Im Namen Seiner Seele - Thomas vom Hofe-Schneider - E-Book

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Thomas vom Hofe-Schneider

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Beschreibung

"Es hatte angefangen zu schneien. Die kleinen Flocken schlugen gegen seine Wangen, schmolzen und perlten an ihnen hinunter. Ein feiner metallischer Geruch lag in der Luft. Das Licht der Straßenlaterne spiegelte sich auf der Armbanduhr des Toten. Frank betrachtete die Leiche. Kein schöner Anblick. Hier hatte jemand viel Wut ausgelassen. Das erkannte sein geschultes Auge sofort." Ein eiskalter Killer hat Berlin fest im Griff. Die Jagd beginnt. Kommissar Frank und seine Partnerin Wilders kommen einem dunklen Familiengeheimnis auf die Spur. Aus einem Mörder werden zwei. Der Fall trifft die Ermittler bis ins Seelenmark: ehrlich, erschütternd, erbarmungslos.

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Seitenzahl: 184

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

24.12.2008, Trainingsgebiet der Fremdenlegion, Dschibuti (Ostafrika)

27.12.2008, Wohnung von Vengeur, Quartier Latin, Paris

29.12.2008, Potsdamer Platz, Berlin-Tiergarten

Potsdamer Platz, Berlin-Tiergarten

Wohnhaus von Herbert Weber, Franklinstraße, Berlin-Moabit

Wohnung von Marja Klipp, Straße „Am Großen Wannsee“, Berlin-Zehlendorf

30.12.2008, Grand Empereur, Potsdamer Platz, Berlin-Tiergarten

Franks Wohnung, Ludwigkirchplatz, Berlin-Wilmersdorf

31.12.2008, LKA-Mordkommission, Keithstraße, Berlin-Tiergarten

Turmstraße, Berlin-Wedding

LKA-Mordkommission, Keithstraße, Berlin-Tiergarten

Friedrichstraße, Berlin-Mitte

Haus nahe dem S-Bahnhof Jungfernheide, Berlin-Charlottenburg

Brandenburger Tor, Berlin-Mitte

01.01.2009, Biergarten, Berlin-Tiergarten

Biergarten, Berlin-Tiergarten

Motel an der AVUS, Berlin-Charlottenburg

30 Minuten später, LKA-Mordkommission, Büro von Emmerling, Keithstraße, Berlin-Tiergarten

02.01.09, Weichsels Appartement, Winkler Straße, Berlin-Grunewald

Kiosk der Familie Schmidt, Potsdamer Platz, Berlin-Mitte

Zur gleichen Zeit in Berlin-Schöneberg

LKA-Mordkommission, Keithstraße, Berlin-Tiergarten

Büro von Franz Rundstedt, Friedrichstraße, Berlin-Mitte

30 Minuten später, LKA-Mordkommission, Keithstraße, Berlin-Tiergarten

LKA-Pressestelle, Tempelhofer Damm, Berlin-Tempelhof

LKA-Mordkommission, Keithstraße, Berlin-Tiergarten

Motel an der AVUS, Berlin-Charlottenburg

03.01.2009 Schloss Brunnstedt, Brandenburg, Sitz der Familie von Maltow

LKA-Mordkommission, Büro von Emmerling, Keithstraße, Berlin-Tiergarten

LKA-Mordkommission, Büro von Wilders, Keithstraße, Berlin-Tiergarten

Haus von Doktor Eichert, Elvirasteig, Berlin-Schlachtensee

04.01.2009, Elvirasteig, Berlin-Schlachtensee

Franks Wohnung, Ludwigkirchplatz, Berlin-Wilmersdorf

Haus von Doktor Eichert, Elvirasteig, Berlin-Schlachtensee

LKA-Mordkommission, Keithstraße, Berlin-Tiergarten

05.01.2009, Martin-Luther-Krankenhaus, Berlin-Grunewald

LKA-Mordkommission, Franks Büro, Keithstraße, Berlin-Tiergarten

Schloss Brunnstedt, Brandenburg, Sitz der Familie von Maltow

Schloss Brunnstedt, Sitz der Familie von Maltow, Brandenburg

Waldstück unweit Schloss Brunnstedt

06.01.2009, LKA-Mordkommission, Büro von Emmerling, Keithstraße, Berlin-Tiergarten

08.01.2009, Hauptquartier der Fremdenlegion, Dschibuti (Ostafrika)

Nachwort des Autors

Prolog

Die Tür wurde aufgerissen. Der kleine Junge drückte sich in die hinterste Ecke des Zimmers. Voller Angst biss er sich auf die Lippe bis sie anfing zu bluten. Der Mann ging grinsend an ihm vorbei zum Bett seiner Schwester. Sie gab vor zu schlafen, aber er ließ sich nicht täuschen. Das kleine Mädchen schrie als er ihr ins Gesicht schlug. Sie sah zerbrechlich in seinen Fängen aus. Immer wieder schlug er auf sie ein und schüttelte sie. „Ihr habt es nicht besser verdient, ihr Bastarde“, brüllte er wie ein Wahnsinniger.

Der kleine Junge schmiss sich gegen den Mann, aber es nützte nichts. Er versetzte ihm mit seiner Pranke einen so heftigen Schlag, dass er gegen die nahe gelegene Wand flog und schmerzvoll wimmernd liegen blieb. Der Junge spürte Hass, Wut und Verzweiflung in sich aufsteigen. Er war machtlos gegen das Böse. Dann ließ der Mann von dem Mädchen ab und kam auf ihn zu.

24.12.2008, Trainingsgebiet der Fremdenlegion, Dschibuti (Ostafrika)

„Sergeant, Sergeant, wir vermissen einen Mann!”, riss Lúka eine Stimme aus seinen Gedanken.

„Ich habe eben gezählt, wir sind nur noch sieben Mann“, informierte ihn Legionär Connely.

Lúka brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, dann gab er seinen Befehl: „Anwesenheit bestätigen!”

„Connely?”

„Jawohl, Sergeant!”

„O´Brian?”

„Hier!”

„Rustow?”

„Anwesend!”

„Malewisz?”

„Jawohl!”

„Louda?”

„Hier!”

„Silvano?”

„Jawohl, Sergeant!“

„Vengeur?”

Keine Antwort.

„Vengeur!”, fragte Lúka nun etwas lauter. Stille. „Verdammt!”, fluchte er leise. Allein der Gedanke, dass einer seiner Leute in einer stillen Nacht wie dieser vom Erdboden verschwunden war, provozierte ein mulmiges Gefühl in seinem Magen. Die Nacht war bisher ruhig gewesen – reine Routine, nichts Außergewöhnliches. Nicht einmal ein verdammter Schakal hatte sich blicken lassen. Bei Vengeur konnte man nicht davon ausgehen, dass er desertierte. Er war das Musterbild eines Soldaten. Wo aber war er dann? War er Opfer des heimtückischen Treibsandes geworden? Den gab es in jeder Wüste, aber Luka war ihm mit seinen Männern noch nie auf dieser Route begegnet. Er dachte angestrengt nach. Wie zum Teufel konnte einer seiner Männer plötzlich vom Erdboden verschwinden – in ihrem Trainingsgebiet weit weg von jedem Feind? Ihm fiel keine sinnvolle Erklärung ein. Am Checkpoint Beta, bei der letzten Anwesenheitskontrolle, waren sie noch vollständig gewesen.

„Wer ist hinter Vengeur marschiert?“, fragte er in scharfem Ton.

„Ich, Sergeant“, antwortete Louda, der größte und kräftigste Legionär des Trupps, der mit dem schweren MG bewaffnet war. Der dunkelhäutige Mann nahm vor Lúka Haltung an.

„Gab es irgendwelche Auffälligkeiten, bevor Vengeur verschwunden ist?“

„Ich habe ein Geräusch hinter mir gehört, habe mich kurz umgedreht, dann wieder nach vorne geschaut und weg war er, Sergeant“, erklärte Louda ruhig.

„Verdammt!“, fluchte Lúka. Er überlegte kurz, dann gab er seine Order: „Männer, wir kehren zum Checkpoint Beta zurück und suchen Vengeur!“ Lautes Murren machte sich unter den Männern breit.

„Ruhe!“, befahl Lùka. Der Trupp wechselte die Richtung und bewegte sich zum Checkpoint Beta.

„Merde!”, Louda schloss sich den Flüchen seines Vorgesetzten an. Extrakilometer an Weihnachten zu laufen, war nicht das Geschenk, das er sich erhofft hatte. Und dann noch wegen Jean Vengeur. Louda hatte ihn nie gemocht. Ein komischer Kauz war das. Wie ein Besessener hatte dieser Typ die letzten fünf Jahre – seitdem sie in diesem Kommando aufeinandergetroffen waren – sich selbst und zwangsweise auch die anderen gedrillt. Lúka pflegte nach Abschluss jeder Übung zu sagen, dass die anderen sich ein Beispiel an Vengeur nehmen sollten, der immer über das Ende jeder Übung hinaus weiter machte. Kurz danach hatte Lúka meistens beschlossen, dass den anderen ein bisschen mehr Drill auch nicht schaden konnte. Aber das war nicht mal das Schlimmste an Vengeur. Eines Nachts, als Louda aufwachte und verdammt dringend pinkeln musste, hatte er ihn vor der Baracke gesehen. Er saß draußen im Sand, starrte in die Finsternis und faselte irgendein Zeug. Louda hatte nichts verstanden. Es war kein Französisch gewesen, aber der Blick – seine Augen – hatten nichts Gutes verheißen.

Louda war hinter ihm als letzter im Trupp marschiert und würde somit die Verantwortung für sein Verschwinden zugeschoben bekommen, falls sie ihn heute Nacht nicht finden würden. Er hatte nur für eine Millisekunde den Kopf nach hinten gedreht, weil er ein Geräusch genau hinter sich gehört hatte – wahrscheinlich eine Schlange. Sein militärischer Instinkt hatte ihm befohlen, sich sofort zu vergewissern, was die Ursache dieses Geräusches war. Als er im nächsten Augenblick wieder nach vorne geschaut hatte, war Vengeur verschwunden. Er dachte erst, der wäre weiter nach vorn gegangen, aber dann hatte er das Kommando durchgezählt und war auf die Zahl Acht statt Neun gekommen.

Das hatte er sofort nach vorne weitergegeben. Und jetzt stapften sie an Weihnachten wegen Vengeur Extrakilometer, Wunderbar! „Fröhliche Weihnachten, Louda“, murmelte er.

Vengeur schaute über den Kamm der Düne. Der Trupp hatte die Richtung gewechselt. Sie marschierten zum Checkpoint Beta zurück. Er presste sich in den Sand, schloss die Augen und wartete, bis er das Knirschen des Sandes unter ihren Stiefeln nicht mehr hören konnte. Dann robbte er die ersten fünf Meter vom Kamm der Düne abwärts. Den Rest der Strecke lief er geduckt. Es war leicht gewesen, einen Mann im zwanzig Kilometer entfernt gelegenen Dorf mit ein wenig Geld dazu zu bringen, den Jeep hierher zu fahren. Er stieg in den Wagen, startete das GPS und fuhr in Richtung des Flugplatzes. Sein nächstes Ziel war Paris.

27.12.2008, Wohnung von Vengeur, Quartier Latin, Paris

Jean Vengeur wachte schweißdurchtränkt auf. Er zitterte am ganzen Körper. Sein Blick schweifte durch den Raum. Dann erinnerte er sich daran, dass er sich in seiner Pariser Wohnung befand. Er atmete tief ein und aus. „Es war nur ein Traum“, beruhigte er sich. Nach diesen Albträumen konnte er nur selten weiter schlafen. Er entschied aufzustehen. Sein Blick wanderte zur Digitaluhr auf dem Nachttisch. Sie zeigte 17:30 Uhr. Er stand auf und ging ins Badezimmer. Der große Spiegel über dem Waschbecken zeigte einen fast dreißig Jahre alten Mann. Sein Gesicht war ausgezehrt und tiefe Falten gruben sich in seine Stirn – Zeichen des inneren Kampfes, den er seit seiner Kindheit führte. Seine Statur war muskulös. Das jahrelange Training in der Wüste hatte seinen Körper gestählt. Die großen dunkelbraunen Augen besaßen Tiefe. Er hatte sie von seiner Mutter geerbt, und obwohl Vengeur nicht viel innere Ruhe besaß, versteckten sie diese Tatsache erstaunlich gut. Nur wenn man genau hinschaute, erkannte man, dass sie etwas Stechendes hatten. Nase und Mund fügten sich harmonisch in das Gesamtbild ein. Er stellte die Dusche an und genoss das eiskalte Wasser, das an seinem Körper herunterfloss. Nachdem er sich angezogen hatte, ging er ins Café Marie in einer Seitenstraße der Rue Mouffetard, das keine fünf Gehminuten von seiner Wohnung entfernt lag. Auf dem Weg dorthin begegnete er niemandem. Alle Menschen schienen an diesem Tag zu Hause bei ihren Familien zu sein. Im Café setzte er sich in eine abgelegene Ecke. Er und das Pärchen, das schräg gegenüber an einem Tisch an der großen Glasfront saß, waren die einzigen Gäste. Das Paar stammte aus Deutschland.

Nach all den Jahren, in denen Vengeur fast nur Französisch gesprochen hatte, klang seine Muttersprache erschreckend fremd für ihn. Die Beiden unterhielten sich über eine Party, die sie an Silvester bei sich zu Hause geben wollten.

Im Café roch es verführerisch nach gerösteten Kaffeebohnen und frisch gebackenen Croissants. Vengeur bestellte sich einen großen Milchkaffee, ein Croissant, Orangenmarmelade und etwas Butter. Nachdem die Kellnerin alles an den Tisch gebracht hatte, bemerkte er, dass sie den Zucker vergessen hatte. Er sah sich im Café um. Auf dem Tisch des Pärchens entdeckte er einen Zuckerspender. Er entschied, an den beiden sein Deutsch zu erproben. Sein nächstes Ziel war Berlin. Ein wenig Übung konnte nicht schaden. In den letzten fünfzehn Jahren bei der Fremdenlegion hatte er seine Muttersprache kaum benutzt. Er stand auf und ging zum Tisch des Pärchens hinüber.

„Könnten Sie mir bitte den Zucker geben?“, fragte er in Hochdeutsch mit leichtem französischem Akzent. Vollkommen unterdrücken konnte er ihn nicht.

„Ja, natürlich“, antwortete der Mann und reichte ihm den Spender. Nachdem er sich etwas Zucker in seinen Milchkaffee geschüttet hatte, brachte er dem Pärchen den Spender zurück und bedankte sich. Er schmiegte seinen Rücken an die Stuhllehne und genoss den Milchkaffee.

Eine halbe Stunde später ging er in seine Wohnung zurück und packte seine Sachen. Als er fast fertig war, setzte er sich auf das Bett und blätterte in dem mit braunem Leder eingebundenen Notizbuch. Das Leder fühlte sich abgenutzt an. Jedes Jahr hatte er sie fünfundvierzig Tage beobachtet – seinen kompletten Jahresurlaub dafür genutzt, um ihre Routinen kennen zu lernen. Er wusste, wann sie morgens das Haus verließen und welchen Weg sie zur Arbeit nahmen. Er kannte ihre Hobbys, ihre Freunde, ihre Lieblingsrestaurants und ihre Laster. Alles hatte er in diesem Notizbuch zusammengetragen, das er längst in und auswendig kannte. Behutsam verstaute er es in der Tasche. Dann nahm er die Machete in die Hand und streichelte über ihren Griff und die zweischneidige Klinge, die er stets so scharf schliff, das bereits eine kleine Unachtsamkeit einen Schnitt zur Folge hatte. Er wickelte sie in ein Tuch und verstaute sie in der Seite seiner Reisetasche. Er schaute sich in der Wohnung um und sog ein letztes Mal den Geruch der Holzmöbel und der alten Holzdielen ein. Vielleicht würde er nie mehr zurückkehren. Er schloss die Wohnungstür ab und machte sich auf den Weg zum Bahnhof.

29.12.2008, Potsdamer Platz, Berlin-Tiergarten

Herbert Weber war Restaurantleiter im Hotel Grand Empereur. Er war stolz darauf, denn das Grand Empereur war ohne Zweifel das beste Hotel in Berlin und er hatte sich dort einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Heute würde ein anstrengender Tag für ihn werden. Eine große Silvesterveranstaltung stand auf dem Plan und er trug die Verantwortung für die Vorbereitung und den reibungslosen Ablauf des Festes. Die Feiertage fielen damit aus, aber das war ihm egal, Familie hatte er nicht und er liebte seinen Job. Weber stieg die Treppe aus dem U-Bahnhof hinauf. Die oberen Stufen waren rutschig. Eine dunkle Eisschicht bedeckte sie. Weber krallte sich an das Geländer und nahm vorsichtig eine Stufe nach der anderen. Oben angekommen sog er die eiskalte Winterluft ein. Sie schmerzte in seinem Hals. Obwohl dieser Winter zweifelsohne zu den wärmeren gehörte, war es an diesem Tag verdammt kalt. Vielleicht lag es auch daran, dass er langsam alt wurde. Mit fünfzig Jahren zählte er zur alten Garde im Hotelbusiness. Sein fast komplett weiß gewordenes Haar zollte diesem Fakt Tribut. Er freute sich zwar nicht darüber, aber mit dem Älterwerden musste er sich wohl abfinden. Einen Weg daran vorbei gab es nicht.

Weber blickte auf den menschenleeren Platz. Er genoss die Ruhe, den dieser Ort früh morgens verströmte. Sonst gehörte er zu einem der bewegtesten Plätze Berlins und wurde von Touristen nur so überflutet. Diese schauten sich die Überreste der Berliner Mauer an, die direkt am Ausgang des S-Bahnhofes aufgestellt waren oder machten auf dem Weg zum Holocaustmahnmal hier Halt. Dessen große lange Betonstehlen luden Kinder zum Versteckenspielen ein, und Weber freute sich jedes Mal, wenn er sie sah. Durch die Kinder als Zeichen der neuen Generation wurde die dunkle Geschichte, an die das Gebilde erinnerte, mit einem optimistischen Blick in die Zukunft abgerundet. Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war 05:55 Uhr. „Genug Zeit für eine Zigarette“, dachte er sich. Heute würde er den Tag über keine zweite Chance dafür bekommen. Er griff in die Brusttasche seines Mantels und holte ein silbernes Zigarettenetui hervor. Es waren nur noch wenige Zigaretten enthalten. Er steckte das Etui zurück und lenkte seine Schritte nach rechts in Richtung der kleinen Gasse, an deren Ende ein Kiosk lag. Dort holte er sich jeden Montag zwei neue Packungen. Seine Schritte hallten auf den rechteckigen Pflastersteinen, als ob er einen mit Marmor gefliesten Gang entlang ging. Der Eingang der Gasse war stockfinster. In ihrer Mitte konnte er einen kleinen Lichtkegel erkennen, der den Weg und die Wand der Gasse in einem Umfeld von weniger als zwei Metern erhellte. Es schien gerade genug Licht, um die Pflastersteine und die feuchten Wände der Gasse zu erkennen. Am Ende der Gasse flimmerte die Lichtwerbung des Ladens. Der Weg zwischen den Lichtinseln lag im Dunkeln. Er spürte einen scharfen Luftzug an der Wange und im gleichen Moment sah er aus dem Augenwinkel, dass sich irgendetwas bewegte. Er spürte, wie sich seine Beinhaare aufstellten.

„Nur eine Ratte oder eine Taube”, versuchte er sich zu beruhigen. „Jetzt stell dich nicht so an! Du bist nicht mehr fünf Jahre alt“, flüsterte er. Er gab sich einen Ruck und lief in die kleine Gasse hinein.

„Vater, warum?”, hallte eine tiefe Stimme an den engen Wänden entlang. Weber erstarrte. Dann drehte er sich wie in Zeitlupe um. Eine große schwarze Gestalt, die in einen langen Mantel gehüllt war, stand am Eingang der Gasse. Er kniff die Augen zusammen, aber er konnte das Gesicht der Gestalt auch mit größter Anstrengung nicht erkennen.

„Was haben Sie gesagt?”, fragte er unsicher. Im Vergleich zu dem satten Klang der Stimme des Mannes, hörte er sich lächerlich an.

„Vater, du hast uns verraten”, sagte der Unbekannte. Es klang wie eine Anschuldigung, die lange gereift war.

„Wa-was wollen Sie?! Ich habe keine Kinder”, Webers Stimme zitterte. Er spürte, wie Angst in jeden Winkel seines Körpers schoss. Zwar war er noch nie von einem Obdachlosen angegriffen worden, aber er hatte schon von solchen Angriffen gehört. Wenn die Kerle betrunken waren, konnte man nie wissen, was sie als nächstes tun würden.

„Ich bin mir todsicher, Vater.” Das Wort „todsicher“ betonte der Mann auf eine Weise, die Weber noch größere Angst einjagte. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinunter.

„Möchtest du noch etwas sagen?”, fragte der Unbekannte mit einer ekelerregenden Gewissheit.

Weber schluckte. Er musste irgendwie aus der Gasse raus oder besser zu Menschen gelangen, die ihm helfen konnten. Aber an dem Unbekannten vorbei würde er es nicht schaffen. Der nahm mit seinem Körper fast den ganzen Durchmesser der schmalen Gasse ein. Vielleicht konnte ihm der Besitzer des Kiosks helfen. Der war keine dreißig Meter mehr entfernt.

„Wir können doch in Ruhe darüber reden.“ Weber zitterte am ganzen Körper. Er wollte den anderen in Sicherheit wiegen.

Die Gestalt lachte verächtlich. „Reden? Ich rede nicht mit Verrätern!“

Weber spürte, dass der Unbekannte ihm direkt in die Augen schaute. Er ging einen Schritt auf ihn zu. Dann noch einen. Weber konnte nicht mehr warten. Er drehte sich um und begann zu rennen. Hinter sich hörte er die Stimme hallen.

„Ja, renn wieder weg wie damals, du Feigling!“

Sein Herz raste, Adrenalin jagte durch seinen Körper. Der Mann schien ihm nicht zu folgen. Hoffnung. Vorn schon die Fahne mit der Aufschrift „Lotto”. Fünf Meter noch. Gleich hatte er es geschafft. Endlich. Er zog mit aller Kraft am Türgriff, rüttelte wie ein Verrückter daran. Nichts rührte sich. Er erstarrte. Auf der Innenseite des Türglases hing eine Notiz:

„Liebe Kunden, dieses Jahr gönnen wir uns über die Feiertage eine Ruhepause. Ab dem 02.01.09 sind wir wieder wie gewohnt ab 06:00 Uhr für sie da. Ihnen alles Gute und ein frohes neues Jahr, Ihre Familie Schmidt.”

Auf dem Stück Papier stand Webers Todesurteil.

Potsdamer Platz, Berlin-Tiergarten

Es hatte angefangen zu schneien. Die kleinen Flocken schlugen gegen seine Wangen, schmolzen und perlten an ihnen hinunter. Ein feiner metallischer Geruch lag in der Luft. Das Licht der Straßenlaterne spiegelte sich auf der Armbanduhr des Toten. Frank betrachtete die Leiche. Kein schöner Anblick. Hier hatte jemand viel Wut ausgelassen. Das erkannte sein geschultes Auge sofort.

Die Beine waren vom Torso abgetrennt. Ob dies vor oder nach dem Tod geschehen war, würde erst die Obduktion ergeben. Es sah so aus, als hätte der Mörder das Opfer am Weglaufen hindern wollen. Der Tote hatte jeweils ein Bein in jeder Hand. „Makaber”, schoss es ihm durch den Kopf. „Die Beine in die Hand nehmen”, so sah das Sprichwort also gemordet aus. Die Mimik des Toten war grauenvoll. Der Schmerz, den er hatte erleiden müssen, die Panik und die Qual konnte er ihm vom Gesicht ablesen. Obwohl die Bezeichnung Gesicht zu schmeichelhaft für die Grimasse war, die ihn anstarrte. Die Augen weit aufgerissen, das ganze Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Robert Frank spürte, wie Brechreiz seine Kehle hinaufkroch. Er würgte. Schluckte.

Er tastete den Toten ab. Dem Mantel entnahm er die Brieftasche. Er schaute sich den Ausweis des Mannes an: „Herbert Weber” stand auf der Vorderseite. Er drehte den Ausweis um und las die Adresse. Dann steckte er die Brieftasche zurück.

„Hallo, Robert”, hörte er die Stimme seiner Partnerin Katharina Wilders neben sich. „Mein Gott, wie der zugerichtet ist.” Wilders wurde mit einem Schlag blass. Sie war erst seit fünf Jahren bei der Kripo und hatte bisher wenige Leichen gesehen. Sie war etwas kleiner als Frank, schlank und gerade Anfang dreißig. Ihr Gesicht wurde von schulterlangen braunen Haaren eingerahmt. Gerade konnte man ihm allerdings den Schrecken ablesen, den der Anblick der Leiche hinterließ. Ihre schönen dunkelbraunen Augen wanderten über den Torso.

„Wer ist der Mann?”, fragte sie mit belegter Stimme.

„Herbert Weber, er wohnte in der Franklinstraße in Moabit.“

„Irgendwelche Zeugen?“

„Der Straßenfeger dort drüben hat ihn entdeckt.“ Frank zeigte auf den Mann, der mit gesenktem Kopf an der Hauswand am Gasseneingang lehnte.

„Am Ende der Gasse befindet sich ein Kiosk. Ich gehe davon aus, dass Weber dort ermordet wurde. Es befindet sich ein blutiger Handabdruck an der Scheibe. Außerdem gibt es Schleifspuren. Sie führen hierher. Der Täter wollte seinen Mord also nicht verstecken, ganz im Gegenteil, wir sollten ihn finden. Wahrscheinlich hatte der Mörder Wechselsachen dabei, hat kaum Spuren hinterlassen.“

„Hast du schon mit dem Straßenfeger gesprochen?“

„Nein, ich wollte mir erst ein Bild vom Opfer und dem Tatort machen.“

Wilders ging zu dem Mann hinüber. Er trug die orangefarbene Montur der Berliner Stadtreinigung. Sie konnte sehen, wie sich sein Brustkorb unter den dicken Wintersachen schnell auf und ab bewegte.

„Guten Tag, mein Name ist Katharina Wilders. Ich arbeite bei der Kriminalpolizei.“

Der Mann nickte ihr zu. „Ick, ick hab ihn jefunden“, stotterte er. Seine Augen waren weit aufgerissen.

„Dürfte ich Ihren Namen erfahren?“

Er reagierte nicht, starrte ins Leere.

„Wie lautet ihr Name?“

Langsam drehte er ihr den Kopf zu. „Schröder, Manfred Schröder“, er schnappte nach Luft.

„Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen, als sie sich dem Tatort genähert haben. Ich meine, haben Sie jemanden gesehen oder vielleicht ein Fahrzeug beobachtet?“

„Nischt hab ick jesehn, stockduster war dit“, er fing an zu zittern.

Wilders merkte, dass mit ihm gerade nicht viel anzufangen war. Er stand noch unter Schock, vielleicht konnte sie mehr von ihm erfahren, wenn er sich beruhigt hatte.

„Herr Schröder, bitte gehen Sie zu den Kollegen von der Spurensicherung. Die stehen dort bei dem blauen Einsatzwagen. Bitte hinterlassen Sie Ihre Anschrift. Falls Sie psychologische Hilfe in Anspruch nehmen wollen, können sie Ihnen weiterhelfen.“

„Danke, Frau Kommissarin.“ Er senkte den Blick und trottete zum Einsatzwagen.

Wilders ging wieder zu Frank hinüber. Robert Frank war Kriminalhauptkommissar in der Mordkommission des LKA Berlin. Er war vierzig Jahre alt, ungefähr einen Meter achtzig groß und hatte braune mittellange Haare. Seine grünen Augen stachen aus seinem Gesicht hervor. Nicht nur seine Kollegin Wilders mochte Frank. Wahrscheinlich auch viele andere Frauen. Seine ruhige Art trug das ihre dazu bei. Das Problem mit ihm war, dass er für seinen Job lebte und sein Privatleben und damit jede Frau, die mit ihm zusammen war, darunter litt.

Frank betrachtete immer noch die Leiche.

„Worüber denkst du nach?“, fragte sie ihn.

„Die Mafia mordet häufig in Schaubildern. Sie hinterlässt bei ihren Opfern bestimmte Zeichen wie eine Rose im Mund, was bedeutet, dass ein Verräter zum Schweigen gebracht wurde. Aber jemandem die Beine abzutrennen und in die Hände zu legen, ist eine andere Kategorie.“ Er drehte sich zu ihr um. „Lass uns fahren.“

Nachdem sie im Hauptgebäude der Mordkommission in der Keithstraße in Berlin-Tiergarten angekommen waren, legte Wilders einen Fall im Computersystem an und erfasste die Informationen vom Tatort. Frank goss sich einen Kaffee aus der Kanne der vergilbten Kaffeemaschine ein und setzte sich auf die Platte des hellen Holzschreibtisches. Er versuchte, die Tat mit Abstand zu betrachten: Herbert Weber musste überfallen worden sein. Es hatte einen Kampf nahe der Kiosktür gegeben. Der blutige Handabdruck war ein eindeutiges Indiz dafür. Mit ein wenig Glück stammte dieser vom Täter und war gut erhalten, dann konnten sie die Fingerabdrücke mit denen im System abgleichen. Dazu mussten sie jedoch auf die Ergebnisse der Spurensicherung warten und diese waren nicht vor dem Mittag zu erwarten. Er musste unbedingt mit Mainke sprechen. Der Täter war ohne Frage psychisch gestört. Vielleicht konnte ihm der Kriminalpsychologe ein genaueres Bild des Täters zeichnen. Die Tür wurde geöffnet und Wilders kam herein.