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London: Eine Reihe hochrangiger Londoner Politiker wurde angegriffen und verletzt. Die Täter? Johnny Depp, die Queen und Albert Einstein - oder wohl eher deren Doppelgänger. Werden die Attacken von paranormalen Wesen begangen? Als der Premier ebenfalls Opfer der Angriffe wird, schaltet sich der Orden ein. Caleb und sein Team untersuchen die skurrile Überfallserie. Doch auch mit Caleb selbst geht etwas Merkwürdiges vor. Sally und Lady Kaitlin hegen einen schrecklichen Verdacht: Steht der Vigilant unter dem Einfluss schwarzer Magie?
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Seitenzahl: 671
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Inhalt
Über das Buch
Über die Autoren
Weitere Titel aus der Reihe
Titel
Impressum
Folge 1
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
Folge 2
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
Folge 3
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
Folge 4
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
Folge 5
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
Folge 6
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
Folge 7
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
Folge 8
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
Folge 9
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
Folge 10
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
Folge 11
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
Folge 12
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
Folge 13
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
Folge 14
KAPITEL 47
KAPITEL 48
KAPITEL 49
Folge 15
KAPITEL 50
KAPITEL 51
KAPITEL 52
Das Team von IM NAMEN DES ORDENS
Über das Buch
London: Eine Reihe hochrangiger Londoner Politiker wurde angegriffen und verletzt. Die Täter? Johnny Depp, die Queen und Albert Einstein – oder wohl eher deren Doppelgänger. Werden die Attacken von paranormalen Wesen begangen? Als der Premier ebenfalls Opfer der Angriffe wird, schaltet sich der Orden ein. Caleb und sein Team untersuchen die skurrile Überfallserie. Doch auch mit Caleb selbst geht etwas Merkwürdiges vor. Sally und Lady Kaitlin hegen einen schrecklichen Verdacht: Steht der Vigilant unter dem Einfluss schwarzer Magie?
Über die Autoren
Robin G. Hunter Hinter dem Pseudonym Robin G. Hunter steckt ein von Diana Itterheim angeführtes Autoren-Team, darunter Lara Lorenz, Ann-Kathrin Karschnick, Daniela Pusch und Sandra Grauer. Ausführlichere Biografien der Autorinnen am Ende des Buches.
Weitere Titel aus der Reihe
IMNAMENDESORDENS
1: Die Asche des Lazarus
2: Der magische Foliant
3: Das Gift des Alchemisten
ROBIN G. HUNTER
IM NAMEN DES ORDENS
DER MAGISCHE FOLIANT
ROMAN
Nach einer AUDIBLE-Original-Produktion
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Copyright © 2022 by Robin G. Hunter Published by arrangement with Audible GmbH, Berlin
Für die Originalausgabe: Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Covergestaltung: Thomas Krämer Covermotiv: Thomas Krämer unter Verwendung eines Designs von denisholzmueller.de E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-7517-4246-7
Sie finden uns im Internet unter luebbe.deBitte beachten Sie auch: lesejury.de
Der Alarm ist durchdringend, und wie immer bin ich schlagartig wach: ein neuer Fall, am frühen Morgen.
Das alte Leder der Couch knarzt, als ich mich hinsetze und mir müde durch die Haare fahre. Es ist dunkel draußen, und ein Blick auf mein Handy zeigt mir, dass ich kaum länger als eine Stunde geschlafen habe.
Nach Zacs Tod und meiner erfolgreichen Vernichtung der Banshee habe ich meinen alten Posten als Erster Tatortermittler zurückerhalten. Nichts könnte mir weniger bedeuten.
Meine Gedanken wandern zu Zac. Er hat den Alarm nie gehört und zu seiner kleinen Wecker-Armada immer ein Wachrütteln benötigt, wenn er so früh rausmusste. Die Erinnerung an ihn lässt alles, was mit mir passiert ist, unbedeutend erscheinen.
Ohne Licht anzumachen, ziehe ich mich an und versuche, die dunklen Gedanken abzuschütteln. Noch einmal verliere ich kein Teammitglied!
Ich schnappe mein Katana und die Beretta, werfe die Tür hinter mir zu und eile ins Erdgeschoss. Noah und Mike waren schneller und warten schon auf mich.
»Wo ist Isabella?«, frage ich.
Mike deutet zur Ausgangstür, aber eigentlich kenne ich die Antwort schon. Zacs ›Ersatz‹ ist überpünktlich und sehr qualifiziert, zudem ist Isabella Montrose die Tochter eines der besten Freunde meines Vaters. Sie hat in Edinburgh vor einigen Wochen ihre Ausbildung bestanden – und zwar als Jahrgangsbeste. Allerdings ist sie dann nicht nach Frankreich gegangen, wie ich angenommen hatte, sondern hat sich hier, in London, im Orden beworben.
Mike grinst. »Deine Schwägerin ist das Auto holen.«
Dass ich meiner Familie trotz meiner untypischen Berufswahl nicht entkommen kann, trägt zur Belustigung meines Teams bei. Selbst Sir Henry hat vor Isabellas Ernennung mit mir Rücksprache gehalten. Er wollte wissen, ob es für mich ein Problem wäre, wenn er sie meinem Team zuweisen würde.
Was hätte ich da sagen sollen? Etwa: Ich will nicht mit jemand arbeiten, der bald meinen Bruder heiratet und mich von Kindesbeinen an kennt?
Nein, das war kein Satz, den ich dem Ordensführer hätte präsentieren können. Nicht, wenn ich meinen Job behalten will.
»Noch ist sie nicht meine Schwägerin. Sie ist nur mit Adam verlobt. Gebt mir einen Moment und wartet im Auto.« Meine Aufforderung klingt schroff, das fällt selbst mir auf.
Gemeinsam treten Noah und Mike vor den Vigilantentrakt, wo gerade Isabella mit dem Van vorfährt, während ich zum diensthabenden Einsatzleiter laufe. Als ich die Adresse höre, zu der wir fahren müssen, wird mir klar, wie wichtig dieser Einsatz ist, und eile zum Auto.
Noah und Mike sitzen bereits auf ihren Plätzen im Fond. Ich hätte es vorgezogen, wenn einer der beiden den Fahrdienst übernommen hätte, aber Isabella kennt London wie ihre Westentasche. Immerhin ist sie hier aufgewachsen.
Ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz und begrüße sie mit einem: »Guten Morgen, Isa. Zur Downing Street, bitte.«
Wenn die Adresse für Isa eine Überraschung ist, lässt sie es sich nicht anmerken. Noah und Mike jedoch atmen hörbar ein. Isa nickt nur und fährt los, sehr kontrolliert. Nicht wie Zac, bei dem der Kies der Auffahrt manchmal bis gegen die Hauswand geschleudert wurde. Ich unterdrücke den Schmerz bei dem Gedanken an ihn und konzentriere mich auf das Hier und Jetzt.
»Ein Überfall, wir wissen noch nichts Genaues. Jeremy Meyer, ein altgedientes Mitglied des Ordens und unser Kontakt beim Sicherheitsdienst des Premierministers, wird uns vor Ort einweisen. Ich erwarte höchste Professionalität!«
Alle nicken schweigend.
»Soll ich einen Illusionszauber wirken oder können wir den Van schwarz lassen?« Noahs Frage ist berechtigt, und ich schüttele den Kopf.
»Nein, keinen Illusionszauber, schwarz genügt. Aber gib dem Wagen ein Scotland-Yard-Nummernschild.«
Ich spüre, wie Noah den kleinen, aber nicht unwichtigen Zauber wirkt, kurz bevor wir das Ordensgelände verlassen, und werfe Isabella einen Seitenblick zu. Jetzt sitzt kein rothaariger Hüne mehr am Steuer, sondern eine blonde, schlanke Frau mit dezent rosa manikürten Fingernägeln, deren gepflegte Hände das Lenkrad sicher umfassen und sehr zivilisiert den Wagen durch die noch dunklen Straßen lenken.
Nach Small Talk steht mir nicht der Sinn, der Ort, zu dem wir fahren, ist ehrfurchtgebietend. Downing Street Nr. 10 ist ein Begriff weit über unsere Landesgrenze hinaus. Jeremy Meyer, einer der höchsten Sicherheitsbeamten des Premiers, ist zudem ein talentierter Magier und unser Kontakt in die obersten Reihen der Landesführung. Allerdings ist ein Einsatz dort ein Novum.
Wäre Victoria Bannister nicht in Edinburgh, um bei den Zwischenprüfungen die neuen Rekruten zu begutachten, wäre sie es, die mit uns zur ersten Adresse unseres Landes unterwegs wäre. Mir ist es recht, ich muss die Chefin der Vigilanten nicht mit dabeihaben, damit sie unsere Arbeit überwacht und mein Team nervös macht.
Isabella nimmt die Straße an der Themse entlang. Kurz kann ich einen ihrer Silberdolche sehen, der unter dem lilafarbenen Bouclé-Mantel hervorblitzt. Ich bin mir sicher, sie kann exzellent damit umgehen.
Bis die Sonne aufgeht, wird noch eine gute Stunde vergehen, und außer ein paar Müllmännern, die dafür sorgen, dass die Touristen wieder ein perfektes Ambiente vorfinden, ist niemand unterwegs. Als wir Big Ben passieren, ist es exakt sechs Uhr. Isabella lenkt den Van sicher um den Parliament Square Garden und biegt in die verlassen wirkende Parliament Street ein. Sie fährt zügig, aber absolut regelkonform – was anderes hätte ich von ihr auch nicht erwartet.
Schon als Kinder haben wir gelegentlich miteinander gespielt, und sie hat nie geschummelt oder Spiele gemocht, bei denen es etwas wilder zuging. Sie war das typische Barbie-Girl und alles andere als ein Wildfang. Ihre Ausbildung zur Vigilantin hat mich daher ziemlich überrascht.
Mein Vater hätte es gern gesehen, wenn ich Interesse an ihr gezeigt hätte, aber allein sein Wunsch ließ sie für mich uninteressant werden. Zum Glück war mein Bruder Adam auch hier der perfekte und gehorsame Sohn. Da Isa bildschön und intelligent ist, zudem clever und freundlich, gehe ich aber davon aus, dass Adam sich nicht nur aus Pflichtgefühl und für unseren Vater auf sie eingelassen hat.
Isa hält vor dem hohen schmiedeeisernen Tor, das die Downing Street von der Parliament Street abschottet. Ein Wachhäuschen steht dahinter, und vier grimmig dreinschauende Uniformierte mustern uns misstrauisch. Sie lässt die Scheibe herunter und hält dem Sicherheitsbeamten ihren Ausweis hin – eine Harrods-Reward-Card.
»Wir sind vom Yard und wurden gerufen. Ich bin Inspector Montrose.«
Der Wachposten prüft ihre Kundenkarte – mit der sie sicherlich auch den Mantel und die etwas hellere Schlupfbluse gekauft hat, die sie trägt – und bedeutet dann seinem Kollegen, das Tor zu öffnen. Weiter vorn stehen vier Metall-Poller, die lautlos zur Seite gleiten, nachdem er etwas in sein Walkie-Talkie genuschelt hat.
»Danke, Sir.« Isabella schenkt dem Mann noch ein Lächeln, bevor sie weiterfährt. Direkt vor der Adresse des Premiers parkt sie unseren Van, während die Poller hinter uns wieder in ihre Ausgangsposition zurückgleiten.
»Isa, du kommst mit mir. Und nimm den Koffer für die Beweissicherung mit. Mike, du prüfst mit Noah die Umgebung. Seht nach, ob euch was auffällt. Sobald ich etwas Genaueres weiß, rufe ich euch an.«
Alle nicken, und wir steigen aus.
In der Tür vor der schwarzen Fassade wartet Jeremy Meyer auf uns, ein hagerer Mann mit hohen, eingefallenen Wangenknochen. Er wirkt mehr wie ein Skelett als ein Mensch, sieht in dem dunklen Nadelstreifenanzug aber wie immer äußerst korrekt aus.
»Guten Morgen«, begrüße ich ihn.
Er nickt mir zu. Fast ein wenig zu erleichtert für einen Mann, der schon alles gesehen hat. »Guten Morgen, Mr O’Connor. Bitte treten Sie und Ihre Kollegin ein. Miss …?«
»Das ist Miss Montrose.«
Der Magier nickt nur und deutet auf den Eingang.
Der imposanten Treppe im Eingangsbereich kann ich nur einen kurzen Blick schenken, bevor wir in einen kleinen Raum rechts davon geführt werden. Es ist ein Büro, in dem mehrere Telefone, Überwachungsbildschirme und ein komplett überfüllter Schreibtisch stehen.
»Mein Einsatzbereich. Leider ist der Premier nicht so leicht zu beschützen. Ich möchte, dass Sie mit ihm sprechen, da ich nicht sicher beurteilen kann, ob es ein Fall für den Orden ist oder nicht. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass dieser Mann die schärfste Beobachtungsgabe hat, die ich je bei einem Premier erlebt habe.«
Das werte ich als Auszeichnung für den jetzigen Premier. Immerhin ist Jeremy Meyer schon lange für die Sicherheit und die unzähligen Bewohner dieses Hauses verantwortlich und als Ordenskontakt tätig. Ich kenne ihn, weil er jeden ersten Sonntag zum Frühstück in den hermetischen Orden kommt und anschließend mit Sir Henry in der Orangerie Schach spielt. Da Isa neu im Londoner Ordenshaus und bei den Vigilanten ist, kennt er sie noch nicht.
Ohne uns genauer einzuweisen, eilt er aus dem kleinen Büro die Treppe hinauf. Wir folgen ihm, und ich kann die Verwirrung bei meiner Kollegin spüren, die auch mich umtreibt: Er hat uns weder mitgeteilt, um was es geht, noch, was er vermutet. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise sind Magier, wenn es um Paras geht, die über die Stränge schlagen, sehr mitteilsam.
»Hier entlang.« Jeremy Meyer biegt im ersten Stock ab, in einen eleganten Gang hinein. Vor einer Holztür bleibt er stehen, schüttelt unmerklich den Kopf, und klopft dann an.
»Herein«, ertönt eine weibliche Stimme, und Mr Meyer öffnet die Tür.
»Sir, Ma’am, die Ermittler vom Yard sind da.«
Beim Eintreten sehe ich den Premier, der sich einen Eisbeutel ins Gesicht drückt. Zumindest nehme ich an, dass es unser Minister ist, denn außer den prägnanten Haaren kann ich nur einen riesigen blauen Beutel erkennen. Er trägt einen Jogginganzug, der ziemlich schmutzig und zerrissen aussieht. Seine Frau steht blass, aber gefasst neben ihm und hält ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit in der Hand.
»Guten Morgen, Sir. Ich bin Commander O’Connor. Fühlen Sie sich in der Lage, uns zu schildern, was Ihnen passiert ist?«
Je nachdem, was geschehen ist, müssen wir ausgesprochen vorsichtig sein. Ein Premierminister, der beispielsweise zu einem Vampir mutiert, wird nicht toleriert werden, da bin ich mir sicher. Ich hoffe inständig, er ist unversehrt.
»Nehmen Sie Platz. Es tut mir leid, dass wir Sie so früh bemühen mussten.« Er hat eine angenehme Stimme und nimmt das Kühlpack vom Gesicht.
Ich kann eine rötlich-blaue verfärbte Augenhöhle, eine aufgeplatzte Lippe und mehrere Schürfwunden erkennen. Keine Bisswunden, wie ich erleichtert feststelle, aber sein Antlitz ist nicht mehr fernsehtauglich. Immerhin betrachten mich seine beiden blauen Augen mit klarem und aufmerksamem Blick.
»Sir, das ist meine Kollegin, Inspector Montrose. Wir würden gern genau hören, was passiert ist.«
»Bitte setzen Sie sich«, bittet er uns.
Vor dem altmodischen Kamin stehen zierliche Polstermöbel, die Möbelstoffe allein dürften teurer sein als meine gesamte Habe. Isa nimmt elegant Platz und wirkt, als würde sie hierhergehören. Ich bleibe stehen, irgendwie habe ich die Befürchtung, auf dem filigranen türkisblauen Möbelstück deplatziert zu wirken.
»Ich war joggen, wie jeden Morgen: Um fünf Uhr starte ich durch den Hinterausgang, und dann jogge ich einmal um den Parliament Square Garden. Damit man mich nicht erkennt, trage ich immer eine Kappe. Es ist die einzige Zeit des Tages, in der ich ohne Überwachung unterwegs bin, zumindest habe ich niemanden in unmittelbarer Nähe. Natürlich sind immer ein paar Beamte in ausreichender Entfernung da, die ein Auge auf mich haben, auch wenn Jeremy meint, ich würde davon nichts wissen.«
Der Magier hat den Anstand, ein wenig verlegen dreinzublicken. Er hat mein vollstes Mitleid. Wie aufwendig ein Personenschutz ist, hängt davon ab, inwieweit die zu schützende Person mitspielt. Und unser Landesvater scheint sehr stur auf ein Zeitfenster am Tag ohne Bewacher zu bestehen. Ein Sicherheitsalbtraum.
»Bitte sprechen Sie weiter, Sir.« Isas Stimme klingt sanft und beruhigend. Sie hat einen kleinen Block in der Hand, über den die Spitze ihres silbernen Füllers nahezu fliegt. Ein Requisit ohne magischen Nutzen, aber es wirkt professionell. Für einen Anfänger erscheint sie erstaunlich sicher, allerdings hat sie schon immer in den besten Kreisen verkehrt und sich dort sehr wohl gefühlt.
Der Premier drückt sich das Kühlpack wieder auf das Gesicht, kommt aber Isabellas Aufforderung nach, weiterzuerzählen.
»Ich verlasse und betrete das Haus über den Hintereingang, der normalerweise für die Hausangestellten vorgesehen ist. Dort ist eine kleine Gasse, die von den Bediensteten und Lieferanten genutzt wird. Gerade als ich in diese Gasse einbiege, greift mich ein Mann an. Er schlägt auf mich ein, ohne dabei ein Wort zu sagen. Ich habe versucht, mich zu wehren, und dabei bekam ich ihn zu fassen …« Der Premier bricht ab und atmet tief ein.
»Bitte, Sir, jeder Hinweis hilft uns weiter. Lassen Sie nichts aus.« Meine Stimme halte ich ruhig. Welchen Para er auch immer gesehen hat, ich werde wahrscheinlich eine Obscura rufen müssen, um ihm diese Erinnerung zu nehmen.
»Ich habe ihn gekratzt. Seine Haut war irgendwie ölig, glatt und kalt, es hat sich nicht normal angefühlt.«
Könnte ein Ghul sein, überlege ich. Dann hätte der Premier unheimliches Glück gehabt, dass er noch hier sitzen kann. Andererseits: Ghule vermöbeln ihre Beute normalerweise nicht, sondern töten sie unauffällig, um dann mit ihr im Untergrund zu verschwinden.
»Bitte fahren Sie fort, Sir. Wir werden gleich Spuren sichern, und bestimmt finden wir den Täter. Konnten Sie irgendwas erkennen, was uns hilft, ihn zu identifizieren?«
Der Premier wechselt einen Blick mit Mr Meyer.
»Sir, Sie können den Ermittlern vertrauen. Erzählen Sie ihnen, was Sie mir erzählt haben.«
Dass der Magier ihm gut zureden muss, wundert mich, aber ich schweige und warte auf die weitere Schilderung.
»Es war ein Pirat. Genauer gesagt: Jack Sparrow. Er hat mich verprügelt und ist dann einfach wortlos davonspaziert.«
Isas Mundwinkel zuckt kurz. Sie ist also doch nicht so perfekt, wie ich dachte.
Ich schaffe es, mein Gesicht ruhig zu halten. Was der Premier sagt, klingt lustig, aber der Mann, der sich immer noch Eis gegen das Auge drückt, macht keine Scherze.
»Jack Sparrow. Eine Verkleidung also?«, frage ich.
»Nein. Es war Jack Sparrow. Das Original. Johnny Depp in seiner Rolle. Ich weiß selbst, wie das klingt, aber es muss ein Doppelgänger gewesen sein. Ich glaube zumindest nicht, dass Mr Depp mir aufgelauert hat, um mich in seiner bekanntesten Rolle zu maßregeln. Aber das ist es, was ich gesehen habe.«
Da muss ich ihm zustimmen. Und ich verstehe, warum er diese Aussage zögerlich gemacht hat. Sie klingt mehr als nur unglaubwürdig.
»Sir, ich danke Ihnen. Meine Kollegin wird die Aussage notieren und die Spurensicherung übernehmen. Mr Meyer, kann ich Sie sprechen?«
Der Magier sieht mich verwundert an und nickt dann zögerlich, während Isa ihren Koffer aufklappt und beginnt, Spuren zu sichern.
Jeremy Meyer und ich treten vor die Tür in den eleganten Flur. Er seufzt leise, fast ein wenig resigniert.
»Ich weiß, wie das klingt, Mr O’Connor. Aber er ist klar und nicht verwirrt. Ich habe Sie angefordert, weil Kumar mich über ähnliche Übergriffe informiert hat.«
Hellhörig geworden, schweige ich, während der Magier sich durch die schütteren grauen Haare fährt. Er wirkt ein wenig überfordert und so, als wüsste er selbst nicht recht, was er von all dem halten soll. Kein Wunder, wenn Jack Sparrow – alias Johnny Depp – den Premierminister Großbritanniens verprügelt. Die Sun würde für so eine Schlagzeile töten. Ich kann es förmlich vor mir sehen:
Premier von Pirats-of-the-Caribbean-Darsteller vermöbelt – Goldschatz voraus.
Effektiver kann man politischen Selbstmord gar nicht begehen.
»Ich hatte ihn gebeten, vollkommen ehrlich zu sein, aber es ist klar, dass hiervon und auch von allem, was Kumar mir geschickt hat, nichts bekannt werden darf. Kumar ist sich nicht sicher, ob die Vorkommnisse überhaupt für den Orden relevant sind, und hat sich deshalb an mich gewandt, weil es nur Politiker betrifft und keiner mehr als ein paar Blessuren davongetragen hat.
Ein Opfer kam gerade aus dem Pub, beim anderen war es dunkel und die Erinnerung durch einen Kopftreffer vielleicht nicht sachdienlich. Also habe ich den Inspector darum gebeten, noch zu warten, ehe er es als paranormalen Fall dem Orden meldet. Allerdings lässt der heutige Überfall doch ein paar Fragen aufkommen, die für den Orden interessant sind, wenn man ihn mit allen anderen Vorfällen gemeinsam betrachtet.«
Er seufzt und wirft einen Blick zur geschlossenen Tür, bevor er fortfährt. »Ich denke nicht, dass wir den Premier löschen müssen, er hat selbst ein Interesse daran, dass nichts von der Geschichte bekannt wird. Allerdings weiß er auch nichts hiervon.«
Jeremy Meyer hält mir ein Tablet mit Fallakten vor die Nase, die ich mir genauer anschaue:
Die Queen, die einen Untersekretär eines Ausschusses übel mit ihrer Handtasche im Hyde Park verprügelt haben soll. Der Mann hat eine Nasenbeinfraktur davongetragen, und der Fall wurde als Halluzination durch die erlittene Gehirnerschütterung abgetan und geschlossen.
Ich bin mir jedoch sicher, ›Her Majesty‹ hat ein Alibi.
»Es sind noch mehr. Lesen Sie weiter.« Der Magier klingt zutiefst besorgt und scheint Kumars Befürchtungen zu teilen.
Eine Richterin des Verkehrsgerichts, die vom Hulk höchstpersönlich angegriffen wurde, wobei ihr Auto eine deutliche Beule davongetragen hat und im Graben gelandet ist.
Und ein weiterer Politiker, der, nach eigener Aussage, Freddy Mercury eine ›Beule ins Gesicht‹ schlagen konnte, als dieser ihn mit seinem Mikrofon angreifen wollte. Er schwört, die Beule habe sich deutlich abgezeichnet, als Freddy samt Mikrofon die Flucht ergriffen habe.
Und zu guter Letzt Albert Einstein, der den Sprecher des Unterhauses zu Tode erschreckt und dem armen Mann mit einem antiken Rechenschieber eine Rippe gebrochen hat, als dieser aus seinem Stamm-Pub nach Hause wollte.
Ich fand Mathematik auch immer schmerzhaft, aber das geht definitiv zu weit.
Alle Zeugen sind über jeden Zweifel erhaben und besitzen eine einwandfreie Reputation. Allerdings sind die Vorkommnisse so skurril, dass ich verstehe, warum der Inspector gezögert hat, direkt zu uns zu kommen. Alle Fälle wurden still und leise zu den Akten gelegt und werden laut Inspector Kumar von den Opfern totgeschwiegen. Kein Wunder, sind diese doch allesamt politisch aktiv und stehen teilweise mitten im laufenden Wahlkampfgeschehen.
Meine Gedanken rasen: Ein Geist, der die Form von Prominenten annimmt?
Merkwürdig, aber das Unmögliche kann ich berufsbedingt nicht ausschließen.
Eine neue Art von Gestaltwandler?
Aber warum dann genau diese Opfer? Das ergibt für mich im Moment keinerlei Sinn, nur jede Menge weiterer Fragen. Und es lässt die Erlebnisse des Premiers in einem neuen Licht erscheinen.
»Sie verstehen, warum ich das unbedingt unter Verschluss halten muss. Denn die Presse hat Wind bekommen, dass etwas im Gange ist. Und gerade der letzte Angriff darf auf keinen Fall publik werden. Für sich allein ist er schlimm genug, mit den anderen zusammen ein wahres Desaster. Auch für den Orden.«
Ich nicke nur, natürlich will niemand, dass der Premier des Landes so diskreditiert wird. Oder paranormale Aktivitäten bekannt werden.
Ich schicke Noah eine WhatsApp, die er sofort beantwortet: Sie haben nichts gefunden und auch nichts Ungewöhnliches bemerkt.
So viel zu meiner Hoffnung, dass der Täter gleich geschnappt werden könnte. Ich habe keine Ahnung, wonach ich suchen soll.
Etwa nach der Black Pearl im Londoner Hafen?
Isa kommt aus dem Raum, und Jeremy eilt hinein, während sie mit einigen Tütchen in der Hand auf mich zugeht.
»Und?«
Sie seufzt. »Er hat eine Substanz unter den Fingernägeln gehabt, die wie Wachs aussieht. Offenbar konnte der Premier den Täter abwehren und hat ihn dabei gekratzt. Aber ich konnte weder Blut noch Gewebe unter seinen Nägeln finden, zumindest kein sichtbares.
Das Wachs ist merkwürdig und scheint eine eigenartige Beschaffenheit zu haben. Ich habe die Beweise gesichert. Wir müssen sie analysieren, dann wissen wir mehr. Ansonsten hat der Premier nur Wunden, die auf eine Prügelei schließen lassen. Was immer er gesehen hat …«
»… wird von uns genau geprüft werden«, unterbreche ich sie streng.
Bald-Schwägerin, Kindergartenfreundin und Bekannte der Familie – egal, was sie war, jetzt ist sie Vigilantin und mir unterstellt. Ich habe vor, sie wie jedes andere Teammitglied zu behandeln, und sie sollte mit ihrem Urteil nicht voreilig sein.
»Ja, Caleb. Entschuldige. Ich bin nervös. Erster Tatort und so.« Verlegen nestelt sie an den Beweismitteltüten herum und schenkt mir ein Lächeln.
»Schon gut. Du hast nicht gelacht, das war schon eine gute Leistung. Wenn das mein erster Fall gewesen wäre, ich hätte nicht für meinen Gesichtsausdruck garantieren können.«
Ein Grinsen huscht bei meinen Worten über ihr Gesicht. Ich kann es ihr nicht verübeln.
»Mal ernsthaft, Jack Sparrow? Allein der Gedanke …« Sie gluckst leise, und ich gestatte mir ein kurzes, verschwörerisches Lächeln.
»Oh. Da ist ja noch ein wenig vom alten Caleb in dir. Ich hatte schon Angst.«
Ich vergesse manchmal, wie lang wir uns schon kennen. Und dass sie weiß, dass ich meinen besten Freund verloren habe. Dennoch sollte ich mich zusammenreißen. Meine Gefühlslage geht niemanden etwas an.
»Komm, gehen wir.« Meine Stimme klingt strenger, als ich beabsichtig habe. »Bringen wir alles in den Orden und ins Dead Mans Hole, damit der Doc die Beweise prüfen kann. Was immer es war, wir fangen es.«
Sie nickt und folgt mir nach draußen.
Kritisch beäugen die Sicherheitsbeamten Mike und Noah, die am Van auf uns warten. Isabella packt die Beweismittel in den Fond des Fahrzeugs, während die Sicherheitsleute jetzt Isas Beine und ihren Hintern bewundern, als sie sich bückt.
Adam ist ein Glückspilz, Isabella ist in jeder Hinsicht perfekt. Und ich muss aufpassen, dass ihr nichts zustößt. Bei Zac habe ich versagt. Bei ihr wird mir das nicht passieren.
Zu meinen neuen Pflichten gehört es, Lady Kaitlin in der Bibliothek zur Hand zu gehen, und natürlich dafür zu sorgen, dass ihr immer heißer Tee zur Verfügung steht. Ihren Nachmittagstee nimmt sie traditionell in der Orangerie ein, die selbst zur kalten Jahreszeit eine grüne Oase ist und beinahe tropische Wärme bietet. Aber auch während der Arbeit mit den Büchern liebt sie es, stets eine heiße Tasse Earl Grey in Reichweite zu haben.
Natürlich ist es außer Lady Kaitlin niemandem sonst gestattet, Speisen oder Getränke mit in die Bibliothek zu nehmen.
Der Bibliotheksturm, der die Bücher des Ordens mit dem gesammelten Wissen über Magie enthält, schmiegt sich an das westliche Gebäude und ist entweder durch einen langen Gang von der Haupthalle aus zu erreichen oder über ein kleines Tor durch den Garten, wenn man dem Kiesweg von der Orangerie folgt. Es ist nicht leicht, den Tee von der Küche bis hierher auf dem Tablett zu transportieren, ohne dass das Getränk auskühlt. Ich habe Madeleine nie um diese Aufgabe beneidet. Denn bei lauwarmem Earl Grey versteht Lady Kaitlin keinen Spaß.
Der Trick ist, die Kanne in ein warmes Tuch zu wickeln und sie in Lady Kaitlins Leseecke sofort auf ein Stövchen zu stellen. Hier befindet sich die einzig bequeme Sitzecke im ganzen Turm. Ihre Vorgänger haben an Stehpulten oder Schreibtischen mit harten Holzstühlen gearbeitet, und auch die Besucher sind zu dieser unbequemen Arbeitsweise gezwungen.
Wenn ich meinen Aufgaben in der Bibliothek nachgehe, folge ich Lady Kaitlin auf Schritt und Tritt und versuche, mir den Titel eines jeden Bandes und seinen angestammten Platz einzuprägen. Aber das ist eine Mammutaufgabe. Ich bezweifele, ob ich dieser Anforderung jemals gewachsen sein werde. Und ich frage mich, wie Lady Kaitlin mir genügend beibringen will, damit ich eines Tages ihre Nachfolge antreten kann, ohne dass jemand etwas bemerkt.
Ich stecke gerade ein schmales Büchlein mit einem Titel über Mehltau in das obere Regal zurück, wo ich nur mit der großen Schiebe-Leiter hinkomme, da betreten Caleb und die neue Vigilantin die Bibliothek. Sie kommen von einem Fall und überreichen Lady Kaitlin Kopien des Berichts. Es wurde geflüstert, sie wären heute in aller Frühe zur Downing Street gerufen worden. Neugierig recke ich von meiner erhöhten Position aus meinen Hals. Gut, dass ich schwindelfrei bin.
Lady Kaitlin nimmt die handschriftlich beschriebenen Seiten an sich und bringt sie, ohne mich dazu aufzufordern, mit ihr zu kommen, in die Mittlere Bibliothek. Dort lagern die Fallakten und auch die Erinnerungsbücher.
Caleb bemerkt mich.
»Hey, Caleb.« Ich lächele zu ihm hinunter und steige hinab, darauf bedacht, auf den engen Stufen der Holztreppe nicht über den Saum meines blassblauen Kleides zu stolpern.
Die Neue betrachtet mich von oben bis unten. Für eine Vigilantin ist sie viel zu schick gekleidet, und ihr akkurat geschnittener Bob sieht aus wie aus einer Frisuren-Zeitschrift. Im Dienstbotentrakt wird gemunkelt, sie würde bald heiraten und vermutlich nicht allzu lange im Orden bleiben.
»Was ist das?« Ich zeige auf das Beweismitteltütchen in Calebs Hand und ignoriere den Blick der Vigilantin, die sich scheinbar wundert, warum ich so neugierige Fragen stelle.
»Beweise.« Caleb hält die Tüte so, damit ich den Inhalt besser betrachten kann.
»Sieht aus wie Ohrenschmalz.«
Er lacht. »Eher nicht. Das Opfer ist ein recht gepflegter Mensch, würde ich sagen.«
»Ihr seid also wirklich beim Premier gewesen?« Ich gebe preis, was ich im Orden aufgeschnappt habe, und schaue ihn und die Vigilantin beeindruckt an. Über ihr Gesicht huscht Stolz oder vielleicht auch Arroganz. »Wurde er etwa angegriffen? Wovon?«
»Streng geheim.« Caleb amüsiert sich, an seinen Mundwinkeln bilden sich Grübchen, etwas scheint sehr lustig zu sein, aber er will nicht damit herausrücken. Sein Lächeln ist ansteckend, es tut gut, ihn wieder fröhlich zu sehen, auch wenn es mich wurmt, dass er mit dieser Blondine ein Geheimnis teilt und wissende Blicke tauscht.
Lady Kaitlin kehrt aus der Mittleren Bibliothek zurück und sieht mich bei Caleb und der Vigilantin stehen. »Sally, wir brauchen noch Kopien der Akten für das Archiv. Fahr doch bitte zum Yard und hol sie bei Inspector Kumar.«
»Sehr wohl, Lady Kaitlin.« Ich mache einen Knicks.
»Dann kannst du ja auch gleich zum Dead Mans Hole und die Beweismittel dort vorbeibringen. Squirrel soll sie unter die Lupe nehmen, dann wissen wir mehr.«
Es missfällt mir, dass Caleb mich für seine Botengänge einspannt, noch dazu vor den Augen der Neuen. Dafür bin ich eigentlich nicht mehr zuständig. Aber Lady Kaitlin widerspricht nicht, also beiße ich mir auf die Zunge und knickse wieder brav.
*
Auf meinem Zimmer unter dem Dach ziehe ich rasch meine Dienstmädchenkleidung aus und schlüpfe in Jeans und einen warmen Pullover. Ich schnappe mir meinen geliebten Parka vom Haken an der Tür, wo er einsam neben Bettys plüschiger Leopardenprint-Jacke hängt, und hoffe, dass er mich nicht nur gegen den feinen Nieselregen, sondern auch gegen die kriechende Oktoberkälte schützt.
Bevor ich das Ordenshaus durch den Hinterausgang verlasse, gebe ich noch Mrs Bones Bescheid, dass ich auf einem Botengang für Lady Kaitlin unterwegs bin. Draußen atme ich die kalte Luft ein. Meine Kopfhaut kribbelt leicht wie unter Strom, als ich durch den mit Zaubern geschützten Torbogen auf die Straße trete.
Ich laufe zur Temple-Station und quetsche mich mit müden Pendlern in das überfüllte Abteil der U-Bahn. Bis zum Yard ist es nur eine Station, doch ich muss trotzdem aufpassen, dass ich nicht wegdöse. Mir gegenüber sitzt ein Geschäftsmann in feinem Anzug und mit einem blauen, locker um den Hals gewundenen Kaschmirschal. Vom Titelblatt des Evening Standard in seiner Hand prangt mir eine Meldung entgegen:
Untersekretär wird von Queen mit Handtasche attackiert.Alle Berufs-Queen-Doppelgänger werden zum Verhör aufs Revier gerufen.
Ich muss schmunzeln. Was es nicht alles gibt.
Als ich aussteige, schnappe ich mir am Ausgang der U-Bahn-Station Embankment ebenfalls eines der kostenlosen Exemplare des Standard, der heute schon so gut wie vergriffen ist. Die kuriose Meldung erhöht anscheinend die Auflage, neben Artikeln über steigende Immobilienpreise und skandalöse Parlamentskandidaten, die sich teure Villen leisten können.
Ich betrete das moderne, gläserne Foyer von New Scotland Yard, das noch immer nach seinem alten Standort benannt ist, und melde mich am Empfang. Inspector Kumar erwartet mich bereits. Ich werde gleich durchgelassen und nach nur wenigen Minuten von ihm persönlich im Wartebereich abgeholt. Der kleine Inspector trägt einen knittrigen Anzug und hat seine Krawatte gelockert, als hätte er bereits eine lange Schicht hinter sich. Er führt mich in sein Büro, in dem es nach abgestandenem Kaffee und einer offensichtlich hastig heruntergeschlungenen Mahlzeit riecht.
»Meine Frau hat für mich gekocht«, entschuldigt er sich und räumt die Reste seines Mittagessens, das noch in der Tupperdose ist, beiseite. »Sie denkt, ich ernähre mich zu ungesund und bekomme langsam einen Bauch. Und sie hat recht. Bitte, Miss Davies, setzen Sie sich.«
Ich nehme auf dem angebotenen Stuhl Platz und ziehe den Reißverschluss meines Parkas auf. Das kleine Büro ist überheizt, und mir bricht der Schweiß aus.
»Ich bin hier, um Kopien der Fallakten zu holen, man sagte mir, sie wüssten Bescheid.«
Kumar nickt. »Ja, in der Tat. Eine merkwürdige Angelegenheit. Ich hoffe, der Orden kann herausfinden, was da passiert, ich bin mit meinem Latein am Ende.« Er holt einen Stapel in beige Aktenordner sortierte Blätter und Fotos aus einem Aktenschrank hervor und reicht sie mir.
»Dies sind Kopien. Die Originale wandern erst ins Archiv, wenn der Orden mir sagt, was ich in meinen abschließenden Bericht schreiben kann.«
Es juckt mich in den Fingern, hineinzusehen, um was es hier geht, aber das steht mir nicht zu, daher lege ich die Akten ungeöffnet auf meinen Schoß. Etwas anderes ist wichtiger.
»Wo ich schon einmal hier bin, wollte ich Sie fragen, ob es etwas Neues im Fall Betty Jamison gibt, Inspector?«
Kumar lehnt sich in seinem Drehstuhl zurück und fängt unruhig an, mit der Lehne zu wippen. Sein indischer Teint wirkt fahl gegen das Grau der Bürowand hinter ihm, er sieht aus, als könne er ein wenig Sonne und einen langen Urlaub gebrauchen.
»Die Vermisstenanzeige ist raus, und wir gehen allen Hinweisen nach, aber bisher haben sich alle Meldungen als falsche Spur erwiesen. Ein paar junge Männer sagten aus, ein Mädchen, das auf die Beschreibung von Betty Jamison passt, in der fraglichen Nacht in einer Leoparden-Jacke in einem Pub gesehen zu haben …«
»Aber ihre Jacke ist in meinem Zimmer.«
»Richtig. Andere Zeugen wollen sie im Morgengrauen wartend an einer Underground-Station gesehen haben. Aber die Aufnahmen der Kamera zeigen ein anderes Mädchen, das ihr nur ähnlich sieht. Wir haben die Bilder den Eltern vorgespielt, sie haben sie ganz eindeutig als jemand anderes identifiziert, aber wenn Sie auch noch einmal einen Blick auf die Aufnahmen werfen wollen …«
»Nein, nicht nötig.« Mein Herz wird schwer wie ein Stein. Ich weiß, dass Betty im Ordenshaus verschwunden ist und es daher keine Zeugen außerhalb geben wird, Kumars Suche ist vergeblich. Und im Ordenshaus kann er nicht ermitteln.
Auch um Tom Waringham, einen ehemaligen Vigilanten und Freund, mache ich mir Sorgen. Sein Gedächtnis wurde gelöscht und danach wurde er aus dem Orden verbannt. Ich frage mich, wie er ohne Erinnerung zurechtkommt, aber auch dabei kann mir Scotland Yard nicht helfen.
Ich erhebe mich. »Danke für Ihre Bemühungen.«
Inspector Kumar steht ebenfalls auf. »Wir von der Polizei werden alles in unserer Macht Stehende tun …«
»Ja, ich weiß.«
Ich kenne den Spruch.
*
Von Scotland Yard aus fahre ich mit der U-Bahn die vier Stationen bis zum Dead Mans Hole. Der Tower wird von Dutzenden Scheinwerfern bestrahlt und scheint in der einsetzenden Dämmerung beinahe zu glühen. Bei der Brücke weht der Wind besonders schneidend. Ich ziehe die Kapuze über meinen Kopf und ramme meine Fäuste in die Jackentaschen auf der Suche nach etwas Wärme.
Die Stahlkonstruktion der Tower Bridge ragt drohend über mir auf, als ich mit anderen Passanten die Brücke betrete. Wie ich bei meinem ersten Besuch herausgefunden habe, liegt einer der Eingänge zum geheimen Labor oben im nördlichen Brückenpfeiler. Einen zweiten erreicht man vom Wasser aus mit dem Boot. Dennoch muss ich einen Moment nach den eingeritzten Zeichen im Mauerwerk suchen, bis meine Finger den Knauf einer Tür ertasten, wo meine Augen nur glatten Stein sehen. Ich warte einen Moment, bis alle Passanten sich dem farbenprächtigen Schauspiel der untergehenden Sonne auf der Themse widmen und mir den Rücken zudrehen, dann packen meine Finger den unsichtbaren Knauf und drehen ihn herum.
Rasch gleite ich, hoffentlich unbemerkt, durch die von einem Illusionszauber geschützte Tür und ziehe sie zu. Dahinter windet sich eine metallene Wendeltreppe hinab ins Dunkel. Meine Schritte hallen auf den Stufen wider. Als ich das letzte Mal hier hinabstieg, spürte ich Aarons warmen Körper hinter mir. Wir beide haben uns bemüht, leise zu sein und unbemerkt zu bleiben. Das ist heute nicht nötig.
Unten angekommen, begrüßt mich flackerndes Licht aus Neonröhren in einem kalten, gekachelten Tunnel. Es riecht nach Feuchtigkeit, dem Schlamm der Themse und ganz flüchtig nach Formaldehyd. Mich schaudert’s.
»Hallo?« Meine Stimme klingt schwach und kläglich in dem rundgemauerten Tunnel.
Eine Antwort bekomme ich nicht. Doch Doc Brown hat mich gehört und schlendert mit einem Becher Tee in der Hand aus der offenen Tür des Labors, wo sich auch die Leichenhalle befindet. Das grelle Neonlicht zaubert einen Leuchtkranz um seinen grauen Haarschopf.
»Guten Abend, Doktor Brown. Ich soll Ihnen das hier bringen.« Ich übergebe ihm die Beweismittel-Tütchen, auch die mit der ohrschmalzartigen Substanz. »Es stammt aus der Downing Street, das Opfer hatte das hier unter den Fingernägeln.«
Doc Brown lächelt. »Ich habe davon gehört. Kurios, nicht wahr?«
Ich hoffe, der Doc sagt noch mehr. Ich brenne vor Neugier, was in der Downing Street vorgefallen sein mag, doch er schweigt und zieht sich mit den Tütchen in sein Labor zurück, scheinbar glücklich, etwas zu tun zu haben.
Jetzt bereue ich es, mir die Akten nicht auf dem Weg hierher durchgelesen zu haben. Ich überlege, das jetzt nachzuholen und in den Seiten des beigefarbenen Ordners zu stöbern, den ich unter meinen Arm geklemmt habe. Da streckt Lili Gardener, im Orden besser bekannt als Squirrel, in einem weißen Laborkittel über ihrer bunten Kleidung den Kopf aus einer Tür. Sie winkt mich zu sich:
»Hey Sally, habe deine Stimme gehört. Lust auf einen Tee? Ich hab gerade Wasser aufgesetzt.«
»Gerne.« Froh über die Aussicht auf ein heißes Getränk und eine kurze Pause nach der Fahrt mit der U-Bahn und dem Marsch in der Kälte vom Yard hierher, folge ich Lili in die kleine Teeküche, die an den Serverraum angrenzt.
Auf dem abgenutzten Resopaltisch herrscht ein Durcheinander an Teetassen, Zeitungen und Petrischalen. Man merkt, dass sie hier im Dead Mans Hole ohne Dienstpersonal zurechtkommen müssen. Mrs Bones würde in Ohnmacht fallen beim Anblick dieses Chaos.
Auf dem Metallschirm der tiefhängenden Deckenlampe wuselt ein Eichhörnchen herum und beäugt mich neugierig.
»Ingwerkeks?« Lili zieht den Deckel von einer zerbeulten Dose einer Schokoladenmarke, die es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gibt.
Ich nehme mir einen krümeligen alten Keks und verfüttere ein Stück an das Eichhörnchen, während Lili mir Tee eingießt.
»Was ist das für ein Fall?« Squirrel nickt zu den Akten, die ich oben auf dem Stapel mit Zeitungen auf dem Tisch abgelegt habe.
»Keine Ahnung, aber der Premierminister ist scheinbar darin verwickelt.«
Squirrel pfeift durch die Zähne. »Viel los bei unseren Politikern in letzter Zeit.« Sie lacht. »Und, wie weit seid ihr, Caleb und du, mit euren Privat-Ermittlungen?«
Ich verschlucke mich fast am Tee. Ihr Blick sagt mir, dass sie es mir nicht abnehmen wird, wenn ich abwiegele oder leugne. Sie weiß ganz genau, dass Caleb und ich im British Museum waren, und wir schulden ihr zumindest eine Erklärung, wenn nicht sogar einen Gefallen dafür, dass sie für uns die Kameras mit einer Videoschleife versehen hat. Außerdem habe ich versprochen, ihr alles zu erklären. Aber ich kann ihr unmöglich anvertrauen, was Caleb und ich getan haben. Ich weiß nicht, ob sie so etwas wie das Ritual bei der Hexe für sich behalten würde. Also muss ich mir rasch etwas ausdenken, es sollte skandalös und glaubwürdig genug sein und einen Funken Wahrheit beinhalten, um sie zu überzeugen.
Um Zeit zu schinden, beiße ich von meinem Keks ab und nehme einen Schluck Tee, aber Lili Gardener ist nicht dumm. Sie durchschaut, was ich da tue, und beginnt, mit den Fingern auf die Tischplatte zu trommeln. Ich werde wohl oder übel bei einer angepassten Wahrheit bleiben müssen.
»Okay, hör mir zu.« Ich werfe einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass Doc Brown nicht in der Nähe ist. »Es geht um das, was auf dem Highgate Cemetery passiert ist. Um Zacs Tod.«
Squirrel nickt. »Das hat Caleb ziemlich mitgenommen, kann ich mir vorstellen. Die beiden waren dicke Freunde.«
»Er will untersuchen, wie es dazu kommen konnte.«
Lili tunkt ihren Keks in den Tee. »Was glaubt er denn, was passiert ist? Er war doch beim Angriff der Banshee dabei.«
»Ja, schon, aber laut Caleb hätte sie gar nicht da sein dürfen. Auf diesem Teil des Friedhofs sind keine Banshees beheimatet, der Orden hätte das sonst gewusst. Außerdem greifen Banshees normalerweise keine Menschen an.«
»Und was wolltet ihr dann im Museum?«
»Ich weiß nicht genau, Caleb folgt irgendeiner Spur …«, rede ich mich heraus. »Aber es ist wichtig, dass niemand davon erfährt.«
»Wieso nicht? Wenn etwas mit dem Tod eines Ordensmitglieds nicht stimmt, dann muss das untersucht werden. Hat er schon mit Victoria gesprochen?«
Ich zögere. Ich gehe ein großes Risiko ein, wenn ich Lili in meinen Verdacht einweihe. Aber sie hat uns bereits in der Vergangenheit geholfen und wäre sicher eine wertvolle Verbündete.
»Das ist es ja gerade …«, flüstere ich und beuge mich nach vorne, dichter über den Stapel aus Zeitungen, sodass der Schein der Lampe meinen Schatten über den Tisch wirft. »Ich befürchte, Victoria ist irgendwie darin verwickelt.«
Squirrel wirft mir einen langen Blick zu. »Wie kommst du denn darauf?«
»Bei den Tatorten gab es … Auffälligkeiten«, bleibe ich vage.
Squirrel mustert mich mit hochgezogener Augenbraue. »Was für Auffälligkeiten?«
»Ist euch an den Leichen nichts aufgefallen?«
Sie zögert. »Was hätte uns denn auffallen sollen?« Ihr Tonfall sagt mir, dass sie genau weiß, wovon ich rede.
»Hat vielleicht etwas gefehlt oder so?«
Squirrel legt den Kopf schief und schweigt einen Moment, bevor sie fast beiläufig sagt: »Bei dem Letzten, dem Friedhofswärter vom Highgate Cemetery, haben die Augen gefehlt …«
Das ist mir neu. »Was?! Wieso die Augen?«
»Keine Ahnung, aber wenn der Friedhofswärter nicht durch den Schrei der Banshee getötet worden ist, sondern ihrem Klagelied lauschen musste, dann hätte er sich, nach allem, was ich weiß, im wahrsten Sinne des Wortes … totgeheult.«
»Das ist ja schrecklich.«
»Nicht wahr? Aber auch sehr abgefahren. Ich hätte mir gerne seine Augen angesehen. Aber jemand hat sie ihm herausgeschnitten.« Squirrel greift nach einem weiteren Keks. Herausgeschnittene Augen scheinen ihr nicht den Appetit zu verderben.
»Das ist uns auf dem Friedhof gar nicht aufgefallen.«
»Willst du damit andeuten, es sei hier im Labor passiert?«
»Nein, auf keinen Fall!«, wehre ich ab. »Aber wer könnte ein Interesse an den Augen des Friedhofwärters haben?«
»Wenn Victoria, wie du sagst, tatsächlich etwas mit dem Angriff durch die Banshee zu tun hat, dann hätte sie vor dem Angriff auf dem Highgate Cemetery gewesen sein müssen, richtig?«
»Jaaa …«, gebe ich zögerlich zu.
Squirrel grinst. »Das lässt sich herausfinden.« Sie beugt sich ebenfalls verschwörerisch vor und flüstert: »Vor dem Haupttor des Friedhofs sind Überwachungskameras gegen Vandalismus installiert.«
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Es könnte Aufnahmen geben von dem, was Victoria getan hat!
»Das würdest du tun?« Aufregung breitet sich in meinem Magen aus. Vielleicht kann Squirrel uns tatsächlich helfen. Zumindest weist sie, im Gegensatz zu Caleb, den Gedanken, die Chefin der Vigilanten könne etwas mit dem Tod von Zac zu tun haben, nicht sofort von sich.
»Ich sag mal so …«, fährt Squirrel fort und grinst. »Victoria Bannister ist nicht gerade ein Freund von Eichhörnchen.«
»Sind Sie sicher, dass wir das hier machen sollen?«, fragt Sally und schaut sich unsicher um.
»Also, in der äußeren Bibliothek, zwischen den ganzen Studierenden, können wir das wohl kaum machen, sonst werden wir gesehen.« Meine Finger berühren die Erinnerungsbücher in dem Regal hinter mir. »Und das ist etwas, was wir aktuell noch nicht riskieren können.«
»Wieso eigentlich nicht?« Sally stellt die Frage beinahe nebensächlich, aber ich spüre die Dringlichkeit dahinter.
Sie hat zwar zugestimmt, dass sie zur nächsten Bibliothekarin ausgebildet wird, aber die Geheimhaltung gefällt ihr offensichtlich nicht. Doch Geheimhaltung ist aktuell das A und O, um unser Vorhaben umzusetzen. Dass ich Sally als meine Nachfolgerin ausgesucht habe, ist noch geheim. Ein Dienstmädchen als Bibliothekarin ist in den alteingesessenen Strukturen des Hermetischen Ordens undenkbar. Aber das war auch eine weibliche Bibliothekarin vor über fünfzig Jahren. Wenn ich den Orden vor vollendete Tatsachen stelle, könnte das ein Schritt in die Zukunft sein.
Vor allem aber bedeutet es für Sally, sehr viel Magie zu erlernen. Ich kann es in ihren Augen sehen. Sie will mehr vom Leben, als nur ein Dienstmädchen in einem magischen Orden zu sein. Ihr Verstand muss beschäftigt werden, und genau das wird sie als Bibliothekarin ihr Leben lang haben.
»Das haben wir doch schon geklärt, Kindchen. Der Orden ist nicht so weit, dass er ein Hausmädchen, egal, wie gut es sein mag, als Bibliothekarin akzeptiert. Wenn wir ihn aber vor vollendete Tatsachen stellen und du fertig ausgebildet bist, dann haben sie keine andere Wahl.«
»Ich verstehe das ja, aber es ist trotzdem unfair.«
»Es ist vieles unfair in dieser magischen Welt, Sally.« Wie wahr meine Worte sind, ahnt Sally nicht einmal im Ansatz.
»Was denn noch, abgesehen von der Diskriminierung, weil ich ein Dienstmädchen bin?«
Mit Mühe unterdrücke ich ein Schnauben. Es sind so viele Dinge, dass ich den Überblick schon fast verloren habe. Die Behandlung der Frauen, vor allem der Dienstmädchen, in dieser altehrwürdigen und in der Welt der Magie so angesehenen Einrichtung. Natürlich sind zwei Frauen in der Führung des Ordens vertreten – das erste Mal seit Gründung des Hermetischen Ordens. Doch danach kommt sehr lange nichts. Auch der Nachwuchs in den einzelnen Bereichen ist bereits wieder männerdominiert. So wie bei den Vigilanten. Dazu geht mir persönlich der unmenschliche und aggressive Umgang gegenüber den Paranormalen am meisten gegen den Strich. Doch Sally ist noch nicht so weit, dass ich sie in meine geheimen Pläne einweihe. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ihre Mutter am Leben ist und sie mir diese Lüge wohl lange nicht verzeihen wird.
»Darüber unterhalten wir uns ein anderes Mal, in Ordnung? Uns bleibt nicht viel Zeit, und ich denke, wir sind uns einig, dass wir hier noch einiges erledigen müssen, ehe wir uns der täglichen Arbeit wieder widmen.«
»Wie Sie meinen. Was genau steht heute auf dem Lehrplan?«, fragt Sally, und ich sehe die Neugier in ihren Augen. Mit Wissen kann ich sie stets ködern. Darin ist sie wie ihre Mutter. Immer darauf bedacht, etwas Neues zu lernen.
»Ich dachte, wir verbinden das Nützliche mit dem Sinnvollen. Das ist auch der Grund, warum wir heute hier in der Mittleren Bibliothek sind.« Ich lasse eine bedeutungsvolle Pause, um die Spannung zu erhöhen.
Für Sally ist es das erste Mal, dass ich ihr den Zugang zu diesen Räumlichkeiten erlaube. In letzter Zeit betrete ich sie nur, wenn ich Erinnerungsbücher von verbannten Vigilanten oder Erinnerungszettel von gelöschten Zeugen wegsortiere. Das Schicksal treibt mich aktuell öfter in die Innere Bibliothek oder zwingt mich dazu, die äußeren Teile nicht zu verlassen. Seit dem Angriff des Werwolfs auf den Orden, dem Tod von Zaccarias O’Brian und der Löschung von Tom Waringham sind alle verunsichert und verlangen mehr Beratung und Schutzzauber als üblicherweise. Mir bleibt immer weniger Zeit für meine Studien der schwarzen Schriften, was besonders nach den Geschehnissen mit Caleb notwendig geworden ist.
»Nun sagen Sie schon, Lady Kaitlin.« Sally massiert aufgeregt ihre Finger, während sie sich die Bibliothek näher anschaut und scheinbar jeden Aspekt in sich aufnimmt.
»Wir werden uns die Bücher zur Nekromantie näher anschauen.«
Sally zuckt zusammen und verliert ihren ehrfürchtigen Blick auf die Bibliothek. »Lady Kaitlin, sind Sie sich sicher?«
»Wir müssen uns irgendwann mit dem Thema beschäftigen. Und heute ist ein genauso guter Tag wie jeder andere auch.«
»Aber Zacs Beerdigung war erst vor zwei Tagen«, murmelt sie. »Sollten wir das Thema nicht lieber eine Weile ruhen lassen?«
»Seit wann bist du abergläubisch, Kindchen?« Ich stoße mich vom Regal ab und wandere durch die schmalen Gänge der Mittleren Bibliothek. Dort ist längst nicht so viel Platz wie in dem Hauptstudienbereich der Magier im vorderen Teil, aber es reicht, um nicht ständig mit der Hüfte oder dem Hintern gegen die Regale zu stoßen.
»Bin ich nicht, es ist nur …« Sie zögert und dreht mir den Rücken zu. »Ich weiß nicht, ob ich für weitere schlechte Nachrichten schon bereit bin.«
»Also, wenn du so negativ an die Sache herangehst, brauchen wir gar nicht erst anzufangen. Eine Bibliothekarin kümmert sich nicht darum, wie das Ergebnis ihrer Forschung ist. Sie interessiert sich rein für das, was sie erfährt.« Demonstrativ mache ich ein paar Schritte auf den Ausgang zu.
»Halt, so meinte ich das nicht.« Sally hält mich mit einer Hand auf meiner Schulter zurück. »Ich will es lernen. Das habe ich Ihnen versprochen. Und wenn ich ein Versprechen gebe, dann schwöre ich beim Tod meiner Mutter, das auch zu halten. Egal, wie viel Zeit es in Anspruch nimmt.«
Wohlwollend nehme ich ihre Entschlossenheit zur Kenntnis. »Wir werden uns die Zeit nehmen müssen, denn es drängt. Oder weißt du aus dem Kopf heraus alles über die Nekromantie?«
Sally schüttelt den Kopf. »Ich weiß nur das, was Sie mir am Telefon und am Tag nach dem Ritual gesagt haben.«
»Und was war das?«
»Durch das Ritual könnte der Tod ein wesentlicher Bestandteil von Calebs Dasein geworden sein. Aber sicher ist das nicht.« Hoffnung breitet sich auf Sallys Gesicht aus. »Vielleicht stimmt es auch nicht, und er verwandelt sich nicht.«
»Äußerst unwahrscheinlich, aber wir werden sehen.« Auch wenn es mich schmerzt, so muss ich ihre Hoffnung gleich wieder eindämmen. Immerhin reden wir nicht darüber, einen Zauber auf ein zahmes Kaninchen anzuwenden, damit es still in einem Hut sitzen bleibt. Den kann jeder Magier nach dem ersten Tag der Ausbildung. Wir sprechen von schwarzer Magie, deren Erforschung verboten und deren Notizen über die Jahrhunderte sukzessive ausgelöscht wurden. »Was noch?«
»Es gibt verschiedene Unterarten der Nekromantie. Ein vollständiger Nekromant, der sich in den Toten verliert und noch zwei weitere, die ich aber nicht mehr genau weiß.«
»Das waren nur Beispiele, damit du verstehst, was du angerichtet hast.« Einen Moment lang lasse ich den Vorwurf sacken. Noch immer habe ich ihr nicht verziehen, dass sie meine Warnung ignoriert hat.
Sie streckt entschlossen ihr Kinn vor. »Ich habe dafür gesorgt, dass Caleb lebt. Mehr habe ich nicht getan.«
»Eben das. DU hast das getan. Nicht er. Aber lass uns darüber nicht wieder diskutieren. Wir können nicht ändern, was passiert ist. Wir können nur überlegen, was wir in der Zukunft verbessern wollen. Und dazu zählt, dass wir herausfinden, was mit Caleb passieren könnte.«
»Sie verwenden immer wieder das Wort könnte. Was, wenn gar nichts mit ihm geschieht? Sie haben es damals selbst gesagt. Er ist ein fähiger Vigilant. Vielleicht hat er sich gegen diesen Teil des Rituals gewehrt.«
»Vielleicht, eventuell, möglicherweise. Alles Worte, auf die ich persönlich lieber vorbereitet bin. Du nicht auch? Was, wenn er tatsächlich ein Nekromant ist und dem Orden oder dir Schaden zufügt? Willst du unvorbereitet sein?«
Sally verzieht nachdenklich ihre Lippen. »Nein, da haben Sie recht. Also gut, womit fangen wir an?«
»Zunächst müssen wir alle Bücher zusammensuchen, die auch nur den Hauch eines Verweises auf Nekromantie besitzen. Du kennst das Verwaltungssystem meiner Bibliothek nun schon gut genug, um das zu erledigen.«
»Und was machen Sie in der Zeit?«
»Mich ausruhen und dir bei der Arbeit zusehen. Welchen anderen Sinn hat sonst ein Nachfolger, wenn man immer noch alles selbst macht?« Ich zwinkere ihr zu und setze mich in den Lehnstuhl, der zwar nicht so bequem wie mein Sessel im äußeren Teil ist, aber ausreicht, um zu ruhen.
Während Sally die Bücher herausräumt, überlege ich, was ich tun werde, falls Caleb ein Nekromant ist. Doch eine Antwort finde ich weder in meinem Verstand noch in meinem Herzen. Ich kenne ihn zu wenig, als dass ich diese Entscheidung ohne Beweise fällen könnte. Erst einmal muss ich mit Sally herausfinden, was mit ihm passiert.
»Ich bin fertig.« Sally reißt mich mit ihren leisen Worten aus meinen Gedanken, und ich erhebe mich wieder.
Auf dem Tisch neben dem Lesepult sind vier unterschiedlich große Stapel Bücher aufgereiht. Ich rücke meine Brille zurecht und hebe überrascht die Augenbrauen. »So viele Bücher über Nekromantie?«
»Jein. Sie sagten, alles, was auch nur im Entferntesten darauf verweist. Ich habe die Bücher so sortiert, dass wir effizient vorgehen können. Bücher wie Allgemeine Formen der Magie, in denen nur ein paar Sätze stehen sollten, habe ich auf diesen Stapel gelegt.« Sie deutet auf den größten Stapel, der ganz links liegt und sie überragt. »Damit sollten wir beginnen, dann können wir sie schnell wieder wegsortieren.«
»Und die anderen?«
»Die sind nach der Menge der Informationen sortiert, die vermutlich enthalten sind. Ich musste bei ein oder zwei raten, aber im schlimmsten Fall sind wir damit schneller durch.« Sie zuckt mit den Schultern und vergräbt die Hände in ihrer Schürze. Erwartungsvoll schaut sie mich an. »Bei einigen konnte ich das Inhaltsverzeichnis nicht lesen, da ich die Sprache nicht kannte.«
»Du wirst die anderen Sprachen nach und nach lernen müssen. Es sei denn, dir fällt zufällig eine Leselupe in den Schoß. Die könnte diese für dich übersetzen.«
»Eine Leselupe?« Sally runzelt die Stirn.
»Deine Mutter hatte mal eine, um alte und fremde Sprachen zu übersetzen. Sie sind zu diesem Zweck verzaubert, aber ob sie noch unter ihren Besitztümern ist? Solche Leselupen sind selten, und ich würde mich nicht wundern, wenn sie abhandengekommen ist.«
Entschuldigend zucke ich mit den Schultern, betrachte die Bücherstapel und nicke. »Eine gute Taktik, um nichts zu übersehen und doch schnell voranzukommen. Du liest den linken Stapel und ich den rechten. So lernst du, und ich konzentriere mich auf die Recherche. Hoffen wir, dass wir alles erfahren.«
»Das hoffe ich auch. Am vielversprechendsten klang Die Variationen des Todes.« Sally deutet auf das oberste Buch auf dem rechten Stapel, das ich mir daraufhin nehme.
Während ich mit dem einen Stapel anfange, liest Sally nach und nach die Verweise auf die weniger interessanten Bücher und sortiert diese im Anschluss ordentlich weg.
»Hast du schon etwas gefunden?«, frage ich schließlich. Lange können wir nicht mehr bleiben, denn die ersten Studierenden werden bald eintreffen.
»Nichts, was relevant wäre. Es sei denn, Sie möchten erfahren, dass Sir Livingston Bell seine Frau für eine Nekromantin hielt, weil sie keinerlei grünen Daumen hatte und jede noch so simple Pflanze bei ihr einging.«
Ich seufze. »Dummer Aberglaube, den man im 18. Jahrhundert gelebt hat. Wenn eine Frau nicht gärtnern konnte, war sie automatisch nicht fähig.«
Sally schmunzelte. »Das Buch ist erst vor achtzig Jahren verfasst worden.«
»Herrjemine. Ist ja kaum zu glauben. Was soll ich dazu noch sagen?«
Sally legt ihr Buch beiseite und lehnt sich zu mir hinüber. »Haben Sie etwas gefunden?«
»Ich bin mir noch unschlüssig. Das Buch ist sehr alt und sehr ausführlich, wenn es um die Aufschlüsselung der verschiedenen Nekromanten-Level geht, wie es der anonyme Verfasser beschreibt. Aber etwas stimmt nicht.«
Ich reibe mir mit den Fingerspitzen über die Schläfen. Der Kopfschmerz kehrt langsam zurück, der sich in den letzten Wochen wie ein vertrauter Freund bei mir eingenistet hat. Vielleicht kann ich ihn noch für kurze Zeit verscheuchen, ehe ich zurück in die Bibliothek gehe.
»Was genau stört Sie denn?«
»Das ist es eben. Ich bin mir nicht sicher. Schau du bitte mal nach, ob dir etwas auffällt.« Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und schließe kurz die Augen.
»Ist das ein Test?«, fragt Sally schon nach wenigen Sekunden.
»Nein, wieso?«
»Ich glaube, einige Seiten sind mit Tinte aus Blut geschrieben.«
»Das ist nichts Außergewöhnliches.«
»Und es fehlen ein paar Seiten über die finalen Zusammenfassungen und der Bezug auf die Warnung von der ersten Seite.«
Ruckartig reiße ich die Augen wieder auf. »Da fehlen Seiten?« Dass mir das nicht aufgefallen ist, macht mich stutzig. Nun, da Sally aber deutlich darauf hingewiesen hat, ist es unübersehbar.
»Die Seite endet mitten im Satz, und auf der nächsten Seite geht es mit einer Erklärung zu Ghulen weiter.« Sally blättert vorsichtig das Buch um und schaut mich stirnrunzelnd an. »Alles in Ordnung?«
»Natürlich. Test bestanden.« Ich wedele mit der Hand vor meinem Gesicht und schaue zu dem Buch. Wie können denn Seiten darin fehlen? Es ist schon ewig im Besitz des Ordens. Ich kann mir höchstens erklären, dass ich nie zu Nekromantie nachschlagen musste und es mir deswegen nicht aufgefallen ist. Allein der Gedanke, dass jemand Seiten herausgerissen hat, lässt mein Herz bluten, und ich streiche mir mit der Hand über die Brust.
»Lies am besten, was dort steht, damit wir denselben Kenntnisstand dazu haben!«
Ich gebe Sally einen Moment, in dem sie die Seiten in dem nicht sehr dicken Journal liest, ehe sie das Buch zuklappt. »Also, verstehe ich das richtig? Solange er keine Magie anwendet, wird ihm nichts passieren? Sollte er aber zu viel Magie anwenden, gibt es keinen Weg zurück?«
»Was als Vigilant gar nicht so einfach ist. Ich bezweifle, dass das machbar ist. Ansonsten müssen wir auf die Anzeichen achten. Ob er mit Menschen redet, die wir nicht sehen können, oder ob er dunkle Magie wirkt. Du hast mehr Umgang mit ihm, also wirst du ihn überwachen müssen.«
»Und was, wenn er diese Anzeichen zeigt? Oder was hat die Warnung zur Magieanwendung zu bedeuten?« Ihre Stimme klingt ängstlich, und ich verstehe, warum.
Doch mein Mitleid hält sich in Grenzen. Sie hat die Entscheidung getroffen, und sie muss mit den Konsequenzen leben, und Caleb entsprechend auch.
»Die Warnung werden wir erst mal außer Acht lassen und hoffen, dass er nicht die letzte Stufe erreicht. Sollten wir allerdings feststellen, dass er dunkle Magie anwendet, werde ich keine Gnade walten lassen. Ich möchte nicht, dass jemand zu Schaden kommt.«
»Ich verstehe, aber es ist Caleb, über den wir hier reden. Er lebt für den Orden.«
»Caleb hat eine Familie und wird schon zurechtkommen. Außerdem wissen wir noch gar nicht, ob er überhaupt Anzeichen zeigt. Also lass uns das Pferd nicht von hinten aufzäumen. Deine Aufgabe, hast du verstanden?« Ich hake nach, um sicherzugehen, dass sie die Dringlichkeit meines Wunsches versteht.
»Beobachten, und falls ich was bemerke, melde ich es Ihnen.« Sie zögert einen Moment, schaut an mir vorbei und legt die Stirn in Falten.
»Diesen Blick kenne ich, Kindchen. Was ist los?«
Sally zuckt ertappt zusammen, ehe sie die Lippen zusammenpresst. »Mir ist da schon vor einiger Zeit etwas aufgefallen, aber es hat nichts mit Caleb zu tun.«
»Womit denn dann?«, frage ich neugierig. Wenn sie mir etwas verschwiegen hat, dann erfolgreich, denn bisher ist mir nichts aufgefallen.
»Es geht um Aaron und um den Friedhofswärter vom Highgate Cemetery.« Sally verzieht das Gesicht. »Okay, es hat doch mit Caleb zu tun, aber nicht mit dem Ritual. Das war alles schon vorher.«
»Mir scheint, dass Caleb so manche Probleme hat, von denen ich noch nichts weiß. Erzähl mir mehr. Vielleicht hilft es uns bei unserer Recherche. Alles, was wir zu Caleb in Erfahrung bringen können, ist wichtig.«
»Mir ist nicht ganz wohl, in seiner Vergangenheit herumzuwühlen. Besonders nicht in der, die ihn selbst so schmerzt wie der Tod von Zac.«
»Keine falsche Scheu, Sally Davies. Du hast das Thema angesprochen, und glaube ja nicht, dass ich dich jetzt davonkommen lasse.«
Sally nickt und holt tief Luft. »Ich habe vor einiger Zeit herausgefunden, dass Aarons Körper an seine Familie zurückgegeben wurde, aber nicht vollständig. Sein Herz fehlte.«
Überrascht hebe ich eine Augenbraue. »Sein Herz? Bist du dir sicher?«
Hat sich da etwa jemand heimlich an dem Werwolf zu schaffen gemacht?So ein Wolfsherz ist eine seltene Zutat für einige magische Zauber.
Ich bin ein wenig enttäuscht von mir, dass ich nicht selbst auf die Idee gekommen bin, es einfach zu stehlen – obwohl ich das Sam und seiner Familie vermutlich nicht antun könnte. Abgesehen davon, hatte Sir Henry ganz offiziell verboten, interessante Organe verstorbener Paranormalen zu entnehmen.
»Absolut. Ich habe es aus einer verlässlichen Quelle. Aber das ist nicht das Einzige. Ich weiß auch, dass die Augen des Friedhofswärters gefehlt haben. Und aus irgendeinem Grund stört mich das. Ich kann nicht genau sagen, warum. Aber es fühlt sich an, als ob das zusammengehört.«
Sally hebt den Blick und schaut mir direkt in die Augen. Darin kann ich den Wunsch nach Bestätigung sehen. »Bitte sagen Sie mir, dass ich nur Geister sehe und es eigentlich nichts ist.«
»Geister stehlen keine Organe. Zumindest wäre mir das neu.« Ich hole tief Luft und überlege, was man mit den Augen eines Menschen, der durch eine Banshee gestorben ist, und einem Werwolfherz anfangen kann. Im Nebel meines Verstands blitzt eine Erinnerung aus meiner Ausbildung hoch, aber gerade als ich durch den Kopfschmerz hindurch danach greifen will, öffnet sich die Tür zur Mittleren Bibliothek.
»Sir Henry!« Sally springt von ihrem Stuhl auf und knickst vor ihm. »Sally, was machst du denn in diesem Teil der Bibliothek?« Der Protector stellt mir die Frage, auch wenn er Sally angesprochen hat.
»Sie hat unter meiner Aufsicht mal die Spinnweben aus den Ecken entfernt.« Ich nicke Sally zu, damit sie sich wieder setzt. »Und im Anschluss hat sie mir die Bücher hergetragen. Was kann ich für Sie tun, Sir Henry?«
Der Protector streicht sich über die grau melierte Krawatte. »Ich bin hier, weil ich eine gute Nachricht für Sie habe.«
Wer jetzt erwartet, dass ich freudig erregt darauf warte, was Sir Henry Blake mir mitteilen will, der kennt mich kaum. Denn wenn ich eines gelernt habe in all den Jahren im Hermetischen Orden, dann, dass eine solche Ankündigung selten wirklich gute Nachrichten bedeuten. Deswegen erwidere ich gar nichts auf diesen Satz und warte, welche magische Bombe er platzen lassen möchte.
Sir Henry räuspert sich und lächelt mich freundlich an. »Es ist mir in der Tat eine Freude, Ihnen mitzuteilen, dass ich einen adäquaten und äußerst fähigen Nachfolger und zukünftigen Lehrling für Ihre Position gefunden habe.«
Für einen Moment verschlägt es mir die Sprache. Ich spüre Wut in mir aufsteigen und zugleich höre ich das enttäuschte Keuchen von Sally. Was Sir Henry da gerade ohne Rücksicht auf Verluste gesagt hat, zerstört mehr, als ich auch nur erahnen kann.
»Bitte was?«, ist alles, was ich sage.
Das, was wir schon geahnt haben, wurde gerade durch einen Anruf von Doc Brown bestätigt. Es handelte sich bei der Substanz unter den Fingernägeln des Premiers tatsächlich um Wachs. Und zwar um Wachs, das auch bei Madame Tussauds verwendet wird und aus dem die berühmten Repliken hergestellt sind, die in dem gleichnamigen Wachsfigurenkabinett präsentiert werden. Das würde die Berühmtheit der Täter erklären. Nur wer oder was diese Figuren übernommen oder zum Leben erweckt und eine davon auf den Premier gehetzt hat, bleibt rätselhaft.
Ich habe mein Team informiert, dass wir beim Einsetzen der Dämmerung aufbrechen, dann hat das Wachsfigurenkabinett geschlossen, und wir können uns ungestört umsehen. Wieder zwischen Touristen auf die Jagd zu gehen, habe ich diesmal nicht vor.