Im Schatten der Schuld - Chris Fowler - E-Book

Im Schatten der Schuld E-Book

Chris Fowler

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Beschreibung

Im Schatten der Schuld
Ein packender Psychothriller von Chris Fowler
Ein toter Junge im Wald. Eine Akte voller Lücken. Ein Kommissar, der selbst ein Geheimnis trägt.
Als im dichten Nebel eines Berliner Forsts die Leiche eines längst vermissten Kindes gefunden wird, beginnt für Hauptkommissar Elias Winter ein Albtraum, der ihn tief in die Schatten seiner eigenen Vergangenheit führt. Die Ermittlungen führen zu einer verstörenden Kette aus Schweigen, Korruption und einem Netzwerk, das seine Fäden bis in die höchsten Kreise zieht.
Doch je näher Winter der Wahrheit kommt, desto mehr beginnt ihn das Gefühl zu verfolgen, selbst Teil eines Spiels zu sein, das längst über Leben und Tod hinausgeht. Eine mysteriöse Zeugin, eine verschwundene Akte, ein Foto, das alles verändert – und ein Name, der nie hätte auftauchen dürfen.
Wie weit kann man graben, ohne selbst zu fallen?
Im Schatten der Schuld ist ein atmosphärischer, tiefgründiger Thriller über Schuld, Verdrängung und die zerstörerische Kraft der Wahrheit. Chris Fowler verwebt meisterhaft psychologische Tiefe mit eiskalter Spannung – ein Roman, der unter die Haut geht und lange nachwirkt.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Chris Fowler

Im Schatten der Schuld

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Dieses eBook wurde mit Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Der Fund im Wald

Kapitel 2 – Ein Gesicht aus der Vergangenheit

Kapitel 3 – Kommissar Winter übernimmt

Kapitel 4 – Tatort ohne Spuren

Kapitel 5 – Die Stimme auf dem Band

Kapitel 6 – Dunkle Erinnerungen

Kapitel 7 – Ein Motiv im Verborgenen

Kapitel 8 – Die Witwe schweigt

Kapitel 9 – Alibi unter Druck

Kapitel 10 – Verlorene Zeit

Kapitel 11 – Ein Brief ohne Absender

Kapitel 12 – Das Schweigen der Schwester

Kapitel 13 – Ein zweiter Toter

Kapitel 14 – Die Lüge im Protokoll

Kapitel 15 – Bewegungen im Nebel

Kapitel 16 – Das Verhör

Kapitel 17 – Ein Fehler vor Jahren

Kapitel 18 – Die Nacht der Wahrheit

Kapitel 19 – Verbindungen ins Nichts

Kapitel 20 – Ein Name taucht auf

Kapitel 21 – Falsches Spiel

Kapitel 22 – Der Anruf um drei

Kapitel 23 – Ein Foto, das alles verändert

Kapitel 24 – Alte Sünden

Kapitel 25 – Der Zeuge von damals

Kapitel 26 – Ein Haus voller Geheimnisse

Kapitel 27 – Das verschwundene Kind

Kapitel 28 – Tiefer Fall

Kapitel 29 – Im Verhörraum

Kapitel 30 – Eine Wahrheit zu viel

Kapitel 31 – Blut auf dem Asphalt

Kapitel 32 – Rückkehr ins Haus am See

Kapitel 33 – Geständnis im Dunkeln

Kapitel 34 – Schuld und Strafe

Kapitel 35 – Neuanfang im Regen

Kapitel 1 – Der Fund im Wald

Der Wind kroch durch die Äste wie ein geisterhafter Atemzug, kalt und feucht, obwohl der Frühling bereits seine Spuren hinterlassen hatte. Vogelstimmen mischten sich mit dem leisen Rascheln der Blätter, das von Zeit zu Zeit wie ein erstickter Schrei in der Stille des Waldes wirkte. Es war der Morgen nach dem ersten richtigen Regen der Saison, und der Boden war weich, beinahe schwammig. Spuren blieben in der Erde zurück – Rehe, Wildschweine, vielleicht ein Hund. Oder etwas anderes.

Jonas Eberhardt war kein Mann, der sich leicht aus der Ruhe bringen ließ. Mit seinen siebenundsechzig Jahren hatte er mehr Stürme überlebt als mancher Förster in doppelter Dienstzeit. Seit drei Jahrzehnten kontrollierte er dieses Waldstück im nördlichen Teil Brandenburgs, wo die Grenzen zwischen Privatbesitz und Niemandsland ineinander übergingen. Doch an diesem Morgen war etwas anders. Etwas stimmte nicht.

Er hatte die Lichtung unzählige Male durchquert. Sie war nicht besonders auffällig, nicht besonders schön – nur ein abgeholztes Stück Waldboden, das sich gegen den Rest des dichten Forsts behauptete wie eine Narbe auf gesunder Haut. Und doch blieb er heute abrupt stehen, als hätte ihn ein unsichtbarer Widerstand gestoppt.

Der Geruch war es zuerst. Süßlich. Metallisch. Unnatürlich.

Eberhardt sog die Luft ein, runzelte die Stirn. Er roch Dinge, lange bevor er sie sah – ein Überbleibsel seines alten Lebens, als Fährtenlesen mehr bedeutete als GPS und Drohne. Langsam, bedächtig setzte er den Rucksack ab, zog das Fernglas aus der Seitentasche und suchte die Lichtung ab. Nichts. Kein Wild. Keine Bewegung. Nur die tote Stille zwischen den Bäumen.

Dann sah er es.

Nicht sofort. Nur ein Winkel, eine Störung im Gleichgewicht der Natur: ein Fragment roten Stoffs, halb von Laub bedeckt, schräg an einem Baumstumpf lehnend. Daneben – war das ein Schuh?

Seine Schritte wurden schwerer, langsamer. Etwas in ihm wollte nicht näher gehen. Aber er tat es trotzdem. Er wusste, dass man Dinge nicht ungeschehen machte, indem man ihnen den Rücken zukehrte.

Je näher er kam, desto klarer wurde das Bild. Der rote Stoff war Teil einer Jacke – Damenjacke, hochwertig, teuer. Der Schuh, schwarz und aus Wildleder, gehörte zu einem zierlichen Fuß, der sich merkwürdig verdreht aus dem Laub schob. Dann sah er die Hand – blass, fast durchsichtig, mit rot lackierten Fingernägeln. Sie war merkwürdig ruhig, als gehöre sie nicht zu einem Körper, sondern sei von einem Bild gefallen.

Er wich einen Schritt zurück. Der Boden gab unter seinem Gewicht nach, ein dumpfes Schmatzen drang aus dem feuchten Erdreich. Die Luft schien dicker geworden zu sein, als müsste man sich durch sie hindurch kämpfen.

Dann zückte er sein Handy, wählte die Nummer, die er hoffte nie wieder anrufen zu müssen.

„ Polizei – Notrufzentrale Brandenburg, was kann ich für Sie tun?“

Eberhardts Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren. „Hier ist Jonas Eberhardt. Ich bin Förster im Revier Steinbruch-Nord. Ich… ich glaube, ich habe eine Leiche gefunden.“

Kommissar Lennart Winter hatte den Kaffee noch nicht ganz angesetzt, als das Telefon schrillte. Er hasste das Geräusch. Es war altmodisch, ein Relikt aus einer Zeit, in der er noch glaubte, dass man Ordnung schaffen könne, wenn man nur hart genug arbeitete. Heute wusste er es besser.

„ Winter.“ „Chef, wir haben einen Fund im Wald. Revier Steinbruch-Nord. Förster ruft von einer Lichtung an, sagt, da liegt eine Frauenleiche. Ziemlich frisch, meint er.“ „Ist das bestätigt?“ „Noch nicht, aber... er klang nicht wie jemand, der sich irrt.“

Winter seufzte, drückte den Deckel der Kaffeemaschine herunter, als könnte er damit die Müdigkeit vertreiben, die sich in seinen Knochen festgesetzt hatte wie Kalk im Wasserkocher. Dann griff er nach der Jacke.

„ Ich bin unterwegs. Schickt Kriminaltechnik und die Spurensicherung gleich mit.“

Er wusste, wie diese Dinge begannen. Und er wusste, dass sie selten dort endeten, wo man es erwartete.

Zwei Stunden später war der Wald in einem Zustand, den Eberhardt nur aus Filmen kannte. Blaue Planen. Absperrband. Männer und Frauen in weißen Overalls, die sich über die Leiche beugten wie Wissenschaftler über ein zerbrochenes Artefakt. Und mittendrin: Kommissar Winter, groß, breitschultrig, mit diesem Ausdruck von ständiger innerer Anspannung, den man sich nur antrainiert, wenn man zu oft gesehen hat, wie das Leben aus der Bahn geworfen wird.

„ Sie haben sie gefunden?“ fragte Winter und reichte Eberhardt eine Zigarette, obwohl der nicht rauchte.

„ Ich geh jeden zweiten Morgen hier entlang. Heute war da dieser Geruch. Und dann… das da.“ Er nickte zur Lichtung.

Winter folgte dem Blick. Die Leiche war noch nicht identifiziert. Weiblich, Ende zwanzig, vielleicht Anfang dreißig. Keine Ausweispapiere. Die Hände waren gefaltet, wie bei einem Kind, das sich verstecken will. Doch das Blut an den Schläfen sagte etwas anderes. Es war nicht der Wald, der sie getötet hatte.

Winter drehte sich um, ließ den Blick durch das Dickicht schweifen. Die Natur war nicht still – sie beobachtete.

Er spürte es in den Knochen. Dies war kein Zufall. Kein Ausrutscher. Keine panische Tat in einem Rausch.

Dies hier war geplant gewesen. Und das bedeutete: jemand hatte gewollt, dass sie gefunden wurde.

Kapitel 2 – Ein Gesicht aus der Vergangenheit

Die Autopsie war für den nächsten Morgen angesetzt, doch Kommissar Lennart Winter wusste schon jetzt, dass die Leiche auf der Lichtung ihm nicht einfach wieder aus dem Kopf gehen würde. Es lag nicht nur an der Art, wie sie dort gelegen hatte – beinahe zärtlich gebettet, mit der Sorgfalt eines Rituals. Es lag an der Unruhe, die sich in ihm ausbreitete wie Risse im Eis, die tief unter der Oberfläche begannen und sich unaufhaltsam nach außen fraßen.

Er stand in seinem Büro im Polizeipräsidium Eberswalde, die Fenster geöffnet, obwohl es zu kühl war. Der Geruch von nassem Asphalt und Tannennadeln zog herein. Auf dem Schreibtisch lag ein Ausdruck der ersten Spurensicherung: keine Ausweispapiere, keine Handtasche, kein Handy. Die Jacke war eine italienische Marke – teuer, aber kein Unikat. Der Körper wies keine Kampfspuren auf, keine Abwehrverletzungen. Nur ein gezielter, brutaler Schlag an der rechten Schläfe. Wie mit einem stumpfen Gegenstand. Oder einem Stein.

„ Chef?“ Die Stimme von Kriminalkommissarin Rieke Martens war leise, fast vorsichtig. Sie wusste, dass Winter nicht gerne gestört wurde, wenn er in diesem Zustand war – wenn seine Gedanken schweiften, tastend und still, wie ein Hund auf Spurensuche.

Er drehte sich langsam zu ihr um.

„ Die Gesichtserkennung hat etwas ausgespuckt. Nicht aus dem deutschen Register. Europol. Eine alte Vermisstenanzeige. 2015 – Fall wurde nie aufgeklärt.“ „Name?“ „Sina Morberg. Gebürtig aus Potsdam, zuletzt gemeldet in Köln. Damals 26 Jahre alt. Verschwunden nach einer Party. Keine Leiche, kein Abschiedsbrief. Die Ermittlungen liefen ins Leere.“ „Und was macht ihre Leiche fast zehn Jahre später in einem brandenburgischen Wald?“ murmelte Winter mehr zu sich selbst als zu Rieke.

Er nahm den Ausdruck entgegen. Das Foto war vergilbt, unscharf – eine junge Frau mit dichten, dunklen Locken, ernsten Augen und einem Lächeln, das nicht ganz zu ihr zu passen schien. Es war kein fröhliches Lächeln, sondern eines, das zu viel gesehen hatte. Eines, das etwas verbarg.

„ Kennst du den Namen?“ fragte Rieke plötzlich.

Winter ließ sich in seinen Stuhl sinken. Er schwieg einen Moment zu lange.

„ Ich kannte mal eine Morberg“, sagte er schließlich. „Aber das ist lange her.“

Frühjahr 2003.

Ein anderes Büro. Ein anderes Leben.

Winter war damals noch kein Kommissar, sondern ein frischer Ermittler auf Bewährung, versetzt von Berlin nach Potsdam, jung, wütend, ehrgeizig. Er trug die Wut wie ein Abzeichen – gegen das System, gegen den Vater, gegen die Welt.

Der Fall damals war klein gewesen. Vandalismus in einem Internat, verschwundene Schülersachen, Graffiti an den Wänden. Doch die Schulleitung bestand auf einer polizeilichen Untersuchung. In einer privaten Eliteschule ließ man keine Schandflecken zu.

Und da war sie gewesen. Sina Morberg, sechzehn, schweigsam, mit einem Blick, der Menschen auf Abstand hielt. Tochter eines einflussreichen Anwalts. Mutter früh verstorben. Hochintelligent. Anders.

Winter hatte mit ihr gesprochen, während ein Kollege mit dem Schuldirektor diskutierte. Es war sein erstes richtiges Verhör gewesen, und es war... anders verlaufen als erwartet.

Sina hatte nicht die geringste Angst gezeigt. Keine Nervosität. Nur diese merkwürdige, traurige Überlegenheit, als habe sie schon lange aufgehört, sich von Menschen etwas zu erhoffen.

„ Sie glauben, das hier sei wichtig“, hatte sie damals gesagt. „Aber Sie sehen nur die Kratzer auf der Oberfläche. Das, was darunterliegt, interessiert Sie nicht.“

Er hatte sich damals ertappt gefühlt. Wie durchschaut. Es war nur ein flüchtiges Gespräch gewesen, aber es hatte sich eingeprägt. Auch, weil sie – zwei Wochen später – spurlos von der Schule verschwand. Damals hieß es, sie sei ins Ausland gegangen. Privatschule in der Schweiz. Alles gedeckt, alles offiziell.

Aber Winter hatte ihr nie geglaubt.

„ Chef?“ Riekes Stimme holte ihn zurück in die Gegenwart. „Sie war damals schon… ungewöhnlich“, sagte er leise. „Sie kennen sie wirklich?“ „Ich habe sie einmal verhört. Sie war sechzehn. Und ich war zu grün, um zu erkennen, was da wirklich los war.“

Er stand auf, trat zum Fenster. Die Dächer von Eberswalde glänzten unter dem grauen Himmel. Der Regen war zurückgekehrt, leise, gleichmäßig.

„ Wir brauchen alles über den alten Fall. Wer hat damals ermittelt? Welche Kontakte hatte sie? Familie, Freunde, Lehrer. Vielleicht war das hier nie ein Verschwinden, sondern ein Anfang.“

Am Abend fuhr Winter allein nach Potsdam. Er hätte warten können, bis die offiziellen Unterlagen eintrafen. Aber etwas in ihm ließ ihn nicht los. Er kannte dieses Gefühl. Es kam selten, aber wenn es kam, lag er selten falsch: Dies war mehr als ein Mord.

Das Morberg-Haus lag noch immer in der nördlichen Villenkolonie, hinter hohen Mauern und geschwärzten Eisentoren. Winter kannte die Adresse noch auswendig. Er hatte damals vergeblich versucht, mit dem Vater zu sprechen – Dr. Julius Morberg, ein Mann mit Verbindungen, Geld und einem Instinkt dafür, Dinge verschwinden zu lassen.

Die Klingel war neu. Die Stimme aus der Gegensprechanlage war kühl.

„ Was wollen Sie?“ „Mein Name ist Kommissar Lennart Winter. Ich habe ein paar Fragen zu Ihrer Tochter.“

Stille.

Dann: „Sie ist seit Jahren tot. Warum interessiert sich die Polizei jetzt plötzlich wieder für sie?“ „Weil wir sie heute gefunden haben.“

Wieder Stille. Dann ein Klicken. Das Tor glitt langsam zur Seite.

Winter trat ein.

Kapitel 3 – Kommissar Winter übernimmt

Die Tür zum Haus Morberg öffnete sich langsam, als wolle sie prüfen, wer da wirklich davorstand. Kommissar Lennart Winter trat ein wie jemand, der einen Ort betritt, den er zwar kennt, aber lange vermeiden wollte.

Das Foyer war kühl, makellos, beängstigend still. Nichts in diesem Haus schien sich verändert zu haben, seit Sina Morberg im Jahr 2003 durch genau diese Halle gegangen war – sechzehn, mit gesenktem Blick und einem schweigenden Vater im Rücken.

Dr. Julius Morberg erschien im Türrahmen seines Arbeitszimmers wie ein Schatten: grauhaarig, hager, mit einem Maßanzug, der nicht mehr über seine Erschöpfung hinwegtäuschen konnte. Sein Blick war klar, fast unverschämt wachsam für einen Mann Mitte sechzig.

„ Sie sagten, meine Tochter wurde gefunden.“

Winter nickte knapp. „Heute früh. In einem Waldstück bei Eberswalde. Es besteht kein Zweifel, dass es sich um Sina Morberg handelt.“ „Wie lange ist sie tot?“ „Das wird die Autopsie morgen klären. Unser Gerichtsmediziner schätzt: seit ein bis zwei Wochen.“

Morberg verzog das Gesicht. Keine Träne. Kein Schock. Nur eine kaum wahrnehmbare Regung in den Mundwinkeln – wie ein bitteres Eingeständnis.

„ Ich hatte gehofft, sie sei tot“, sagte er dann. „Aber nicht so.“

Winter blinzelte. Diese Art von Ehrlichkeit war seltener als Blutdiamanten.

„ Warum dachten Sie, sie sei tot?“ „Weil sie nie wieder einen Ton von sich gegeben hat. Kein Brief. Kein Anruf. Kein Lebenszeichen. Und weil Sina nicht der Typ Mensch war, der einfach ein neues Leben anfängt. Sie war kein Ausreißer. Wenn sie ging, dann für immer.“

Ein Moment der Stille. Draußen begann es erneut zu regnen, leise, fast höflich.

„ Was ist damals wirklich passiert?“ fragte Winter. „Im Jahr 2015. Als sie verschwand.“

Morberg ging zum Fenster, blickte hinaus, als würde er dort eine Antwort finden. Dann drehte er sich langsam um.

„ Ich weiß es nicht“, sagte er. „Wir hatten seit Jahren kaum noch Kontakt. Sina war ein schwieriges Kind. Ihre Mutter ist früh gestorben, sie hat sich nie davon erholt. Sie war klug. Aber sie war…“ – er suchte nach einem Wort – „…kaputt. Innen. Als sie sechzehn war, habe ich sie in ein Internat geschickt. Danach war alles anders.“

Winter nickte. Er kannte das Internat. Kannte die Gerüchte. Elite. Druck. Leistungsfetisch. Und ein paar sehr dunkle Geschichten, die nie ans Licht gekommen waren.

„ Hat sie dort jemandem von den Vorfällen erzählt? Gewalt? Missbrauch?“ „Sina hat nie über sich gesprochen“, sagte Morberg. „Sie war verschlossen. Fast unheimlich. Wenn sie verletzt wurde, blutete sie nach innen.“

Winter spürte, wie sich eine längst vergessene Wut in ihm regte. Er dachte an das Mädchen mit dem zu ernsten Blick, das ihn vor zwanzig Jahren mit einer einzigen Frage entwaffnet hatte. „Was glauben Sie eigentlich, was hier passiert?“ – eine Frage, auf die er damals keine Antwort hatte. Und heute auch kaum.

„ Sie hatte Feinde. Aber auch Freunde“, fuhr Morberg fort. „Eine davon hieß Helena. Sie wohnten später zusammen in Köln. Ich habe sie nie kennengelernt, aber sie war wohl der einzige Mensch, dem Sina vertraute.“

Winter machte sich eine mentale Notiz. Helena – Mitbewohnerin. Köln. Kontakt aufnehmen.

„ Sie sagten damals, sie sei nach Frankreich gegangen. War das gelogen?“ Morberg nickte. „Ich musste irgendetwas sagen. Die Presse war neugierig. Und Sina… sie hätte es gehasst, wenn man sie gesucht hätte. Es war ihr letzter Schutzschild: Vergessenwerden.“

Zwei Tage später. Das Präsidium war in einen Zustand gespannter Betriebsamkeit übergegangen, wie er sich immer dann einstellte, wenn ein Fall größer zu werden drohte als zunächst gedacht. Die Presse hatte von der Leiche erfahren. Noch kein Name. Noch kein Bild. Aber das Interesse wuchs. Eine junge Frau. Im Wald. Offenbar gezielt getötet. Und dann: die Vergangenheit. Die alten Fragen. Die Lücken in den Akten.

Winter trat in den Konferenzraum, in dem das Ermittlungsteam zusammenkam. Rieke Martens, sein ruhiger Fels. Amir Basha, der Spurenspezialist. Und Jördis Lenz, die IT-Analystin, ein wandelndes Archiv mit fotografischem Gedächtnis.

„ Was haben wir?“ fragte Winter.

Rieke blätterte durch ihren Bericht. „Die Obduktion ist abgeschlossen. Todeszeitpunkt: vor etwa zwölf Tagen. Todesursache: stumpfe Gewalteinwirkung auf den Schädel. Keine Spuren sexueller Gewalt. Keine Drogen im Blut. Keine Hinweise auf einen Kampf. Das Opfer wurde nicht im Wald getötet, sondern dort abgelegt.“ „Transportspuren?“ „Kaum. Der Regen hat vieles weggespült. Aber Reifenabdrücke – eindeutig. Zwei verschiedene Profile, vermutlich SUV oder Geländewagen. Kein Standardmodell.“

Jördis ergänzte: „Ich habe Sinas Social-Media-Profile rekonstruiert, so weit das geht. Facebook, Instagram, ein paar Foren-Einträge. Letzter Kontakt: Frühjahr 2015. Danach: nichts. Völlige digitale Stille.“

Winter lehnte sich zurück. Er mochte es nicht, wenn Dinge so sauber wirkten. Sauber bedeutete meistens: manipuliert.

„ Was ist mit Helena?“ „Wohnhaft in Köln, arbeitet als Redakteurin bei einem Online-Magazin. Hat nie offiziell eine Vermisstenanzeige gestellt. Wir haben mit ihr telefoniert. Sie will morgen hierherkommen.“

Winter nickte. „Gut. Wir brauchen ein Bild. Kein Tatbild – ein echtes. Eines, das sie zeigt, wie sie war. Jördis, arbeite mit der Öffentlichkeitsarbeit. Es ist Zeit, dass wir den Namen veröffentlichen. Vielleicht erinnert sich jemand. Vielleicht war Sina doch nicht so vergessen, wie alle glauben.“

Am Abend saß Winter allein in seinem Büro, die Akte vor sich, das Diktiergerät an. Seine Stimme war ruhig, aber schneidend, als er begann zu sprechen:

„ Fallakte 147-B: Sina Morberg. Fundort: Revier Steinbruch-Nord. Todeszeit: 12 Tage vor Auffindung. Täterprofil: bisher unbekannt. Verbindung zur Vergangenheit: hoch. Ermittlungsstand: sensibel. Persönliche Notiz: Ich kannte das Opfer. Ich kannte sie, bevor sie verschwunden ist. Und irgendetwas sagt mir: Das hier ist nur der Anfang.“

Er schaltete das Gerät ab.

Dann blickte er aus dem Fenster in die Dunkelheit, die sich über Eberswalde gelegt hatte.

Im Schatten der Schuld beginnen die Geister zu sprechen.

Und Winter war bereit, ihnen zuzuhören.

Kapitel 4 – Tatort ohne Spuren

Der Wald roch nach nassem Moos, altem Laub und einer Ahnung von Verfall, die sich nicht genau benennen ließ. Kommissar Lennart Winter stand in kniehohem Farn, die Hände in den Taschen seines dunklen Mantels vergraben, während sich ein bleierner Himmel über das Brandenburger Land spannte.

Der Fundort war seltsam ruhig. Keine Vögel, keine Rehe. Nur das leise Knacken von Ästen unter Gummistiefeln und das Schnaufen der forensischen Techniker, die wie stumme Gespenster zwischen den Bäumen arbeiteten.

„ Hier also“, murmelte Winter.

Die Lichtung war nicht mehr als eine kleine Öffnung im Wald, kaum zehn Meter im Durchmesser. An ihrem Rand wuchs eine halbkreisförmige Gruppe junger Buchen, deren Zweige wie knöcherne Finger in den Himmel griffen. Das Moos in der Mitte war noch leicht dunkler als ringsum – die Stelle, an der die Leiche gelegen hatte.