Im Reich der Schlangenkönigin -  - E-Book

Im Reich der Schlangenkönigin E-Book

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Es war einmal, es war keinmal … beginnt so manches Märchen, das uns in die Welt der Feen, Riesen und Dämonen führt, ins Reich der Schlangenkönigin Sahmeran, dorthin, wo Zauberkräfte walten. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie sind durchlässig. Diese verwunschene Welt der orientalischen Märchen ist uns aus Tausendundeine Nacht vertraut. Das unerschöpfliche arabische Erzählwerk zeigt, dass Araber, Perser, Türken und Inder in vormoderner Zeit eine reiche, gemeinsame Märchen- und Mythentradition pflegten. Die türkischen Volkssänger und Märchenerzähler haben im kulturellen Schmelztiegel Anatolien Mythen verschiedener Herkunft übernommen und mit ihrer eigenen Tradition verbunden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 455

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

Es war einmal, es war keinmal … beginnt so manches Märchen, das uns in die Welt der Feen, Riesen und Dämonen führt. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie sind durchlässig. Die türkischen Volkssänger und Erzähler haben im kulturellen Schmelztiegel Anatolien Mythen verschiedener Herkunft übernommen und mit ihrer eigenen Tradition verbunden.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Erika Glassen (*1934) habilitierte sich im Bereich Islamwissenschaften an der Universität Freiburg im Breisgau. Von 1989 bis1994 war sie Direktorin des Orient-Instituts. Sie ist zusammen mit Prof. Dr. Jens Peter Laut Herausgeberin der Türkischen Bibliothek.

Zur Webseite von Erika Glassen.

Hasan Özdemir (*1940) studierte Turkologie in Ankara sowie Islamwissenschaft und Volkskunde in Mainz und Freiburg. Er habilitierte sich in Volkskunde an der Universität Ankara. Ebendort ist er Ordinarius in diesem Fach und Fachbereichsleiter für Alte Türkische Literatur.

Zur Webseite von Hasan Özdemir.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Erika Glassen und Hasan Özdemir (Hg.)

Im Reich der Schlangenkönigin

Märchen, Schwänke, Helden- und Liebesgeschichten

Mit einem Nachwort von Erika Glassen

Türkische Bibliothek

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.

Impressum

Türkische Bibliothek im Unionsverlag, Zürich, herausgegeben von Erika Glassen und Jens Peter Laut

Eine Initiative der Robert Bosch Stiftung

Der Verlag dankt den Rechteinhabern bzw. ihren Rechtsnachfolgern für die Überlassung der Abdruckgenehmigung.

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Aufnahme eines volkstümlichen Hinterglasbilds von Şahmeran; Sammlung Robert Anhegger, Istanbul

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30304-1

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 22.06.2022, 12:48h

Transpect-Version: ()

DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.

Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.

http://www.unionsverlag.com

[email protected]

E-Book Service: [email protected]

Unsere Angebote für Sie

Allzeit-Lese-Garantie

Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.

Bonus-Dokumente

Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.

Regelmässig erneuert, verbessert, aktualisiert

Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.

Wir machen das Beste aus Ihrem Lesegerät

Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:

Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und Mac

Modernste Produktionstechnik kombiniert mit klassischer Sorgfalt

E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.

Wir bitten um Ihre Mithilfe

Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.

Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags

Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

Unsere Angebote für Sie

Inhaltsverzeichnis

IM REICH DER SCHLANGENKÖNIGIN

TekerlemeAşıkpaşazadeKaygusuz AbdalOrhan Veli Kanık — Verkehrte Welt: Gedicht mit FlöhenVolksromaneDie Schlangenkönigin ȘahmeranYusuf und ZüleyhaLeyla und MecnunFerhat und ȘirinKerem und AslıTahir und ZühreDerdiyok und ZülfisiyahKöroğluMeddah-ErzählungDas Mädchen in der TruheMärchenDer Kristallpalast und das DiamantschiffDer Smaragdvogel Zümrüt AnkaKeloğlan und das Ali-Cengiz-SpielDer GeduldsteinUnheimliche Geschichten und SagenBuckel auf BuckelDie alte Frau und ihre KatzeDie teuflische Tafelİbrik Kalfa, der ungehorsame PeriDie Gefährten der HöhleVolkstümliche religiöse ÜberlieferungenNoahAbrahamDie Erbauung der KaabaAbrahams TodDer schiitische Imam Dschafar as-Sadiq über die Familie des ProphetenHumoreskenBektaşi-GeschichtenNasreddin-Hoca-GeschichtenNachwortNachweiseWorterklärungenZur Aussprache des TürkischenDie Übersetzer

Mehr über dieses Buch

Über Erika Glassen

Über Hasan Özdemir

Andere Bücher, die Sie interessieren könnten

Bücher von Erika Glassen

Zum Thema Türkische Bibliothek

Zum Thema Märchen

Zum Thema Türkei

Tekerleme

Aşıkpaşazade

Ich stieg auf einen Mandelbaum, um dort Traubenzu essen von der Rebe,

kaum hatt die Trauben ich verspeist, verstand ichden Sinn meiner Rede.

Schon früher hatt ich mich oft in dem Mandelgartenumgeschaut,

der Gärtner fuhr mich an: »Weh dir, hast viele Nüssemir geklaut!«

Er nannte Räuber mich, ich sagte: »Du verleumdestmich.«

Auf nem Ochsen ritt ein Tatar vorbei und schrie:»Der hat mein Lamm erwürgt, packt ihn,jetzt oder nie!«

Granatäpfel, die noch unreif waren, verzehrt ich ineinem öden Garten,

hab mir die Taschen vollgefüllt, doch nie meinenHunger damit gestillt.

Viel ungesponnenes Garn bracht ich dem Meister Weber,

der Meister wickelt gerad das Knäuel noch, da warsschon feinstes Leinentuch.

Mit einem schlimmen Gauner ließ ich mich auf krumme Touren ein,

er behielt alles für sich, nichts blieb für mich, da sagt er noch frech: »Soll das etwa der Rede wert sein?«

Ich sah, wie ein lahmer Läufer auf eine blinde Ratte traf,

ganz behände eilten beide auf direktem Wege zumBerg Kaf.

Einen Stummen fragt ich nach dem Weg, doch nurein Blinder konnt ihn mir zeigen,

ein Tauber hörte uns zu, er verstand mein Geheimnis, umhüllt es mit Schweigen.

Der Taube und der Stumme jagten mir nach, ach,aber nicht nur,

auch der Blinde verfolgte mich und fand immermeine Spur.

Ich schickte den Tauben mit dem Stummen zumBlinden,

der gab mir seinen Spiegel, drin konnt mein Gesichtich finden.

Mit dem Krüppel Ohnearm wollt ich ringen, es gelang ihm, mich fest zu umschlingen,

da konnt ich mich weder recken noch strecken und ließ meinen Windhund springen und blecken.

Für unsern Konvent kocht ein Koch vierzig Kesselvoll Essen,

statt Wasser nahm er Luft, kein Fleisch, nur das Salz hat er nicht vergessen.

Der Kessel jenes Kochs kennt weder Boden noch Rand,

ohne Feuer kocht alles über, als Deckel dientmein Staub und Sand.

Ich, Aşıqî, wanderte wie Yunus Wege,die der Fremdling nicht kennt,

verwischte meine Spur, damit sie nicht entdeckt,wer sich Gottesleugner nennt.

Aşıqî will am Himmelsrund nun den Derwischreigen zelebrieren,

tanzen, ohn die Arme zu schwingen, seine Saz spielen, ohn die Finger zu rühren.

Kaygusuz Abdal

Kauft eine Gans von einer Frau,

lang wie ein Rohr der Hals, o schau –

da werden vierzig Heilʼge grau:

Vierzig Tage kocht ich sie, sie wurde doch nicht gar!

Das Holz zerhackten unser acht,

neun haben ʼs Feuer angemacht –

die Gans hebt ihren Kopf und lacht!

Vierzig Tage kocht ich sie, sie wurde doch nicht gar!

Nennt man das Gans, dies tolle Tier?

Blieb vierzig Jahr am Weltberg schier –

sie glättet Schwanz und Flügel hier:

Vierzig Tage kocht ich sie, sie wurde doch nicht gar!

Der Flügel meiner Gans bebt leicht.

Ein Schaf hat einen Fuchs gesäugt.

Aus Noahs Zeit stammt sie vielleicht –

Vierzig Tage kocht ich sie, sie wurde doch nicht gar!

Gelb ist der Flügel meiner Gans.

Kein Fleisch an Knochen oder Schwanz –

Weib, das vergess ich dir nicht ganz!

Vierzig Tage kocht ich sie, sie wurde doch nicht gar!

Der Flügel meiner Gans ist bunt.

Geh, lebe wohl und bleib gesund.

Bring Unglück nicht auf unsern Grund!

Vierzig Tage kocht ich sie, sie wurde doch nicht gar!

Wir streuten Grütze in die Brüh.

Die rief: »Allah!«, und fort flog sie.

Sag mir, was ist das nur allhie?

Vierzig Tage kocht ich sie, sie wurde doch nicht gar!

O Kaygusuz, was soll geschehn?

Vertrag und Treue doch bestehn;

nimm deine Matte, lass uns gehn –

Vierzig Tage kocht ich sie, sie wurde doch nicht gar!

Orhan Veli Kanık

Verkehrte Welt: Gedicht mit Flöhen

Welch seltsames Rätsel ist das!

Hat am Quälen Tag und Nacht Spaß.

Wem sagen wir unsern Kummer;

weder auf Arzt noch Hodscha ist Verlass.

Mancher hat seine tägliche Arbeit;

mancher hat Löcher im Kleid.

Mund Nase Ohr hat ein jeder,

aber anders lang, anders breit.

Mancher glaubt an den Propheten;

mancher will die Uhrenkette anbeten.

Mancher wird Sekretär und schreibt,

mancher bettelt um Moneten.

Mancher gürtet sich ein Schwert;

mancher ist vom Lauf der Welt geehrt:

Nachts im Dienst seiner Frau,

am Tag bei Fronarbeit bewährt.

Muss denn diese Welt so bleiben,

der Floh es mit dem Elefanten treiben?

Muss ein Haus mit sieben Seelen

satt werden von dreieinhalb Scheiben?

Eine verzwickte Sache zum Schluss;

der Schreibstift wird konfus.

Und was er schreibt? Jede Menge

Schwafel ohne Hand und Fuß.

Volksromane

Die Schlangenkönigin Șahmeran

Es lebte früher in der Stadt Adana ein berühmter Arzt und Gelehrter namens Danyal. Eines Tages erkrankte er und bereitete sich eine Arznei, doch wollte diese nichts helfen. Als er spürte, wie seine Krankheit immer schlimmer wurde, rief er schließlich seine Frau zu sich, zog unter der Bettdecke ein Buch hervor, hielt es ihr hin und sprach: »Meine treue Gefährtin, mir geht es über alle Maßen schlecht. Nimm dieses Buch, und wenn das Kind in deinem Bauch gesund zur Welt kommt, dann lass es etwas Anständiges lernen, und wenn es mit der Schule fertig ist, dann gib ihm dieses Buch zu lesen. Alles, was ich weiß, wird das Kind aus diesem Buch lernen, und ihr werdet beide bis an euer Lebensende keine Not kennen.«

Tags darauf verstarb Danyal. Seine Frau beweinte und betrauerte ihn. Kurz danach brachte sie einen Jungen zur Welt und nannte ihn Camsap. Unter vielen Entbehrungen zog sie ihn groß. Als der Junge sieben Jahre alt war, gab sie ihn in eine Schule, die besuchte er ein, zwei Jahre, doch erwies er sich als so unbegabt, dass sein Lehrer ihn nicht weiter unterrichten wollte. So musste die Frau ihren Sohn von der Schule nehmen. Sie gab ihn daraufhin bei einem Handwerker in die Lehre, doch Camsap stellte sich so ungeschickt an, dass sein Meister sprach: »Ich kann dich nicht gebrauchen!«, und ihn vor die Tür setzte.

Da sagte die Frau zu ihrem Sohn: »Mein Sohn, ich wollte dich studieren lassen, doch dein Lehrer hat sich über dich beschwert, da habe ich dich in eine Lehre gegeben, doch dein Meister hat dich davongejagt, weil du so ungeschickt bist. Du weißt, wie es um uns steht, was soll nun also geschehen? Ich habe lange nachgedacht und Folgendes beschlossen: Ich kaufe dir einen Esel, damit wirst du jeden Tag in die Berge reiten, dort Holz fällen, es in die Stadt bringen und verkaufen. Von diesem Geld werden wir leben.«

Am folgenden Tag kauften sie einen Esel. Camsap ging von nun an jeden Tag mit jungen Holzarbeitern in den Wald, fällte Holz, verkaufte es in der Stadt und brachte das Geld seiner Mutter. Eines Tages waren sie wieder im Wald, als das Wetter plötzlich umschlug und ein heftiges Gewitter losbrach. Camsap schulterte seine Axt und flüchtete sich mit den anderen in eine Höhle. Aus Langeweile begann Camsap in der Höhle mit dem Stiel seiner Axt auf dem Boden herumzukratzen, und als er vier Finger tief gelangt war, kam ein Marmorstein zum Vorschein. Als er den Marmorstein ganz von der Erde befreit hatte, stellte sich heraus, dass es ein Deckel war. Camsap und seine Kameraden hoben mit vereinten Kräften den Deckel hoch, und da sahen sie einen Brunnenschacht, der bis oben hin mit golden glänzendem reinem Honig gefüllt war.

Einer von ihnen ging sofort in die Stadt hinunter, besorgte dort Schläuche und kehrte zurück. Sie füllten die Schläuche mit Honig und verkauften diesen in der Stadt. Damit verdienten sie viel mehr Geld als mit dem Holz. So gingen sie nicht mehr zum Holzfällen in den Wald, sondern um Honig abzufüllen und zu verkaufen. Eines Tages schließlich erblickten sie den Boden des Honigbrunnens, und bei dem Gedanken, bald wieder Holz fällen zu müssen, überfiel sie eine große Traurigkeit. In dem Brunnen war nur mehr genug Honig, um vier oder fünf Schläuche zu füllen. Den gedachten sie am selben Tag noch heraufzuholen und zu verkaufen. Camsap nahm die Schläuche an sich und ließ sich in den Brunnenschacht abseilen. Er füllte den letzten Honig in die Schläuche, und als seine Kameraden ihn wieder hochziehen sollten, sagten sie sich: »Wie wärs, wenn wir Camsap in dem Brunnen ließen?«

»Wenn wir ihn hochziehen, wird er von dem Honiggeld den Löwenanteil verlangen. Begraben wir ihn lieber hier!«

So schoben sie den marmornen Deckel wieder an seinen Platz, verkauften Camsaps Esel und kehrten in die Stadt zurück.

Als die Frau des Arztes Danyal sah, dass ihr Sohn am Abend nicht nach Hause kam, ging sie angsterfüllt zu Camsaps Kameraden.

»Wo ist Camsap?«, fragte sie. »Er ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen.«

Die Kameraden erfanden daraufhin Folgendes: »Als wir gestern wieder Holz fällten, geriet Camsaps Esel beim Weiden in das Tal mit den Tigern. Als Camsap das sah, stieg er in das Tal hinab, um den Esel zurückzuholen. Wir wollten ihn nicht gehen lassen, aber er hörte nicht auf uns. Als er den Esel einholte, stand plötzlich eine Tigerin mit ihrem Jungen vor ihm. Da ist es eben passiert.«

Die Kameraden blickten zu Boden. Die Frau begriff sofort, was ihrem Sohn wohl widerfahren war. Sie musste sich damit abfinden, dass die Tigerin ihren Camsap zerrissen hatte. In Tränen aufgelöst kehrte sie nach Hause zurück.

Die Holzfäller wurden mit der Zeit alle reiche Kaufleute und unterstützten Camsaps Mutter mit Almosen.

Was wurde aber aus Camsap? Als er die gefüllten Schläuche nach oben geschickt und darauf gewartet hatte, dass die Kameraden ihm das Seil wieder herablassen würden, musste er voller Erstaunen und Entsetzen mit ansehen, wie sie stattdessen den Deckel über ihm schlossen. Er klagte und flehte, doch es nützte nichts. Die Kameraden scharrten Erde auf den Deckel, und als Camsap sie davongehen hörte, war er in dem finsteren Brunnenschacht mit seinen Gedanken allein. Diese kreisten nur darum, wie er sich retten könnte und auf welche Weise er aus dem Honigschacht, in dem er lebendig begraben war, wieder herauskommen sollte. Da hörte er plötzlich neben sich ein Kratzen. Er sah in dem dunklen Brunnen in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und erblickte einen schmalen Lichtschein. Ein Skorpion hatte sich durch die Erde gewühlt und kam auf ihn zu, und, o Wunder, da, wo er gegraben hatte, drang ein stecknadelgroßer Lichtstrahl in den Brunnenschacht.

Als Erstes kam es Camsap in den Sinn, den herannahenden Feind zu beseitigen. Er zerquetschte den Skorpion mit seinem Absatz. Dann holte er sein Messer hervor und machte sich daran, das winzige Loch, durch das der Lichtstrahl hereinsickerte, langsam zu vergrößern. Nach stundenlanger Mühe war das Loch so breit, dass Camsap seinen Kopf hindurchstrecken konnte. Das Licht, das Camsap eine Rückkehr ins Leben verhieß, hatte die Dunkelheit in dem Brunnen besiegt.

Camsap streckte den Kopf durch das Loch und sah einen großen Garten mit vielen verschiedenen Blumen vor sich. Nun zwängte er sich ganz durch das Loch und betrat ihn. Betäubt vom Duft der Blumen, schritt er dahin und gelangte schließlich an einen großen Teich. Vor dem Teich waren silberne Sessel aufgereiht. Genau in deren Mitte stand ein mit Juwelen geschmückter prächtiger goldener Thron, und als Camsap den erblickte, flehte er, von all dem Prunk überwältigt, zu Gott: »Ach Herr, wenn dieser Thron und dieser Garten doch mir gehören könnten …«

Dann ging er zu dem Thron, setzte sich darauf und sah sich ein wenig um. Darüber schlief er schließlich ein. Da schreckte ihn plötzlich ein Donnern aus dem Schlaf, und als er die Augen öffnete, standen ihm vor Entsetzen die Haare zu Berge. Es bot sich ihm ein furchtbarer Anblick: Auf jedem der silbernen Sessel saß ein Dämon, und überall schlichen Feuer speiende siebenköpfige Drachen herum.

Während Camsap noch mit vor Staunen und Furcht geweiteten Augen auf jenes grässliche Schauspiel starrte, ertönte ein noch viel gewaltigeres Krachen, einem hundertfachen Gewitterdonner gleich. Die Dämonen erhoben sich daraufhin von ihren silbernen Sesseln und stellten sich ehrerbietig auf. Da senkte sich vom Himmel eine schwarze Wolke herab, und aus dieser trat ein fratzengesichtiger Dämon heraus. Mit einem juwelenverzierten Tablett auf dem Kopf bewegte er sich zwischen den Drachen hindurch auf den Thron zu. Als Camsap ihn erblickte, sprang er mit einem Satz vom Thron herunter. Der Dämon blieb vor dem Thron stehen und setzte das Tablett ehrfürchtig auf dem Boden ab. Da kroch von dem Tablett eine milchweiße Schlange mit Menschenkopf und schlängelte sich auf den Thron hinauf. Mit einem Zeichen wies sie die Drachen an, wieder Platz zu nehmen. Dann wandte sie sich Camsap zu, der alles voller Bestürzung mit angesehen hatte, und sagte zu ihm in seiner Sprache: »Willkommen, Menschensohn! Du bist Gast meines Landes und brauchst dich vor mir und meinen Untergebenen nicht zu fürchten.«

Der Dämon, der die menschenköpfige weiße Schlange gebracht hatte, schaffte zusammen mit zwei Drachen auf Tellern aus purem Gold die verschiedensten Früchte herbei und stellte sie auf den Thron.

Die Schlange auf dem Thron kredenzte Camsap die Früchte und sprach: »Mein Name ist Yemliha. Ich bin die Herrscherin über das Land der Schlangen. Meine Untergebenen und die Menschen kennen mich unter dem Namen Șahmeran, die Schlangenkönigin. Diesen Thron und dieses Land habe ich Gott, dem Herrn, zu verdanken. Du stehst hier unter meinem Schutz, und es wird dir keine Gefahr drohen. Tun wir uns also ruhig an diesen Früchten gütlich.«

Camsap, den schon lange hungerte, aß nach Herzenslust von den Früchten. Dann trug ein Dämon die leeren Teller ab, und Șahmeran sprach: »Nun muss ich dich etwas fragen. Kannst du mir sagen, Menschensohn, wie und wozu du in mein Land gekommen bist?«

Camsap, der diese Frage schon erwartet hatte, erzählte freimütig, was ihm widerfahren war. Als er geendet hatte, sagte Șahmeran mit betrübtem Gesicht: »Dieser Honigbrunnen war eines meiner Vorratslager. Nun, da die Menschen es entdeckt haben, werden sie uns wohl wieder behelligen.«

Aufgeregt erwiderte Camsap: »Nein, nein, niemand hat Euch hier gesehen, und niemand kennt Euren Aufenthaltsort und kann Euch Böses antun. Diejenigen, die mich in diesen Brunnen gesperrt haben, glauben, sie hätten ein Verbrechen begangen, und werden sich nicht wieder in die Nähe des Brunnens wagen, ja nicht einmal davon sprechen.«

Șahmeran schüttelte den Kopf. »Die Menschen sind undankbar und heimtückisch. Um eines winzigen Vorteils willen sind sie bereit, einem anderen unermesslichen Schaden zuzufügen. Ich will dir das eine sagen: So sehr du bei meinem Anblick zusammengezuckt bist, so sehr bin auch ich erschrocken, als ich dich gesehen habe. Ich hege nämlich auf die Menschen einen Groll. Vor Jahren haben sie mich einmal gefangen genommen und vierzig Tage lang festgehalten. Doch da mein Stündlein noch nicht geschlagen hatte, konnte ich ihnen entkommen. Zwar misstraue ich den Menschen allgemein, doch soll mir dein Versprechen genügen.«

Zufrieden erwiderte Camsap: »Es freut mich, dass Ihr mir vertraut, und ich danke Euch dafür. Ich werde Euch auf jegliche Art beweisen, dass ich dieses Vertrauens auch würdig bin. Jedoch habe auch ich eine Bitte an Euch. Ich habe Euch erzählt, was mir widerfahren ist, und erhoffe mir von Euch, dass Ihr ein Gleiches tut. Tut mir also den Gefallen und stillt meine Neugier.«

Șahmeran lächelte und sagte dann: »Gut, so höre also zu. In Ägypten gab es einmal einen sehr großen und gerechten jüdischen Herrscher namens Yuşa, der sich in seinen Mußestunden mit der Thora beschäftigte. Eines Tages fand er eine Stelle, wo vieler Eigenschaften unseres erhabenen Herrn, des Ruhms der Welt, Erwähnung getan wurde und auch geweissagt wurde, dass er am Ende der Zeiten als letzter Prophet erscheinen würde. Er ahnte, dass sein Volk, falls es dies las, sich diesem Propheten zuwenden würde. Wenn auch bis dahin noch viel Zeit vergehen konnte, fürchtete Yuşa doch, seine Herrschaft könne in Gefahr sein, und riss aus der Thora die entsprechenden Seiten heraus. Er verwahrte sie in einem silbernen Kästchen und versiegelte dieses. Dann stellte er das Kästchen in ein Kämmerchen und versperrte die Tür. Doch auch damit begnügte er sich nicht, sondern ließ um das Kämmerchen herum eine dicke Mauer errichten.

Einige Jahre später verstarb Yuşa, und den Thron bestieg Belkiya, sein junger Sohn.

Eines Tages inspizierte Belkiya den Palast. Als er zur Schatzkammer gelangte, fiel ihm die dicke Mauer auf. Er ließ sie niederreißen und betrat das Kämmerchen. Er fand die Schatulle, öffnete sie und entnahm ihr die Seiten aus der Thora. Sobald er sie gelesen hatte, war er für den letzten und erhabensten der Propheten von großer Liebe und Achtung erfüllt, und zwar so sehr, dass ihm nunmehr Thron und Krone eine Last waren. So beschloss er eines Tages, die Herrschaft über Kairo seinem jüngeren Bruder zu überlassen, verließ den Palast und machte sich auf den Weg. Nach einer Weile kam er an einen Strand und sah dort Schiffe, die zum Ablegen bereit waren. Er fragte den Kapitän eines der Schiffe, wohin er denn fahre, und als er erfuhr, dass die Reise zu einem Strand in der Nähe von Damaskus gehen solle, bestieg er das Schiff, das noch am gleichen Tag bei günstigem Wind in See stach.

Nach mehrtägiger Seefahrt stießen sie auf eine Insel und legten dort an. Da ihr Proviant zur Neige ging, gingen alle von Bord. Die Insel war unbewohnt, doch gab es dort Bäume voller Früchte. Matrosen und Passagiere pflückten die Früchte und taten sich an ihnen gütlich. Belkiya erkundete inzwischen das Inselchen auf eigene Faust. Müde setzte er sich schließlich unter einen Baum und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm, um ein wenig auszuruhen. Bald darauf aber schlief er ein.

Als er die Augen wieder öffnete und sich umsah, fiel ihm das Schiff ein, und eilig lief er an den Strand. Voller Erstaunen und Betrübnis musste er sehen, dass das Schiff abgelegt hatte und er nun auf jener einsamen Insel mutterseelenalleine war. In seiner Aufregung und Furcht beschloss er, nach einem Boot oder einem Unterschlupf zu suchen. Als er eine Weile so herumspazierte, entdeckte er zwischen Felsen ein altes Ruderboot. Er lief gleich hin, brachte das Boot wieder in Ordnung und ruderte los, hinaus aufs offene Meer. Das Boot wurde ein paar Tage lang von den Wellen durchgeschüttelt und strandete schließlich an meiner Insel. Belkiya ging an Land und sah sich auf der Insel um. Als er in meine Nähe kam, erblickte er voller Entsetzen die Drachen und Schlangen aus meinem Gefolge und wollte davonlaufen, doch geriet er dabei ins Stolpern.

Mitleidig rief ich ihm zu: ›Menschensohn, fürchte dich nicht vor den Drachen! Komm her zu mir!‹

Als er vor mir stand, sagte ich: ›Woher kommst du, junger Mann? Was hast du auf dieser Insel zu suchen, die vorher noch nie von einem Menschen betreten wurde?‹

Belkiya wiederum fragte mich: ›Wer seid Ihr? Warum verhört Ihr mich?‹

›Ich heiße Șahmeran. Ich bin die Herrscherin über alle Drachen und Schlangen dieser Welt. Diese Insel ist meine Residenz, und die Drachen, die du siehst, sind meine Diener. Erzähl nun du mir, was du hier suchst.‹

Da erzählte Belkiya der Schlangenkönigin, was ihm widerfahren war und dass er den tugendreichen letzten Propheten unbedingt finden und alle damit verbundenen Gefahren auf sich nehmen wolle.

Als einstiger Herrscher verfügte er noch über eine solche Anmut, dass ich seinen Worten Glauben schenkte und ihn fragte: ›Wohin willst du jetzt gehen?‹

›Ich möchte an einem Strand in der Nähe von Damaskus anlegen und von dort nach Damaskus gehen, den letzten Propheten finden und zu seinem Jünger werden.‹

Als ich diesen Wunsch vernahm, sagte ich: ›Hat ein Mensch diese Insel erst einmal betreten, so muss er den Rest seines Lebens hier verbringen. Wenn ich ihn nämlich freigebe, so wird er den anderen Menschen meinen Aufenthaltsort verraten. Dich aber werde ich unter zwei Bedingungen von hier fortlassen. Ich kann nicht anders, da ich dem Propheten, den du suchst, grenzenlose Liebe und Achtung entgegenbringe.

Meine erste Bedingung lautet: Wenn du das Siegel des Propheten findest, dann grüße ihn von mir, indem du ihm die heiligen Hände küsst und dein Gesicht an den Staub seiner Füße führst, und erflehe für mich seine Fürbitte für den Jüngsten Tag.

Meine zweite Bedingung ist, dass wir uns heute zum ersten und zum letzten Mal begegnen. Wir dürfen uns nie wiedersehen. Vergiss den Tag, an dem du mich gesehen hast, und sprich nie zu einem Menschen über mich und meine Insel. Kannst du mir das versprechen?‹

Belkiya versprach es mir. Da ließ ich ihn wieder in sein Boot steigen, versorgte ihn mit Proviant und Wasser und gab ihm folgenden Rat: ›Fahr drei Tage lang in Richtung Süden, dann gelangst du an den Strand von Beirut und kannst von dort nach Damaskus ziehen.‹

Dann verabschiedete ich mich von ihm.

Belkiya ging wenige Tage später in Beirut an Land, zog von dort nach Damaskus und machte sich auf die Suche nach dem letzten Propheten. Als er ihn nicht fand, ging er weiter nach Jerusalem. Dort lebte damals ein jüdischer Gelehrter namens İkap, der von großem Ehrgeiz erfüllt war. Er wollte den heiligen Süleyman finden, um an dessen Siegelring zu gelangen, mit dem man über Geister und Dämonen, Feen und Riesen, Tiere und Menschen gebieten konnte, und er wollte auf diese Weise die ganze Welt beherrschen. In alten Büchern hatte İkap gelesen, der heilige Süleyman sei auf einer Insel hinter den sieben Meeren tot auf seinem Thron aufgebahrt und trage noch das Siegel als Ring an seiner Hand. Um die sieben Meere zu überwinden, müsse man ein bestimmtes Kraut finden, daraus einen Sud brauen und ihn sich auf die Fußsohlen reiben, dann könne man auf dem Wasser wandeln wie auf festem Boden. Um dieses Kraut zu finden, musste man wiederum vorgehen, wie es in den Büchern beschrieben war. Es hieß dort: Wo immer Șahmeran sich aufhält, sagt ihr jedes Kraut, wozu es gut ist.

Um also das Siegel von Süleyman zu bekommen, musste İkap Șahmeran finden und durch sie an das Kraut gelangen.

Als İkap vernahm, in Jerusalem sei ein Fremder eingetroffen, machte er sich sogleich zu Belkiyas Herberge auf und sprach mit ihm. Als Belkiya beim Erzählen seiner Abenteuer auch mich erwähnte, horchte İkap auf. Er berichtete Belkiya von seinem Begehr. ›Nur du kannst mir weiterhelfen. Suchen wir gemeinsam Șahmeran auf und verschaffen wir uns dieses Kraut. Nur so können wir die sieben Meere überwinden und an das Siegel gelangen.‹

So trafen sie ihre Vorbereitungen. İkap nahm eine silberne Truhe mit, und gemeinsam bestiegen sie ein Schiff, das sie auf meine Insel brachte. Sobald sie an Land waren, stellte İkap die Truhe ab, in der sich zwei kristallene Schalen befanden. Die eine Schale füllte er mit Milch, die andere mit Wein. Dann versteckten sich die beiden. Als ich meinen Thron verließ und ein wenig umherspazierte, stieß ich auf die silberne Truhe. Ich sah den Wein und die Milch und, ohne mich vorzusehen, kroch ich in die Truhe hinein. Zuerst trank ich die Milch, dann den Wein. Davon wurde ich trunken und schlief neben den beiden Schalen ein. İkap schlug sogleich den Deckel der Truhe zu, und die beiden schafften die Truhe auf ihr Schiff und fuhren gen Jerusalem. Als ich aus meiner Trunkenheit erwachte, war ich in der Truhe gefangen. Mir fiel wieder ein, warum ich hineingekrochen war, und voller Angst rief ich: ›Wer hat mich da in einer Truhe entführt? Was wollt ihr von mir? Was habt ihr mit mir vor?‹

İkap erwiderte: ›Șahmeran, wir denken nichts Böses über dich und möchten dir auch nichts antun. Dein Leben ist in völliger Sicherheit. Ich habe nur eine Bitte an dich. Ich muss mir das Siegel von Süleyman verschaffen und dazu auf eine Insel hinter den sieben Meeren gelangen. Du weißt vielleicht, dass sich mit dem Schiff dort nicht hinfahren lässt.‹

Da riss mir die Geduld. ›Was geht mich an, was für ein Siegel du willst? Lass mich gefälligst frei!‹

›Wenn es so weit ist, werden wir dich freilassen. Wir suchen aber ein Kraut, mit dem man trockenen Fußes übers Wasser wandeln kann, wenn man sich nur die Sohlen damit einreibt, und wir wissen, dass da, wo du bist, alle Kräuter dir sagen, wozu sie von Nutzen sind. So möchten wir mit dir von Gegend zu Gegend ziehen, um dieses Kraut zu finden.‹

So zogen wir vierzig Tage lang von Berg zu Berg und von Garten zu Garten, bis wir das Kraut endlich fanden. İkap war außer sich vor Freude und sprach zu mir: ›Șahmeran, dir habe ich zu verdanken, dass ich dieses Wunderkraut gefunden habe. So bist du nun wieder frei. Geh deines Weges!‹

›Denkst du also, du tust mir Gutes, wenn du mich hier in der Fremde einfach ziehen lässt? Ihr müsst mich auf meine Insel zurückbringen, auf der ihr mich gefangen habt.‹

Das dünkte sie gerecht, und sofort zerrieben sie das Wunderkraut und rieben sich mit dem Pflanzensaft die Fußsohlen ein. Dann liefen sie über das Meer bis zu meiner Insel. Dort öffnete İkap die Truhe und sprach: ›Ich danke dir, Șahmeran. Du bist nun frei, und wir kehren zurück.‹

Da sie mich die ganzen vierzig Tage über kein einziges Mal aus der Truhe gelassen hatten, wusste ich nicht, wer İkaps Begleiter war. Doch als İkap die Truhe öffnete, sah ich, dass sein Gefährte kein anderer war als jener Belkiya, der mir versprochen hatte, niemandem von meiner Insel zu erzählen. Darüber war ich sehr erstaunt und betrübt zugleich. In sanftem Ton sagte ich zu Belkiya: ›Belkiya, du hattest mir etwas versprochen. Anstatt dich daran zu halten, hast du mich verraten. Du hast mich in eine Falle gelockt und mich vierzig Tage lang gefangen gehalten. Diese bittere Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Menschen treulose, hinterhältige Geschöpfe geworden sind und auch du nicht anders bist als sie.‹

Auf Belkiya taten diese Worte eine große Wirkung. Sein Gesicht wurde schamesrot, und es packte ihn tiefe Reue. Er stammelte: ›Șahmeran, verzeiht mir! Was ich getan habe, hätte nicht geschehen dürfen und ist aber doch geschehen. Ich habe alles nur getan, um den letzten Propheten zu finden. Ich bitte Euch inniglich um Verzeihung. Ihr habt ja auch keinen Schaden erlitten. Wir haben Euch wieder in Eure Heimat zurückgebracht.‹

Ich lächelte. Tatsächlich hatten sie mir nichts weiter angetan, als mich vierzig Tage lang in der geschlossenen Truhe durch die Lande zu schleppen, und so begannen mich die beiden zu dauern.

›Ja, ihr habt mir kein Leid getan und mich in meine Heimat zurückgebracht. Daher möchte ich euch einen Rat geben. Ihr müht euch vergeblich ab. Das Siegel von Süleyman zu finden und damit die Welt zu beherrschen, ist ein abwegiges Vorhaben. Wenn ihr euch weiter darauf versteift, werdet ihr schließlich zugrunde gehen. Was hat es für einen Sinn, sich mit so närrischem Begehr das Leben zu verpfuschen, wenn ganz andere, weit segensreichere Gelegenheiten sich bieten?‹

Belkiya sah mich erstaunt an und fragte: ›Welche Gelegenheiten haben wir uns denn entgehen lassen?‹

›Als ihr mit mir unterwegs wart, habt ihr zwei Kräutern nicht die notwendige Beachtung geschenkt. Es war da eine Pflanze, von deren Saft man nur zu trinken braucht, um niemals zu altern. Und mit einem anderen Kraut braucht man nur irgendein Erz zu berühren, dann wird dieses Erz zu Gold. Ihr habt die Eigenschaften dieser Kräuter gehört, aber nicht wahrgenommen. Verblendet von eurer Gier, die Welt zu beherrschen, habt ihr nicht daran gedacht, jene Kräuter für euch zu nützen. Das sind die beiden Gelegenheiten, die ihr versäumt habt.‹

İkaps Augen glänzten vor lauter Reue. Nicht aber wegen der verpassten Gelegenheiten, sondern vielmehr, weil er mich freigelassen hatte. Darum wandte er sich mit einer Bitte an mich. ›Willst du noch einmal mit uns kommen und uns diese Kräuter zeigen? Ich verspreche dir, dass wir dich während der Reise nicht belästigen und danach wieder hierherbringen werden.‹

Ich musste lachen und konnte kaum mehr damit aufhören. Dann aber sprach ich: ›Wer ein wenig Verstand hat, der geht nicht zweimal in die gleiche Falle. Als ihr die Gelegenheit in Händen hieltet, habt ihr sie nicht genutzt, nun aber ist es zu spät.‹

Dann nahm ich Belkiya beiseite und sprach zu ihm: ›Wenn es euch gelingt, die Höhle zu finden, in der der heilige Süleyman liegt, dann nimm auf keinen Fall selbst den Siegelring an dich, überlass dies İkap, sonst wird es dir später leid tun. Das ist der letzte und wichtigste Rat, den ich dir geben kann.‹

Dann entfernte ich mich, und die beiden fuhren wieder dahin, woher sie gekommen waren. Ich wiederum kehrte zu meinen Untertanen zurück. Sie waren ganz krank vor Sorge um mich gewesen und freuten sich, mich wiederzusehen.

Ich erzählte ihnen, was mir widerfahren war. Sie zürnten sehr und beteuerten: ›Wären Belkiya und İkap uns in die Hände gefallen, so hätten wir sie mit Haut und Haar verschlungen!‹

Da die Menschen uns einmal entdeckt hatten, konnten wir auf der Insel nicht bleiben und beschlossen daher, uns eine neue Bleibe zu suchen. So kamen wir also in diese Höhle, aber dennoch sind wir gegen Menschenlist nicht gefeit. Der Mensch ist das mächtigste Geschöpf dieser Welt. Was immer auf Erden kreucht und fleucht, hat er sich untertan gemacht. Mit all unserer Kraft und unserem Gift und Feuer kommen wir nicht gegen ihn an. Und wegen dieser Furcht gehen wir dem Menschen aus dem Weg.«

Camsap hatte den Worten Șahmerans andächtig gelauscht und sprach nun: »Ihr habt recht. Auch ich bin ein Mensch, daher misstraut Ihr mir, und Euer Misstrauen ist begründet. Damit nicht auch ich Euch eines Tages Böses zufüge, ist es am besten, Ihr bringt mich zurück in meine Heimat zu meiner Mutter, dann habt Ihr Eure Ruhe.«

Șahmeran sah Camsap lächelnd an. »Dass ich Belkiya zurückgeschickt habe, hat mir vierzig Tage Gefangenschaft eingetragen.«

»Das stimmt. Wenn Belkiya in Jerusalem İkap nicht verraten hätte, wo Ihr lebt, wäre es zu der Gefangenschaft nie gekommen.«

»Du sagst die Wahrheit und beweist damit auch, was der Mensch für ein treuloses, undankbares und falsches Wesen ist. Schlag dir deshalb deine Heimat aus dem Kopf! Sollte ich noch einmal so töricht sein und dich zurück nach Hause schicken, so würdest du dich verplappern und deinen Freunden verraten, wo ich mich aufhalte. Sie würden dann kommen, mir den Thron entreißen, sich meiner Schätze bemächtigen und mich töten oder gefangen nehmen. Was werde ich nun mit dir machen? Wir haben jetzt Herbst und bald Winter. Wir werden diesen Winter gemeinsam hier verbringen. Danach werden wir zu unserem Sommersitz hinter dem Berg Kaf ziehen, dort ist ein zauberhaftes Land voll wunderlicher Blumen, Früchte und Vögel. Bleib also eine Weile bei uns, und danach werden wir sehen, was zu tun ist.«

Diese Worte betrübten Camsap sehr, denn er sah wohl, dass Șahmeran ihn nicht fortlassen würde und ihm nichts anderes übrig blieb, als sich diesem Schicksal zu beugen. Zum Troste sagte er sich: Was solls, ich muss geduldig sein, wer weiß, was noch kommt. Wäre ich in dem Brunnen geblieben, so wären meine Knochen längst zu Staub zerfallen. So muss ich also dankbar sein. Von nun an verbrachte Camsap den Sommer in dem Land hinter dem Berg Kaf und den Winter in der Höhle unter dem Brunnen, und sein neues Leben missbehagte ihm nicht arg, doch sehnte er sich sehr nach seiner Mutter. So gingen sechs Jahre ins Land, und es gefiel Șahmeran, wie Camsap sich in dieser Zeit betrug. Sie konnte ihm nun vertrauen.

Allmählich aber wurde Camsap immer blasser und schien zu verkümmern. Das entging Șahmeran nicht, und so rief sie Camsap eines Tages zu sich und sprach: »Camsap, ich sehe, dass du hier immer mehr Trübsal bläst. Ich würde dir gerne helfen und dir erlauben, zu deinen Eltern und Freunden zurückzukehren, doch steht das nicht in meiner Macht, denn schickte ich dich zurück, so unterschriebe ich damit mein Todesurteil. Es betrübt mich, dir das sagen zu müssen. Um dich ein wenig aufzuheitern, möchte ich dir aber erzählen, wie es İkap und Belkiya erging, nachdem sie sich aufgemacht hatten, das Siegel des heiligen Süleyman zu suchen.«

»Darauf bin ich tatsächlich sehr neugierig«, sagte Camsap. »Habt Ihr die beiden denn wiedergesehen, nachdem sie von hier aufbrachen?«

»Nein, drei Jahre später vernahm ich, Belkiya sei nach Ägypten zurückgekehrt. Ich schickte einen meiner Diener dorthin, um Erkundigungen einzuholen. Es gelang ihm, sich in den Palast des ägyptischen Herrschers einzuschleichen. Dieser war kein anderer als Kahir, der Bruder Belkiyas, dem Belkiya die Herrschaft ja aus freien Stücken überlassen hatte. Nach seiner Rückkehr aus dem Land hinter den sieben Meeren hatte Belkiya in ein Buch geschrieben, was ihm widerfahren war, und sich dann in ein Kloster zurückgezogen, um sich zu kasteien.

Mein Diener sah das Buch in dem Schloss, und zwar in der Hand eines Wesirs. Als der Wesir am Abend das Schloss verließ, ging mein Diener ihm nach, und als der Wesir auf sein Pferd steigen wollte, verwandelte sich mein Diener in das Pferd und brachte seinen Reiter geradewegs zu uns. Ich nahm das Buch an mich und schickte den Wesir zurück nach Ägypten. Was ich in dem Buch las, werde ich dir nun erzählen.«

Camsap war ganz Ohr und hörte nun Folgendes: »Du weißt, wie ich auf der Insel von Belkiya und İkap Abschied nahm. Danach durchquerten die beiden Gefährten tage- und wochenlang Meere und Wüsten, erlitten viele Entbehrungen und kamen schließlich in das Land hinter den sieben Meeren. Es war ein sehr reiches, prächtiges Land. Der Boden verströmte Rosenduft, die Steine waren aus Diamant, Rubin und Smaragd. Um die Schönheit der Bäume, Blumen und Gärten zu beschreiben, reichen Menschenworte nicht aus. Allein die von den Bäumen herabhängenden Früchte waren mit ihrem Geschmack, ihrem Duft und ihren Farben ein Fest für alle Sinne des Menschen. Mit seinen Bäumen und Steinen, seinen Früchten und Vögeln blendete dieses Wunderland jeden, der es sah.

Nun aber mussten sie die Höhle des heiligen Süleyman finden und sich dort den Siegelring holen. Sie sahen sich um und erblickten schließlich zwischen Bäumen einen grell leuchtenden Höhleneingang. Sofort gingen sie darauf zu. Das Licht aus der Höhle strahlte so hell, dass sie erst ihre Augen daran gewöhnen mussten. Dann machten sie sich daran, die Höhle zu ergründen. Was sie da fanden, war ein prächtiger, im Lichte badender Palastsaal, in dem eine unvergleichlich herrliche, mit Juwelen eingelegte Bahre aus purem Gold stand. Darauf ruhte nun, als ob er schliefe, ein prachtvoll gekleideter Mann, dessen schönes Gesicht eine unbeschreibliche Würde ausstrahlte. Er hatte die Hände auf der Brust gefaltet, und am kleinen Finger der rechten Hand trug er einen sternförmigen Siegelring aus Sonnengestein, von dem ein Leuchten ausging. Als İkap diesen Ring erblickte, verlor er vor lauter Freude fast den Verstand. Mit ganzer Kraft packte er Belkiya am Arm.

›Wir haben es geschafft, wir stehen vor dem Wunder der Macht, das uns in wenigen Sekunden zu den Beherrschern der Welt machen wird.‹

Er sah das strahlende Siegel noch eine Weile verzückt an, dann wandte er sich Belkiya zu. ›Los, Belkiya, komm, holen wir uns den Ring!‹

Da fiel Belkiya wieder der Rat ein, den ich ihm gegeben hatte, und ohne sich vom Fleck zu rühren, erwiderte er: ›Geh du hin, ich werde hier Wache stehen. Du weißt, wie es zugeht auf der Welt, es könnte uns im letzten Moment noch etwas zustoßen, das ich dann abwehren kann. Sobald du den Ring an den Finger steckst, sind wir stark wie Süleyman.‹

İkap stand gierigen Auges da und vernahm kaum, was Belkiya sagte. Er war von dem Ziel, das er seinem Leben gesetzt hatte, nur noch wenige Schritte entfernt. Und schon stand er neben dem Leichnam. Belkiya verfolgte mit weit geöffneten Augen jede seiner Gesten. İkap streckte zitternd seinen Arm nach der linken Hand des reglos daliegenden Süleyman aus. Kaum berührte er den leuchtenden Ring, da zuckte ein Blitz durch die Höhle, und von der Stelle, wo İkap stand, stieg plötzlich schwarzer Rauch auf. İkap tat einen gellenden Schrei, dann ertönte ein ohrenbetäubendes Donnern. Belkiya kniff die Augen zu und blieb eine Weile so stehen. Als er spürte, dass jemand ihn am Arm berührte, schlug er die Augen wieder auf. Es stand ein hochgewachsener Mann vor ihm und sprach: ›Du hast das Schicksal deines Gefährten gesehen. Verweile hier nicht länger, mach dich davon!‹

›Ich danke Euch‹, erwiderte Belkiya und sah dann voller Erstaunen, dass der Mann plötzlich verschwunden war. Er war erfüllt von tiefer Dankbarkeit für mich, die ich auf wunderbare Weise schon vor Jahren all dies vorhergesehen hatte.

Wankenden Schrittes verließ er die Höhle. Er ging durch rosenduftende Gefilde, vorbei an mannigfaltigen Blumen, an Bäumen voll der herrlichsten Früchte, an bunter Vogelwelt, kam durch riesige Höhlen hindurch und gelangte schließlich an ein Meeresufer. Dort rieb er sich wieder die Fußsohlen mit dem Wunderkraut ein und marschierte tagelang über das Meer. Schließlich kam er wieder an ein Ufer, ging an Land und fand dort eine endlose Wüste vor. Er tat ein Stoßgebet zum Himmel und machte sich auf den Weg durch die Wüste. Nach zwei Tagen stieß er auf zwei Heere von Riesen, die sich eine Schlacht lieferten. Die Schlacht dauerte bis zum Abend, und Belkiya sah voller Schrecken zu, wie die Riesen auf ihren menschenköpfigen Pferden aufeinander losgingen. Als die Abenddämmerung hereinbrach, geriet eines der beiden Heere ins Hintertreffen und blies zum Rückzug. Das andere Heer setzte erst hinterdrein, doch als es Nacht wurde, zogen sich die Sieger in ihr Lager zurück, um zu ruhen. Belkiya wollte trotz der Dunkelheit weitermarschieren, aber ein wachhabender Riese erblickte ihn, packte ihn am Arm und rief mit Furcht einflößender Stimme: ›He, du Menschensohn, was hast du hier zu suchen? Bist du ein Spion der Riesen aus dem Abendland?‹

Zitternd beteuerte Belkiya: ›Nein, ich bin kein Spion!‹, und dann erzählte er, was ihm widerfahren war.

Besänftigt sagte der Riese: ›Komm mit, ich bringe dich zu unserem Herrscher. Er soll mit dir verfahren, wie ihn dünkt.‹

Herbeigerufene Soldatenriesen brachten Belkiya auf einen hohen, steilen Berg, auf dessen Gipfel ein juwelenbesetzter Thron aus purem Gold stand. Darauf saß, in einem Mantel mit goldenen Knöpfen, der ungeheuer große, edelgesichtige Herrscher über die Riesen. Die Soldaten, die Belkiya herbeigeschafft hatten, grüßten ihn und sprachen: ›Diesen Menschen haben wir auf dem Schlachtfeld gefunden.‹

Der Herrscher über die Riesen ließ Belkiya Platz nehmen und fragte ihn: ›Menschensohn, was hast du hier verloren?‹

Belkiya erzählte von seinen Abenteuern und sprach schließlich: ›In meinem Inneren ist so eine unendliche Liebe zu dem letzten Propheten, dass ich Thron und Krone aufgegeben habe, um ihn zu finden und der Religion zu dienen, die er dereinst gründen wird. Ich bin in ferne Gegenden gezogen und werde nicht ruhen, solange mich diese Liebe verzehrt.‹

Als der Herrscher dies vernahm, schlug er die Hand an die Brust, verneigte sich und sprach: ›Belkiya, von dieser Liebe sind auch wir beseelt. Auch wir hoffen darauf, uns jenem Propheten zu Füßen legen zu dürfen. Bevor du nun weiterziehst, bleib ein wenig unser Gast. Sobald eine Woche vorüber ist, lasse ich dich mein eigenes Pferd besteigen und schicke dich in deine Heimat.‹

Es blieb Belkiya nichts übrig, als die erzwungene Gastfreundschaft anzunehmen. Der Herrscher ließ auf goldenen Tabletts die mannigfaltigsten Gerichte auftragen, dazu Früchte und Weine, und so wurde dann getrunken und gespeist. Sieben Tage vergingen auf diese Weise. Am achten Tag ließ der Herrscher sein Pferd satteln. Es war ein riesiges Tier mit Menschenkopf und Flügeln, und sein Sattel war aus Gold. Belkiya war es unmöglich, das Pferd allein zu besteigen. Da gab der Herrscher einen Befehl, und zwei Riesen packten Belkiya an den Armen und hoben ihn auf das Pferd.

Dann sprach der Herrscher: ›Pass auf, Belkiya, dieses Pferd braucht für eine Strecke von einem halben Jahr nur eine einzige Stunde. Es bringt dich nun zu Amir, dem Gouverneur einer Grenzprovinz. Amir wird dich an meinem Pferd erkennen. Du wirst bei ihm ein paar Tage zu Gast sein, dann schickt er dich in das Land der Menschen, in deine Heimat.‹

Belkiya dankte dem Herrscher und spornte das Pferd an. Da stieg das Pferd zum Himmel empor. Nach einer Stunde Himmelsflug kam Belkiya in der von Amir regierten Provinz an. Amir sah, dass auf dem Pferd seines Herrschers ein Mensch in seine Provinz kam und ließ ihn sogleich zu sich rufen.

›Sei mir willkommen, Menschensohn, dein Besuch ist uns eine Ehre. Wie kommt es, dass du das Pferd unseres Herrschers reitest?‹

›Der Herrscher lässt Euch grüßen. Ich war eine Woche lang sein Gast und bin nun unterwegs in meine Heimat Ägypten. Der Herrscher trug mir auf, hierherzukommen. Ihr würdet mich dann ins Land der Menschen schicken.‹ Der Gouverneur bewirtete Belkiya, behielt ihn zwei Tage lang als Gast, ließ ihn dann ein anderes Pferd besteigen, wies in die Richtung zum Land der Menschen und verabschiedete sich von ihm.«

Hier schien das Abenteuer von Belkiya, das Șahmeran so schön erzählte, zu Ende zu sein.

Sogleich rief Camsap aus: »O Șahmeran, würde es Euch nicht zur Ehre gereichen, solltet Ihr das Nämliche tun, das Amir für Belkiya getan hat? Einen Verrat braucht Ihr von mir nicht zu befürchten. Ich fühle, dass ich bald sterben werde, wenn ich noch länger fern von meiner Mutter, meinen Freunden und überhaupt fern von den Menschen bleiben muss. Ich verspreche Euch hoch und heilig: Ich werde niemandem, nicht einmal meiner Mutter, von diesem Ort erzählen, geschweige denn, was mir hier alles widerfahren ist, und sollte ich auch nur Euren Namen irgendwann einmal erwähnen, so will ich das ehrloseste Geschöpf der Welt sein.«

So weinte und flehte er, doch Șahmeran erwiderte diese Beteuerungen lediglich mit einem Lächeln. Da bekamen sogar die Drachen und Schlangen, die Șahmeran bewachten, Mitleid mit Camsap. Sie küssten den Boden vor Șahmeran und sprachen: »O große Herrscherin, hab Erbarmen mit diesem jungen Mann. Wahrscheinlich stimmt, was er sagt: Wenn er hierbleibt, wird er sterben. Wer weiß, wie sehr sich seine Mutter nach ihm verzehrt und wie viele Tränen sie schon vergossen hat. Wenn er schwört, kein Sterbenswörtchen über uns zu verraten, dann können wir ihn doch freilassen, zurück in seine Welt, zurück zu seiner Mutter!«

Șahmeran aber sprach zürnenden Blickes: »Euer Flehen ist umsonst. Ihr wisst ja eines nicht: Einem Menschen zu vertrauen, heißt nichts anderes, als sein eigenes Todesurteil zu besiegeln. Sollte Camsap nur ein Hamam betreten, so würde dies schon meinen Tod bedeuten.«

Über diese Worte waren Camsap und die Drachen bestürzt.

Der älteste der Drachen sagte: »Șahmeran, große Herrscherin, so sollst du nicht sprechen! Doch so ungern wir solche Dinge vernehmen, kläre uns auf, was du damit meinst!«

»So hört denn zu. Dieser junge Mann wird in ein Hamam gehen und dort in etwas verwickelt werden, und in seiner Bedrängnis wird er unseren Ort verraten. Dann werden die Menschen uns hier überfallen und uns alle töten.«

Als Camsap das vernahm, schwor er auf die Thora, nie im Leben in ein Hamam zu gehen, doch Șahmeran unterbrach ihn sogleich. »Du brauchst nicht zu schwören, Camsap, Treueschwüre haben wir von den Menschen genug gehört, bemüh dich nicht!«

Da begann Camsap heftig zu weinen. Doch statt Tränen floss Blut aus seinen Augen. Die Drachen konnten das nicht mit ansehen und flehten Șahmeran weiter an. Einige Tage lang gab Șahmeran ihnen keine Antwort. Am ersten Tag versuchte sie Camsap abzulenken, um seine Tränenflut zu stillen. Sie sprach zu ihm: »Camsap, du willst in die Menschenwelt zurück, darüber werden wir nachdenken. Aber möchtest du wirklich fort, ohne zu erfahren, wie Belkiyas Abenteuer weiterging?«

Da hörte Camsap auf zu weinen und sagte: »Wollt Ihr bitte weitererzählen? Belkiyas Abenteuer bis zum Ende zu hören, wird mir eine Lehre sein.«

Und Șahmeran erzählte: »Als sich Belkiya von Amir getrennt hatte, gelangte er zu einem großen Berg. Auf dem Gipfel des Berges stand ein riesiges gefiedertes Wesen mit zwei Flügeln. Seine eine Hand war nach Osten, die andere nach Westen ausgestreckt. Belkiya erschrak heftig. Aber als er hörte, wie das Wesen das Glaubensbekenntnis hersagte, dachte er bei sich: Er erwähnt den Namen meines geliebten Propheten, von ihm kann mir nichts Böses geschehen. Er fasste sich ein Herz, näherte sich dem Wesen und grüßte es. Der andere erwiderte den Gruß und fragte: ›Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?‹ Daraufhin erzählte Belkiya alles, was ihm widerfahren war. Da antwortete der andere: ›Ich weiß nun, dass du zu den Menschenkindern gehörst, aber ich habe deinesgleichen noch nie gesehen. Das heißt also, sie sehen so aus wie du.‹ Da antwortete Belkiya: ›Erhabenes Wesen, ich habe dir gesagt, wer ich bin. Nun sei bitte so freundlich und verrate mir, wer du bist und wo ich mich hier befinde.‹

›Hier ist der Ort, den man den Berg Kaf nennt. Ich gehöre zu den Engeln des gnädigen Gottes. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass auf der Erde der Wechsel zwischen Tag und Nacht richtig vonstatten geht.‹

›O erhabener Engel, bitte, ich suche den Weg in die Menschenwelt, kannst du mir helfen?‹

›Geh jetzt von hier nach Osten, da befindet sich ein anderer Berg. Dort wirst du auch einen Engel treffen. Wenn du ihm begegnest, grüße ihn von mir. Er wird dir den Weg weisen.‹

Daraufhin setzte Belkiya seinen Weg fort. Als er, wie der Engel vorausgesagt hatte, bald wieder einen Berg erreichte, erblickte er dort einen anderen Engel, den er grüßte.

Der Engel fragte ihn: ›Was für ein Geschöpf bist du, und warum treibst du dich hier herum?‹

Belkiya erzählte ihm seine Geschichte und fragte dann: ›O Engel, was ist deine Aufgabe hier?‹

›Der erhabene Gott hat mich mit der Betreuung der Winde beauftragt. Ich muss dafür Sorge tragen, dass sie ordentlich zu Werke gehen. Wenn mir das nicht gelingt, gibt es ein Drunter und Drüber auf der Welt.‹

›Bitte, kannst du mir den richtigen Weg in die Menschenwelt zeigen?‹

›Geh weiter in östliche Richtung.‹

Belkiya verabschiedete sich und schlug die vom Engel gewiesene Richtung ein. Bald kam er an einen Ort, wo sich vier Engel befanden. Sie waren dafür verantwortlich, dass den Menschen ihre tägliche Ration zuteil wurde. Einer von ihnen hatte Menschengestalt. Ihm näherte sich Belkiya, grüßte und fragte ihn nach dem richtigen Weg. Dann setzte er den Marsch in die angewiesene Richtung fort.

Er überwand Berge, durchquerte Täler und Flüsse. Dabei traf er auf die unterschiedlichsten Wesen. Schließlich gelangte er an die große Mauer, die einst von den Chinesen gegen Gog und Magog errichtet worden war. Darin entdeckte er ein Tor, das aber verschlossen war. Vor dem Tor wachten zwei Männer, die er nach dem Weg in die Menschenwelt fragte.

Einer der Wachmänner sagte: ›O Menschensohn, um in deine Welt zu gelangen, musst du durch dieses Tor gehen, das Tor kann aber nur der Erzengel Gabriel öffnen.‹

Da verzweifelte Belkiya und begann zu weinen und zu beten: ›O Herrgott! Ich liebe deinen erhabenen, geliebten Propheten und habe mich auf der Suche nach ihm auf diese Weltreise begeben. Durch widrige Umstände bin ich vor dieses Tor gelangt. Um dieses erhabenen, geliebten Propheten willen, lass mich wieder in meine Heimat gelangen. Schicke den heiligen Gabriel und lass ihn das Tor öffnen!‹

Kaum hatte er sein Gebet beendet, öffnete sich plötzlich das Tor. Belkiya rannte hindurch auf die andere Seite der Mauer.

Ein wunderschönes Wesen zeigte in die Richtung, die er einschlagen sollte: ›Geh dort entlang, Menschensohn, du wirst an ein Meer kommen, aber fürchte dich nicht, schreite hinüber. Auf der anderen Seite kommst du in die Menschenwelt.‹

Belkiya schlug die gewiesene Richtung ein und kam an das Meer. Im Wasser sah er viele Fische, die an der Oberfläche schwammen und wie Menschen sprachen. Sie rezitierten das Glaubensbekenntnis. Unter ihnen war ein kleiner weißer, wie Silber glänzender Fisch, den alle umkreisten und dem sie gehorchten.

Belkiya näherte sich dem kleinen Fisch und fragte: ›Ich habe auf der Welt viele Fische gesehen, aber Fische, die unsere Menschensprache beherrschen, habe ich noch nicht getroffen.‹

Dieser antwortete: ›Obwohl wir auf der Grenze zwischen der Welt und dem Jenseits schwimmen, gehören wir nicht zu den weltlichen Fischen. Deshalb können wir sprechen. Mit der Rezitation des Glaubensbekenntnisses leisten wir Gottesdienst. So hat uns der Herrgott vor den Fischen der Menschenwelt ausgezeichnet.‹

Belkiya marschierte weiter auf dem Wasser und gelangte auf eine Insel, wo er viele Vögel erblickte, deren Gefieder und Flügel wie die verschiedenen Juwelen glitzerten. Auch sie rezitierten das Glaubensbekenntnis. Dann endlich gelangte er an Land und befand sich in China. Da dort die Menschen herrschten, war Belkiya überglücklich.«

An dieser Stelle hielt Șahmeran inne und holte Luft. Camsap vermeinte, die Erzählung sei zu Ende, und hob an zu sprechen: »Belkiyas Freude und Glück ist nur allzu verständlich. Selbst wenn ein Geschöpf in völliger Sicherheit lebt, so kann es doch nicht auf Dauer von seinen Mitwesen getrennt sein. Die Sehnsucht kann einen Menschen umbringen. Wenn Ihr Euch dies vor Augen haltet, so werdet Ihr einsehen, was für ein gutes und rechtes Werk Ihr damit tut, mich zu den Menschen, zu meiner lieben Mutter und meinen Geschwistern, zurückzuschicken.«

Als Șahmeran darauf keine Antwort gab, warfen die Drachen, die Șahmeran beschützten, sich unterwürfig zur Erde und baten: »Unvergleichliche Herrscherin! Habt Mitleid mit diesem Jüngling! Bei uns wird er sich zu Tode grämen. Verbürgt er sich für unsere Sicherheit, so lasst ihn doch zurück in seine Heimat!«

Lächelnd erwiderte Șahmeran: »Auch ich erwäge, diesem Jungen die Freiheit zu schenken, doch hält mich einstweilen noch so manches davon ab. Bringen wir zuerst einmal Belkiyas Abenteuer zu Ende, danach werde ich gewiss einen Plan ins Auge fassen.«

Die Drachen dankten Șahmeran. Camsap wiederum, begierig darauf, seine Neugier zu stillen und seinem unterirdischen Gefängnis zu entrinnen, sprach zu Șahmeran: »Große Herrscherin, so erzählt mir das Ende von Belkiyas Abenteuern, da ich mich vor Neugierde kaum mehr zügeln kann!«

Und Șahmeran erzählte: »Belkiya wanderte nun weiter. Eines Tages gewahrte er ein Haus aus weißem Marmor, vor dessen Tür ein von Kopf bis Fuß in Seide gewandeter edler junger Mann stand. Er musterte Belkiya von oben bis unten und sprach dann freundlich: ›Sei willkommen in diesen Gefilden, Fremder!‹

Belkiya erwiderte den Gruß und erzählte dann, was ihm widerfahren war. Der junge Mann ließ ihn in sein Haus, hieß ihn Platz nehmen und lud ihn zu einem Mahl ein. Belkiya sprach zu ihm: ›Ihr habt vernommen, wie es mir ergangen ist, so erzählt nun auch Eure Abenteuer.‹ So fing der junge Mann an, zu erzählen.