Im Schatten der Verderbnis - Rafaela Asano - E-Book

Im Schatten der Verderbnis E-Book

Rafaela Asano

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Beschreibung

Miko hat keine Erinnerungen mehr an ihr vorheriges Leben. Auf der Suche nach sich selbst, wird sie mit einer Völkergruppe konfrontiert, die die Verderbnis verehrt, die das Land heimsucht. Auf ihrer Reise erlebt sie Leid, Verrat und Verzweiflung und erhält von einem Tempel einen wichtigen Auftrag. Mit der Hilfe eines mysteriösen Fuchses und mutigen Gefährten, lernt Miko über sich selbst hinauszuwachsen.

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Seitenzahl: 393

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Rafaela Asano

Im Schatten der

Verderbnis

Die Priesterin

Für Oma Anneliese

Du hast immer an mich geglaubt.

- Prolog -

Er verzog missbilligend den Mund und starrte grimmig in die dampfende Teeschale, die ihm gebracht worden war. Ein fader Tee aus Nesseln und Geißblattblüten. Enttäuscht knirschte er mit den Zähnen. Wenn er sich schon die Mühe machte, sein Mönchsgewand überzuziehen, dann erwartete er etwas mehr von den Menschen. Dieses billige Gebräu würde er sicher nicht trinken.

Er stellte die Schale neben sich ab und ließ den Blick über die verfallenden Hütten des Dorfes schweifen. Die von Feuchtigkeit verzogenen Wände trugen gerade noch das verrottende Stroh auf den Dächern. Die Türen und Fensterläden, die schief in den Angeln hingen, machten keinen besseren Eindruck. Die Menschen wirkten hektisch und gereizt. Trotz ausreichendem Regen verdorrte das Getreide auf ihren Feldern, und das Gemüse faulte in den Beeten. Die Ziegen gaben saure Milch und starben ohne ersichtlichen Grund. Die seltsame Krankheit, die die Tiere befallen hatte, machte auch vor den Menschen nicht mehr halt. Schadenfroh zuckten seine Lippen nach oben. Ein schiefes Grinsen legte sich auf sein Gesicht.

Vor vielen Monaten wurde hier die Saat der Verderbnis gestreut, und heute überzeugte er sich davon, ob die Bemühungen sich gelohnt hatten. Warum ausgerechnet er diese Aufgabe übernehmen musste, war ihm ein Rätsel. Unweigerlich sanken seine Mundwinkel wieder herab. Er fuhr sich mit der Hand über den gründlich rasierten Schädel. Er empfand es als überaus lästig, kreuz und quer durch die Lande zu ziehen und von den Almosen der Leute zu leben, obwohl er es überhaupt nicht nötig hatte. Aber so lautete seine Anweisung, und er durfte sich ihr nicht widersetzen. Noch nicht.

Langsam erhob er sich von der hölzernen Veranda. Die goldenen Ringe an seinem Priesterstab klimperten. Nicht weit entfernt, lagen die Überreste dessen, was einmal der Dorfschrein gewesen sein musste. Sehr gut – das bedeutete, die Götter besaßen hier keine Macht mehr. Die Verderbnis hatte sich klammheimlich in die Herzen der Menschen geschlichen und sie buchstäblich verdorben.

„Ehrenwerter Mönch“, sprach eine Stimme, und eine Gruppe aufgeregter Leute kam auf ihn zu. Eine Frau trug einen Jungen auf dem Arm und stellte ihn vor ihm auf die Füße. Genugtuung durchzuckte seinen Körper. Der Gesichtsausdruck des Kindes war abwesend, es war abgemagert und seine Augen schimmerten schwarz.

„Bitte, helft meinem Jungen. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Ich befürchte, etwas Böses hat Besitz von ihm ergriffen. Helft ihm. Ich flehe Euch an.“

Er betrachtete die Mutter, die vor ihm im Staub kroch. Abscheu machte sich in seinem Körper breit. Seine Muskeln spannten sich an. Alles in ihm drängte danach, sich abzuwenden. Er kämpfte das Gefühl nieder und setzte eine mitleidige Miene auf.

„Ehrenwerter Mönch, meint Ihr, es könnte die Verderbnis sein, die unser Dorf heimsucht?“, fragte ihn das betagte Dorfoberhaupt mit gerunzelter Stirn.

Bei der Erwähnung der Verderbnis mahnte er sich zur Vorsicht. Er musste die Leute in Sicherheit wiegen, damit sie nicht auf die Idee kamen, sich priesterlichen Beistand aus den Tempeln zu holen. Sie mussten den Eindruck gewinnen, dem Problem selbst Herr zu werden.

Er unterdrückte das hämische Grinsen, das sich erneut in sein Gesicht stehlen wollte. Er hatte sich sein Opferlamm schon beim Betreten des Dorfes ausgesucht. Die dämonische Aura war ihm sofort aufgefallen. Egal, wie sehr sie sie verbarg. Ohne es anzusehen, zeigte er auf das Mädchen mit den struppigen blonden Haaren.

„Zeige dich, Dämon!“

- 1 -

Langes Gras wiegte sich in den Böen des lauen Frühlingswindes und strich sanft über ihr Gesicht, kitzelte ihre Nase und ihren Hals. Sie schlug die Augen auf und blinzelte in das helle Strahlen der Sonne. Langsam richtete sie sich inmitten einer grünen Ebene auf, übersät mit Wildblumen, die in den prächtigsten Farben blühten.

Ein stetiges Rauschen erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie folgte dem Geräusch bis zu einer nahegelegenen Klippe. Unter ihr schwappte das Meer in kleinen Wellen gegen die Felsen. Sie schloss ihre Augen, legte den Kopf in den Nacken und genoss wie der sanfte Wind mit ihren langen Haaren spielte. Das Gesicht zur Sonne gewandt, sickerte Wärme durch ihre Haut und erweckte in ihr den Schein von Frieden.

Doch tief in ihr regte sich eine Zerrissenheit, die sie mit eisigen Krallen zu packen schien. Eine Frage lag ihr auf der Zunge und überschattete diesen friedvollen Ort. Sie pochte in ihr, nagte an ihrem Herzen und drängte sich ihrem Geist auf.

Wer war sie?

Angestrengt dachte sie zurück. Aber da war nichts. Unruhe breitete sich in ihr aus, und ihr Herz klopfte wild. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn und ein lautes Rauschen in ihrem Ohr hinderte sie daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war, als sträubte sich ihr Körper, sich zu erinnern.

Ihr Blick glitt zu einem kleinen Eschenwäldchen, und es beschlich sie das Gefühl beschattet zu werden. Konzentriert beobachtete sie die Baumkronen, die sich in einer stürmischen Windböe aufbauschten, und lauschte dem Rauschen der Blätter.

Bald würde ein Unwetter aufziehen. Aus der Ferne zogen dunkle Wolken bedrohlich wirkend heran. Doch ihre Aufmerksamkeit richtete sich nach wie vor auf die Ansammlung der grünen Laubbäume. Sie suchte die Stämme ab. Dort im Unterholz, aus dem dichten Buschwerk, umgeben von den knotigen Wurzeln der Eschen, blitzte ihr ein Paar goldener Augen entgegen. Sonnenlicht tanzte mit den Schatten um die Wette und malte schimmernde Muster auf rotes Fell. Das Gesicht lief spitz zu und endete in einer langgezogenen weißen Schnauze. Die schwarzen Vorderpfoten standen ordentlich nebeneinander, die Krallen umringt von Maiglöckchen.

Der Fuchs saß wie versteinert da. Würde sich das Fell nicht in der immer stärker aufbrausenden Brise bewegen, hätte sie ihn für eine Statue gehalten. Sein Blick hielt sie gefangen. Er ließ sie erstarren. Der Wind legte sich und Stille kehrte ein.

Es gab nur sie beide, die sich gegenseitig nicht mehr aus den Augen ließen.

Ein einzelner Regentropfen platschte unbeachtet auf das Gras. Dann ein weiterer und immer mehr, bis das stetige Tropfen die Luft erfüllte. Aus heiterem Himmel sprang der Fuchs auf die Beine und verschwand im Dickicht der Büsche.

Wie von einem Zauber erlöst, verflüchtigte sich ihre Starre. Sie folgte dem Tier zwischen die Bäume, um Schutz vor dem Regen zu suchen.

Unter dem dichten Blattwerk angekommen, schaute sie sich um. Das rote Fell, das sie so sehr in den Bann gezogen hatte, entdeckte sie nicht mehr.

- 2 -

Es dauerte nicht lange, bis der Regen durch das belaubte Dach der Eschen brach. Mutterseelenallein und durchnässt, wie sie war, sehnte sie sich nach einer warmen Unterkunft und Gesellschaft.

Sobald sie im Freien stand, zerrte ein Sturm an ihrer Kleidung, die vom Regen schwer und kalt an ihrer Haut klebte. Vor ihr erstreckte sich eine weite Ebene mit Weiden. Schafe blökten und drängten sich dicht an dicht, um dem Schauer zu trotzen.

Unweit der Umzäunungen lag ein Dorf. Eine Ansammlung kleinerer und größerer Holzhütten. Im Hintergrund erkannte sie einige Felder, und in wabernden Nebel gehüllt eine Gebirgskette. Mit festen Schritten machte sie sich auf den Weg in Richtung der Siedlung.

Sie spürte die Anwesenheit des roten Fuchses, der ihr auf den Fersen war, wie ein leichtes Zupfen in ihrem Inneren.

War das möglich? Konnte es sein, dass dieses Wesen mehr war, als ein gewöhnliches Waldtier? Warum verfolgte es sie?

Pfeilschnell wandte sie den Kopf zur Seite und erhaschte eine buschige rotweiße Schwanzspitze, ehe sie hinter einem Felsen verschwand.

Sie entschied, dass es keinen Sinn hatte im strömenden Regen darüber zu spekulieren, welche Beweggründe dieses Wesen dazu trieben, ihr zu folgen.

Ihr Weg führte sie vorbei an einem kleinen Schrein, der versteckt im hohen Gras am Wegesrand stand. Frische Blumen waren als Opfergabe vor ihm abgelegt worden. Ein Gefühl der Vertrautheit stieg in ihr empor und sie fasste neuen Mut. Gewiss konnten ihr die Dorfbewohner bei der Suche nach ihren verlorenen Erinnerungen behilflich sein – zumindest hoffte sie das.

Im Dorf erwartete sie eine angenehme Ruhe. Die meisten Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. Vereinzelte Rufe von Eltern waren zu hören, die ihre Kinder dazu anhielten, endlich nach drinnen zu kommen.

Einige Jungen und Mädchen sprangen zwischen den Gebäuden herum, dass die Pfützen nur so spritzten. Ihr Gelächter schaffte es fast, das laute Peitschen des Regens zu übertönen.

Sie hielt vor einer größeren Hütte. Ein hölzernes Schild wies sie als Gasthaus für Reisende aus. Beherzt klopfte sie an und trat hinein. Warme, stickige Luft umgab sie.

„Ach herrje!“, krächzte eine alte Frau, die bei ihrem Anblick die Augen aufriss. Die hochgezogenen Augenbrauen legten ihre Stirn in tiefe Falten. Sie trug eine zerknitterte Schürze und legte eilig einen Lappen zur Seite. Sie war anscheinend die Wirtin. „Verzeiht mir mein Starren, aber was führt eine Miko wie Euch in unser bescheidenes Dorf?“ Tiefe Furchen durchzogen ihr Gesicht und das ergraute Haar hatte sie zu einem festen Knoten geschlungen.

„Miko?“, entgegnete sie verwirrt. „Ich–“

„Ach, wo sind bloß meine Manieren? Ihr seid ja ganz nass. Bitte, setzt Euch.“ Die Wirtin wies auf einen Platz in der Nähe des Kamins und verschwand durch eine nahegelegene Tür. Mit vor Anspannung steifen Bewegungen folgte sie stumm der Aufforderung und setzte sich auf eine hölzerne Bank. Als die rüstige Dame zurückkam, trug sie eine Decke bei sich, die sie ihr um die Schultern legte. Die raue Schafswolle kratzte an ihrem Hals. Doch schon bald breitete sich unter ihr eine wohltuende Wärme aus und vertrieb das klamme Gefühl aus ihren Knochen.

„Kann ich etwas für Euch tun?“

„Ihr sagtet, ich sei eine Miko?“

Ihr Herz klopfte wild in der Brust. Konnte sie womöglich schon etwas über ihre Vergangenheit erfahren?

„Nun, das nahm ich an, weil Ihr das Gewand einer Tempeldienerin tragt. Seid Ihr denn keine Schreinmaid?“

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich weiß nicht einmal, wo ich hier bin.“ Ihre Finger bewegten sich unruhig über den massiven Tisch aus Eichenholz, und sie zwang sich dazu die Hände in ihrem Schoß zu falten. Die Wirtin machte ein mitleidiges Gesicht, was ihre Falten noch tiefer erscheinen ließ.

„Ich könnte Euch eine Kammer anbieten, in der Ihr übernachten könnt. Es ist nicht viel, und einer Dienerin der Tempel bei Weitem nicht würdig, aber wenigstens habt Ihr einen Unterschlupf für die Nacht.“ Sie nickte verhalten. Sie war erschöpft und wollte sich für die Suche nach ihren verlorengegangenen Erinnerungen erst einmal sortieren. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wo sie beginnen sollte.

„Aber, ich habe kein Geld. Ich kann das Zimmer leider nicht zahlen.“ Die alte Frau winkte mit einer unwirschen Geste ab.

„Was wäre ich für eine Gastwirtin, wenn ich von einer Miko Geld annehmen würde? Ich heiße übrigens Megumi.“

„Danke, Megumi“, sagte sie und deutete eine Verbeugung an. Die Wirtin aber verschwand bereits in einen anderen Raum. Kurz darauf war das Knistern eines Feuers zu hören.

Einige Zeit später stand vor ihr eine dampfende Schüssel mit Eintopf. Die warme, kräftige Brühe, das frische Gemüse und das würzige Fleisch weckten ihre Lebensgeister und schenkten ihr neue Kraft. Als die Nacht hereingebrochen war und sie sich auf ihr Zimmer zurückzog, stellte sich ein Gefühl der Zufriedenheit bei ihr ein. Ihre Kammer war recht beengt. Es fand sich dennoch genug Platz für einen winzigen Tisch, unter den ein Hocker geschoben stand, und ein Strohlager, das ihr als Schlafstätte diente. Sie zog den Schemel hervor und setzte sich. Dicke Regentropfen prasselten gegen die geschlossenen Fensterläden. Eine Schreinmaid, geisterte es ihr durch den Kopf, stimmt das? Grübelnd begutachtete sie ihre Kleidung, die zum Trocknen auf einer Leine mitten durch die Kammer aufgehängt war. Das leuchtende Rot und das blütenreine Weiß der Robe schienen sie zu verhöhnen. Sie holte tief Luft und sank beim Ausatmen müde in sich zusammen. Wieso erinnerte sie sich nicht an ihre Vergangenheit? Sollte Megumi mit ihrer Vermutung recht behalten, dann war sie eine Dienerin der Tempel. Ihre größte Chance war es, den nächstgelegenen großen Schrein aufzusuchen, in der Hoffnung dort jemanden anzutreffen, der sie erkannte. Sie nahm sich vor, die freundliche Wirtin gleich morgen nach dem direkten Weg zum ersten Tempel in der Umgebung zu fragen.

Früh morgens weckten sie die Sonnenstrahlen, die durch die schmalen Ritzen der Fensterläden auf ihr Nachtlager fielen. Eine Weile blieb sie liegen und schaute zu, wie Tausende von winzigen Staubkörnchen im Licht tanzten. Ihr Blick schweifte zu ihrer Kleidung, der scharlachroten weitgeschnittenen Hose und dem weißen Oberteil, dessen Ärmel rot umsäumt waren. Sie atmete einmal tief durch und legte ihre Gewänder an. Im Gasthaus war zu dieser frühen Stunde keine Menschenseele anzutreffen. Sie folgte dem stetigen Klopfen, das sie aus der Küche vernahm. In der Küche traf sie auf Megumi, die einen großen Klumpen Teig bearbeitete. Sie schlug ihn mehrfach auf einen niedrigen Tisch und knetete ihn, bis er elastisch genug war, um daraus kleine Laibe zu formen. „Kann ich helfen?“

Die Wirtin zuckte zusammen und wandte sich mit weit geöffneten Augen zu ihr um.

„Ah, Ihr seid aufgewacht, Miko. Es stört Euch doch nicht, wenn ich Euch so nenne? Da Ihr Euren Namen nicht kennt und die Tempeldienerinnen mit dem Titel Miko angesprochen werden, dachte ich–“

„Es stört mich nicht“, erwiderte sie. Angesichts der Tatsache, dass sie die traditionelle Kleidung einer Schreinmaid besaß, musste sie selbst eine Miko sein. Mit geübten Handgriffen holte die alte Frau braun gebrannte Brotlaibe aus dem Steinofen.

„Ich denke, wenn diese Teiglinge im Ofen waren, habe ich für heute genug Brot gebacken. Das wird prächtig zu meinem deftigen Eintopf passen“, sagte Megumi guter Dinge und legte ihre Schürze ab.

Miko, hing sie ihren Gedanken nach, immerhin ist es ein Name, und einen Namen zu haben, ist besser, als nichts zu haben. Aus irgendeinem Grund gefiel es ihr sogar, so genannt zu werden. Es fühlte sich gut an. Jetzt wäre ein passender Zeitpunkt sich bei der Wirtin nach dem Tempel zu erkundigen. Sie setzte gerade zu ihrer Frage an, da ertönte ein lautes Klopfen.

„Megumi“, rief eine dröhnende Männerstimme von draußen. „Ich bin es, Daisuke.“

„Komm ruhig herein“, rief Megumi und kurz darauf erschien ein kräftiger Mann im Türrahmen. Seine Haut war wettergegerbt und seine Hände waren übersät mit Schwielen.

„Wie ich sehe, hast du Besuch. Sagt, was führt eine Schreinmaid wie Euch in unser abgelegenes Dorf?“, wandte er sich nach einem erstaunten Blick an sie.

„Bist du hier, um zu reden oder um mit anzupacken?“, grummelte Megumi und scheuchte den Hünen mit einem Armwedeln durch die Tür, die zu einem kleinen Hof hinter dem Gasthaus führte.

„Nehmt ihm seine direkte Art nicht übel, Miko“, sagte die Wirtin mit sanfter Stimme. „Unser Dorf ist die letzte Siedlung, bevor das Land endet und das Meer beginnt. Es kommt so gut wie nie vor, dass sich Menschen aus einem Tempel hierher verirren.“ Beim Klang ihres neuen Namens wurde ihr warm ums Herz. Miko lächelte verständnisvoll und folgte den beiden Dorfbewohnern ins Freie.

Das Unwetter hatte in der Nacht aufgehört. Vereinzelte Pfützen standen auf dem aufgeweichten Boden, in denen sich der wolkige Himmel spiegelte. Sie mochte den frischen, erdigen Duft, der ihr um die Nase wehte. Es stellte sich heraus, dass Daisuke der Sohn des Dorfältesten war. Er kam jeden Tag bei Megumi vorbei, um Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen und um Holz zu hacken, seit diese ihren Ehemann verloren hatte und das Gasthaus allein führen musste. Die Art und Weise, wie sich die Menschen im Dorf gegenseitig unterstützten, berührte Miko und sie malte sich aus, von welchen Menschen sie in ihrer Heimat umgeben gewesen war. Eine tiefe Sehnsucht überkam sie. Ein Verlangen nach Vertrautheit, nach einer Geborgenheit und Sicherheit, das sie nur durch das Zurückerlangen ihrer Erinnerungen würde stillen können.

Um die Mittagszeit füllte sich der Schankraum des Gasthauses und Miko beschloss, der alten Dame für ihre Gastfreundschaft unter die Arme zu greifen. Sie brachte einen Stapel benutztes Geschirr in die Küche. Megumi nahm es entgegen und tauchte es in einem großen Wasserbottich. Sie stöhnte müde und legte die Fäuste in den Rücken, während sie sich wieder aufrichtete.

„Hast du jeden Tag so viel Arbeit? Wie schaffst du das denn, so ganz alleine?“, fragte Miko, nahm der Wirtin den Lappen aus den Händen und beugte sich nach vorn, um die Teller abzuwaschen. Megumi verschnaufte eine Weile, ehe sie mit einem Augenzwinkern antwortete.

„So viel Betrieb habe ich normalerweise nicht. Es scheint sich wohl herumgesprochen zu haben, dass ich ein Tempelmädchen bei mir aufgenommen habe. Und ein hübsches noch dazu. Da ist das Interesse natürlich groß.“ Miko wandte sich verlegen dem schmutzigen Geschirr zu. Sie wusste nicht recht, wie sie auf das Kompliment reagieren sollte. Also tat sie, als kämpfte sie mit einem besonders hartnäckigen Fleck, um nicht darauf eingehen zu müssen.

Wenig später kehrte Miko zu den Gästen zurück und stellte fest, dass die alte Wirtin mit ihrer Annahme vermutlich recht behielt. Selbst wenn es ein kleines Dorf war, so tummelte sich die Hälfte aller Bewohner an den wenigen Tischen. Der Großteil bestand aus älteren Menschen, die sie erwartungsvoll musterten. Megumi trat neben sie.

„Viele von ihnen sind alt und gebrechlich geworden“, murmelte sie, „Sie erhoffen sich von einer Miko, dass sie ihren Schmerzen mit Gebeten und heiligen Riten Linderung verschaffen kann.“

„Aber, selbst wenn ich in Wahrheit eine Miko bin, ich weiß gar nicht mehr, wie man so etwas macht“, erwiderte sie zerknirscht. Die alte Frau legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Mach eine Pause. Setz dich zu ihnen und höre ihnen zu. Wir betagten Leute sind immer froh, wenn wir jemanden haben, der unseren Geschichten lauscht und uns für einen kurzen Moment unsere schmerzenden Knochen vergessen lässt.“ Zaghaft setzte sich Miko in Bewegung. Als sie langsam durch den Raum schritt, wurde sie sich der vielen Augenpaare bewusst, die sie freiheraus anstarrten. Sie fühlte sich nicht wohl dabei und verschränkte ihre vor Nervosität zitternden Finger ineinander. Sie gesellte sich zu einem der Tische und man nahm sie sehr herzlich auf. Schon bald verlor sie sich in den Erzählungen aus den unzähligen Jahren all dieser Menschen. Mal traurig, mal fröhlich, doch allesamt so lebendig, als würden sich die Szenen direkt vor ihr abspielen. Die Offenheit dieser Menschen, wie sie ganz selbstverständlich ihre Geschichten mit ihr teilten, machte sie glücklich. Sie fühlte sich regelrecht beschwingt. Doch wenn die Sprache auf sie und ihre Vergangenheit fiel, war da wieder diese unstillbare Sehnsucht. Alles in ihr sehnte sich danach, selbst in Erinnerungen zu schwelgen.

So verging die Zeit, bis das rote Licht der Abenddämmerung lange Schatten durch die Fenster warf. Nach und nach leerte sich das Haus und schließlich verabschiedeten sich die letzten Gäste mit einer Verbeugung.

Ihre eigene Geschichte oder mehr, ihre fehlende Geschichte hatte die Frauen und Männer des Dorfes schwer getroffen und ausnahmslos alle hatten ihr ihre Unterstützung zugesagt.

So viel Güte wärmte ihr Herz und für einen kurzen Moment erwog sie es, hierzubleiben und ein neues Leben zu beginnen. Sie hielt das warme Gefühl in ihrer Brust fest und ließ es selbst dann nicht los, als sie sich zu später Stunde auf ihrem Lager aus Stroh ausstreckte. „Nach dem Tempel frage ich Megumi morgen“, murmelte sie, und kurz darauf fiel sie in einen traumlosen Schlaf.

- 3 -

Die Sonne war längst aufgegangen, als von draußen ein Tumult zu hören war. Blinzelnd richtete Miko sich auf. Einzelne Strohhalme standen wie Stacheln aus ihrem Haarschopf hervor. Sie strich sich mit den Fingern notdürftig durch die dunklen Strähnen. Sie griff nach dem weißen Band, das zu ihrem Gewand gehörte, und fasste ihre Haare zu einem tiefen Zopf zusammen. Draußen wurden die Rufe der Dörfler immer lauter. Rasch spritzte sie sich das eisige Wasser aus ihrer Waschschüssel ins Gesicht. Miko hastete die schmalen Treppenstufen hinab. Wenige Augenblicke später stand sie im Freien neben Megumi.

„Was ist denn passiert?“

Auf dem Weg zwischen den Hütten rannte ein junges Mädchen mit einem Besen vorbei.

„Scheinbar ist ein Fuchs in der Nähe des Hühnerstalls gesichtet worden“, antwortete ihre Gastgeberin.

Ein Fuchs? Sie rannte dem Kind hinterher.

Ihr Weg endete zwischen zwei Hütten, wo mehrere Bretterverschläge als Brutkästen für die Hühner dienten. Eine Menschenansammlung hatte sich um die Ställe gebildet. Miko sah aufgeregte Kinder, die zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurchspähten oder hüpfend über deren Schulter einen Blick erhaschten. Miko zwängte sich zwischen zwei groß gewachsenen Dörflern nach vorn durch. Inmitten von aufgescheuchten Hennen und umringt von Männern und Frauen, allesamt bewaffnet mit Besen, Mistgabeln und Rechen stand das rote Tier. Drohend zog der Fuchs seine Lefzen nach hinten. Das Fell gesträubt, knurrte er die Dorfbewohner an.

„Lasst ihn nicht entwischen! Wenn er entkommt, dann kehrt er bestimmt zurück, um Eier oder sogar unsere Hühner zu stehlen!“, warnte einer der Männer und die Menschen rückten enger zusammen. Der Mann, der zuvor gesprochen hatte, holte mit gestreckten Armen aus, bereit zum tödlichen Schlag.

„Halt!“ Miko bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, um den Kreis zu durchbrechen. Erstaunt hielten die Dörfler inne und senkten beim Anblick der Tempeldienerin ihre Waffen. Es war totenstill. Sogar die Hühner waren wie erstarrt. Einzig der Wind hauchte eine zarte Böe und bewegte das kupferne Haarkleid des Fuchses. So stand sie dem Fuchs gegenüber, sah ihm in die Augen und in diesem Moment gab es nur sie beide. Sie versanken in den Augen des jeweils anderen. Ein unsichtbares Band zwischen ihnen zupfte stetig an Mikos Bewusstsein. Erst zart, fast zaghaft, dann immer stärker und fordernder. Behutsam ging sie auf ein Knie und streckte die Hand nach dem Tier aus, das sie immer noch unbewegt anstarrte. Einige Sekunden des Zögerns verstrichen. Dann tat er einen vorsichtigen Schritt nach vorn. Den Dorfbewohnern entfuhren erstaunte Laute, doch weder der Fuchs, noch Miko schienen es zu bemerken. Die Augen des Tieres erstrahlten golden im Licht der Sonne. Unendlich sanft schmiegte es seinen Kopf in Mikos Hand. Als sein weicher Pelz ihre Haut streifte, war es, als ob ihre Seelen sich berührten. Ihr Geist verschmolz zu einem einzigen Bewusstsein.

Eine Welle von Eindrücken überflutete sie und vor ihrem geistigen Auge formte sich das Bild eines prachtvollen Tempels. Pinkfarbene Kirschblüten schwebten um das mehrstöckige Bauwerk, das am Ende einer gewaltigen Treppe thronte. Seine kunstvoll verzierten Dächer reichten bis in den Himmel hinein. Steinerne Füchse flankierten die Stufen zu beiden Seiten. Miko sah sich selbst am Fuße des Aufstiegs stehen, in Begleitung des sonderbaren Fuchses, dessen Fell im Sonnenlicht wie Feuer aufloderte. Dann wandelte sich das Bild und sie standen inmitten von Trümmern auf einer weiten Ebene. Über ihnen türmten sich beunruhigend schwarze Wolken auf. Blitze zuckten, hangelten sich an dem dunklen Dunstschleier entlang und verbreiteten eine unheilverkündende Stimmung.

Miko blinzelte und auf einen Schlag erwachte ihre Umgebung wieder zum Leben. Die Dorfbewohner, die gebannt den Atem angehalten hatten, regten sich und ihre Sprachlosigkeit spiegelte sich in ihren verdutzten Gesichtern. Die Menge teilte sich, als der Fuchs mit unerwarteter Gleichgültigkeit auf sie zu schritt. Er hatte den Kreis der Menschen eben erst durchbrochen, da blieb er stehen und sein Blick fixierte Miko erwartungsvoll. Wie ein Donnerschlag stürzte die Erkenntnis auf sie ein: Sie musste gehen. Die junge Frau erhob sich und folgte dem Tier. So sehr sie sich nach der gutmütigen Gesellschaft des Dorfes sehnte, so schmerzte es sie, ihre eigene Vergangenheit nicht zu kennen. Die Vision ließ in ihr nicht den geringsten Zweifel aufkommen: Sie hatte eine Mission. Der Wunsch, diesen Ort; den Tempel, den sie gesehen hatte, zu erreichen, wurde übermächtig.

Auf dem Weg zurück zum Wirtshaus lief sie der alten Wirtin geradewegs in die Arme.

„Megumi, ich danke Dir für alles. Du hast mir sehr geholfen und ich würde Dich gerne weiterhin unterstützen, aber ich muss gehen“, sprach sie mit drängendem Unterton. Megumi musterte sie in ihrer weitgeschnittenen Tempelkleidung. Ihr Blick wanderte an ihr hinab, wo der Fuchs zu ihren Füßen würdevoll Haltung annahm. Mit einem Lächeln senkte sie die Augenlider.

„Warte Kindchen, ich habe bestimmt noch einen Laib Brot, den du auf deinen Weg mitnehmen kannst.“ Daraufhin erwachte im Dorf geschäftiges Treiben. Jeder verabschiedete die Tempeldienerin auf seine Weise und Miko wurde mit reichlichen Gaben beschenkt. Megumi reichte ihr ein Bündel, in dem nicht nur Brot, sondern ebenso Obst und Gemüse sowie eine warme Decke Platz fanden. Ein kleiner Junge legte dem Fuchs einen silbrig glänzenden Fisch vor die Pfoten. Das Tier nahm die Mahlzeit zwischen die Zähne und senkte den Kopf, fast so, als bedankte es sich. Auch Miko verbeugte sich vor dem versammelten Dorf.

„Ich werde eure Gastfreundschaft nicht vergessen. Habt vielen Dank, dass ihr mir geholfen habt, doch jetzt muss ich weiterziehen. Du meintest der nächste Tempel liegt in den Bergen?“, fragte sie Megumi.

„So ist es.“ Megumi nickte.

„Gebt auf Euch acht“, riet ihr Daisuke. Sein Vater, der Dorfälteste trat vor.

„Seit geraumer Zeit breitet sich die Verderbnis immer weiter im Land aus“, erzählte der Mann mit belegter Stimme. „Wenn Ihr in Richtung der Berge aufbrecht, werdet Ihr in zwei Tagen ein Dorf erreichen, das von der Dunkelheit heimgesucht wird. Erst kürzlich kam einer der Einwohner hilfesuchend zu uns, in der Hoffnung, jemanden wie Euch anzutreffen. Leider verfügen wir über keinen priesterlichen Beistand. Er vertraute uns an, dass in seinem Dorf eine rätselhafte Krankheit wütet, die die Menschen verrückt werden lässt. Kurz darauf war er verschwunden“

„Wir fanden seine Leiche zerschmettert an den Klippen unten am Meer.“, ergänzte Daisuke mit abwesendem Blick. Bei der Erwähnung der Verderbnis regte sich etwas in Miko. Das Rauschen kehrte in ihr Ohr zurück, wie am gestrigen Tag an den Klippen. Sie erinnerte sich dunkel an die schreckliche Macht, die das Land heimsuchte. Ein unerklärliches Frösteln erfasste ihren Körper. Sie zitterte und schlang unwillkürlich ihre Arme um sich. Die friedliche Siedlung zu verlassen, um sich auf den Weg ins große Unbekannte zu machen, kam ihr mit einem Mal beängstigend vor. Sollte sie nicht lieber hierbleiben? Ein Stupsen an ihrer Wade ließ sie an sich herabschauen und ein Paar goldene Augen sahen zu ihr auf. Miko glaubte so etwas wie Zuversicht in seinem Blick zu erkennen und schöpfte neuen Mut.

Miko nahm das Bündel auf die Schulter. „Ich werde an eure Warnung denken und dort nicht länger als nötig verweilen.“

Wie zum Zeichen, dass die Zeit nun gekommen war, machte der Fuchs auf den Pfoten kehrt und verließ mit dem Fisch im Maul das Dorf. Nach einer letzten höflichen Verbeugung wandte sich auch die junge Frau zum Gehen um und schaute nicht zurück.

Mit neu gewonnener Energie schlug Miko den Weg in Richtung der Berge ein. Leichtfüßig schritt sie auf einem Pfad zwischen grünen Feldern voran. Der Fuchs lief ein paar Meter voraus und schaute sich gelegentlich nach ihr um. Manchmal tapste er auch neben ihr her oder folgte ihr mit einigem Abstand. Es schien ihr, als zöge er mal engere, mal weitere Kreise um sie. Dabei behielt er die Umgebung mit wachsamen Blicken im Auge. Die Sonne stand bereits tief, als sie sich zum Rasten auf einem flachen Felsen niederließen. Die Berge waren noch ein gutes Stück entfernt und der Wind frischte auf.

„Bis zum Sonnenuntergang suche ich uns eine geschützte Stelle für die Nacht.“ Miko trank einen Schluck Wasser und aß ein Stück von dem Brot, das Megumi ihr mitgegeben hatte. Der Fuchs beäugte sie mit unbekümmertem Ausdruck und streckte sich auf dem warmen Stein aus. Hier war es so friedlich. Es schien ihr absurd, dass die Verderbnis, von der die Dorfbewohner sprachen, schon nicht mehr weit von hier wütete. Sie dachte eine lange Zeit über die Worte nach, die der Dorfälteste ihr erzählt hatte. Tief in ihrem Inneren wusste sie um die Verderbnis; den Fluch, der diese Welt heimsuchte, konnte sich aber an keine Einzelheiten erinnern. Was würde sie erwarten? Miko ließ die Haarsträhne los, die sie unbemerkt zwischen den Fingern gedreht hatte, schloss die Augen und massierte sich die Schläfen. Sie musste doch noch irgendetwas aus ihrer Vergangenheit wissen. Angestrengt wühlte sie in ihrem Kopf nach Erinnerungen vor ihrem Erwachen an den Klippen: Nichts.

Resigniert ließ sie den Kopf in den Nacken fallen und beobachtete die größer werdenden Wolken am Himmel.

Ruckartig hob ihr tierischer Begleiter den Kopf und schnüffelte prüfend in der Luft. Mit einem Satz war er auf den Beinen und trabte über den Pfad in Richtung Berge. Nach wenigen Metern blieb er stehen und drehte die Schnauze zu ihr um. Miko verstand sofort, dass sie ihm folgen sollte. Sie schnürte eilig ihr Bündel und sprang vom Felsen. Sie folgte ihm schnellen Schrittes, während sich über ihr dunkle Wolken zusammenbrauten. Fernes Donnergrollen war zu hören. In einer einzigen Bewegung bog der Fuchs nach rechts ab und verschwand im dichten Grün eines üppig bewachsenen Feldes. Lediglich die bebenden Halme verrieten, wo das Tier entlangging. Da entdeckte Miko eine kleine Scheune, auf die ihr Gefährte zusteuerte.

Sie hatte eben erst die verzogene Holztür mühsam hinter sich geschlossen, als der Regen erbarmungslos herab prasselte. Es dauerte nicht lange, bis er an einigen Winkeln durch das Dach drückte und geräuschvoll auf den morschen Dielenboden tropfte. In einer Ecke, zwischen mehreren Getreidesäcken fanden sie eine trockene Stelle. Miko ließ dort ihr Bündel fallen und setzte sich außer Atem hin.

„Ich glaube so schnell bin ich eine Ewigkeit nicht mehr gerannt.“ Sie stützte sich auf ihren Armen ab. Geschmeidig hüpfte der Fuchs zu ihr hoch und rollte sich neben ihr zusammen.

„Danke, dass du diesen Unterschlupf für uns gefunden hast.“ Miko lächelte und fügte etwas zaghaft hinzu: „Ich würde dir gerne einen Namen geben. Dich immer nur Fuchs zu nennen wäre doch albern. Was hältst du von Kitsu?“ Der Fuchs zuckte beiläufig mit den schwarzen Ohren. Wehmütig dachte Miko an die gemütliche kleine Stube in Megumis Gasthaus. Es wäre so viel einfacher, dort ein neues Leben zu beginnen. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie sich die freundlichen Gesichter der Leute in Erinnerung rief, die sie so herzlich empfangen hatten. Die Vorstellung, dort alt zu werden, war verlockend, aber ihr Weg war ein anderer. Das hatte ihr der rätselhafte Fuchs deutlich gemacht. Er hatte eine seltsam beruhigende Wirkung auf sie. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich bei ihm sicher. Vorsichtig legte sie sich neben ihm auf die Seite. „Du bist so warm“, flüsterte Miko und strich über das weiche Fell. Die Augen schon fest geschlossen, reagierte er nicht auf ihre Berührung. Bald fielen auch ihr die Augen zu.

Der Priester lag entkräftet vor ihr. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt und er schien Schmerzen zu haben. Sein gequältes Gesicht war mit schwarzen Flecken übersät. Auch der Rest seines Körpers wies diese seltsamen Verfärbungen auf. Der Gestank nach faulendem Fleisch verpestete den Raum und Miko unterdrückte den aufkommenden Würgereiz. Zitternd hob der Mann seine Faust, in der er etwas fest umklammerte.

„Du bist stark. Du bist die Einzige, die sie jetzt noch aufhalten kann.“ Er öffnete seine Hand in der ein blassblauer Anhänger lag. Die Reliquie des Tempels. Er bedeutete ihr näherzukommen. Sie hielt ihren Kopf dicht über seinen Mund. Der Gestank wurde unerträglich. „Finde die Sonne.“ Er überreichte ihr das Relikt und so wie seine Finger sich von dem Kleinod lösten, zerfiel der Priester in einer dunklen Wolke zu Staub.

Zitternd erwachte sie. Sie spürte, wie ihr Herz heftig gegen ihre Rippen schlug. Die Bilder ihres Traums standen ihr lebhaft vor Augen. Der grässliche Gestank des erkrankten Priesters schien immer noch in der Luft zu schweben und ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Draußen zwitscherten die Vögel, und ein paar Sonnenstrahlen kämpften sich durch die Spalten der alten Scheune. Vom Schlaf benommen, setzte sich Miko auf und streckte sich, um ihre verkrampften Muskeln zu lockern. Was war das bloß für ein Traum? Diese schwarzen Flecken auf der Haut des Priesters waren Spuren der Verderbnis. Da war sie sich sicher. Sie spürte es. Begleitet von einem leichten Schwindel, legte sie eine Hand auf ihren Brustkorb, um sich zu beruhigen. Sie sehnte sich danach, den zarten Pelz des Fuchses zwischen ihren Fingern zu spüren. Ihr Blick wanderte im Schuppen umher, doch Kitsu war nirgends zu entdecken. Als das heftige Klopfen ihres Herzens sich endlich gelegt hatte, schulterte sie müde ihr Bündel und trat ins Freie. Die regennassen Felder ringsherum glitzerten in der Morgensonne. Miko schirmte ihre Augen gegen das helle Licht ab und suchte nach Anzeichen ihres stummen Begleiters. Raschelnd teilten sich vor ihr die grünen Stängel und eine lange rot-weiße Schnauze kam zum Vorschein.

„Na? Hast du dir schon ein Frühstück besorgt?“ Der Fuchs leckte sich wie zur Antwort übers Maul und schüttelte sich die Tropfen aus dem Fell.

„Dann kann es ja jetzt losgehen. Heute erreichen wir die Berge.“

- 4 -

Endlich kamen die Dächer des Dorfes in Sicht. Hinter den Behausungen erhob sich zerklüftetes graues Gestein. Fast sah es so aus, als wollte das gewaltige Gebirge die winzigen Hütten unter sich begraben, die teilweise zwischen riesigen Felsvorsprüngen erbaut worden waren. Wie hartnäckiges Unkraut klammerten sie sich an den Berg. Kitsu hielt sich dicht neben Miko, die Ohren gespitzt und den Blick wachsam auf die Umgebung gerichtet. Es lag eine gewisse Anspannung in der Luft, eine dunkle Vorahnung auf das, was sie in diesem Dorf erwarten würde. Sie warf bereits einen langen Schatten. Der Tag neigte sich dem Ende entgegen und Miko wünschte sich nichts mehr, als ein gemütliches Bett. Das unbehagliche Gefühl verstärkte sich mit jedem Schritt, den sie sich dem Ort näherte. Die Felder, an denen sie vorbeizogen, waren in einem schrecklichen Zustand. Braun und kraftlos lagen die Stängel auf der Erde. Es war nicht ersichtlich welches Getreide hier ursprünglich angebaut worden war. Selbst das Gras lag platt und farblos am Wegesrand.

„Sie hatten also recht. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht“, murmelte Miko vor sich hin.

„Bleib stehen! Wer bist du?“ Die Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie hielt erschrocken an. Kitsu setzte sich genau vor ihre Füße. Der Mann, der sie feindselig musterte, hatte seine Hacke weit vor sich ausgestreckt. Beim Anblick der Tempeldienerin und ihres ungewöhnlichen Begleiters weiteten sich seine Augen, und er ließ seine Waffe augenblicklich sinken.

„Verehrte Miko, entschuldigt mich. Ich habe Euch nicht gleich erkannt. Ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid, um unser Dorf von seinem Leiden zu befreien“, plapperte er aufgeregt und verbeugte sich so tief, dass seine Nase fast den Boden berührte. Überrumpelt zupfte sie an ihren Haaren herum und wich dem Blick des Mannes aus. Sie wurde erwartet? Gestern hatte sie erfahren, dass die Leute, die hier sesshaft waren, priesterlichen Beistand ersuchten. Dann fiel ihr Blick auf die rot gesäumten Glockenärmel ihrer Robe. Vielleicht war es kein Zufall, dass sie nicht weit von hier, aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war. Möglicherweise wollte sie ja genau hierher. Unglücklicherweise hatte sie keine Ahnung, wie sie dem Dorf helfen sollte. Die Schamesröte stieg ihr ins Gesicht.

„Meine Informationen sind leider sehr lückenhaft. Ich bin nicht sicher, ob ich helfen kann“, antwortete sie diplomatisch. Sichtlich betroffen hob der Mann den Kopf.

„Dann seid ihr nicht vom Tempel geschickt worden, um die Verderbnis aus unserem armen Dorf zu vertreiben?“

„Tut mir Leid“, erwiderte Miko. „Aber vielleicht finde ich dennoch einen Weg, Euch zu helfen.“

Es kam Miko falsch vor, die Leute mit ihren Sorgen allein zu lassen. Sie konnte sich zumindest ein Bild von der Lage machen. Früher oder später würde sie den Tempel in den Bergen erreichen und konnte dort Hilfe holen.

Je näher sie dem Dorfeingang kamen, umso mehr wuchs ihre Unsicherheit. Sie war sich nicht sicher, was sie erwartete. Die Verderbnis, die hier ihr Unwesen treiben soll, erweckte eine tief in ihr verwurzelte Furcht und trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Mit einem Seitenblick auf Kitsu, der seelenruhig neben ihr hertapste, beruhigte sie sich ein wenig.

Der Mann führte die junge Frau durch die Siedlung. Zwischen den wenigen Häusern fühlte sie sich unbehaglich. Es lag eine seltsame Stille über dem Ort. Die Herzlichkeit, mit der sie vor zwei Tagen empfangen worden war, fehlte ihr. Die Menschen verbarrikadierten sich in ihren Hütten. Kein Laut war zu hören. Nicht ein einziges Kinderlachen drang an ihr Ohr.

In der Dorfmitte hielten sie an einem Brunnen, an dem sie von einem Greis empfangen wurden. Er stellte sich ihr als das Oberhaupt des Dorfes vor. Sein schütteres Haar und das runzlige Gesicht waren nicht die einzigen Merkmale, die Miko an ihm auffielen. Seine Wangen waren eingefallen und unter den Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. In knappen Worten berichtete der Mann mit der Hacke, wie er der Tempeldienerin begegnet war und dass sie ihre Hilfe angeboten hatte.

„Vor einigen Monaten ging es los“, erzählte der Alte. „Unser Gemüse faulte in der Erde. Die Ziegen starben eine nach der anderen unter mysteriösen Umständen. Aber das war noch nicht das Schlimmste, was uns widerfahren sollte. Ein Mönch kam in unser Dorf. Er sagte, das Böse weilte direkt unter uns in Gestalt eines Mädchens. Er entlarvte mit der Hilfe von heiligem Rauch die wahre Natur von Aiko.“

„Aiko war ein sehr schweigsames Mädchen unseres Dorfes“, mischte sich der andere ein. „Niemand hätte je damit gerechnet, dass sie etwas Dämonisches in sich trug. Aber der Zauber des Mönchs offenbarte uns ihr tatsächliches Äußeres. Sie hatte auf einmal scharfe Fangzähne, Katzenohren und sogar einen Schwanz. Ihre Augen leuchteten in einem unheimlichen Rot. Es war zum Fürchten!“

„Was geschah danach?“, fragte Miko.

Nun ergriff das Dorfoberhaupt erneut das Wort. „Der Mönch riet uns, Aiko zu töten. Wenn sie nicht mehr da wäre, könne wieder Frieden im Dorf einkehren. Aikos Vater wehrte sich dagegen und verhalf seiner Tochter zur Flucht. Sie verschwand noch am selben Tag, doch der Fluch der Verderbnis blieb. Kurz darauf geschah ein schrecklicher Unfall.“ Das Gesicht des Mannes zeigte eine Mischung aus Sorge und Trauer. Seine unzähligen Falten vertieften sich, bevor er mit rauer Stimme weitersprach. „Souta, Aikos Vater, kam bei dem Versuch, eine verirrte Ziege zu retten, ums Leben. Seitdem ist die Lage im Dorf kritisch. Alle Menschen fallen der Verderbnis nach und nach zum Opfer. Sie werden verrückt, verletzen andere und bringen sich danach selbst um.“

Erschrocken schlug sie die Hände vor die Brust. Das Ausmaß der Bedrohung durch die Verderbnis an diesem Ort entsetzte sie. Es war schrecklich, was diese Menschen durchlebten, und sie spürte, wie sie der Mut verließ.

„Ehrwürdige Miko. Ich bitte Euch, nehmt Euch dieser Sache an. Rettet unser Dorf.“

Da war sie – die Frage, vor der sie sich gefürchtet hatte. Miko kam ins Grübeln. Sie hatte Angst, aber sie wollte auch gern helfen. Man hielt sie für eine Priesterin. Dabei wusste sie doch gar nicht, wie man sich als solche verhielt. Und was, wenn es so wäre? Der Traum letzte Nacht. War er eine Erinnerung an ihr früheres Leben? Sie konnte das Böse an diesem Ort förmlich spüren. Sie wollte diese Menschen nicht ihrem Schicksal überlassen. Sie musste es wenigstens versuchen. Mit einer Entschlossenheit, die sie selbst überraschte, fasste sie sich ein Herz.

„Ich helfe Euch.“

Die Gesichter der beiden Männer erhellten sich und nacheinander öffneten sich unauffällig die Türen der Hütten. Man begegnete ihrem Blick vorsichtig, doch etwas Neues lag in der Luft: Hoffnung.

Unvermittelt sprang Kitsu auf, schüttelte sich einmal und trabte in Richtung einer kleinen Baumgruppe davon. Aufmerksam geworden, folgte Miko dem Fuchs zu den hochgewachsenen Kiefern. Ihr Weg endete an einer tiefen Felsspalte, die dunkel und gefährlich im Boden klaffte. Ein kalter Schauer jagte ihr über den Rücken. Anscheinend stieg eine unheilvolle Macht aus dem Spalt an die Oberfläche empor.

„Das ist der Ort, an dem Souta starb“, sagte der Alte, der ihr mit langsamen Schritten gefolgt war. Kitsu strich um Mikos Beine, nur um sich gleich wieder dem Riss in der Erde zuzuwenden. Der Fuchs legte sich flach auf den nackten Fels und drückte die Nase gegen den Stein. Auffordernd schaute er zu seiner Begleiterin auf. Einer Ahnung folgend näherte sie sich der Spalte und bückte sich mit klopfendem Herzen. Ihre Fingerspitzen berührten das kühle Gestein und wie ein Blitz fuhren die Bilder in ihren Kopf. Eine Vision von zwei Männern, die sich stritten. Das Herabsausen einer Schaufel. Ein dumpfer Schlag. Spritzendes Blut. Hasserfüllte Augen. Und dann ein Sturz, mitten hinein in die Felsspalte.

Schwer atmend erhob sich Miko von der Stelle eines grausamen Todes. Die Nachwirkung der Vision schüttelte noch immer ihren Körper. Sie bemühte sich, ihr wie wild schlagendes Herz zu beruhigen, indem sie mit der Hand über ihren Brustkorb rieb.

„Was habt Ihr?“, fragte der Greis. „Geht es Euch nicht gut?“ Die Erkenntnis traf Miko wie einen Schlag ins Gesicht. Es war kein Unfall. Aikos Vater wurde ermordet.

Das Zittern ihrer Hände hatte sich gelegt und nach einem großen Schluck Wasser, das ihr gereicht wurde, fand sie ihre Sprache wieder. In der Dorfmitte hatten sich inzwischen alle Bewohner um sie versammelt und hörten gespannt, was die Priesterin zu erzählen hatte.

„Den Mann, den Ihr beschreibt“, sagte der ältere Mann, „Der mit der Schaufel. Das war Haruto. Er erzählte uns damals, er hätte gesehen, wie Souta, beim Versuch eine Ziege zu retten, abgestürzt wäre. Er war auch der Erste, der verrückt wurde.“

„Dann ist es Aiko, die uns verflucht!“, rief eine Frau mit wütender Stimme. „Sie will den Mord an ihrem Vater rächen!“

„Aber es fehlte doch tatsächlich eine der Ziegen“, gab eine andere zu bedenken.

„Vermutlich hat Haruto sie auch in den Spalt geworfen, damit seine Geschichte glaubhaft wirkt“, spekulierte ein Mann aus den Reihen.

Das Dorfoberhaupt räusperte sich und bat um Ruhe. Sofort ebbten die Gespräche zu einem aufgeregten Flüstern ab.

„Miko, was denkt Ihr?“, fragte er. Sie dachte einen Moment nach.

„Ich glaube, dass Haruto Angst hatte“, antwortete sie zögerlich. „Angst vor den Folgen, was passieren würde, wenn Aiko zurückkehren könnte. Aber ihr Vater wollte von einer Jagd auf seine Tochter nichts wissen und nahm sie um jeden Preis in Schutz. Der Streit eskalierte zwischen ihnen und aus Furcht vor der Strafe hielt er sein Vergehen geheim. Wo ist Haruto jetzt?“

„Er ist nicht mehr hier.“

„Dann ist es wirklich das Dämonenbalg, das uns mit ihren dämonischen Kräften verflucht?“, fragte eine weitere Frau. Miko schüttelte den Kopf.

„Irgendetwas sagt mir, dass es nicht Aiko ist, die ihr fürchten solltet. Ihr habt erzählt, dass alle Dorfbewohner nacheinander krank werden und sich dann das Leben nehmen. Wer ist jetzt betroffen?“

Einer der umstehenden Männer winkte sie heran. „Folgt mir. Ich führe Euch hin.“

In der Hütte herrschte Dunkelheit, und stickige Luft erschwerte das Atmen. Ein Tisch und zwei Schemel lagen zerschlagen am Boden. Tonscherben mischten sich mit Blut und Erbrochenem und es stank erbärmlich nach Exkrementen. Im hintersten Winkel kauerte eine Gestalt. Ein kleiner Junge. Zerzaust und verdreckt saß er da, die Knie fest an den Körper gezogen und das Gesicht vergraben.

Einer der Dorfbewohner warnte sie. „Geht nicht zu nah heran.“ Doch Miko ignorierte seinen Rat. Der Anblick des verwahrlosten Kindes schmerzte sie so sehr, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Behutsam näherte sie sich dem Jungen und sprach beruhigend auf ihn ein. Vorsichtig streckte sie eine Hand nach ihm aus. Unvermittelt hob er den Kopf und fauchte sie an wie ein wildgewordenes Tier. Speichel troff von seinen Lippen und seine Augen waren schwarz wie Kohlen, gefüllt mit Hass. Diesen Blick sah sie nicht zum ersten Mal. Wie auf Kommando drängte sich Kitsu an Miko vorbei, warf sich nach vorn und berührte die Stirn des Kindes mit der Schnauze. Augenblicklich beruhigte sich der Junge, schloss die Augen und sackte in sich zusammen. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Miko beschloss, sich fürs Erste zurückzuziehen, um in Ruhe darüber nachzudenken, was nun zu tun war.

Zurück an der frischen Luft versammelten sich die Dorfbewohner um sie und bedrängten sie mit Fragen.

„Könnt Ihr uns helfen?“

„Wird der Junge wieder gesund?“

„Könnt Ihr die Verderbnis austreiben?“

„Helft uns!“ Miko hob hilflos die Arme

„Ich möchte Euch gerne helfen, aber ich weiß noch nicht, wie. Lasst mich eine Weile nachdenken.“ Mit diesen Worten rettete sie sich aus der beklemmenden Situation und steuerte auf die hohen Kiefern zu, um sich noch einmal den Ort des Verbrechens anzusehen.

Mittlerweile war es finster geworden. Der Mond leuchtete bleich vom Himmel und vermochte nicht bis zu der mit Nadeln übersäten Erde durchzudringen. Flackernder Fackelschein zwischen den Häusern erhellte ihr den Weg, gerade genug, dass sie nicht stolperte. An ihrem Ziel angekommen, ließ sie sich schwerfällig auf den Boden sinken.

„Ach Kitsu.“ Sie seufzte. „Was geht hier nur vor sich? Kannst du dir einen Reim darauf machen?“ Der Fuchs starrte sie an. Seine Augen reflektierten das spärliche Licht, und er zuckte einmal mit den Ohren. Dann nahm er den Ärmel ihres Gewandes zwischen die Zähne und zog an ihr.

„Was willst du mir dieses Mal zeigen?“, flüsterte Miko von Neugier gepackt und ließ sich erneut von ihm leiten.

Kitsu führte sie hinaus zum Eingang des Dorfes. Sie liefen entlang der steilen Felswand, die den Ort begrenzte und erreichten eine Wiese, übersät mit hölzernen Grabtafeln. Die Auswirkungen der Verderbnis waren unverkennbar. Viele der Gräber waren frisch angelegt worden. Die kahle Erde inmitten der grünen Wiese war der eindeutige Beweis. Der Fuchs hatte sich neben einem der Grabmale postiert und wartete geduldig auf sie. Die hölzerne Tafel befand sich in einem schlechten Zustand. Das Holz war nicht verwittert, aber es sah aus, als wäre es der Wut eines Menschen zum Opfer gefallen. Die Kanten waren zersplittert und der Name kaum noch lesbar.

„Haruto. So hieß doch der Mann, der Aikos Vater getötet hat.“ Kitsu bedachte sie mit einem wissenden Ausdruck. Und da wusste sie, was sie zu tun hatte.

Die Müdigkeit steckte ihr in den Knochen, aber an Ausruhen war nicht zu denken. Energisch klopfte sie an die Tür der Hütte, die dem Brunnen am nächsten war. Ihr Gefühl täuschte sie nicht. Wie sie es geahnt hatte, öffnete ihr das Dorfoberhaupt.

„Wo wurde Aikos Vater begraben?“

Der alte Mann reichte ihr einen dampfenden Becher mit Tee. Dankbar nahm Miko ihn entgegen. Kräftiger Kräutergeruch stieg ihr in die Nase. Vorsichtig probierte sie einen Schluck des heißen Gebräus und genoss die Wärme, die sich in ihr ausbreitete. Das Dorfoberhaupt setzte sich ihr gegenüber. Es herrschte für eine Weile Stille im Haus. Endlich ergriff er das Wort:

„Es ist fast ein halbes Jahr her, als es passierte. Haruto berichtete uns von dem schrecklichen Unfall und bot selbst an, den armen Souta aus der Spalte zu bergen. Wir ließen ihn damals an einem Seil hinab. Er brachte nichts weiter als einen Fetzen Stoff mit nach oben. Soutas Körper sei an den Steinen zerschellt und könne nicht geborgen werden. Was hätten wir für einen Grund gehabt, an seinen Worten zu zweifeln?“

„Also hat Aikos Vater nie ein anständiges Begräbnis bekommen.“ Der Greis schüttelte den Kopf.

„Es ist spät geworden“, sprach er. „Bitte erweist mir die Ehre und seid heute Nacht mein Gast.“ Auch wenn ihre Gedanken um Aiko und ihren Vater nicht stillstanden, wurde Miko sich bewusst, wie sehr die Erschöpfung an ihr nagte und ihren Geist vernebelte. Sie musste sich ausruhen. Daher nickte sie nur. Kurz darauf lag sie zwischen weichen Decken und schloss die Augen.