweiflung und die tiefsitzende Angst bringen mich so langsam zum Zittern. Vielleicht ist es auch die Kälte, schließlich ist es Winter. Die Fragen in meinem Kopf nehmen kein Ende: Bin ich jetzt allein, ganz allein? Ich kann das alles nicht glauben und entschließe mich unseren Hof zu verlassen und auf die Straße zu gehen. Vielleicht sind sie bei unseren Verwandten oder bei unseren Nachbarn? Ich schaffe es kaum unser Eingangstor zu schließen, als mich der Wahnsinn packt und mich zum Erstarren bringt. So viele Menschen habe ich noch nie gesehen. Sie sind in Eile. Es herrscht ein Durcheinander. Manche stehen nur da und schauen um sich. Andere laufen umher und stellen irgendwelche Fragen. Ich höre Kinder weinen und sehe Eltern nach ihren Kindern suchen. Und stelle fest, dass aber niemand nach mir sucht. Panik steigt in mir hoch und ich verspüre einen Klotz im Hals, der mich zum Weinen bringt. Ich versuche mich selbst zu beruhigen, doch es funktioniert nicht so recht. Die Tränen laufen meine Wangen herunter wie zwei kleine Bäche. Plötzlich merke ich, dass es schon wieder schneit. In meiner Aufregung habe ich gar nicht realisiert, dass Wolken aufgekommen sind und die schönen Sonnenstrahlen jetzt nicht mehr durchdringen können. Die Kälte verschafft sich Zugang durch meine Klamotten. Meine Nase ist ganz rot und kalt geworden und die Tränen auf meinen Wangen sind zum Teil eingefroren. Also entscheide ich mich ins Haus zu gehen, bevor ich mich erkälte. Als ich mich dann umdrehe:
“Puuh!”
Ich schrecke kurz auf und bin im ersten Moment erstarrt. Dann komme ich zu mir und spüre, wie ein Fluss der Erleichterung durch meinen Körper fließt:
“Emma! Wo warst du denn?”
Nach oben blickend nehme ich jetzt auch meine Eltern wahr. Sie tragen Säcke ins Haus.
“Wir waren unten im Keller und haben leckere Sachen nach oben gebracht. Mutter sagte, dass wir heute alles essen dürfen, was wir wollen und müssen auch nicht aufessen. Prima!”
Sie dreht sich lachend im Kreis und läuft anschließend ins Haus. Auch ich folge ihr, natürlich nachdem ich, nach einem kurzen Blick auf die Straße, das Tor schließe. Unser Haus betretend verspüre ich einen großen Hunger. Mein Magen knurrt so laut, dass es mein Vater mitkriegt, der irgendwelche Konserven prüft und sortiert:
“Ach Kind, dein Bauch schreit ja bereits nach Essen.”
Er lächelt, was ihm allerdings schwerfällt, denn seine Augen sind voller Sorge.
“Auf dem Tisch steht bereits warme Milch und arme Ritter, also, du kannst zuschlagen. Oder soll ich dir Gesellschaft leisten?”
“Ja. Bitte.”
Vielleicht ist es egoistisch meinen Vater beim Essen in der Nähe zu haben, vor allem in diesem Augenblick, wo er sehr viel Arbeit hat, aber ich möchte ein paar Minuten in Ruhe mit ihm verbringen und hoffe, dass er es mir nicht übelnimmt.
Ich esse langsam, um jeden Bissen zu schmecken und zu genießen. Die Frühstücksatmosphäre ist nicht so vertraut wie immer. Unser Haus, das immer voller Wärme und Gemütlichkeit war, ist jetzt irgendwie kalt und angespannt vor Angst. Vielleicht liegt es daran, dass einige Haushaltsgegenstände nicht mehr am Tisch, Fensterbänken oder Schränken ihren Platz haben, sondern sich in einem großen Holzkasten befinden. Unser Esszimmer sieht vielleicht dadurch so kalt aus.
“Else, hast du gesehen was auf der Straße geschieht?”
“Ja.”
“Ich möchte dich bitten, sobald du mit dem Essen fertig bist, nach oben zu gehen und dort mit Emma den ganzen Tag zu verbringen. Ihr könnt spielen, rumalbern, alles tun was ihr wollt.”
“Ehrlich?” Ich bin überrascht, denn meistens sollen wir uns anständig benehmen.
“Ja, heute ist alles erlaubt, aber bitte macht nichts kaputt.”
“Ist gut.” Ich stelle bewusst keine Fragen an meinen Vater, weil ich ihm zusätzliche Erklärungen ersparen möchte. Ich habe gesehen, wie verängstigt und besorgt er ist. Aus diesem Grund lasse ich ihn in Ruhe und tue das, was er von mir verlangt.
Nach dem Frühstück packe ich Emma und wir begeben uns auf unser Zimmer. Wir spielen ein Wenig mit unseren Puppen und einige Ratespiele, doch meine Neugierde lässt mich nicht los. Immer wieder klopft es bei uns an der Eingangstür. Irgendwelche Menschen kommen bei uns vorbei und ich höre immer wieder die gleiche Frage:
“Waren sie bei euch auch?”
Und mein Vater muss diese Frage immer wieder bejahen. Auch meine Tante ist vorbeigekommen. Sie sah sehr verweint aus. Ich habe ein Teil des Gesprächs zwischen ihr und meiner Mutter mitbekommen.
“Maria, warum müssen wir unsere Häuser verlassen?
Hat man euch zumindest gesagt wohin diese Reise geht?”
“Natürlich nicht. Aber wenn sie nichts sagen, dann wird es auch nichts Gutes bedeuten, nicht wahr?
Schließlich kann ich mir nicht vorstellen, dass sie für eine so große Menschenmenge eine positive Überraschung vorbereitet haben.” - etwas Sarkastisches hört man aus ihrer Stimme heraus.
“Ich habe solche Angst. Was passiert mit uns? Und unsere Kinder, unsere Häuser? Werden wir überhaupt je zurück kommen?”
“Das ist ein Rätsel. Aber wir werden es schon in vier Stunden erfahren.” - sagt meine Mutter. Sie weint.
“Ja. Da hast du vollkommen recht. Beruhige dich, du und dein Kind braucht jetzt vor allem Ruhe. Ich werde dann mal gehen, um unsere Sachen zu packen. Bitte entschuldige mich, dass ich dich gerade zum Weinen gebracht habe. Du hast bestimmt schon genügend an Tränen vergossen. Entschuldige mich bitte. Maria, wir sehen uns ja ganz bald wieder. Ich wünsche euch Gottes Segen.”
“Else!” Meine Mutter ruft mich und ich folge ihrer Stimme bis in die Küche. Das ist das erste Mal, dass ich heute nach dem ziemlich späten Frühstück runterkomme. Ausnahmsweise hat uns unser Vater heute das Essen hochgebracht und ausdrücklich verlangt, dass wir im Zimmer bleiben.
Mehrere Säcke und Taschen stehen vor der Tür und jetzt verstehe ich, dass wir tatsächlich unser Haus verlassen werden.
“Bitte zieht euch warm an. Und helfe bitte Emma mit dem Anziehen. Zieht die wärmsten Sachen an, die ihr habt und mehrere Socken übereinander. Ja?”
“Ja, Mutter. Aber wohin gehen wir?”
“Wir machen einen Ausflug. Das wird sicher sehr schön.”
Sie lächelt mich so nett an und drückt mich anschließend an sich, so dass ich das Herzklopfen des Ungeborenen hören kann. Ich will die beiden gar nicht mehr loslassen. Sie sind meine Familie und alles, was ich besitze.
“Na, geh schon. Kommt bitte dann ins Wohnzimmer, sobald ihr fertig seid.”
Emma und ich eilen nach oben und ziehen unsere wärmsten Sachen an. Ich helfe meiner Schwester den Pullover überzuziehen. Die Strümpfe und Socken schafft sie schon selbst. Ein Paar an Reservesocken nehmen wir auch noch mit. Wer weiß, wie kalt es wirklich wird. In etwa zehn Minuten kommen Emma und ich ins Wohnzimmer. Unsere Eltern sitzen bereits auf dem Sofa und strecken ihre Hände nach uns aus.
“Kommt her, ihr Süßen. Lasst uns einen Moment Platz nehmen und ruhig sein.” - sagt unser Vater und nimmt mich auf den Schoß. Emma setzt sich zu unserer Mutter.
Mein Vater blickt die ganze Zeit nach oben und betet leise zu Gott. Ich verstehe nicht viel von dem, was er sagt und blicke auch hoch, um ihn zumindest mental dabei zu unterstützen.
Es ist schon spät. Draußen ist es längst dunkel und deswegen ist unsere Öllampe an. Ich schaue kurz aus dem Fenster. Leider kann ich dort der Dunkelheit wegen nichts erkennen und sehe nur das Licht der Öllampe auf der Fensterscheibe hin und her fackeln.
Ich fühle mich etwas müde. Normalerweise würden Emma und ich schon im Bett liegen oder uns zumindest darauf vorbereiten. Doch die Aufregung lässt mich nicht los und natürlich die Neugierde, wohin die Reise geht. Meine Mutter zupft noch unsere Klamotten zurecht und einige Minuten später verlassen wir unser Haus, ohne es abzuschließen und lassen unser Hab und Gut zurück. Unsere Sachen, die wir wohl mitnehmen werden, sind bereits auf einem Rollwagen geladen. Es ist nicht viel, aber mein Vater kann es natürlich alleine nicht tragen. Und so begeben wir uns alle zusammen zu den Zügen. Mittlerweile ist es ganz dunkel geworden. Man erkennt nur Silhouetten von Menschen, die auch in die gleiche Richtung laufen, wie wir. Als wir den Bahnhof erreichen, kann ich meinen Augen nicht trauen. Alle Menschen aus unserem Dorf sind hier versammelt. Jeder Einzelne von ihnen macht auf mich einen verängstigenden und eingeschüchterten Eindruck. Man hört nur ganz leise Stimmen von Müttern, die ihre Kinder versuchen zu beruhigen und von Vätern, die sich gegenseitig Fragen stellen, auf die noch niemand eine Antwort weiß.
Meine Eltern schweigen. Auch wenn sie unsere Nachbarn fragen, wie es ihnen geht, nicken sie nur oder heben kurz die Schultern und lassen sie angespannt wieder fallen. Die Situation ist düster. Diese Atmosphäre wird auch noch vom Wetter geprägt. Es ist dunkel und kalt. Es schneit weiterhin. Der alte Bahnhof sieht dreckig und marode aus. Das Bild, was sich hier gerade offenbart, ist einfach nur schrecklich. Es sind hunderte von Menschen, die auf das Ungewisse warten und wollen endlich erfahren, was hier passiert und wohin die Reise geht. Wird das Dorf evakuiert? Wenn das der Grund ist, dann fragt man sich warum? Ist hier das Wasser verseucht oder die Luft? Jahrelang haben hier diese Menschen gelebt, haben ihre Heimatsorte in Deutschland verlassen und in die Wolgaregion gekommen, weil man ihnen ein besseres Leben versprochen hat, und nun wird man wahrscheinlich evakuiert. Aber was der Grund für diese Evakuierung ist, wird wohl ein Staatsgeheimnis bleiben.
Jedenfalls steht hinter diesem ganzen Vorhaben ein großes Fragezeichen.
Ganz plötzlich ertönt eine ohrenbetäubende Zugsirene und der Zug rollt jetzt langsam in den Bahnhof ein.
Seine Lichter erkennt man schon vom Weiten, die jetzt immer näher rücken. Einige Kinder stürzen sich in Steigrichtung und werden von ihren Eltern zurückgehalten. Der Zug kommt mit knirschenden, lauten Geräuschen zum Stehen und der Bahnhof, der einst voller lebenslustigen Menschen war, wird von einer Totenstille erfüllt.
Wie aus dem nichts fällt ein Schuss. Die Menschenmenge schreckt auf und einige Kleinkinder fangen an zu weinen. Ich schaue nach hinten und sehe, ein kleines Mädchen, das in Ohnmacht fällt. Da ihre Mutter in diesem Moment damit beschäftigt ist, ihr Baby zu beruhigen, bemerkt sie gar nicht, dass ihre Tochter regungslos auf dem Boden liegt. Ich versuche mich zu ihr durchzuringen, doch mein Vater hält mich fest. Er bückt sich zu mir:
“Wo willst du hin?” - sagt er ganz leise.
“Da liegt ein Mädchen auf dem Boden. Ich glaube, sie ist tot.”
“Wo denn?”
Ich drehe mich kurz in die Richtung, um meinem Vater den Weg zu zeigen und stelle fest, dass das Mädchen wieder zu sich gekommen ist. Anscheinend ist sie vor Schreck ohnmächtig geworden. Eine Brise der Erleichterung überkommt mich.
“Es scheint jetzt wieder alles in Ordnung zu sein.” - sagt mein Vater und gibt mir einen warmen Kuss auf die Wange. Ich spüre seine warme Atemluft an meinem Gesicht und fühle seine kalte Nasenspitze an meiner Wange.
“Ich bin ganz froh, dass sie wieder zu sich gekommen ist. Ich dachte sie ist tot.”
“Sie hat heute kaum was gegessen, nehme ich an. Nicht allen Menschen ist es so gut ergangen, wie uns, Else.
Und ich möchte, dass du das schätzt.”
“Ich dachte sie ist vor Schreck ohnmächtig geworden.
Vater, ich hätte nie gedacht, dass man aus Hunger zusammenbrechen kann.”
“Natürlich kann man das, mein Kind. Das Essen liefert deinem Körper wichtige Vitamine und Kraftelemente, die es ermöglichen, dich ganz wohl und gesund in deiner Haut zu fühlen. Sobald aber dein Körper keine Kraftstoffe kriegt, wird er ganz schwach.”
“Deswegen hast du immer gesagt, dass es ganz wichtig ist, den Teller leer zu essen?”
“Ja, genau aus diesem Grund. Ich will doch nicht, dass mein kleines Mädchen ohnmächtig wird.” - er schaut mir direkt in die Augen und lächelt mich an. Dann steht er wieder auf und hält seinen Zeigefinger an seinen Mund, um mir zu zeigen, dass wir jetzt still sein müssen.
Plötzlich wird die Menschenmenge ganz unruhig und mehrere bewaffnete Männer begeben sich zum Zug. Sie öffnen mit Schwung die Türen und einer von ihnen, der wahrscheinlich das Ganze leitet, steigt auf die Zugtreppe: