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Eigentlich ist Jonas Ratenberg ein normaler junger Mann. Wenn er nicht in der Schule sitzt, um nach zwei Ehrenrunden auf sein Abitur hinzuarbeiten, verbringt er die Zeit mit seiner Freundin Laura oder am PC. Dass nicht alles so normal ist, erfährt er am Morgen seines 18. Geburtstages: Ein mythisches Geheimnis, ein antikes Erbe und Magie stellen sein Leben auf den Kopf. Von einem Tag auf den anderen beginnt sein Leben völlig neu. Für ihn beginnt eine Reise zwischen Alltag und Abenteuern, die seine Sicht auf die Welt verändern wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Familienerbe
Ein neues Leben
Vollmond
Herbststürme
Jahreswende
Ein Funken Göttlichkeit
Verzweiflung
Erlösung
Epilog
Danksagung
Impressum
Die Scheinwerfer des kleinen Opel Corsa durchbrechen die Schwärze der Nacht, als der große, dunkelhaarige Mann den Wagen auf der schmalen Straße durch den Wald lenkt. Es ist kaum mehr als ein selten genutzter Arbeitsweg, zerfurcht von den schweren Traktoren und Lkw, die gelegentlich hier durchfahren, um Baumstämme abzutransportieren. Immer wieder versetzen tiefe Schlaglöcher dem betagten Fahrwerk einen Stoß. „Wenn das so weitergeht, müssen wir auf dem Rückweg laufen!“, schimpft er. Sie lächelt. Es ist ein müdes Lächeln, kaum erkennbar unter der Erschöpfung der letzten Tage. „Dann laufen wir eben“, sagt sie und schaut weiter angespannt aus dem Fenster.
Der frisch gefallene Schnee reflektiert das künstliche Licht und offenbart die winterliche Landschaft des Waldes. Neben ihm sitzt seine Verlobte, nur in ein schlichtes, schwarzes Kleid gehüllt. Das blonde Haar ist zu einem langen Zopf gebunden und fällt über die linke Schulter. Seit über einer Stunde hat keiner mehr ein Wort gesagt. Über das, was vor den beiden liegt, hatten sie oft genug gesprochen.
Das Navigationsgerät an der Windschutzscheibe zeigt das Ziel in einem Kilometer Entfernung, ein kleiner See abseits der meisten Anzeichen menschlicher Zivilisation. Vor einem Stapel Baumstämme bringt er den Wagen zum Stehen. Links liegt ein kleiner Platz, gerade groß genug, dass ein Sattelzug zum Abtransport der gefällten Bäume wenden kann. „Da sind wir“, sagt er. „Wohin müssen wir jetzt?“ Die Frau deutet rechts in die Finsternis. „Dort lang.“
Die beiden steigen aus, vor ihnen bildet ihr Atem weiße Dampfwolken. Er greift nach dem dicken Wintermantel auf dem Rücksitz. „Ich beneide dich darum, dass du nicht frierst“, sagt er murrend und stapft mit im Schnee knarzenden Stiefeln um den Wagen herum. Sie wartet, bereits ein paar Schritte vorausgegangen, barfuß zwischen zwei einander zugeneigten Kiefern, die wie ein antikes Tor aus einer längst vergessenen Zeit wirken. Allein bei dem Anblick läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken, der nicht von der Kälte herrührt. Zumindest nicht gänzlich.
Als er zu ihr aufgeschlossen hat, reicht sie ihm die linke Hand. „Ab hier gibt es keinen Weg zurück mehr“, sagt sie leise. Er nickt und ergreift ihre warme Hand. Gemeinsam gehen sie tiefer in den Wald, sie führt ihn einen Pfad entlang, der sich zwischen Gestrüpp und Schneeverwehungen immer wieder seinem Blick zu entziehen scheint. Sind es Stunden oder nur Minuten, die vergehen? Er weiß es nicht, traut sich auch nicht zu fragen. Ein gelbes Paar Augen richtet sich von hoch oben aus einer der kahlen Baumkronen auf ihn. Verschwindet. Taucht an anderer Stelle wieder auf. Unbehaglich schlägt er den Kragen seines Mantels hoch. Als könnte er sich, den Kopf eingezogen, dahinter verstecken.
Je tiefer die beiden in den Wald gehen, desto mehr scheinen die Geräusche der Nacht in weite Ferne zu rücken, bis nur sein stoßweises Atmen und die im Schnee knirschenden Stiefel zu hören sind. Die Frau führt ihn trotzdem unbeirrt weiter, bis sie an einen kleinen, von einer Quelle gespeisten Teich, gelangen. Im ruhigen Wasser spiegelt sich der rote Vollmond, in dessen Licht die kahlen Bäume wie die Gerippe uralter Wesen wirken, die sich aus der Erde erheben und dem Himmel entgegenstrecken.
„Du musst das nicht tun! Ich werde dich immer lieben, egal, ob wir Kinder haben oder nicht“, erklärt er fast flehend. Sie schüttelt den Kopf. „Ich tue es, weil es mein Wunsch ist, mit dir gemeinsam alt zu werden“, antwortet sie, liebevoll ihren geliebten Mann anlächelnd. Dann macht sie einen Schritt ins knöcheltiefe Wasser am Ufer. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Er bleibt stehen, unentschlossen, sich zurückzuziehen oder, ihrem Wunsch folgend, hier zu warten.
Je weiter sie sich dem Mittelpunkt des Teiches nähert und je höher das Wasser ihren Körper umschließt, desto mehr scheint es im roten Schein des Mondlichts von sich aus zu leuchten. Als ihr das Wasser bis zur Brust reicht, bleibt sie stehen und blickt sich ein letztes Mal zu ihrem Geliebten um. Nur eine einzelne Träne läuft ihr über das Gesicht. „Wir sehen uns in meinem neuen Leben“, flüstert sie und taucht unter.
Er weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Traut sich nicht, auf die Uhr zu sehen. Unruhig läuft er am Ufer des Teiches auf und ab, wirft immer wieder einen Blick auf die glatte Oberfläche. Sein Puls rast, kalter Schweiß breitet sich auf seiner Stirn aus, klebt in den Haaren. Verzweifelt hält er sich an den Worten fest, die sie ihm unzählige Male gesagt hat. An ihrem Versprechen, sie würde wiederkommen. Egal, wie lange es dauert, er darf nicht ins Wasser gehen.
Langsam steigt die Sonne am Horizont auf, das rot goldene Licht dringt durch die kahlen Stämme des Waldes. Trotz der dicken Winterkleidung ist der Mann bis auf die Knochen durchgefroren, als in der Mitte der Wasseroberfläche Luftblasen aufsteigen. Erst einzelne, dann langsam mehr. Und dann keine mehr. Wieder ist alles still.
Angespannt beobachtet er das Wasser, wagt es kaum, zu blinzeln. Dann sieht er einen Schatten aus dem Teich aufsteigen, eine menschliche Kontur, die langsam Gestalt annimmt. Der schlaffe Leib seiner Frau treibt bäuchlings im Wasser. Ein lauter, schmerzerfüllter Schrei bricht aus seiner Kehle und hallt durch den morgendlichen Wald: „ELKE!“
Mein Morgen startet wie jeder andere Samstagmorgen. Oder Mittag, denn als ausgewiesener Langschläfer würde ich meine Familie nur verwirren, wenn sie mich an einem freien Tag vor 12 Uhr zu Gesicht bekäme. Zu meiner Familie gehören meine Eltern Elke und Thomas Ratenberg, sowie meine 15-jährige Schwester Nadine. Mein Name ist Jonas. Ich bin 17 und besuche das Peter-Hansen-Gymnasium hier in Blankenhagen an der Trave. Dank zweier „Ehrenrunden“ gehen meine Schwester und ich zusammen in die 11. Klasse, doch während sie eine Streberin mit Spitzennoten ist, bin ich eher Durchschnitt und widme meine Aufmerksamkeit lieber meinen zwei Hobbys: Schwimmen und Zocken. Bis vor ein paar Jahren, bevor ich beim Schwimmen richtig durchgestartet bin, stand auch das Pen & Paper Rollenspiel „Das Schwarze Auge“, kurz DSA, auf meinem Terminplan. Jetzt trainiere ich unter der Woche dreimal abends für Wettkämpfe, habe es bis zum Landesmeister U18 Mecklenburg-Vorpommern geschafft.
Die langen Nächte am PC sind der Hauptgrund, warum ich am Wochenende erst mittags aufstehe. Die nächtlichen Sessions fordern ihren Tribut, weshalb ich am Wochenende lange ausschlafe. Zumal ich so, ohne auf irgendwen warten zu müssen, direkt in das Badezimmer unseres Endreihenhauses gehen kann. Dort stehe ich nun, halbwegs wach, vor dem Spiegel. Frisch geduscht, die wenigen Bartstoppeln rasiert und mit dem Kamm die kurzen schwarzen Haare in Form gebracht. Im Vergleich zu anderen meiner Altersgruppe habe ich noch immer wenig Bartwuchs. Mein Spiegelbild mit den grauen Augen und den noch kindlichen Zügen lässt kaum vermuten, dass ich heute volljährig werde. Auch meine eher geringe Größe von knapp 1,72 m lässt mich eher jünger aussehen.
Rasch mache ich mich fertig, schlüpfe in eine schwarze Jeans und ein Iron Maiden T-Shirt und gehe die Treppe nach unten. Meine Eltern sitzen auf der Terrasse und lesen. Meine Mutter ist etwas kleiner als ich und trotz ihrer erst 50 Jahre bereits ergraut. Ansonsten wirkt sie jünger, dynamischer als Frauen ihres Alters. Auch heute trägt sie aus meiner Sicht ein für ihr Alter zu freizügiges Kleid und die Haare offen über die Schultern gelegt. Mein Vater ist mit etwas über 2,0 m der größte der Familie. Von ihm habe ich die dunklen Haare geerbt. Sein ernstes Gesicht trägt noch keine Anzeichen seines Alters. Er hat sich heute für Jeans und ein grünes Polohemd entschieden, mit dem er auch als Arzt auf dem Golfplatz durchgehen könnte. Die beiden betreiben ein Restaurant direkt an der Promenade, überlassen das Vormittagsgeschäft aber dem angestellten Betriebsleiter und gehen erst am Nachmittag in den Laden.
„Morgen“, rufe ich den beiden durch die geöffnete Terrassentür zu und gehe in die Küche. „Guten Morgen, Jonas. Und, schon aufgeregt?“, antwortet meine Mutter, obwohl sie weiß, dass ich mir aus Geburtstagen nur wenig mache. Mit einem Stück Pizza vom Vorabend setze ich mich zu den beiden. „Warum sollte ich aufgeregt sein? Das ist ein Tag wie jeder andere“, antworte ich und kaue weiter auf einem Stück mit Ananas und Schinken.
Die beiden werfen sich einen Blick zu und als hätten sie diese synchrone Bewegung geübt, legen sie ihre Bücher zur Seite und schauen mich ernst an. „Jonas, ein 18. Geburtstag ist immer etwas Besonderes“, beginnt mein Vater mit ernstem Ton. „Natürlich bist du schon lange kein Kind mehr. Aber es beginnt dennoch ein neuer Lebensabschnitt.“ „Moment, wird das jetzt ein Vortrag über Verantwortung?“, unterbreche ich meinen Vater und verdrehe genervt die Augen. „Sowas wie die Aufklärung, als ich mit Laura zusammengekommen bin? Oder die beiden Gespräche, als ich nicht versetzt wurde? Habe ich schon verstanden. Und wie du weißt, sind meine Noten schon besser und Laura nicht ungewollt schwanger!“ Ich bin kurz davor, mich wieder nach innen zurückzuziehen, doch irgendwas an den Blicken meiner Eltern hält mich davon ab. Selbst meine Mama, die eigentlich immer gut gelaunt Sprüche raushaut, die meist nur sie witzig findet, sieht mich ernst an. „Jonas, das, worüber wir mit dir sprechen wollen, betrifft nicht die Schule oder deine Freundin oder welchen Beruf du später erlernst“, sagt sie in ruhigem Ton. „Aber es betrifft dein zukünftiges Leben. In meiner Familie haben wir ein Erbe, das über Jahrtausende vererbt wurde. Es ist wichtig, dass du mir jetzt zuhörst. Dass du es heute erfährst.“
Noch dramatischer scheint es kaum zu gehen, dennoch lehne ich mich in meinem Stuhl zurück und höre meiner Mutter zu. Wenn auch nur, um ihr diesen Gefallen zu tun. „Mädchen erfahren es spätestens, sobald die Pubertät einsetzt und ihr Körper sich anders verändert, als es bei Menschen der Fall ist. Jungs erhalten ihr Erbe erst mit dem ersten Vollmond nach ihrem 18. Geburtstag. In deinem Fall überschneidet sich das“, fährt sie fort, die Stimme ruhig und leise genug, dass keine Nachbarn unbemerkt zuhören können. Ich jedoch kann mir ein Lachen nicht verkneifen und zeige auf ihr Buch. „Du liest zu viel über Mythologie. Andere Veränderungen als bei Menschen? Der Vollmond? Bin ich ein Werwolf?“, erwidere ich noch immer grinsend. Beide blicken mich ernst an und warten, bis ich mich beruhigt habe. Wäre meine Mutter nicht so auffallend ernst, würde ich jetzt aufspringen. „Aber gut, tun wir mal so, als mache das Sinn. Was willst du mir sagen?“
„Du und deine Schwester, ihr seid Nymphen“, sagt mein Vater in einem Ton, als hätte er gerade die Speisekarte unseres Restaurants vorgelesen. Ich schaue ihn mit offenstehendem Mund an. Er war alles andere als ein Komiker, aber jetzt bin ich mir sicher, dass er mich veralbern will. „Heute um Mitternacht wirst du deine wahre Gestalt annehmen und dich grundlegend verändern“, ergreift meine Mutter wieder das Wort. „Es wird komisch werden, sich fremd und anders anfühlen. Es wird dir den Kopf verdrehen.“ Ich schaue sie ungläubig an, nicht sicher, ob ich sie auslachen oder das Spiel mitspielen soll. „Eine Nymphe? Ich mag zwar kein Genie sein, aber Nymphen sind Frauen. Das letzte Mal, als ich nachgesehen habe, war ich mit Sicherheit keine Frau!“, antworte ich nun genervt. „Und dann wollt ihr mir weismachen, meine kleine Schwester ist bereits ein übernatürliches Wesen und ich habe es nicht bemerkt?“ Papa lehnt sich in seinem Stuhl vor und fährt sich mit einer Hand durch sein kurzes Haar. „Als ich deine Mutter kennengelernt habe, hätte ich nie gedacht, welches Geheimnis sie in sich trägt. Und offensichtlich hat deine Schwester das ihre ebenso gut verborgen“, sagt er ernst. Mama nickt. „Wir möchten dir alles erklären, zusammen mit Nadine. Aber dafür musst du uns zuhören“, erklärt sie.
„Also gut, wenn es euch glücklich macht, zeigt oder sagt mir heute Abend, was ihr wollt. Ich gönne euch den Spaß und wir können alle eine Runde lachen. Aber dann sollte Laura dabei sein. Ihr wollt ihr doch sicher erklären, dass sie ab Mitternacht mit einer Frau zusammen ist, oder? Außerdem war ich eigentlich mit ihr verabredet!“ Meine Mutter zögert. „Jonas, das ist nichts, was wir an die große Glocke hängen können. Meinst du nicht, dass es besser wäre …“ „Was soll besser sein? Ihr wollt mir gerade weismachen, dass ich mich in eine Sagengestalt verwandeln soll, und ich soll das einfach hinnehmen? Und was ist mit Laura? Ich soll meine Freundin einfach ignorieren?“ Genervt springe ich von meinem Stuhl auf. „Wenn es euch ernst ist, dann ist Laura dabei. Ansonsten werde ich heute einen schönen Abend mit meiner Freundin verbringen und irgendwann morgen wiederkommen. Und Überraschung: Ich werde dann noch immer Jonas sein. Nur eben auf dem Papier ein Jahr älter!“
Meine Eltern stehen nun ebenfalls auf. „Jonas, wir treiben keinen Scherz mit dir. Morgen um diese Zeit wirst du jemand anderes sein. Jonas wird aufhören zu existieren. Möchtest du Laura aufbürden, dein Geheimnis für dich zu tragen?“, fragt Mama vorsichtig. Ich sehe sie wütend an. „Die Entscheidung habt ihr doch schon getroffen! Oder habt ihr geglaubt, wegen eurem Märchen würde ich mich von ihr trennen?“ Ich fege den leeren Pizzakarton vom Tisch und gehe wieder nach drinnen. „Ihr könnt es euch überlegen. Mit Laura, oder gar nicht!“, rufe ich ihnen noch über die Schulter zu, während ich die Treppe nach oben laufe und, die Tür laut zuknallend, in meinem Zimmer verschwinde.
Der PC läuft noch. Aber im Discord ist niemand mehr online. Um kurz nach drei Uhr hatte ich mich verabschiedet, Klaas und ein Bekannter aus Süddeutschland, den ich nur als Hexxagon853 kenne, haben scheinbar noch eine Stunde durchgehalten. Ich schaue auf die Uhr. Es ist gerade mal 13 Uhr. Mit etwas Glück könnte ich sie bei ihrem Spaziergang in den Dünen treffen. Oder am Strand.
Eilig greife ich nach Handy und Portemonnaie und stürme wieder nach unten. Im Flur begegne ich meiner Mutter. „Schatz, wir sollten …“, setzt sie an. Ich ignoriere sie und verlasse das Haus. Sollen sie sich ihre Märchen gegenseitig erzählen.
Durch ein paar kaum belebte Seitenstraßen und schmale Fußwege gelange ich schließlich zu den Dünen und dem danach beginnenden Strand. Erst hier gestatte ich es mir, ein wenig langsamer zu gehen und tief durchzuatmen. Vom Wasser höre ich grölende und lachende Kinder und die lauten Rufe einiger Jugendlicher, untermalt vom regelmäßigen dumpfen Geräusch eines geschlagenen Volleyballs. Vielleicht erste Touristen. Ich folge den Geräuschen, vorbei an einigen älteren Spaziergängern, bis ich am Rand eines Beachvolleyballplatzes stehe. Es sind tatsächlich Touristen. Zumindest kommt mir keines der Gesichter bekannt vor und andere aus Blankenhagen besuchen eher die Spielfelder abseits der Wanderrouten, wo sie ungestört von Fremden unter sich sein können.
Mein Handy vibriert. Auf dem Display erscheint der Name meiner Freundin. „Hallo Schatz“, melde ich mich. Eigentlich ist mir nicht nach Lächeln zumute, aber jetzt muss ich breit grinsen. „Hallo Jonas. Bist du noch zu Hause?“ Wie fast immer scheint sie auch jetzt gut gelaunt irgendwo unterwegs zu sein. Der Wind rauscht durch die Verbindung und droht ihre Stimme zu übertönen. „Nein, ich bin ein wenig raus. Stress mit der Familie. Und wo treibst du dich gerade `rum?“
Fast kann ich ihre Sorgenfalten auf der Stirn sehen, als sie mit ernsterer Stimme antwortet. „Joggen. Aber was ist denn passiert? Wurdest du zu früh geweckt oder konnte sich deine Mutter nicht beherrschen und hat eine Überraschungsparty geschmissen?“ Ich lache freudlos und lasse den Blick ein wenig schweifen. „Ach nix. Oder … na ja, ich kann es dir nachher erzählen. Treffen wir uns am Strand?“ „Ich bin auf der Seebrücke. Wie wäre es mit einem Eis bei Luigi’s?“ „Mir ist nicht so nach Eis. Oder zu vielen Menschen. Können wir uns nicht einfach etwas abseits treffen?“ Sie zögert, stimmt dann aber zu.
* * *
Eine halbe Stunde später erreiche ich den verabredeten Treffpunkt, eine kleine Aussichtsplattform am westlichen Ende des Badestrandes. Was es ausgerechnet hier und von einem nur knapp einen Meter erhöhten Podest aus Besonderes zu sehen geben soll, erschließt sich kaum einem. Zum Meer hin ist die Aussicht auch vom normalen Boden aus nicht anders und in der anderen Richtung liegt der kleine Wald, der Blankenhagen vom Priwall trennt. Das Spannendste ist vielleicht noch der Grenzstein, der die ehemalige innerdeutsche Grenze markiert.
Laura sitzt, den Blick aufs Meer, auf der Holzbank. Die Arme sind lässig über die Rückenlehne gelegt, die Füße weit von sich gestreckt. Ihr blondes Haar weht ein wenig im Wind und tanzt auf ihren Schultern. In dem Moment kann ich nicht widerstehen. Auf Zehenspitzen schleiche ich mich an und lege ihr meine Hände auf die schmalen Schultern. „Ich hoffe, ich habe dich nicht zu lange warten lassen?“, frage ich lachend, als sie unter meiner Berührung zusammenzuckt und sich zu mir umdreht. Der kurze Schreck weicht einem erfreuten Grinsen. „Hey Jonas. Nein, nur gerade lange genug, um mich vom Joggen ein wenig zu erholen.“
Ich mustere sie. Sie trägt ein rotes, weit geschnittenes, Shirt und eine schwarze, eng anliegende Laufhose, die ihr nur knapp über die Knie reicht. „Wie schaffst du es, an einem Samstag so früh wach zu sein? Sollte man an freien Tagen nicht ausschlafen?“ Ich strecke mich, als wäre ich gerade erst aus dem Bett gestiegen, und setze mich neben sie. Erheitert schaut sie mich an und lächelt breiter. Mustert mich aus ihren blauen Augen, die immer ein wenig funkeln. „So siehst du auch aus. Bist du nach dem Aufstehen direkt losmarschiert?“ Mein Blick fällt auf ihre Sommersprossen und das kleine Muttermal auf ihrem Nasenflügel, das jedes Mal, wenn sie lacht, ein wenig zu tanzen scheint. Auch jetzt tanzen sie, als wollten sie mich aufheitern und die schlechte Stimmung vertreiben, die ich bis hierher mitgeschleppt habe. Und es gelingt.
Etwas besser gelaunt setze ich mich zu ihr und erzähle ihr die Geschichte, die mir meine Eltern aufgetischt haben. „Ich dachte erst, es folgt wieder ein Vortrag wie in den Jahren, als ich sitzen geblieben bin. Als ob ich mir das ein drittes Mal antun würde“, beschwere ich mich. „Oder als wir beide frisch zusammen waren. Verantwortung und so. Stattdessen reden sie von einem Familiengeheimnis. Dass meine Schwester eine Nymphe ist und ich heute Nacht auch eine werde.“
„Eine Nymphe?“, fragt Laura zweifelnd und mustert mich. „So ein Naturgeist aus der Mythologie?“ Belustigt schaut sie mich an und streicht sich eine rote Strähne aus dem Gesicht. „So richtig? Weiblich, hübsch und sexbesessen?“ Sie stößt mich leicht an und küsst mich breit grinsend auf die Wange. Da sie ein Kopf kleiner ist als ich, muss sie sich dafür leicht strecken. „Keine Ahnung, was die sich noch ausdenken. Aber mal sehen, vielleicht planen die auch nur irgendeine verrückte Geburtstagsüberraschung. Ich hoffe nur, dass es keine Party ist“, antworte ich. „Das Verrückte ist, eigentlich wollen sie dich gar nicht dabeihaben. Ginge es nach ihnen, verwandle ich mich und bin für dich eine vollkommen Fremde.“ Statt direkt zu antworten, sieht sie mich neugierig an. Fast, als suche sie in meinem Gesicht nach ersten Anzeichen einer Veränderung. Schließlich sagt sie: „Du als Mädchen, das kann ich mir nicht vorstellen. Aber vielleicht sollten wir wirklich einfach zu zweit auftauchen.“
Ich schließe sie dankbar in meine Arme. „Trotzdem sollten wir vorher wie geplant ins Kino gehen und uns den Tag nicht versauen lassen. Und danach hören wir uns ihr heiliges Geheimnis an …“ Den letzten Teil spreche ich möglichst theatralisch aus, um zu unterstreichen, für wie albern ich die Geschichte meiner Eltern halte. „Deal. Ich will doch nicht verpassen, wenn mein Liebster zum Mädchen wird“, sagt sie, küsst mich erneut und wir beide müssen lachen.
Den Rest des Tages ignorieren wir, bis auf eine kurze Nachricht an meine Mutter, das Thema und nutzen das Sommerwetter für einen ausgedehnten Spaziergang entlang der Küste. Laura erzählt mir von ihrem gestrigen Besuch auf dem Reiterhof ihrer Cousine, wo sie hin und wieder ein paar Reitstunden nimmt. Nichts Festes mit regelmäßigen Terminen, aber ein willkommener Ausgleich zum Stress in der Schule und ihrem Ziel, ein Einser-Abitur zu schaffen. Beim Gedanken daran schüttelt es mich. Nicht nur wegen einer ausgeprägten Pferdehaarallergie, die mich in der Nähe von den großen Vierbeinern unaufhörlich niesen lässt, sondern auch wegen der Geruchskulisse, die sich bereits in meiner Vorstellung an jede Art von Ställen aufbaut und mich eher abstößt. Trotzdem höre ich ihr gerne zu, wenn sie über diese Art von Ausflügen berichtet und dabei strahlt, als berichte sie von einer Reise ins Paradies. Irgendwann will sie auch ein Pferd haben.
Gemeinsam schlendern wir über die Promenade, die sich langsam mit Menschen auf ihrem Rückweg von den morgendlichen Einkäufen oder einem Spaziergang nach dem späten Frühstück füllt. Die jungen Familien, die die meiste Zeit des Sommers ihre Urlaube hier verbringen, werden ab Mitte August nach und nach von Senioren abgelöst. In der Zeit nimmt das Geschäft mit den Touristen abermals richtig Fahrt auf, ehe mit dem Herbst das Leben die Küste verlässt und sich in warme Wohnzimmer zurückzieht. „Hat dein Trainer nun eigentlich etwas gesagt, wie es bei dir weitergeht?“, wechselt Laura plötzlich das Thema. „Wenn ich bis zum Frühjahr meine Leistung noch etwas steigere und auch in bundesweiten Wettkämpfen nächstes Jahr vorn liege, sieht er Chancen für die Olympischen Spiele“, antworte ich, glücklich, auf die zweitliebste Sache in meinem Leben angesprochen zu werden. „Aber dann müsste ich umziehen oder hätte weniger Zeit hier. Die dichtesten Olympiastützpunkte sind in Hamburg oder Kiel.“
Natürlich wäre ich nicht ganzjährig dort. Trotzdem muss ich mich zunächst mehr auf die Schule konzentrieren. Das war eine Bedingung, die Laura mir nach der zweiten Ehrenrunde gestellt hat, wenn wir weiter ein Paar sein wollen. Insgeheim bin ich ihr dafür dankbar, offiziell bin ich immer noch ein wenig nachtragend.
Ich erzähle noch ein wenig aus dem Schwimmverein. Meinem zunehmend größeren Vorsprung vor Klaas, meinem besten Kumpel und größten Konkurrenten, den Fortschritten, die das Team in letzter Zeit macht. Und dem Zusammenhalt, seit der ehemalige Mannschaftskapitän, Moritz, vor zwei Jahren in die Herrenliga aufgestiegen und somit aus unserem Team ausgestiegen ist. Nun halte ich diesen Staffelstab in der Hand und bemühe mich, aus feindseligem Ellenbogenstoßen eine gesunde Konkurrenz zu entwickeln. Ein Teamgefühl aufzubauen, für das der Trainer zu alt ist. Es muss jemand aus der Mannschaft heraus braucht.
Auf diese Weise verbringen wir den Nachmittag, bis wir nach einem Abendessen in einem der vielen Fischrestaurants stadteinwärts zum Filmpalast spazieren. Während des Kinofilms, Laura wollte unbedingt in die Sondervorstellung von „Die Entdeckung der Unendlichkeit“, bin ich mit meinen Gedanken wieder bei der Geschichte meiner Eltern und bekomme von der Handlung kaum etwas mit. Beide sind nicht der Typ für solche Späße, aber vielleicht hatte auch meine Schwester Nadine die beiden überredet? Oder doch Laura? Beiden könnte ich das eher zutrauen, auch wenn meine Schwester und ich uns die meiste Zeit aus dem Weg gehen.
Auf dem Weg zu mir machen wir noch einen Umweg durch die Dünen. Um diese Zeit ist kaum noch jemand unterwegs und wir genießen die Sicht über das still daliegende Meer, in dessen Oberfläche sich der Vollmond spiegelt. Ich bleibe stehen und atme tief die salzige Luft ein. Spüre, wie mein Herzschlag sich verlangsamt und eine innere Ruhe von mir Besitz ergreift. Meine Freundin drückt sich fester an mich. Schweigend genießen wir, die Arme um den Körper des anderen gelegt, den Augenblick. „Ist alles in Ordnung?“, fragt Laura flüsternd, den Kopf an meine Schulter gelegt. Ich nicke stumm. Dann sage ich: „Irgendwie beruhigen mich das Meer und der Mond. Ich kann es dir nicht beschreiben, aber es fühlt sich wie eine Umarmung an. Fast so, wie du mich jetzt umarmst. Aber auch anders.“ Ich rudere hilflos mit den Armen, unfähig, die richtigen Worte zu finden. „Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.“ Hoffentlich. An den Märchen meiner Eltern kann doch nichts dran sein, oder?
„Erinnerst du dich noch an unser erstes Mal?“, frage ich sie, den Blick verträumt auf jene Stelle in der Nähe gerichtet. „Wir waren auch in den Dünen. Irgendwo dort. Du hattest ein helles Kleid an und dich in den noch warmen Sand gesetzt. Ich habe mich neben dich gelegt, den Kopf auf deinem Schoß und du hast mir den Kopf gekrault“ Sie kichert. „Wir hatten beide etwas getrunken und du hast mir dreimal erzählt, wie hübsch du mein Kleid fandest!“
Ich muss lächeln, als die Erinnerung wie ein Film vor meinem inneren Auge abläuft. „So betrunken war ich gar nicht, ich wollte nur mit dir allein sein.“ Sie kichert wieder und sagt: „Lange waren wir nicht allein. Ich glaube, deine Schwester hat sich ganz schön erschrocken, als sie uns erwischt hat. Die Arme.“ „Erschrocken? Sie hat das brühwarm unseren Eltern erzählt und ich durfte mir einen Vortrag über Verhütung anhören“, antworte ich und schaue zu ihr rüber. „Ich glaube, sie war nur neidisch, weil ihr Freund sie ein paar Tage zuvor verlassen hat.“ Laura richtet sich wieder auf und schaut mich irritiert an. „Sie hatte einen Freund?“ Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht auch nur eine Schwärmerei. Ich war gerade Spazieren, unten am Strand und habe die beiden in einem der Strandkörbe erwischt“, sage ich und muss bei der Erinnerung an den Moment breiter grinsen.
„Die beiden hatten mich zuerst gesehen und sich in den Schatten des Korbes zurückgezogen. Zu ihrem Pech zog in dem Moment, als ich rüber sah, eine Wolke weiter und der Vollmond spendete genug Licht“, erzähle ich meiner Freundin. „Ich habe sie nie wieder so erschrocken gesehen. Ihrem Freund war das wohl zu viel. Zumindest habe ich die beiden nie mehr zusammen gesehen und er macht immer einen Bogen um uns, wenn er uns sieht.“
Wir gehen langsam weiter über den schmalen Dünenpfad, bis wir diesen und den Strand hinter uns lassen. Der auflandige Wind trägt noch eine ganze Weile die salzige Luft zu uns. Kurz nach elf kommen wir bei mir zu Hause an. Nadine und meine Eltern erwarten uns im Wohnzimmer. Meine Eltern sitzen auf der Zweier-Couch, meine Schwester sitzt, die Beine über eine Armlehne gelegt, auf einem der beiden Sessel. Als wir das Wohnzimmer betreten, unterbrechen sie ihr Gespräch und wenden sich uns zu. Einen Moment glaube ich, dass Laura und ich Teil eines Witzes sind, in den die drei uns nicht eingeweiht haben. „Hallo ihr beiden“, sagt meine Mutter freundlich. „Jonas, hast du dir das wirklich überlegt? Das hier ist kein Spaß!“ Ich sehe zu meiner Freundin, dann zu meiner Mutter. „Mit ihr oder ohne uns beide. Eure Entscheidung“, erwidere ich kühl und führe Laura zu der freien Dreier-Couch meinen Eltern gegenüber.
In dem Moment steht mein Vater auf. „Jonas, Nadine und deine Mutter wollten dir das alles in Ruhe erklären. Ohne Zuhörer“, sagt er, geht zur Tür und wirft Laura und mir einen letzten Blick zu. „Wenn du reden willst, bin ich immer für dich da. Aber morgen.“ Dann verlässt er das Wohnzimmer und schließt die Tür hinter sich. Laura sieht mich fragend an, halb wieder erhoben. Ich ergreife ihr Handgelenk. „Bitte, bleib“, sage ich leise. Sie schaut zu meiner Mutter und setzt sich wieder.
Die Stille wird nur von den Atemgeräuschen und dem in meinen Ohren dröhnenden Klopfen meines Herzens gestört. Es scheint eine Ewigkeit zu vergehen, bis Nadine aufsteht. Soweit es ein Bruder beurteilen kann, ist meine 15-jährige Schwester eine hellblonde Schönheit, deren Haar ihr offen getragen bis zu den Hüften reicht. Seit wir in der gleichen Klasse sind, ist mir immer aufgefallen, dass sie wie eine Bienenkönigin stets von Jungs umschwärmt wird. Aber bis auf das eine Mal scheint sie an keinem von ihnen interessiert gewesen zu sein. Sie schaut erst mich, dann Laura an und atmet tief durch. „Jonas, du verlangst von uns, vor deiner Freundin über etwas sehr Privates zu sprechen“, sagt sie ernst. Ich unterbreche sie: „Ich verlange nicht mehr, als dass meine Freundin bei diesem Schwachsinn dabei ist. Wenn ihr schon behaupten müsst, dass ich mich plötzlich in ein Mädchen verwandle, hat sie jedes Recht, dabei zu sein. Und falls wirklich an eurer Geschichte etwas dran ist … auch egal. Also, fangt an.“ Nadine und meine Mutter sehen sich an. Offensichtlich sind die beiden unsicher, wie sie sich verhalten sollen. Neben mir lehnt sich Laura enger an mich. „Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was ich davon halten soll“, sagt sie und schaut in die Runde. „Aber meinetwegen. Wenn es euch so wichtig ist, kann ich euch auch einen Schwur leisten. Sowas wird es doch sicher auch in eurer Welt geben.“ Ihr Tonfall verrät, dass sie die Geschichte über eine Verwandlung nicht glaubt.
Nadines Blick wird freundlicher, scheint Laura aber zu durchbohren, als suche sie noch einen verborgenen Hinweis. „Ein Schwur wird nicht nötig sein. Aber wenn du dein Versprechen, das Geheimnis zu wahren, nicht ehrlich meinst, dann solltest du jetzt gehen.“ Sie wartet einen Moment, dann spricht sie einfach weiter, als hätte sie ihre Antwort erhalten: „Nymphen gibt es länger als die Menschheit. Das Wort ist ein Oberbegriff, den die Menschen für Naturgeister nutzen. Allerdings sind wir keine Geister im Sinne, wie das Wort verstanden wird“, erklärt Nadine in sachlichem Tonfall. „Wir unterscheiden uns darin, was unsere Verbindung zur Natur angeht. Dryaden beziehen ihre Kraft aus den Wäldern, Najaden aus Binnengewässern wie Seen, Bächen oder Flüssen. Es gibt noch einige andere Arten. Wir sind Okeaniden, Meeresnymphen.“ Ich versuche, ihr aufmerksam zuzuhören, dennoch erscheint mir der Vortrag zu unwirklich. „Nadine, keine Ahnung, was ihr bezweckt. Aber ihr könnt den Spaß auflösen“, sage ich, ernte aber nur einen bösen Blick von ihr und meiner Mutter. Auch Laura schaut zu mir rüber und sagt. „Hör einfach zu. Vielleicht wird es eine spannende Geschichte, die wir später am Lagerfeuer erzählen können“, sagt sie grinsend und lehnt sich an mich.
„Es ist wichtig, dass du jetzt zuhörst. Es kann über Leben und womöglich auch Tod entscheiden“, fordert meine Mutter mich auf und signalisiert Nadine dann, fortzufahren. Diese nickt. „Als Okeaniden beziehen wir unsere Kraft aus Wasser. Obwohl du deine Wandlung noch nicht durchlaufen hast, bist du schon jetzt damit verbunden. Du kannst länger tauchen als andere, Schwimmen erschöpft dich kaum und solange du nicht zu weit im Landesinneren bist, wirst du auch niemals krank werden. Deine wahre Natur dringt bereits dein ganzes Leben ein wenig durch“, erklärt sie. „Soweit ich weiß, bist du bei Wettkämpfen ungeschlagen. Und obwohl du weniger auf deine Ernährung achtest als andere Sportler und außerhalb des Wassers ein Sportmuffel bist, hat das deiner Kondition nicht geschadet.“ Während sie dies erklärt, versuche ich, mich an meine letzte Krankheit oder richtige Erschöpfung nach dem Schwimmen zu erinnern. Zu meinem Erstaunen muss ich Nadine zustimmen.
„Also gut, deine Beobachtung trifft zu. Ich war nie krank und im Schwimmen bin ich einsame Spitze in unserer Stadt, sogar Landesmeister U18. Aber was ist mit dir? Im Winter bist du nie im Schwimmbad und im Sommer sehe ich dich nur selten am Strand. Müsstest du nicht mehr Zeit im oder am Wasser verbringen?“, frage ich sie, was sie wiederum mit einem Nicken quittiert. „Da ich bereits ein Mädchen bin, kann ich längst auf meine vollständigen Gaben als Okeanide zugreifen. Ich schwimme im Meer, aber nur, wenn mich keiner sieht. Ansonsten würde jedes Mal die DLRG ausfahren und nach mir suchen, weil ich so lange tauche. Und mir macht die Kälte nichts aus, daher schwimme ich das ganze Jahr über im Meer“, antwortet sie und lächelt. „Die Winterkleidung ist nur Tarnung. Es würde nur auffallen, wenn ich bei Minusgraden kurzärmlig unterwegs bin. Aber zurück zum Thema. Neben unserer Fähigkeit, im Wasser klarzukommen, hat unser Wesen noch mehr Vorzüge. Im Wasser heilen unsere Verletzungen. Im Salzwasser sogar so schnell, dass nur eine tödliche Verletzung gefährlich ist. Also halte dich von Schiffsschrauben fern. Prellungen, Brüche, Schnitte, sowas heilt im Salzwasser sofort und im Süßwasser zumindest äußerst schnell. Wir können auch andere heilen und Schmerzen lindern.“
Ich kann ihr weiterhin nicht wirklich glauben, nur die ernsten Gesichter meiner Mutter und meiner Schwester lassen mich an meiner Überzeugung zweifeln. „Wenn wir drei Nymphen sind, wieso heilen Mamas Wunden nicht?“, frage ich und deute auf ein Pflaster an ihrem Finger.
Meiner Schwester zunickend, zieht meine Mutter das Pflaster von ihrem Finger und enthüllt eine frische, tiefe Schnittwunde. Im selben Moment greift meine Schwester zu der Wasserflasche auf dem Tisch. „Passt jetzt gut auf!“. Mit diesen Worten öffnet Nadine die Flasche und legt ihre freie Hand darauf. Als sie die Hand wieder hebt, folgt das Wasser der Bewegung. Wie ein lebendiges Wesen streckt sich das Wasser aus der Flasche und folgt Nadines Geste. Diese legt ihre Hand auf den Schnitt und wartet, bis das Wasser den Finger vollkommen umschlossen hat. Dann führt sie das Wasser zurück in die Flasche. Wo eben noch die Haut leicht geöffnet das darunterliegende Fleisch zeigte, ist nun alles verheilt und die Haut unbeschadet. Meine Mutter hält Laura und mir die Hand hin. „Die meisten Schnitte heilt Nadine, bevor du es bemerkst“, sagt sie und lächelt.
Meine Freundin und ich tauschen erstaunte Blicke. Ich nehme Mamas Hand in meine, suche nach Anzeichen der Verletzung oder einem Trick. Laura folgt meinen Blicken, tastet vorsichtig die Stelle ab, an der eben noch die Verletzung zu erkennen war. Dann schauen wir wieder zu Mama und Nadine.
„Ihr sagt also, ich werde zur Frau werden, im Wasser leben können wie ein Fisch und magische Kräfte haben?“, fasse ich das Gehörte überspitzt zusammen. Nadine schaut mich an und nickt. „Das ist so strange!“, wirft jetzt meine Freundin ein. Ihr Blick wechselt zwischen der Hand meiner Mutter, Nadine und mir. Ich nicke. „Wie viele Nymphen gibt es eurer Meinung nach?“, frage ich.
Meine Mutter lächelt und antwortet: „Wir können dir keine Zahl nennen. Nymphen können Jahrhunderte leben. Oder länger. Und solange wir uns zu Vollmond mit jemandem, am besten einem Mann, verbinden, bleiben wir ewig jung und schön. Unsere Pheromone beeinflussen die Menschen um uns herum stärker als die Wirkstoffe, die die Menschen aussondern. Auf Männer und bei Vollmond wirken sie nochmal stärker. Als ich deinen Vater kennengelernt habe, war ich bereits 400 Jahre alt, hatte unzählige Gefährten oder Männer für eine Nacht. Aber Thomas war etwas Besonders und ich entschied mich für ein sterbliches Leben.“ Sie wischt sich eine Träne weg und schaut uns drei abwechselnd an. „Nur so war es möglich, Kinder zu bekommen. Dass Nymphen sich dazu entscheiden, ist außergewöhnlich. Wer tauscht schon ewige Schönheit und Jugend gegen das Altern?“, fährt sie schließlich fort. „Niemand weiß, wo Nymphen herkommen, aber entscheidet sich eine von uns für ein sterbliches Leben, werden ihre Nachkommen trotzdem Nymphen. Mädchen spüren dies ihr Leben lang und nehmen ihre wahre Gestalt während der Pubertät an, Jungs brauchen länger.“
„Moment, jetzt wollt ihr mir auch noch erklären, abgesehen davon, dass ich euch das immer noch nicht glaube, dass ich Laura betrügen und durch die Welt vögeln soll?“, platzt es aus mir heraus und sehe meine Freundin an. Sie fühlt sich sichtlich unwohl und klammert sich an mich. „Außerdem muss doch irgendwem aufgefallen sein, wenn Frauen so lange leben. Gerade heutzutage, wo es überall Kameras gibt!“ Meine Mutter schüttelt den Kopf: „Die Menschen sehen nur das, was wir ihnen von uns zeigen. Aber wir erkennen einander. Hier im Ort sind wir die Einzigen, ich weiß noch von einer weiteren Familie Najaden weiter im Norden und in verschiedenen Kurorten. Dryaden bevorzugen das Landesinnere und dichte Wälder. Vor deiner Geburt waren Thomas und ich im Schwarzwald und sind auf eine große Gruppe von ihnen gestoßen. Dort habe ich ihn in mein Geheimnis eingeweiht und das sterbliche Leben gewählt. Er hat bemerkt, dass es mir schlechter ging. Ich war das erste Mal länger abseits der Küste, die Jahrhunderte zuvor habe ich nie mehr als ein oder zwei Tage im Landesinneren verbracht. Nach einer Woche wurde ich schwächer und hatte die erste Grippe meines Lebens.“
Nach den vielen Informationen schweigen wir. Bis Mitternacht sind es noch rund 15 Minuten und langsam stellt sich bei mir eine richtige Nervosität ein. Laura nimmt meine zitternden Hände in ihre und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Dann wendet sie sich an Nadine. „Mal angenommen, dass alles stimmt. Was bedeutet das für uns?“, fragt sie verunsichert. Sie meint unsere Beziehung und ich will ihr versichern, dass ich sie immer lieben werde. Aber Nadine ist schneller. „Das liegt an euch und was ihr daraus macht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Jonas dich weiter lieben wird. Aber wie steht es um dich, kannst du mit einer Frau zusammen sein?“, antwortet sie grinsend. „Nymphen sind zudem kontaktbedürftiger als Menschen und bei Vollmond kann das für Unwissende fast lästig werden. Rechne also damit, dass Jonas noch mehr Zeit mit dir verbringen möchte und direkten Hautkontakt sucht.“ Nadine grinst breit, meine Mutter lächelt und lehnt sich zurück. Laura rutscht ein wenig auf ihrem Platz hin und her. „Also wird Jonas noch immer Jonas sein? Nur in einem anderen Körper?“, fragt sie und mustert mich. Eine leise Angst beschleicht mich. Zweifelt sie? Was, wenn das alles wirklich wahr ist? Wenn ich wirklich morgen als Frau aufwache?
Ich umfasse Lauras Taille. Aus einem Impuls heraus atme ich den Duft ihres Parfüms ein, unter den sich eine leicht süßsaure Note zu schleichen scheint. „Schnupperst du gerade?“, fragt Laura überrascht und löst damit ein amüsiertes Kichern bei Nadine und meiner Mutter aus. „Ich glaube, seine Veränderung beginnt langsam. Dann sollte ich euch noch etwas zeigen, bevor ich mich mit meinem Gefährten für heute Nacht treffe“, sagt meine Schwester und bindet ihre Haare zu einem Zopf.
„Achtet auf meine Ohren und meine Augen.“ Wir beobachten sie gespannt, wie sie kurz die Augen schließt und wieder öffnet. Ihre vormals blauen Augen haben einen satteren, unnatürlichen Blauton angenommen und scheinen ein wenig zu leuchten. Gleichzeitig ziehen sich ihre Ohren leicht in die Länge und bilden frech aufgerichtete Spitzen aus. Laura und ich schauen sie erschrocken an, während meine Mutter gelassen bleibt. „Das ist nur ein Teil meiner wahren Gestalt. Nach deiner Veränderung wirst du es immer sehen, aber vor Sterblichen wie Laura können wir es mühelos verbergen“, erklärt Nadine und nimmt wieder ihre für mich gewohnte Gestalt an. „Jetzt muss ich aber los, ich musste mich schon lange genug beherrschen!“
Im nächsten Moment scheinen mehrere Dinge zugleich mit ihr zu passieren. Zum einen fällt eine bisher unbemerkte Anspannung von ihr ab und sie wirkt fröhlicher und lockerer, zugleich scheint sie binnen Lidschlägen zu reifen und strahlt ein inneres Leuchten aus. „Viel Spaß euch beiden, wir sehen uns morgen!“, verkündet Nadine mit melodischer Stimme und verschwindet durch die Terrassentür ins Freie. Mein Blick folgt ihr kurz, dann schaue ich zu meiner Mutter und Laura. „Und jetzt?“
* * *
Ich muss ohnmächtig geworden sein, denn als ich wieder zu mir komme, liege ich auf dem Sofa, den Kopf auf Lauras Oberschenkel gebettet. Meine Mutter sitzt noch immer auf dem Sofa gegenüber, daher vermute ich, dass noch nicht viel Zeit vergangen ist. Dennoch wirkt der ganze Raum und alles um mich herum anders. Alles wirkt heller, detailreicher und die Farben kräftiger. Mühelos erkenne ich selbst kleinste Poren auf Lauras Haut und meine Spiegelung in ihren Augen. Das Rauschen ihres Blutes in ihren Adern und ihr Herzschlag, schnell, aber gleichmäßig dringen an meine Ohren und meine Nase kribbelt unter den einstürmenden Aromen ihres Parfüms, des Shampoos und dem nun stärker durchkommenden Geruch ihres Körpers. Unter den aufmerksamen Blicken der beiden richte ich mich auf. Die Kleidung, sonst nur eine beiläufige Berührung auf der Haut, scheint stärker zu kratzen und schwerer auf mir zu liegen.
„Wie lange war ich bewusstlos?“, frage ich, immer noch irritiert von den vielen Sinneseindrücken. „Nur ein paar Minuten.“ Ich nicke. „Ich dachte, ich würde mich verwandeln, aber ich bin noch ich selbst.“ Das war keine Frage, dennoch antwortet meine Mutter. „Du musst dich jetzt ins Mondlicht stellen. Aber lass dich von uns stützen.“ Ich nicke und lasse mich auf wackeligen Beinen von den beiden nach draußen führen. Die hohe Hecke bietet ausreichend Sichtschutz, sollte doch jemand zufällig vorbeikommen. Der Mond ist noch hinter einer Wolke verborgen, doch auch das reicht aus und mein ganzer Körper beginnt zu kribbeln. Ich schließe die Augen, atme die kühle Luft und die unzähligen neuen Aromen ein, während das Kribbeln stärker wird und mich wohlige Wärme umschließt. Ich versuche, die Augen zu öffnen, doch mein Körper scheint sich meinen Befehlen sanft zu entziehen. Wie aus weiter Ferne höre ich undeutlich Lauras Stimme, erahne ich mehr ihre Berührung, als dass ich sie wirklich spüre.
Im nächsten Moment schwebe ich über dem Meer. Um mich herum ist es Nacht. Das Rauschen der Wellen beruhigt mich und hält mich in tiefer Entspannung, während das seltsam bläulich schimmernde Licht des Vollmonds mir Freude, Glück und Wohlempfinden spendet. Tage und Wochen fliegen dahin, werden zu Monaten und Jahren. Unter mir kommt die Küste in Sicht, unbebaut und so, wie sie vielleicht vor Jahrhunderten mal ausgesehen hat. In rasendem Tempo werden Gebäude errichtet, wieder abgerissen, wieder aufgebaut, erweitert. Nach und nach wächst Blankenhagen vor meinen Augen, während tausende Menschen wie Ameisen durch die Straßen und Gassen wuseln. Wie im Zeitraffer sind die Jahre vergangen, jetzt beruhigt sich das Bild und ich erkenne die Promenade unserer Stadt, unser Haus, dann uns drei. Nein, ich sehe Laura und meine Mutter. Lauras Augen sind vor Erstaunen und Schreck geweitet, während meine Mutter beruhigend auf sie einredet. Zwischen Ihnen steht eine Frau.
Die Augen der Frau sind groß, weit geöffnet und so strahlend blau wie jene, die uns Nadine zuvor gezeigt hat. Langes silbernes Haar fällt glatt auf die Schultern bis zur Hüfte, daraus hervor zeigen zwei längliche, spitze Ohren auf. Die makellos weiße Haut schimmert im Mondschein, zwischen den schlaffen Fingern kann ich transparente Schwimmhäute erkennen. Mir bleibt keine Zeit nachzudenken, ich schwebe weiter auf die drei, auf diese fremde Frau, zu.
Dann atme ich tief ein, festen Boden unter den Füßen spürend und von meiner Mutter und Laura gestützt, die mich nun auf einen der Terrassenstühle setzen. „Willkommen zurück, meine Tochter“ Meine Mutter klingt glücklich, während sie mir über das Haar streicht. Ich schaue zu den beiden, die trotz des dämmrigen Lichtes mir hell erleuchtet erscheinen. „Jonas?“, fragt Laura und beobachtet mich neugierig.
Ich blicke an mir herab. Mein Shirt und die Jeans sitzen deutlich lockerer. An meiner Brust spüre ich ein ungewohntes Gewicht. Meine Hände und Finger sind deutlich schlanker und feingliedriger. In den Schwimmhäuten pulsieren feine Äderchen. „Ich glaube ja“, flüstere ich und schaue zu Laura, die neben dem Stuhl hockt. Meine Stimme klingt seltsam hoch und melodisch in meinen Ohren. Beinahe, als würde ich singen. „Es ist nur, so anders.“ Wir beide mustern uns, studieren das Gesicht des anderen. Ich hebe meine Hand, möchte über ihre Wange streichen. Sie erstarrt, ich spüre ihre Unsicherheit zwischen der Liebe und dem Wunsch, mir nahe zu sein, aber auch Furcht vor dem Fremden und Übernatürlichen. „Als würde ich dich das erste Mal sehen“, flüstere ich. Langsam lehne ich mich vor, berauscht von ihrem Duft und küsse ihre warmen weichen Lippen. Sie zieht scharf die Luft ein und weicht zurück. Woher weiß ich, dass sie zwischen Liebe, Verwirrung und Angst schwankt? Dass sie dabei ist, sich für mich oder gegen mich zu entscheiden.
Hilfesuchend wende ich meinen Blick ich zu meiner Mutter. „Jonas, gib euch beiden Zeit“, sagt sie und setzt sich auf einen anderen Gartenstuhl. Ich schaue wieder zu Laura, die zögerlich eine Hand hebt. Kurz vor meinem Gesicht hält sie inne. Ich lege meine Hand um ihre, erstaunt, wie viel größer sie mir nun vorkommt, und führe sie an meine Wange. „Jonas, wie geht es dir?“ Ich genieße die warme Berührung ihrer Haut. Ihr Duft steigt mir in die Nase, lässt mich tiefer atmen, weckt etwas … Animalisches in mir. Ich schaue ihr in die Augen. „Gut. Glaube ich“, antworte ich ihr, lege vorsichtig eine Hand an ihre Wange. Sie erschaudert unter der sanften Berührung. „Was ist mit dir?“
Laura schließt ihre Augen. Immer mehr gewinne ich den Eindruck, zu wissen, was in ihr vorgeht. Am meisten spüre ich ein dunkles Knäuel, das sie zu entwirren bemüht zu sein scheint. Langsam löst sich der Knoten und sie sieht mich wieder an. „Es ist komisch. Ich habe gesehen, wie sich dein Körper verändert. Wie du dich verändert hast“, sagt sie und sieht mir tief in die Augen. „Irgendwas in mir erkennt dich noch immer. Und etwas anderes … nicht.“ Ich sehe die Spiegelung meines Gesichts in ihren Augen. Ein fremdes Gesicht. Die großen Augen zeigen die Sorge, die ich empfinde. „Laura, ich bin noch immer ich. Noch immer der Jonas“, flüstere ich. „Und ich liebe dich.“ Sie nickt mir zu, lacht unsicher. „Wäre ich heute nicht dabei gewesen, ich würde es nicht glauben. Ich würde glauben, Jonas sei einfach abgehauen. Du siehst so anders aus.“ Sie lehnt sich langsam vor, atmet kurz durch die Nase ein. Ich spüre die in ihr aufsteigende Wärme. Wirken so meine Pheromone auf sie? Kann sie gerade nicht anders? Ich möchte sie aufhalten, keinen Kuss, den sie nicht freiwillig geben würde. Stattdessen lehne ich mich ihr wie ferngesteuert entgegen, bis sich unsere Lippen berühren. Dann legt sie einen Arm um mich. Für uns beide gibt es kein Zurück mehr.
* * *
Der nächste Morgen kommt viel zu früh. Laura und ich liegen nackt in enger Umarmung im taufeuchten Gras des Gartens. Ich löse mich vorsichtig aus ihrer Umarmung und setze mich, immer noch schlaftrunken, auf. Mir wird bewusst, dass nach unserer Umarmung mir alle Erinnerungen an die Nacht fehlen.
Mein ganzer Körper fühlt sich anders an. Jeder Lufthauch, der über meine ungeschützte Haut streicht, erzeugt einen wohligen Schauer. Ich fühle mich leichter und die schlanken Arme und Beine bilden einen starken Kontrast zu dem, was ich bisher gewohnt war. Am meisten fällt mir aber das noch ungewohnte Gewicht auf, meine Brüste, die mich leicht nach vorn zu ziehen scheinen. Verwundert schaue ich an mir herab, wiege sie in meinen Händen, streiche sanft über sensible Haut. Schon die leichte Berührung lässt eine bisher ungekannte Glut in mir erwachen, die Sehnsucht, von jemand anderem berührt zu werden.
Ich reiße mich von der Faszination los, die diese neuen Formen in mir wecken und betrachte meine Hände, die feingliedrigen Finger, die wie Elfenbein in der Morgensonne glänzen. Ich schließe und öffne die Hände, beobachte das geschmeidige Spiel der Muskeln unter der Haut. Vorsichtig stehe ich auf und untersuche meinen neuen Körper. Schon diese einfache Bewegung ist schwungvoller, als wäre alles Gewicht von mir abgefallen. Meine Finger folgen meiner schlanken Taille, den Hüften. Alles fühlt sich weicher an, wirkt zerbrechlich. Erst ein zufälliger Blick durch das Wohnzimmerfenster offenbart mir, dass ich Publikum habe.
Hinter dem Fenster steht meine Schwester, nur in ein durchscheinendes Nachthemd gekleidet und beobachtet mich mit unverhohlener Neugier. Wie sie angekündigt hatte, sehe ich die gut erkennbaren Merkmale der Nymphe. Sie öffnet die nur angelehnte Terrassentür und lächelt mich an. „Seid froh, dass unsere Nachbarn nicht so gute Ohren haben wie wir beide“, sagt sie grinsend und mustert mich lächelnd von oben bis unten. „Du bist schön geworden, Schwesterherz.“ Erneut werde ich mir meiner Nacktheit und ihrer freizügigen Kleidung bewusst, dennoch bleibt das Gefühl von Verlegenheit aus. So, wie ich ihre Freude über meine neue Identität und Aufregung spüre, nimmt sie offensichtlich auch meine Verwirrung wahr. „Schamgefühl kennen Nymphen nicht. Auch keines, das uns vorher beigebracht worden ist. Und du hast sicher schon gemerkt, dass wir Empathen sind. Wir spüren die Gefühle der Menschen – und Nymphen – um uns herum. Auch etwas, woran du dich gewöhnen wirst“, erklärt sie gut gelaunt, erheitert über mein fragendes Gesicht, und betritt die Terrasse. Ihr Blick gleitet über Laura und ich spüre leichte Besorgnis in ihr.
„Was beunruhigt dich?“, frage ich sie und suche nach einem Grund. Ich brauche etwas, um die Ursache zu verstehen. Auf Lauras Rücken, an den Innenseiten ihrer Schenkel und am Hals haben sich blaue Flecken in Form von Händen gebildet. Sie kniet sich neben meine Freundin und winkt mich zu sich. „Hörst du ihren Atem? Ruhig und gleichmäßig. Und lausche ihren Gefühlen. Sie ist glücklich“, erklärt meine Schwester. Immer noch besorgt konzentriere ich mich darauf, ihren Erklärungen zu folgen. Es stimmt. Laura geht es gut. „Wenn sie aufwacht, heile die Blessuren. Nimm einfach das Wasser aus dem Teich, dein Körper wird wissen, was zu tun ist“, fährt Nadine gelassen fort. „Wir sind stärker und schneller als Menschen. In Zukunft solltest du vorsichtiger sein, aber mach dir keine Sorgen. Keine Ahnung, warum, aber Menschen scheinen weniger schmerzempfindlich, wenn wir mit ihnen schlafen.“
Ohne mehr zu sagen, kehrt meine Schwester ins Haus zurück. Ich bleibe, Tränen in den Augen und voller Schuldgefühl bei Laura und streiche ihr leicht über das blonde Haar. Langsam wacht sie auf und schaut mich an. Erst erschrickt sie, bis die Erinnerungen an die Ereignisse der Nacht wiederkehren. „Es tut mir leid, Laura. Ich wollte das nicht!“, sage ich, mit den Tränen kämpfend.
Verwirrt schaut sie sich um, bis sie die blauen Flecken an ihren Beinen sieht. „Was ist passiert?“, fragt sie und schaut mich an. Ich erkläre ihr, was Nadine bereits mir erklärt hat, und strecke instinktiv eine Hand nach unserem Gartenteich aus. Ohne zu wissen, was oder wie ich es tue, lenke ich das Wasser zu uns und sammle es als kleine Kugel in der Hand. Vorsichtig fahre ich damit über die geschundenen Bereiche ihres Körpers, die vor meinen Augen heilen und wieder eine gesunde Farbe annehmen. Staunend folgt mir Lauras Blick, bis ich das Wasser wieder in den Teich schicke und sie ansehe.
„Bitte entschuldige, ich würde dir nie mit Absicht wehtun“, sage ich und schlage beschämt die Augen nieder. Ich spüre, wie ihre Verwirrung Belustigung und Sehnsucht weicht, dann wie ihre weichen Lippen meine berühren. Als wir uns wieder lösen, lächelt sie. „Ich weiß. Ehrlich gesagt habe ich bis eben nichts gespürt. Und nun ist nur ein leichtes Kitzeln geblieben“, flüstert sie mir zu. Dann sehen wir uns in die Augen. Eine neue Gewissheit liegt in den ihren, eine Erkenntnis, derer sie sich langsam bewusst wird: „Und ich werde dich weiter lieben. Ob als Mann oder als Nymphe. Ich liebe dich.“ Ich fühle die Wahrheit in ihren Worten und helfe ihr auf. Zu stürmisch. Sie erscheint mir so leicht, dass sie einen kleinen Hüpfer macht, ehe sie wieder auf festen Füßen steht. Überrascht sehen wir einander an, schauen auf meine zarten Hände, die diese ungeahnte Kraft in sich tragen. „Das war erschreckend“, erkläre ich. „Und irgendwie... cool.“ Ihr Herz rast, erschrocken und zugleich vor Aufregung. „Auf jeden Fall überraschend.“ Verlegen will sie nach ihrer Kleidung greifen, aber ich halte sie fest und präge mir jedes Detail ihres Gesichts ein, das sich mir jetzt mit meinen neuen Augen offenbart.
„Du bist kleiner geworden!“, sagt Laura plötzlich und macht einen Schritt zurück, um mich zu mustern. Bisher hatten wir beide es nicht bemerkt, doch statt auf sie herabzublicken, muss ich jetzt den Kopf leicht heben, um in ihre Augen zu blicken. Erstaunt schaue ich auf unsere Reflexion im Wohnzimmerfenster. Sie ist wirklich zwei oder drei Zentimeter größer als ich. „Komisch, das ist mir bis eben gar nicht aufgefallen. Auch gegenüber Nadine nicht“, sage ich nachdenklich. „Dann ist sie jetzt sogar größer als ich!“
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Meine Schwester ist mit knapp 1,70 m größer als Laura und noch immer im Wachstum, der Unterschied wird also noch weiter zunehmen! „Guck nicht so doof“, sagt Laura lachend und fängt an, sich anzuziehen. „Frag dich lieber, was du anziehen willst, falls du nicht zufällig eine Garderobe mit Frauenkleidung gebunkert hast. Die Sachen deiner Schwester dürften dir zu groß sein.“ Mein Blick muss noch dämlicher aussehen als eben schon, da sie nun in schallendes Gelächter ausbricht.
Als wir uns beruhigen, bleibt sie in einigem Abstand zu mir stehen, nimmt sich die Zeit, mich sorgfältig zu mustern und meinen Körper mit ihren Blicken zu erkunden. Aus einem unerklärlichen Reflex heraus richte ich mich ein wenig gerader auf, strecke meine Brust leicht vor und lege die Hände auf meine Hüften. Es fühlt sich erstaunlich gut an, so betrachtet zu werden. Laura zieht eine Augenbraue hoch. „Dir ist das wirklich nicht unangenehm, oder?“, fragt sie und deutet auf meinen nackten Körper. Sie errötet leicht. Auch ohne meine Empathie weiß ich, dass ihr die Situation peinlich ist. Ich zucke mit den Schultern und antworte: „Nicht wirklich.“ Mehr weiß ich nicht zu sagen.
Gemeinsam sammeln wir meine im ganzen Garten verstreute Kleidung ein. Shorts und Jeans sind mir inzwischen viel zu groß, sodass ich mir nur mein T-Shirt überziehe und es wie ein Kleid trage, als wir durch die Terrassentür nach innen gehen. Das Wohnzimmer ist verlassen, also gehen wir in die Küche durch und treffen dort auf meine Familie. Mein Vater, der mich als einziger bis jetzt nicht in meiner neuen Form gesehen hat, sieht überrascht zu mir auf. Er sieht übernächtigt aus, dicke Augenringe lassen ihn alt und verbraucht wirken. Zu deutlich spüre ich seine Unsicherheit, als er aufsteht mir mit ein paar langen Schritten entgegenkommt. Er war schon immer einen Kopf größer als ich, jetzt fühle ich mich neben ihm ins Kindesalter zurückversetzt und muss den Kopf in den Nacken legen.
„Puh …, dein Aftershave ist aber stark“, platzt es aus mir heraus und ich wedele mit der Hand vor der Nase. Nadine und meine Mutter lachen, Laura und mein Vater schauen mich verdutzt an. Verlegen füge ich hinzu: „Das sind wieder meine neuen Sinne, oder?“ Er lächelt auf mich herab. „Deine Mutter und deine Schwester haben das am Anfang auch gesagt. Und damals habe ich noch mehr benutzt. Aber du gewöhnst dich daran“, sagt er freundlich. Seine großen Hände ruhen auf meinen Schultern, während er mich sorgsam mustert. „Wie geht es dir?“ Ich lasse mich auf einen der Stühle sinken. Die Blicke der anderen sind auf mich gerichtet, wartend auf eine Antwort.
„Keine Ahnung. Anders. Irgendwie gut“, antworte ich und halte mir meine Hand vor Augen. Wie kann sich ein Körperteil neu und fremd, aber auch so vertraut anfühlen? Langsam werde ich mir der Gefühle um mich herum bewusst. Nadine ist einfach glücklich, ungeduldig steht sie im Türrahmen und wartet darauf, mich nach oben zu zerren. Meiner Mutter geht es kaum anders. Auch wenn sie mich wohl nicht durch das Haus zerren wird. Laura ist erschöpft, noch immer verwirrt, aber glücklich, sich langsam ihrer Gefühle bewusst zu werden. Dann sehe ich zu meinem Vater. „Du bedauerst es, keinen Sohn mehr zu haben, oder?“, spreche ich das aus, was ich bei ihm wahrnehme. Er schluckt, zu stolz, offen darüber zu sprechen. „Ich habe zwei wunderschöne, besondere Töchter“, weicht er einer Antwort aus und lächelt mich unsicher an.
„Genug ausgeruht. Jonas, du solltest dir was anziehen“, unterbricht uns meine Schwester und greift nach meiner Hand. Mühelos zieht sie mich hinter sich her nach oben. Laura folgt uns überrascht, verschwindet aber im Badezimmer.
Während unsere Eltern das Frühstück vorbereiten und Laura sich im Bad frisch macht, beginnt Nadine, in den Tiefen ihres Kleiderschrankes nach abgelegter Kleidung zu suchen. Wieder überrascht mich, wie klein ich nun bin, hinzu kommt ihre deutlich größere Kraft, mit der sie mich einfach mitgezogen hat. „Da wir nicht wussten, wie groß du würdest, haben wir alte Kleidung von mir und Mama gesammelt. Keine Sorge, nichts Kindliches“, erklärt sie. Ich erinnere mich beruhigt daran, dass sie schon früh Kleidung getragen hat, die sie reifer erscheinen ließ und nun zu mir passen könnte. „Ein paar grundlegende Dinge solltest du noch wissen, die ich dir aber nicht vor Papa sagen wollte. Ihm wäre das unangenehm“, fährt sie fort, während die Stapel von Unterwäsche, Hosen, Oberteilen und Kleidern auf ihrem Bett langsam wachsen.
„Zuerst das Positive. Erstens: Naturschönheiten, wie wir, kommen ohne Make-up und Ähnliches aus. Das fühlt sich auf der Haut eh falsch an. Zweitens: Laura wird dich beneiden, da Nymphen keine Periode bekommen und du musst dir weder Beine noch Achseln rasieren. Falls du also auf haarige Beine stehst, muss ich dich enttäuschen. Wichtiger ist das Offensichtliche. Du kannst nicht mehr als Jonas zur Schule gehen.“ „Weil ich kein Junge mehr bin“, stelle ich, immer noch verwirrt und ihr nur langsam folgend, fest. Sie grinst. „Das natürlich. Und weil du zunächst lernen musst, deine Gestalt zu verbergen. Ich habe dazu drei Wochen gebraucht. Dir haben wir damals erzählt, dass ich einen Unfall hatte und Mama mit mir nach Lübeck ins Krankenhaus musste. In deinem Fall werden wir behaupten, dass du wegen einer Erkrankung in Süddeutschland bist. Dort wird Jonas Ratenberg leider versterben.“
Fassungslos schaue ich sie an. Hatte sie das alles schon geplant? Zusammen mit unseren Eltern? Kalt berechnend und hinter meinem Rücken? Und obwohl ich kaum Freunde habe, würde ich in Zukunft jene anlügen müssen, die mich bisher kannten und die ich nun womöglich, wieder neu, kennenlernen würde. „Wieso bist du überrascht? Wolltest du etwa morgen zu Klaas gehen und sagen: Hey, ich bin's, Jonas. Zwei Brüste mehr, eine Nudel weniger. Aber noch immer dein bester Kumpel. Daraus wird nichts!“ Natürlich wird daraus nichts, also nicke ich und ziehe mir für den Anfang neben einem Slip eine schlichte Jeans und ein rotes Top an.
„Nein, natürlich renne ich nicht sofort zu meinem besten Freund!“, erwidere ich, als das Top über meinen Kopf rutscht und ich es mit ungeübten Fingern zurechtzupfe. Der Stoff liegt ungewohnt eng, betont jede Rundung. „Aber du platzt mit meinem Tod heraus, als würdest du berichten, dass ich einfach in den Urlaub fahre. Und wer würde mir schon glauben, dass in diesem Körper ein Kerl steckt?“ Ich mache eine vage Geste, die meinen ganzen Leib umfasst. Langsam weicht meine Überraschung Ärger. „Aber du redest darüber, dass ich sterbe, als wäre das nichts Besonderes! Als wäre ich nur ein altes T-Shirt, das du entsorgst!“
Nadine stellt sich neben mich vor den großen Spiegel, ignoriert meinen Einwand. „Deine Brüste sehen besser aus als meine“, sagt sie nachdenklich. „Aber das liegt vielleicht nur an deinem Altersvorsprung. Dafür sind meine Ohrspitzen niedlicher. Nur schade, dass ich damit nicht bei den Menschen angeben kann.“ Mit ihrer abgeklärten Art, der Gelassenheit, mit der sie das Thema wechselt, wirft sie mich aus der Bahn. Ich weiß, dass ich wegen ihres offenen und ungewohnt vertraulichen Umgangs irritiert sein müsste. Aber irgendwie fühlt es sich nicht falsch an, unser Äußeres zu vergleichen. In unserer wahren Gestalt sehen wir uns ähnlicher als jemals zuvor. „Du hast Sorgen. Ich habe nicht einmal einen Tag diesen Körper und du beneidest mich um meine Oberweite. Aber ja, ohne unsere Vulkanierohren sehe ich … nicht schlecht aus. Aber könntest du ein wenig langsamer machen. Das ist alles noch so neu“, antworte ich. Sie schaut zu mir runter. „Paps hat meine Ohren seit Jahren nicht mehr gesehen und Mama seit ich sie verbergen kann auch nur gestern Abend“, sagt sie augenzwinkernd. „Wie, du hast dich die ganze Zeit verborgen?“ Ich bin erstaunt, dass ich das nicht bemerkt habe. Sie nickt. „Natürlich, das ist einfacher als ständig zu wechseln. Da wir selbst das nicht sehen können, müssen wir besonders aufmerksam sein, wie unser Umfeld reagiert. Später üben wir das. Da wird aber Laura helfen müssen.“
* * *
Nachdem wir meine neue Garderobe bei mir einsortiert und die alte Kleidung in Kisten verpackt haben, gehen wir wieder nach unten in die Küche. Die anderen drei warten bereits auf uns. Ihre Blicke folgen mir aufmerksam, als wäre ich ein seltsamer Gast, den sie zum ersten Mal sehen. Ich ignoriere sie und setze mich an den mit frischen Brötchen, allerlei Wurst und Käse, Rührei und Bratwürsten beladenen Tisch. Bei dem Anblick knurrt mein Magen. Trotzdem frage ich mich, wer diese Mengen essen soll. „Endlich wieder ordentliche Mahlzeiten. Es war ganz schön nervenzerreibend, in deiner Gegenwart fasten zu müssen!“, meint Nadine erleichtert und grinst mich breit an.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, setzt sie sich an den Tisch und lädt sich eine große Portion Rührei, Bratwürste und zwei Brötchen auf ihren Teller und beginnt zu essen. Ich nehme neben ihr Platz. Wie Laura auch beobachte ich meine Schwester fasziniert, die unbekümmert isst und nur für gelegentliche Schlucke O-Saft innehält.