Im Namen meines Vaters - Barry Lyga - E-Book

Im Namen meines Vaters E-Book

Barry Lyga

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Beschreibung

Das fulminante Finale der Thriller-Trilogie

Jazz Dent wurde angeschossen und totgeglaubt in New York City zurückgelassen. Seine Freundin Connie befindet sich in der Gewalt von Jazz’ Vater, dem brutalen Serienkiller Billy. Sein bester Freund Howie ist schwer verletzt und droht zu verbluten. Trotz alldem müssen die drei irgendwie wieder zusammenfinden, um Billy endlich zur Strecke zu bringen. Und dann tut Jazz genau das, wovor er sich immer am meisten gefürchtet hat. Und alle Welt fragt sich: »Ist der Sohn aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sein Vater?«

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Seitenzahl: 524

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Buch

Jazz, Howard und Connie kämpfen verzweifelt ums Überleben: Connie wurde von dem eiskalten Killer Billy Dent gefangen genommen und ist ihm schutzlos ausgeliefert. Zur gleichen Zeit ringt Howie im Krankenhaus von Lobo’s Nod mit dem Tod, und Jazz ist schwer verletzt in einem Lagerraum eingesperrt. Durch eine Schussverletzung ist er stark geschwächt und kann sich nicht selbst befreien. Ist die Jagd auf seinen Vater damit endgültig gescheitert?

Jazz Dent ist verzweifelt, denn solange sein Vater auf freiem Fuß ist, wird ihn seine dunkle Familiengeschichte immer wieder einholen. Doch neben Billy Dent lauert noch eine viel größere Gefahr auf das Trio – der Krähenkönig.

Autor

Barry Lyga hat bereits mehrere in den USA gefeierte Jugendbücher geschrieben. Seit den Recherchen für seinen Debüt-Thriller Ich soll nicht töten weiß er beunruhigend gut über alle Methoden Bescheid, wie man eine Leiche verschwinden lassen kann. Der Autor lebt und arbeitet in New York City.

Von Barry Lyga bereits erschienen:

Ich soll nicht töten

Blut von meinem Blut

Barry Lyga

Im Namen meines Vaters

Thriller

Ins Deutsche übertragen von Fred Kinzel

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Blood of my Blood« bei Little, Brown and Company, New York.

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www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2015

bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe

Random House GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Barry Lyga

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

This edition published by arrangement with Little, Brown and

Company, New York, New York, USA. All rights reserved.

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com

Redaktion: Gerhard Seidl

BS · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-12652-0

www.blanvalet.de

Für meine Eltern. Ironischerweise.

TEIL EINS

Die Steilwand hinauf

1

Jazz öffnete die Augen.

Connie öffnete die Augen.

Howie öffnete die Augen.

2

Jazz hatte geschwebt. In Träumen geschwebt. Aber die Träume waren in Wirklichkeit keine Träume, nicht gänzlich jedenfalls. Es waren durch einen Traumschleier gefilterte Erinnerungen.

Er hatte sich mit Connie in seinem Versteck gesehen. Er hatte zu ihr gesagt, wie glücklich es ihn machen würde zu wissen, dass seine Mutter Billy entkommen konnte und nicht von ihm getötet worden war.

Er hatte sich selbst am Grab seiner Mutter gesehen, wo er an Connies Seite um sie geweint hatte.

Und sie war nicht tot, wie er inzwischen wusste, er wusste es im Traum und wenn er wach war. Sie war nicht tot, sie lebte, und er hatte gesagt, es mache ihn glücklich, aber jetzt war er verletzt und wütend, und er war außerdem – verdammt noch mal! – gleichzeitig auch glücklich, weil sie lebte, denn das war großartig, doch warum, warum, warum … warum hatte sie ihn nicht …

Und das war genau der Moment, in dem er mit einem Ruck aufwachte, immer noch im Dunkeln, immer noch in Container 83F eingesperrt, wo es eng war und die Luft abgestanden; es roch nach Formaldehyd und Bleiche, mit einer immer deutlicheren Note von Blut und Schweiß. Nichts hatte sich geändert.

Nichts außer …

Er öffnete Hunds altertümliches Handy wieder, verbrauchte wertvolle Batterieladung. Es wurde hell im Container, als das Bild seiner Mutter auf dem Display aufleuchtete.

Das zumindest war kein Traum. Sie lebte. Sie lebte tatsächlich noch.

Noch.

Er fröstelte. Es war kalt in der Lagereinheit, aber er schauderte nicht deshalb.

Wen suchst du in New York, hatte er Billy gefragt, und Billy hatte mit dem Foto geantwortet.

Sie könnte inzwischen tot sein. Gefoltert. Sie könnte alles sein.

»LASST MICH HIER RAUS!«

Der Schrei zerriss ihm fast die Kehle. In der engen Echokammer von Einheit 83F dröhnte er in Jazz’ Ohren. Sein Herz setzte einen Schlag aus beim Klang seiner eigenen Stimme, die so wund und verzweifelt klang. Er hatte nicht einmal gewusst, dass er schreien würde, bis die Worte aus seinem Mund kamen.

Nicht den Kopf verlieren, Jazz, nicht den Kopf verlieren. Bleib beherrscht.

Aber er konnte nicht anders. Sein Bein pochte jetzt mit einem anhaltend dumpfen Schmerz, und er stellte fest, dass er beweglich genug war, um an das Rolltor der Einheit zu gelangen, wo er immer weiter schrie und heulte und mit den Fäusten an das Metall schlug, bis es klebrig war von seinem Blut.

Er sank in der Dunkelheit zusammen. Seine Hände waren taub, aber er wusste, das würde nicht so bleiben. Der Schmerz würde ihn finden.

Der Schmerz fand ihn immer.

Schmerz bedeutet, dass du lebst. Schmerz ist gut. Schmerz ist Leben.

Es würde bald keine Rolle mehr spielen. Bald würde er tot sein. Sein behelfsmäßiger Verband würde die Blutung nicht ewig stillen. Und wenn er nicht verblutete, würde er an einer Infektion sterben. Oder verdursten.

Der Uhr auf dem Schirm von Hunds Telefon zufolge waren keine fünfzehn Minuten vergangen, seit er das Foto zum ersten Mal gesehen hatte. Fünfzehn Minuten, um in einen Dämmerzustand zu versinken und wieder daraus zu erwachen. Zeit verlor jede Bedeutung.

Seine Mutter sah ihn vom Display her an, unbemerkt eingefangen von Billys neugieriger, suchender Kamera.

»Mom«, sagte er, aber es klang falsch. Nach einem Moment wurde ihm klar, wieso. Er war noch so klein gewesen, als sie wegging. Sicher, manchmal hatte er sie Mom genannt, aber meistens …

»Mommy«, sagte er und würgte das Wort hervor, als hätte es sich in ihm verklemmt.

»Mommy«, sagte er wieder und weinte.

3

Es war kein Traum. Das war wirklich Billy Dent, der vor ihr stand.

Connie schüttelte sich, um klarer im Kopf zu werden, aber das führte nur dazu, dass aus einem leichten Pulsieren an ihrer Schädelbasis ein pochender Kopfschmerz wurde, den sie nicht ignorieren konnte. Sie stöhnte auf, und Billy lächelte.

»Einfach immer weiteratmen«, riet er. »Ich habe dir nur eine schwache Dosis verabreicht. Du müsstest im Handumdrehen wieder klar im Kopf sein.«

Connie gehorchte, der Kopfschmerz jedoch nicht – er hämmerte immer weiter, ein Männchen mit riesigen Betonstiefeln, das in ihrem Gehirn herumtrampelte.

O Gott, Connie, hör auf, dir wegen deiner Kopfschmerzen Sorgen zu machen.

Sie war an einen Stuhl gefesselt, wie sie feststellte, als sie versuchte, eine Hand an den Kopf zu heben. Sie spannte die Muskeln an Armen, Beinen, Rücken. Der Stuhl war niederschmetternd stabil, die Seile sicher verknotet. Billy war kein Amateur.

Der Raum war genau so, wie sie es sich nach dem heruntergekommenen Äußeren des Gebäudes gedacht hatte – Flecken von Schimmel und Wasser an den Wänden, der Boden schmutzig und entstellt durch Substanzen, von denen sie lieber nicht wissen wollte, was es war. Dann war da natürlich Billy, genau vor ihr, aber links von sich konnte sie so gerade noch einen Tisch ausmachen, auf dem zwei Handys lagen: ihr eigenes iPhone und ein billiges Ding zum Aufklappen.

Billy sah anders aus als auf den Fotos, die sie im Lauf der Jahre von ihm gesehen hatte. Er trug absurde Koteletten und ein Ziegenbärtchen, das so geschnitten war, dass es sein Gesicht länger wirken ließ. Sein Haar war graubraun, nicht schmutzig blond. Es war das Gesicht, das sie gesehen hatte, als die Wohnungstür aufging, und sie hatte ihn nicht an seinen Zügen, sondern an dem Ausdruck darin erkannt, an dieser bösartigen Freude und an der Stimme.

Ihr Magen hob und senkte sich, dann hob er sich wieder.

»Ich muss mich übergeben«, flüsterte sie.

Billy zuckte mit den Achseln. »Ich werde dich nicht davon abhalten.«

Sie überlegte, ob sie mit ihrer Kotze auf seine Schuhe zielen konnte. Wie sah wohl die Strafe dafür aus, dem berüchtigtsten Serienmörder der Welt auf die Füße zu kotzen?

Es gelang ihr, ihren Magen unter Kontrolle zu halten.

»Es heißt Darkene«, sagte Billy plötzlich. Er hatte sich einen Stuhl herangezogen und setzte sich weniger als einen Meter vor Connie.

»Was heißt Darkene?«, fragte sie. Sie erinnerte sich plötzlich klar und deutlich an Jazz’ Versuch, ihr einen Vortrag zu halten, wie man Serienmörder überlebt. Sie hatte das meiste schon verpfuscht, aber »lass sie reden« war noch auf der Liste. Wenn sie dafür sorgte, dass Billy immer weiterredete, würde vielleicht jemand …

»Das Zeug, das ich dir gespritzt habe«, sagte Billy.

Connie konnte sich nicht erinnern, dass ihr etwas gespritzt worden war. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, wie die Tür zu der Wohnung aufging. Wie Billy vor ihr stand. Wie sie ihn trotz seines veränderten Aussehens sofort erkannte. Dieses Gesäusel …

»Na, sieh mal an. Wenn das nicht das süßeste Stück Schokolade ist, das ich je gesehen habe.«

»Eine Art europäische Version von Rohypnol«, fuhr Billy fort. »Sie sind hergegangen und haben es in eine Alkohollösung gegeben, damit man es injizieren kann, verstehst du? Hab ich im Internet herausgefunden. Ist dieses Internet nicht wunderbar? Man kann alles über jeden herausfinden. Fantastisch. Erleichtert mir die Arbeit sehr. Himmel, damals als ich anfing, konnte man sich nicht einfach per Knopfdruck alles besorgen, was man brauchte. War eine elende Rennerei, damals. Mehr Gelegenheiten, nachlässig zu werden. Um nichts in der Welt würde ich zu den alten Zeiten zurückwollen, Süße.«

Bei der Erwähnung von Rohypnol hob sich Connies Magen wieder, und sie hatte Mühe, nicht zu erbrechen. Die Vergewaltigungsdroge. Sie …

»Na, na, Schätzchen«, sagte Billy beruhigend. »Du wirst doch nicht unfreundliche Gedanken in Bezug auf den guten alten Billy hegen, oder?« Er lachte. »Es steht dir förmlich ins Gesicht geschrieben. Du denkst ›K.-o.-Tropfen‹, und du weißt, dass ich gewisse … sagen wir Vorlieben habe, nicht? Ich will dich nicht anlügen, ich bin dafür bekannt, dass ich mit gewissen Damen ›nicht einvernehmliche Beziehungen‹ eingegangen bin, wie es der Gefängnispsychiater nannte. Und ich sage dir, Connie – wenn eine einzige dieser Frauen ein echter Mensch gewesen wäre oder auch nur die geringste Rolle gespielt hätte, könnte es sein, dass ich es sogar bedauern würde. Aber das waren sie nicht, und deshalb bedauere ich nichts.« Er räusperte sich und beugte sich vor. »Aber jetzt denk mal angestrengt nach, du hast deine Unterhosen noch an, und ich hab dir auch sonst keinen Fetzen Kleidung ausgezogen. Ich habe nichts Unanständiges mit dir gemacht. Nicht mit dem Mädchen meines Jungen.«

Außer mich zu betäuben und an einen Stuhl zu fesseln, hätte sie gern gesagt.

Hätte sie gern. Durfte sie aber nicht sagen und würde sie nicht sagen. Sie war zwanzig Zentimeter vom Mund eines Mannes entfernt, der einer Frau die Kehle mit den Zähnen herausgerissen hatte. Der einem Opfer die Brustwarzen abgeschnitten und sie mit denen eines anderen Opfers vertauscht hatte. Zwanzig Zentimeter von dem Ungeheuer entfernt, das in Menschengestalt vergewaltigend, folternd und mordend über die Erde streifte.

Sie betrat Melissa Hoovers Haus, Jazz ging vor ihr, Howie hinter ihr. Billy war dort gewesen, so viel hatte ihnen G. William am Telefon verraten. Und dann blickte Jazz in einen Raum, fuhr herum und stieß sie und Howie zurück, stieß sie mit unnötig viel Gewalt, als interessierte es ihn nicht, dass Connie seine Freundin war und Howie Bluter.

»Ihr dürft das nicht sehen«, sagte er. »Sonst werdet ihr für den Rest eures Lebens Albträume haben.«

Er hatte Connie nie erzählt, was genau Billy Dent der armen Melissa Hoover angetan hatte. Aber Connie und Howie hatten draußen gewartet, während Jazz mit G. William und den Polizisten den Tatort inspizierte. Sie hatte einen Polizisten herauskommen und sich am Haus abstützen sehen, ehe er sich über einen Rosmarinstrauch beugte, als wollte er sich zwingen zu kotzen. Es war nichts herausgekommen. Sie hatte den Gerichtsmediziner mit grimmiger Miene hineingehen und grau im Gesicht und kopfschüttelnd wieder herauskommen sehen.

Billy Dent tötete nicht einfach. Er vergewaltigte nicht einfach. Er richtete sie zugrunde. Er zerstörte seine Opfer.

Sie war zu Tode verängstigt, wie ihr plötzlich erschreckend deutlich klar wurde.

Das war jetzt nicht die Zeit für freche Antworten. Nicht die Zeit zu beweisen, wie stark sie war. Es war die Zeit, zu tun oder zu sagen, was immer sie musste, um das hier zu überleben.

»Es tut mir leid, dass ich an Ihnen gezweifelt habe«, flüsterte sie.

Billy lachte dröhnend und schlug sich auf den Schenkel. »Schwarze Mädchen!«, heulte er. »Gott, wie ich sie liebe. Wo bleibt das freche Mundwerk, Kleine? Das hochgereckte Kinn und das großspurige Auftreten? Du enttäuschst mich. Ich sehe im Fernsehen immer, wie tough ihr angeblich alle seid, aber hier? Jetzt? Du beeindruckst mich nicht. Du machst der afroamerikanischen Spezies keine Ehre, wenn ich das so sagen darf. Eher ein unbedeutendes farbiges Mädchen, geduckt wie eine Sklavin, verstehst du.«

Er stand auf, eine Hand am Rücken, und als die Hand in Sicht kam, hielt er ein großes, bösartiges Messer in ihr.

»Du glaubst, du bist gut genug für meinen Jungen, Conscience Hall? Du glaubst, du hast alles, was nötig ist, um mit ihm zusammen zu sein? Ganz recht – ich weiß alles über dich und ihn. Als ich es das erste Mal hörte, dachte ich, na, verdammt, da hat sich Jasper aber was Komisches ausgesucht. Und ich habe gelacht.«

Alle Muskeln Connies waren angespannt. Sie konnte nicht aufhören, mit ihren Blicken dem Messer zu folgen, mit dem er vor ihr herumfuchtelte. Und sie konnte nicht verhindern, dass sie hörte, was er sagte.

»Nicht weil du schwarz bist, sei bloß nicht so empfindlich. Das ist nämlich ein echtes Problem mit eurer Rasse. Und ich sage das nicht aus einem Gefühl rassischer Überlegenheit heraus, verstehst du. Ich bin nur ehrlich zu dir. Ich versuche, dir zu helfen.«

Er hielt inne, und Connie begriff zu ihrem Entsetzen, dass er eine Antwort erwartete.

»Ja«, brachte sie heraus. »Danke, Mr. Dent.«

»›Mr. Dent‹?« Billy schnalzte mit der Zunge. »Verdammt noch mal, Kind, du gehörst praktisch zur Familie, nachdem du die Beine für meinen Sohn breitmachst.« Er seufzte schwer. »Es wird meine arme Mom umbringen, wenn du und Jasper im Hafen der Ehe landet, Connie. Das muss ich dir schon sagen. Sie ist nicht so fortschrittlich gesinnt wie ich. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja, Mr. … Ja.«

»Nenn mich Billy, Schätzchen.« Er neigte den Kopf wie ein verwirrter Welpe und grinste. Das Messer tanzte langsam vor Connies Augen hin und her und reflektierte das Licht von der Lampe an der Decke.

»Ja, Billy, ich verstehe.«

Billy nickte zufrieden. »Gut. Gut.« Er begann jetzt, hin und her zu gehen, und fuchtelte dabei weiter mit dem Messer herum.

Und Connies Angst hatte so weit nachgelassen, dass sie nach einem Ausweg zu suchen anfing … um allerdings zu erkennen, dass es keinen gab. Sie könnte natürlich schreien, aber sie hatte es hier mit Billy Dent zu tun – er würde ihr die Kehle durchschneiden, bevor die erste Silbe über ihre Lippen gekommen war.

»Man muss ja aufpassen heutzutage. Wenn man irgendwas wie Mohrenkopf oder Negerkuss sagt, regen sich die Leute auf. Es ist nicht politisch korrekt, so etwas zu sagen! Unsensibel! Wenn ich so etwas sagen würde, würden mich die Leute vielleicht wirklich hassen. Nicht nur Schwarze. Auch eine Menge Weiße regen sich darüber auf. Aber soll ich dir was sagen? Ich verrate dir ein Geheimnis, Connie. Ich verrate dir ein Geheimnis, wenn du mir auch eins verrätst. Abgemacht?«

Was blieb ihr übrig? Connie nickte.

»Bimbo!«, rief Billy. »Äh … Bingo, meinte ich natürlich.« Er heulte vor Lachen und wischte sich die Tränen aus den Augen, vollkommen hingerissen von seinem eigenen idiotischen, rassistischen Humor. Doch dann hörte er auf zu lachen und setzte sich wieder ihr gegenüber, ein bösartiges Funkeln in den Augen.

Connie biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte den schlimmsten Fehler gemacht, den sie wahrscheinlich bei ihm machen konnte. Sie hatte gedacht, dass er idiotische, rassistische Witze riss. Aber nichts, was Billy Dent tat, war idiotisch. Nichts geschah ohne Berechnung oder aus Zufall.

Er versucht, in deinen Kopf zu gelangen, hörte sie jemanden sagen und stellte leicht überrascht fest, dass es Jazz’ Stimme war. Das war neu.

Wenn er es schafft, in deinen Kopf zu kommen, ist alles vorbei, fuhr Jazz fort. Wenn er in deinen Kopf kommt, bist du tot.

Billy neigte den Kopf wieder. »Du überlegst, nicht wahr? Weit hinten in deinem Köpfchen überlegst du. Du denkst, wenn es dir gelingt, mich immer weiter reden zu lassen, kommt vielleicht jemand und rettet dich.« Er schlug sich dazu geistesabwesend mit dem scharfen, tödlichen Messer leicht ans Kinn, direkt unter seinem Mund. Als würde er es ständig tun, weil es ihm half, sich zu konzentrieren.

Connie zog zischend die Luft ein bei dem Anblick. Der Gedanke, wie nah ihr diese Klinge war, die Vorstellung, von ihr berührt zu werden …

Er hielt das Messer so beiläufig, als wäre es nichts weiter als eine Verlängerung seiner Hand.

Benutzt er spezielle Messer, überlegte Connie. Oder tut es jedes beliebige?

Er blinzelte ihr zu, und in diesem Moment wusste sie, dass ihr Schicksal besiegelt war. Billy war in ihrem Kopf. Er spielte zwei Spiele gleichzeitig, er redete mit ihr, während er sie gleichzeitig ausforschte. Vielleicht um herauszufinden, was sie am meisten zum Schreien brachte. Oder am besten. Wahrscheinlich hatte er eine Skala für Schreie. Und er wusste, wie er ein Opfer von eins bis zehn führte, kein Problem.

»Also, hier ist mein Geheimnis«, sagte er. »Zwischen mir und euch ›Leuten‹, die ihr da draußen herumrennt, ist gar kein so großer Unterschied, Connie. Überhaupt kein großer Unterschied, ehrlich. Weißt du, woher ich das weiß?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich werde es dir sagen. Ich habe … nun, ich habe ein Experiment durchgeführt, könnte man sagen. Ich bin ja für eine ganze Menge Tode verantwortlich. Die meisten davon Frauen, ich nehme an, das weißt du.« Er strich sich mit der freien Hand übers Kinn. »Viele Leute behaupten, ich hätte, na ja, Probleme mit Frauen. Ganze Expertenscharen denken, sie könnten den guten alten Billy verstehen. Aber verdammt noch mal, Connie. Verdammt! Sie kennen mich nicht! Glaubst du, dass sie mich kennen?«

Sie schüttelte wieder den Kopf. Billy Dent recht zu geben, war grotesk einfach geworden.

»Ich liebe Frauen, Connie. Wirklich. Ich liebe zum Beispiel meine Mom. Das ist nur eine. Aber das Problem dabei ist, dass es nicht viele echte Frauen auf der Welt gibt. Oh, ich weiß, du möchtest gern glauben, dass es sie gibt. Du spazierst gern den ganzen Tag herum und schaust. Du siehst diese Dinger, Connie. Diese Geschöpfe, diese Puppen. Hübsche Dinger, manchmal. Sie haben langes Haar und einen Busen, und sie haben schöne Beine mit einer netten Muschi dazwischen, aber sie sind nicht echt, verstehst du?«

»VERSTEHST DU!«, schrie er plötzlich.

»Ja!« Sie schluchzte auf. »Ja, ich verstehe Sie!«

»ICH GLAUBE DIR NICHT!« Er hielt ihr das Messer vor die Augen, die tödliche Spitze starrte sie an, reglos, er hielt es so unglaublich still, dass es sich auch nicht weniger bewegt hätte, wenn Billy eine Statue gewesen wäre.

»Ich glaube Ihnen«, japste sie. »Wirklich! Ich schwöre es, Billy. Ich schwöre es!«

Er lachte und wechselte schneller, als sie blinzeln konnte, von Empörung zu Gelassenheit. Das Messer wurde zurückgezogen.

»Du hast es kapiert. Ich fange zu glauben an, dass du vielleicht echt bist, Connie. Vielleicht hat dich mein Junge deshalb noch nicht aufgeschlitzt. Könnte sein.«

Wenn ich echt bin, tötet er mich dann? Lässt er mich gehen? Oder spielt es vielleicht gar keine Rolle, weil ich schwarz bin?

»Jedenfalls habe ich es ausprobiert. Mein kleines Experiment. Wissenschaftliche Vorgehensweise, Connie. Verstehst du, die Nachrichtentypen haben weiß Gott liebend gern darüber gequatscht, was ich getan habe, wem ich es angetan habe und warum. Und ich will dich nicht anlügen, mein Hochmut kam ohne Frage vor meinem Fall, denn ich war verdammt noch mal ziemlich fasziniert von dem, was sie zu sagen hatten. Habe jeden Artikel gelesen, den ich in die Finger bekam.« Er blinzelte verschwörerisch. »Ich hab mir sogar für eine Weile so ein – wie sagt man – Google Alert eingerichtet, damit ich nichts verpasse. Und hier kommt jetzt mein Experiment ins Spiel. Hier ist das Geheimnis, Connie: Ich habe absichtlich ein paar reizlose Mädchen getötet. Nicht viele. Ich bin schließlich ein Mann, und ich habe meinen Geschmack, und ich bin keiner, der sich verleugnet. Aber ich habe ein paar Mädchen ausgesucht, die wirklich nicht viel hermachten, und ich habe sie genauso umgebracht wie die anderen, und weißt du was?«

Sie zuckte mit den Achseln. Es kam ihr unpassend und provokativ vor, deshalb schob sie rasch hinterher: »Nein. Was?«

»Ich sage dir, was: Die Medien haben weniger über sie berichtet als über die anderen. Weniger Bilder. Weniger Text. Weniger Einzelheiten. Und weißt du, warum?«

Er wartete nicht auf eine Antwort. Er beugte sich noch näher zu ihr als zuvor, bis sein Mund direkt an ihrem Ohr war, er hätte es abbeißen können, oder ihr einfach das Gehirn heraussaugen, denn er war Billy Dent, und vielleicht konnte er es tatsächlich.

»Weil«, flüsterte er, und sein Atem war unangebracht warm und weich in ihrem Ohr, »weil sie selbst gern die Hübschen umbringen würden, genau wie ich. Sie leben durch mich, Connie. Sie wollen haben, was ich habe. Was ich bekomme. Was ich mir nehme. Aber sie haben nicht den Mumm dazu. Für das Blut und die Leichen, für die Vergewaltigungen und alles andere. Deshalb berichten sie nur darüber. Sie erzählen die Einzelheiten. Und die ganze Zeit wünschen sie, sie wären es gewesen. Die sie auf den Boden niederdrücken. Ihnen die Kleider vom Körper schneiden. Und alles andere tun. Sie alle wollen es, Connie«, sagte er und wich grinsend wieder von ihr zurück. »Nettes Geheimnis, oder?«

In diesem Moment fiel ihr die Unterhaltung am Telefon wieder ein. Mit der vom Computer verfälschten Stimme, die gesagt hatte, es würde keine Fernsehberichterstattung rund um die Uhr geben, wenn Connie starb.

Was, wenn es einfach zutrifft, dass dein Leben wirklich weniger wert ist als das eines weißen Mädchens?, war sie gefragt worden.

»Wie Sie schon am Telefon zu mir sagten«, entfuhr es ihr, ehe sie sich daran hindern konnte. »Manche Menschen sind weniger wert als andere.« Für dich, fügte sie im Geiste hinzu, hatte aber nicht den Mut, es auszusprechen.

Billy schürzte die Lippen. »Ich weiß nicht, wer was am Telefon zu dir gesagt hat. Mit mir hast du nicht gesprochen.«

Du wirst so oder so sterben, Connie. Dann kannst du genauso gut noch deine Neugier befriedigen. »Dann haben Sie also einen Partner?«

»Einen Partner?«

»Wie den Impressionisten. Oder den Hut-und-Hund-Killer.«

»Diese Blödmänner?«, sagte Billy erbost. »Machst du dich über mich lustig, Kind? Die drei hatten zusammen keinen vollständigen Satz Eier. Nützliche Idioten waren sie, weiter nichts. Werkzeuge wie ein Schraubenschlüssel oder …« Er hielt überrascht und erfreut das Messer in die Höhe, als hätte er vergessen, dass es da war. »Oder ein Messer!«

Die drei?, dachte Connie.

»Aber jetzt bist du dran«, sagte Billy. »Du musst mir ein Geheimnis verraten.«

Connie öffnete die Lippen, aber es kam kein Laut heraus. Sie war unfähig, die Zunge zu bewegen, die trocken, schwer und nutzlos in ihrem Mund lag. Sie konnte sich plötzlich kein einziges Geheimnis vorstellen. Gar nichts. Nichts, was Billy Dent interessieren würde.

Es spielt sowieso keine Rolle. Er wird dich töten, egal, was du sagst.

»Hast du deine Zunge verschluckt?«, fragte Billy.

»Ich habe keine Geheimnisse«, brachte sie schließlich heraus. »Tut mir leid.«

»Jeder hat Geheimnisse, Schätzchen. Jeder. Und wir beide haben uns doch eben erst kennengelernt. Wir unterhalten uns zum ersten Mal. Du hast eine Menge Geheimnisse vor mir.«

»Sie wissen, wer ich bin«, sagte sie. »Sie wissen alles über mich.«

»Aus zweiter Hand«, sagte Billy und rümpfte bei dem bloßen Gedanken die Nase. Er wedelte ihn wie einen Gestank aus der Luft. »Andere Leute, die mir erzählen, was sie gesehen haben. Ich will dich kennenlernen, Connie. Und ich will es von dir wissen.« Diesmal tippte er sich mit dem Messer an die Zähne, und für einen kurzen, glorreichen Augenblick stellte sich Connie vor, wie sie sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn warf und das Messer über diese Zähne nach oben glitt, seine Oberlippe und die Nase aufschlitzte und durch die Nebenhöhle in sein Gehirn eindrang …

Aber dann war der Moment vorbei, ehe sie es zu Ende gedacht hatte.

»Erzähl mir von meinem Jungen«, sagte Billy. »Von eurem ersten Mal.«

»Vom ersten Mal?«, fragte sie benommen. Sie kam sich vor wie ein Idiot. Welches erste Mal meinte er?

Billy lächelte, und Connie entspannte sich für eine Sekunde, ehe ihr bewusst wurde, dass Billys Lächeln ein Werkzeug seines heruntergekommenen Menschseins war, ein Mittel, um seine Beute in Sicherheit zu wiegen.

»Spiel nicht mit mir, Kleine. Ich habe dich bis jetzt human behandelt, aber das kann sich sehr schnell ändern. Dein erstes Mal. Mit Jasper. Erzähl mir, wie es war.«

»Wir haben es noch nicht getan!«, platzte Connie heraus. »Bis jetzt.«

Billys Miene und Haltung änderten sich kein bisschen. Aber Connie wusste augenblicklich, dass sie das Falsche gesagt hatte.

»Ich …«, fing sie an, aber Billy brachte sie mit einem Blick zum Schweigen.

Er hob das Messer vor seine Augen, dann drehte er es langsam, bis er es aus jedem Winkel gesehen hatte. »Is this a dagger which I see before me«, rezitierte er Macbeth mit einem überraschend korrekten britischen Akzent.

Connie blinzelte, sie wusste nicht, was sie darauf sagen oder tun sollte, und dann schoss Billy vor, und die Klinge war an ihrem Augenwinkel. Sie zuckte reflexartig zurück, aber Billy klatschte ihr die freie Hand seitlich an den Kopf und zwang sie, direkt in die Klinge zu sehen.

»Ist das der gottverdammte Dolch?«, sagte Billy in seinem üblichen Südstaatenslang. »Bin ich nicht mehr ganz dicht, oder ist das ein Messer, was ich da in der Hand habe?«

Connie wimmerte.

»Antworte!«, schrie Billy, und seine Spucke landete auf ihrer Wange.

»Es ist ein Messer!«, wimmerte sie. »Sie haben das Messer!«

»Und glaubst du, dass ich dich aufschlitzen und ausnehmen werde, wenn du mich anlügst? Glaubst du es?«

»Ich weiß, dass Sie es tun«, schrie sie. »Aber ich sage die Wahrheit.«

»Ich will es wissen«, brüllte Billy. »Erzähl mir vom ersten Mal mit meinem Jungen! Erzähl es mir, oder ich schneide dich in kleine Stücke und lasse dich zusehen, wie du stirbst.«

»Wir haben noch nicht …«, stieß Connie flehend aus. »Wir haben noch nicht miteinander geschlafen. Ich schwöre es bei Gott!«

Billy brauste noch mehr auf. Er stieß ein wütendes Bellen aus, ließ die freie Hand an ihren Hinterkopf gleiten, packte eine Handvoll ihrer Zöpfchen und riss ihr den Kopf in den Nacken. Dann setzte er sich rittlings auf ihre Knie, führte das Messer an ihre nackte, verletzliche Kehle und drückte die Klinge an ihre Haut.

Sie fühlte Druck, aber keinen Schmerz.

Noch nicht.

»Bei Gott? Du schwörst bei Gott? Glaubst du, Gott hat es interessiert, als ich dieses dumme, verrückte Mädchen an die Decke dieser Kirche in Pennsylvania genagelt habe? Glaubst du, Gott hat aufgepasst, als ich mein Messer in sie gleiten ließ und alle ihre finsteren und blutigen Geheimnisse fand? Denkst du, Gott hat sich einen Deut darum geschert, als ich ihr die Augäpfel aus den Höhlen drückte und an die streunenden Köter in der Gasse verfütterte? Glaubst du das? Hm?« Er leckte sich über die Lippen. »Wenn du also auf etwas schwörst, meine Kleine, wenn du Dear Old Dad zu überzeugen versuchst, dann schwör lieber auf etwas, das zählt.«

Connie schluckte. Was trocken gewesen war, wurde nun feucht. Sie konnte nicht anders. Sie schluckte noch einmal. Diesmal wurde das Blut von Schmerz begleitet.

»Ich schwöre bei Ihnen!«, flüsterte sie und versuchte, ihre Kehle beim Sprechen möglichst wenig zu bewegen. Sie war jetzt wund dort und offen und sich in aller Deutlichkeit bewusst, wie dünn die Haut zwischen der Messerklinge und ihrer Luftröhre war, zwischen der Klinge und der Halsschlagader. »Ich schwöre es, Billy!« Tränen liefen ihr über die Wangen, über den Kiefer und mischten sich mit dem Blut.

Tränen. Ihr ganzes Leben lang hatten Tränen irgendetwas bewirkt. Tränen brachten das Gespräch zum Erliegen. Tränen gaben Anlass zu einer Entschuldigung. Manchmal verärgerten Tränen die andere Person nur, und er oder sie stapfte aus dem Raum.

Dass sie gar nichts bewirkten, war neu.

»Das soll ich dir glauben?«, fragte er. »Ein hübsches Mädchen wie du? Ein Charmeur wie mein Jasper? Ich soll glauben, dass ihr warten könnt? Der Junge könnte dich im Handumdrehen herumkriegen, und am Ende würdest du denken, es war die ganze Zeit deine Idee.«

Es liegt nicht an mir, es liegt an ihm, hätte sie gern gesagt. Aber würde er das glauben? Konnte Billy Dent die Wahrheit glauben?

Billy fing an, mit dem Messer hin und her zu sägen, zärtlich beinahe.

Connie spürte, wie ihre Haut aufplatzte. »Bitte«, sagte sie. Sie wollte es nicht sagen. Sie kämpfte mit sich, befahl sich, den Mund zu halten, aber ohne Erfolg.

Connie wollte nicht um ihr Leben betteln. Sie wollte es nicht. Aber sie würde es tun. Sie wusste es. Sie spürte es ihre Kehle heraufkriechen wie etwas, das noch nicht ganz tot gewesen war, als sie es gegessen hatte. Sie würde wimmern. Und weinen. Sie würde Rotz und Wasser heulen. Und es würde sinnlos sein, denn das waren Dinge, die man tat, um an jemandes Mitleid zu appellieren, aber Billy Dent kannte kein Mitleid. Er war ohne Mitleid zur Welt gekommen, so wie andere Leute mit angewachsenen Ohrläppchen zur Welt kamen oder ohne die Fähigkeit, die Zunge einzurollen. Ihre Tränen und ihr Flehen würden nichts bei ihm bewirken, und sie wusste es, aber sie würde nicht anders können. Sie würde betteln und winseln und schwören und ihn bedrängen, und am Ende würde er trotzdem schreckliche, schreckliche Dinge mit ihr tun.

Plötzlich hörte er auf mit dem Messer und sah staunend über ihren Kopf hinweg.

Connie wurde bewusst, dass er sie mit der messerlosen Hand noch immer an den Zöpfen festhielt, die er jetzt in die Höhe zog und beinahe ehrfürchtig betrachtete.

»Ich habe noch nie das Haar eines farbigen Mädchens berührt«, sagte er mit einer Freundlichkeit, die sie überraschte und erschreckte zugleich.

Berühr mein Haar, so viel du willst. Es ist mir egal. Nur lass mich am Leben.

Mit einer geschmeidigen Bewegung nahm er die Klinge von ihrer Kehle und schnitt einen der dünnen Zöpfe fast an der Kopfhaut ab. Es war ein weiterer Beweis für die Schärfe des Messers, wie mühelos die Klinge durch das verknotete Haar glitt.

Er trat einen Schritt zurück und klemmte sich den Messergriff zwischen die Zähne, während er den abgeschnittenen Zopf geschickt um sein rechtes Handgelenk band.

O Gott. Eine Trophäe. Seine Trophäe. Bitte, lieber Gott, ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe. Es war dumm hierherzukommen, aber Dummheit ist keine Sünde. Ich weiß nicht, was ich getan habe, um hier zu landen, aber ich verspreche, ich tue es nie wieder. Bitte hol mich hier raus, und ich werde nie wieder etwas Böses tun, solange ich lebe. Ich werde für den Rest meines Lebens ein braves Mädchen sein.

Billy nahm das Messer aus dem Mund und betrachtete die rot gefärbte Schneide einen Moment lang.

Connie schluckte wieder, diesmal erzeugte es ein Brennen an ihrem Hals, wo die offene Wunde war. Ihr Verstand schaltete ab. Sie hatte nichts in sich. Nichts zu sagen. Nichts zu denken. Nichts zu beten.

Und dann wurde sie vom Telefon gerettet.

Es ist bizarr, dachte Connie, zu beobachten, wie Billy Dent ans Telefon geht.

In ihrer Vorstellung war er der Schwarze Mann, der Gottseibeiuns, das Böse schlechthin. Aber als das aufklappbare Handy auf dem Tisch neben ihm läutete, zog er die Augenbrauen kurz hoch wie jeder andere Mensch auch, griff nach dem Gerät und sagte höflich: »Hallo?«

Wie ein richtiger Mensch.

Bizarr.

»Nein, du kannst nicht mit Ugly J. sprechen.« Pause. »Das ist mir mehr oder weniger egal. Sag es mir.«

Billy lauschte einen Moment. Er behielt seinen starren, nicht zu deutenden Gesichtsausdruck bei, als er sagte: »Und du hast ihn dortgelassen?«, und doch kam es Connie vor, als wäre die Temperatur im Raum um mehrere Grad gesunken. Sie bildete sich ein, ihren Atem sehen zu können.

Es gab keinen Grund, sich wegen dieser Gnadenfrist zu viel Hoffnung zu machen. Noch immer lief Blut an ihrem Hals hinab und sammelte sich in der Senke über ihrem Schlüsselbein. Sie besaß nicht Jazz’ intimes Verständnis von der Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers. Wie schlimm war der Schnitt? Wie viel Blut hatte sie verloren? Wie viel würde sie noch verlieren?

Beruhige dich, Connie. Du bist nicht Howie. Wenn er deine Halsschlagader durchtrennt hätte, wärst du jetzt wahrscheinlich schon tot oder bewusstlos.

Andererseits, vielleicht sprach hier das Rohypnol aus ihr. Sie wusste, dass es nur langsam vom Körper abgebaut wurde.

»Du hast ihn dortgelassen?«, wiederholte Billy, wieder in ruhigem Ton, aber dann drehte er das Messer herum – an dem immer noch ein feuchter Überzug von Connies Blut glänzte – und stieß es in den Tisch, wo es mit einem dumpfen Laut und leicht vibrierend stecken blieb. So würde es sich anhören, wenn es auf ihre Knochen traf, dachte Connie.

»Du gehst nirgendwohin«, sagte Billy jetzt. »Bleib, wo du bist, und denk nicht einmal daran, noch jemanden zu töten, bis ich es dir erlaube.« Eine Pause. »Wenn du eine Krähe sein willst, solltest du noch einmal überlegen, ob es gut ist, mit mir zu streiten.« Eine neue Pause. »Das denke ich auch.«

Billy klappte das Handy zu und starrte es an. Das Gerät lag klein, schwarz und tot in seiner Hand.

»Blödes Arschloch«, sagte er ruhig, dann ließ er das Telefon auf den Tisch fallen, zog das Messer heraus und fing an, methodisch und mit ausdrucksloser Miene auf das Gerät einzustechen, bis das Plastikgehäuse aufbrach und auseinanderfiel und bis die Messerspitze schließlich knirschend wieder in den Tisch eindrang.

Connies Blut wurde von dem Messer auf das Gerippe des Handys gestreift; es sah aus, als hätte Billy das Telefon erstochen.

Ich werde sterben. So werde ich sterben, und ich werde hier sterben. Weil ich die ganzen dummen Fehler gemacht habe, für die man in dummen Filmen die Dummköpfe anschreit, die sie machen.

»So«, sagte Billy. »Jetzt zu dir.« Er sah sie an, als wäre ihm eben wieder eingefallen, dass sie da war. Mit zwei Schritten war er bei ihr und drückte seine Finger auf den Schnitt an ihrem Hals.

Connie zischte vor Schmerz und zog den Kopf zurück.

Billy schlug ihr mit der Faust auf den Scheitel. »Halt still.« Er fuhr mit dem Zeigefinger an dem Schnitt entlang.

Connie schniefte.

»Lass das«, sagte er kühl. »Das ist nichts. Du stirbst nicht.« Er betrachtete kurz seine blutigen Fingerspitzen, dann schleckte er an einer. Connie würgte.

»Dachte, es würde anders schmecken«, sagte er wie zu sich selbst. Er wischte sich an Connies T-Shirt die Hände sauber, ohne an ihren Brüsten zu verweilen, als wäre sie nichts weiter als ein Handtuch für ihn. »Ich bin noch nicht mit dir fertig«, sagte er. »Du schuldest mir immer noch dieses Geheimnis. Diese Erinnerung an meinen Jungen. Und ich will es immer noch wissen. Aber erst muss ich etwas Wichtiges erledigen. Deshalb wirst du hier für mich still sitzen müssen.« Ohne weitere Vorrede holte Billy ein Taschentuch hervor und stopfte es Connie in den Mund, ehe sie sich wehren oder protestieren konnte. Dann packte er ihre Stuhllehne und kippte den Stuhl auf die Hinterbeine. Connie wurde schwindlig von der plötzlichen Bewegung. Mit einer Hand zog Billy sie über den Fußboden, die Stuhlbeine ratterten und kratzten über die Holzbohlen. Er öffnete eine Tür und zog sie zwei, drei Meter in einen Raum hinein, ehe er den Stuhl wieder aufstellte und sich anschickte hinauszugehen.

Connie sah sich rasch um. Ein kleiner Raum. An die Wände war ein gummiartiges Zeug getackert, das wie Eierschalenkarton aussah. Das einzige Möbelstück war ein Bett mit einem unordentlichen Berg Decken darauf.

Billy stand in der Tür – nur von dort kam Licht – und fixierte sie mit einem durchdringenden Blick. »So, ich habe ein paar Sachen zu erledigen. Ich möchte, dass du über zwei Dinge nachdenkst, während ich fort bin, und nur über diese zwei: Erstens über das, was ich wissen will – wie du meinen Jungen zum ersten Mal glücklich gemacht hast. Und zweitens überlegst du dir, wie ich dich notfalls wohl dazu überreden werde, es mir zu sagen. Verstanden?«

Connie nickte heftig.

Billy reckte das Handgelenk mit Connies abgetrenntem Zopf in die Höhe. »Ich trage dich bei mir, Kleine. Ich bin bald wieder da.« Dann schloss er die Tür. Es wurde augenblicklich stockfinster in dem Raum. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Es war ein niederschmetterndes Geräusch.

Sie hörte Billys Schritte im anderen Raum. Dann die Wohnungstür. Dann nichts mehr.

Connie wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Billy hatte das Licht im anderen Raum draußen ausgemacht, als er ging, deshalb gab es lediglich ein wenig undeutliches Grau um den Türrahmen herum, das nur im Vergleich zu der kohlschwarzen Finsternis um sie herum als Licht wahrnehmbar war. Sie senkte den Blick und konnte kaum ihre eigenen Ärmel erkennen. Das war es dann also.

Denk nach, Connie. Du hast ein wenig Zeit. Vielleicht fünf Minuten, vielleicht fünf Stunden, wer weiß. Nutze sie. Sofort.

Sie überlegte, ob sie mit dem Stuhl irgendwie zu dem Bett hüpfen konnte, das sie gesehen hatte. Vielleicht gab es eine raue Kante, eine hervorstehende Schraube, mit der sie ihre Stricke durchsägen konnte. Soweit sie feststellen konnte, hatte Billy sie mit einem groben, dicken Strick an Knöcheln und Handgelenken an den Stuhl gefesselt. Das Material scheuerte an den Handgelenken. Die Fesseln waren eng. Sie konnte ihre Füße ein wenig bewegen und mit den Fingern wackeln, das war alles. Zumindest zirkulierte das Blut noch einigermaßen.

Okay, Connie, genug mit der medizinischen Einschätzung. Er kann jeden Moment zurück sein. Tu etwas.

Sie holte tief Luft durch die Nase – Gott sei Dank war das Taschentuch wenigstens sauber, es roch nur nach frischer Baumwolle –, drückte mit aller Kraft gegen den Boden und warf ihr Gewicht nach hinten, auf das Bett zu.

Sie schwankte einen Moment lang, dann kippte sie nach hinten um, und der Aufprall erschütterte ihren ganzen Körper. Ihr Kopf krachte auf den Boden, alle Luft wich aus ihrer Lunge, und ein Schrei erstickte in dem Taschentuch. Sie versuchte einzuatmen und konnte es nicht, geriet in Panik und saugte einen entsetzlichen Moment lang an dem Taschentuch, bevor sie reflexartig und gierig durch die Nase einzuatmen begann und die Luft geräuschvoll wieder ausstieß.

Oh, Scheiße. Jetzt bin ich wirklich im Arsch. Verdammt, verdammt.

Ihr Schädel pochte und hämmerte. An ihrer Wange lief es nass hinunter, es musste von ihrem immer noch blutenden Hals stammen.

Auf, Connie! Auf! Los! Bevor er zurückkommt. Du schaffst es!

Sie zwang sich, von ihrer Panik abzulassen, indem sie sich diese als einen Felsbrocken vorstellte, der in ihren Weg gefallen war. Nur gut, dass sie all diese geführten Fantasiereisen und Meditationsübungen machte. Yoga rettet Leben, dachte sie.

Sie entfernte sich von ihrer Furcht, begann, die Atmung zu beruhigen und die Herzfrequenz auf ein normales Maß zu bringen. Sie wusste, dass alle möglichen Endorphine und Angsthormone sie im Augenblick durchfluteten. Dagegen konnte sie nichts machen. Sie würde tun müssen, was sie für das Beste hielt, und hoffen, dass sie sich nicht irrte.

Der erste Tagesordnungspunkt musste sein, zum Bett zu gelangen. Es war der einzige Gegenstand im Raum. Das einzige Werkzeug, das ihr zur Verfügung stand.

Sie mühte sich eine Weile damit ab, wieder in eine sitzende Position zu gelangen, aber es war sinnlos. Andererseits … wozu? Konnte sie vielleicht irgendwie über den Boden vorwärtskommen und es zum Bett schaffen? Wenn sie sich auf die richtige Weise hin und her warf?

Sie holte wieder tief Luft. Das würde nicht einfach werden. Sie konnte sich nicht auf ihre Arme und Beine stützen. Sie würde ihren Rumpf einsetzen müssen. Die einzige Yogalehrerin in Lobo’s Nod taugte nicht allzu viel, aber in den wenigen Stunden, die Connie sie besucht hatte, war es viel um das »Boot« gegangen. Was plötzlich sehr gut für Connie war.

Genau in diesem Moment bewegte sich etwas in dem Raum.

Connie erstarrte. Ihr Atmen klang auf einmal ungeheuer laut. Unmöglich laut.

Ein weiteres Geräusch. Arme und Beine, die sich unter Stoff bewegten.

Diese Erhebung auf dem Bett.

Das waren nicht nur Decken.

O Gott. Sie war nicht allein.

4

Howie hatte viel auf dem Herzen, als er aufwachte, und er hätte gern alles gesagt. Doch er brachte nichts heraus außer: »Gah.«

»Er ist wach!«, rief ein Mann.

»Bleib ruhig, Junge«, sagte jemand anderes. Es war eine Frau. Unter normalen Umständen wäre Howie geneigt gewesen zuzuhören, doch sein Kopf brannte, und alles tat ihm weh, deshalb versuchte er, seine Arme zu heben, aber eine starke Kraft hielt sie zurück.

Trotz des Feuers in seinem Kopf war er sich der blauen Flecken bewusst, die ihm gerade zugefügt worden waren. Er stöhnte vor Schmerz und schloss die Augen wieder.

»Was ist das denn?«, sagte der Mann. Definitiv ein Mann. Oder eine Frau mit einem Frosch im Hals.

»Himmel!«, schrie die Frau auf. »Du hast ihn kaum angerührt …«

»Bist du Bluter, Junge?«, fragte der Mann.

Ja, du Genie, dachte Howie, und dann wurde ihm bewusst, dass er es tatsächlich laut gesagt hatte.

Die Frau fluchte, als hätte sie sich gerade eine Kettensäge auf den Fuß fallen lassen.

Howie konnte nicht anders: Er lachte. Und dann verlor er wieder das Bewusstsein.

»Du musst anfangen, dein Notfallarmband zu tragen«, ertönte eine vertraute Stimme.

Howie blinzelte sich den Schlaf aus den Augen, aber seine Ohren verrieten ihm alles, lange bevor seine Augen ins Spiel kamen – er war im Krankenhaus. Wieder einmal. Das gleichmäßige Piepen seines Herzmonitors und das Quietschen eines fahrbaren Infusionsständers auf Linoleum irgendwo in der Ferne waren unverkennbar.

Er dachte kurz, wie traurig es war, dass er ein Krankenhaus sogar mit geschlossenen Augen erkannte, weil er so oft in einem gewesen war. Doch dann beschloss er, dass es in Wahrheit wahrscheinlich eine unaufdringliche Superpower war: Er war Ear-Man.

»Ich bin absolut Ear-Man«, sagte er. Seine Stimme klang belegt und fremd. Er räusperte sich mit einem widerlichen Krächzen.

»Natürlich bist du hier, Mann«, sagte Dr. Mogelof, die an seinem Bett stand und ihn offensichtlich missverstanden hatte.

»Hey, meine Lieblingsnotärztin!« Howie klatschte in die Hände, wurde aber schnell zu müde.

»Wir müssen aufhören, uns auf diese Weise zu treffen, Howie. Sonst fangen die Leute noch an zu reden.« Dr. Mogelof tippte auf ihrem iPad und nickte dann scheinbar zufrieden. »Schlaf noch ein bisschen. Deine Eltern sind auf dem Weg.«

Na wunderbar.

Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, wie Jazz’ Tante Samantha ihn zu Boden geschlagen und ihm die Flinte aus den Händen gerissen hatte. Der Verband an seiner rechten Hand verriet es – dort war er nicht zu knapp genäht worden. Und es war außerdem die Hand, die er zum Wichsen benutzte. Verdammt.

War er vom Schmerz ohnmächtig geworden? Vom Blutverlust? Er wusste es nicht.

Halt. Es war doch nicht das Letzte, woran er sich erinnerte.

Er rief Dr. Mogelof nach, die gerade das Zimmer verlassen wollte. »Hey, bevor Sie gehen – wie geht es Gramma?«

»Was?«

»Die alte Dame. Die mit mir in dem Haus war. Wie geht es ihr?«

»Junge, du solltest dir im Moment nur über dich selbst den Kopf zerbrechen.«

»Kommen Sie schon. Ich muss es wissen.«

»Ich darf dir nichts über andere Patienten erzählen. Abgesehen davon kümmert sich jemand anderes um sie. Ich hatte Glück – ich habe wieder dich bekommen.«

»Mit Schmeichelei erreichen Sie nichts bei mir, Doktor. Aber im Ernst jetzt …« Er stieß sich in eine aufrechtere Position und biss vor Schmerz die Zähne zusammen. Er hatte am ganzen Körper Blutergüsse von seinem Sturz, und jetzt, da er gänzlich wach war, nahm er den empfindungslosen Bereich auf seiner Stirn wahr, wo Dr. Mogelof ihm ein Lokalanästhetikum gespritzt hatte, bevor sie ihn wieder zusammenflickte. Ja, er hatte das Bewusstsein verloren, richtig. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, wie Sam mit der Flinte über ihm stand. Er hatte sich wahrscheinlich den Schädel kräftig angeschlagen, als er umkippte. Würde eine weitere Narbe zurückbleiben? – Wahrscheinlich.

»Jedenfalls, die andere Person, die eingeliefert wurde, das ist Jazz’ Großmutter. Ich glaube, sie hatte einen Herzinfarkt. Und Sammy J. war bei uns, und wo zum Teufel ist die eigentlich jetzt, und hat jemand für mich angerufen, weil Connie nämlich im Flugzeug nach New York ist und, oh Mann, wie spät ist es überhaupt, und war G. William schon da und …?«

»Hey, mach mal langsam!« Dr. Mogelof schielte nervös zu Howies Herzmonitor. »Zwing mich nicht, dich zu deinem eigenen Besten ruhigzustellen.«

»Ehrlich, Doc, da passiert gerade eine Menge Scheiße, und ich muss mich wieder einklinken.« Wenn Howie das Pochen in seiner Brust nicht bemerkt hätte, hätte es ihm der Monitor verraten. So wie die Dinge lagen, war das synkopische Zusammenspiel der beiden wie der schlechteste Hip-Hop-Beat aller Zeiten. »Ich muss telefonieren und mich nach Leuten erkundigen und …«

»Langsam. Am besten, du fängst von vorn an.«

Howie überlegte. Wo fing es eigentlich an? Man konnte im Grunde bis zum Alter von zehn Jahren zurückgehen, bis zu dem Tag, als Jazz die fiesen Typen verprügelt hatte, die Howie Blutergüsse am Arm zufügten. Aber das kam ihm sehr anstrengend vor, und er wurde schon wieder müde.

»Ich glaube, ich habe mich in die Tante meines besten Freunds verliebt«, platzte er heraus.

»Ah, wie … nett.«

»Ich glaube außerdem, dass sie vielleicht eine Serienmörderin ist.«

Dr. Mogelof sah ihn an. »Für die hast du ein sicheres Gespür, was?«

»Ich habe irgendwie kein Glück in der Liebe«, räumte Howie ein. Es gelang ihm endlich, sich aufzusetzen. »Wie bald kann ich hier raus, Doc?«

»Wahrscheinlich morgen früh. Es ist nicht annähernd so schlimm wie letztes Mal bei dem Messerstich.«

»Es war kein Stich«, belehrte Howie sie. »Es war ein Hieb mit dem Messer. Das ist ein Unterschied.«

»Den kenne ich, verlass dich drauf. Ich war nämlich diejenige, die dich wieder zusammengenäht hat. Ist sonst noch etwas? Ich muss gehen.«

»Gramma. Die alte Frau. Ich muss wissen, was mit ihr ist. Möglicherweise war eine jüngere Frau bei ihr. Das ist Sammy J.« Die Schwester von Billy Dent, aber das verrate ich nicht, denn wer weiß, ob Sie nicht die Medien verständigen. »Ich muss es wissen, wirklich.«

»Hör zu, es gibt nichts, was ich dir erzählen könnte. Wir haben dich nach einem Notruf vom Haus der Dents abgeholt.« Sie stockte kurz, ehe sie den Namen Dent aussprach. Wie es so ziemlich jeder in Lobo’s Nod tat. »Du bist bald wieder gesund. Versuch, dich nicht mehr mit Messern stechen oder niederschlagen zu lassen.«

»Kann ich wenigstens mein Handy haben?«

Dr. Mogelof verdrehte die Augen und deutete, und als Howie ihrem ausgestreckten Finger folgte, sah er das Gerät in der Schale an seinem Bett liegen.

»Ah, okay. Danke.«

Kaum war sie aus der Tür, griff er nach dem Handy. Er hatte eine SMS von Connie, die keinen Sinn ergab. Es war eine Adresse in New York, gefolgt von den Worten Bell, Gun, Elliot Ness. Sagt dir das was?

Äh, nein.

Als Erstes simste er Connie zurück.

was läuft? alles ok?

Dann holte er tief Luft und tippte JAZZ in seiner Kontaktliste an.

bin im krankenhaus. wieder mal. aber okay.

Er fing an, auf seiner Unterlippe zu kauen, bis ihm klar wurde, dass er jetzt obendrein noch einen Bluterguss an der Lippe haben würde.

ruf mich an, schrieb er noch als Schluss.

Er brachte es nicht über sich, seinem besten Freund eine SMS zu schicken, die lautete: deine Gramma ist vielleicht tot.

Er seufzte. Das hätte eigentlich alles kein Problem sein dürfen. Ein Auge auf Gramma haben. Das andere auf Samantha werfen. Dass er am Ende in einem Krankenhausbett landen würde, war nicht geplant.

Am besten, er erledigte so viel wie möglich, bevor seine Eltern eintrafen. Er rief im Sheriffbüro von Lobo’s Nod an, wobei er deprimiert zur Kenntnis nahm, dass außer ihm wahrscheinlich nur wenige Einwohner der Stadt die Nummer gespeichert hatten.

»Hallo«, sagte er, als Lana sich meldete, die das Büro des Sheriffs managte. »Kann ich G. William sprechen?«

»Aber sicher doch«, ertönte eine Stimme in der Nähe, und als Howie aufblickte, sah er G. William Tanner, den Sheriff von Lobo’s Nod, in der Tür stehen.

Na super, dachte Howie. Jetzt geht’s los.

5

Connie erstarrte und hoffte gegen alle Vernunft, die andere Person im Raum würde sie nicht entdecken können, solange sie sich nicht bewegte. Aber es war ein kleiner Raum. Und man konnte sich nirgendwo verstecken. Selbst im Dunkeln war sie mühelos zu finden.

»Wer ist da?«, ertönte eine Stimme.

In ihrer Panik hörte Connie das Blut in den Ohren rauschen. Die Stimme klang für sie, als käme sie aus einer Muschel. Connie blieb stumm, aber ihr eigener Atem, durch die Nase eingesogen, erschien ihr laut wie ein Sturmwind.

»Wer ist da?«, vernahm sie die Stimme wieder, und diesmal glaubte Connie, ein Zittern in ihr zu entdecken. Konnte es sein …

Konnte es sein, dass sie nicht Billys einzige Gefangene war?

Sie hörte weitere Bewegung auf dem Bett, und dann – ja! – das lieblichste Geräusch, das sie sich wünschen konnte.

Metall auf Metall.

Handschellen. Sie war sich dessen sicher. Zumindest war es definitiv das Klirren einer Art Kette.

Connie ächzte und kämpfte erfolglos mit ihren Fesseln. Der Sturz hatte sie ein wenig gelockert, aber bei Weitem nicht genügend. Sie hatte ohnehin nicht erwartet, sich aus ihnen winden zu können.

Sie versuchte jetzt etwas anderes, öffnete die Kiefer so weit es nur ging und stieß mit der Zunge gegen das Taschentuch. Es war ohne Zweifel das Lächerlichste, was sie je in ihrem Leben getan hatte, aber es war in diesem Moment auch das Ernsteste. Sie musste das Taschentuch herausbekommen. Sie musste reden können.

»Ich bin nicht vollkommen hilflos«, ertönte die Stimme erneut, und Connies Panik hatte inzwischen so weit nachgelassen, dass ihr Gehör wieder normal funktionierte. Sie erkannte die Stimme jetzt eindeutig als die einer Frau. Das leichte Beben in ihr konnte eine Lüge verraten oder eine von Adrenalin befeuerte Wahrheit. Wenn die Kette lang genug war, könnte eine Person auf dem Bett immer noch Connie den Schädel eintreten, während sie auf dem Boden lag.

Connie gab ein ersticktes Stöhnen und Ächzen von sich und bemühte sich, möglichst fügsam zu klingen, solange sie an dem Taschentuch arbeitete.

Billy hatte es ihr letzten Endes doch nicht fest genug in den Mund gestopft. Mit einem Würgen, das an Erbrechen grenzte, gelang es Connie schließlich, den Knebel auszuspucken und einen tiefen Atemzug durch den Mund zu machen.

»Kommen Sie mir nicht zu nahe!«, kreischte die Frau auf dem Bett.

»Ich tue Ihnen nichts!« Connie ließ den Kopf sinken, bis er den Boden berührte. Sie war immer noch ein wenig benommen von dem Darkene. »Ich tue Ihnen nichts, ich schwöre es.«

ENDE DER LESEPROBE