Im Schatten der Zypressen - Andrea Süssenbacher - E-Book

Im Schatten der Zypressen E-Book

Andrea Süssenbacher

4,4

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Ein rasanter Krimi im Kunstmilieu vor malerischer Kulisse. Im verträumten Friaul-Städtchen Cormòns wird Schriftstellerin Alexandra Hüttenstätter entführt. Im Tausch für ihre Freiheit fordern die Kidnapper ihren ehemaligen Geliebten, den Kunstdieb Angelo, als Geisel. Doch Alexandra gelingt es, zu entkommen – und sich an die Fersen ihrer Peiniger zu heften. Gemeinsam mit Kommissar Medeot und Angelo begibt sie sich tief in die Schattenwelt der norditalienischen Kunstszene – und auf die Jagd nach einem legendenumwobenen Phantom.

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Seitenzahl: 436

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Andrea Süssenbacher, geboren 1988 in Klagenfurt am Wörthersee, fühlt sich schon seit Kindheitstagen magisch von der Schönheit Italiens angezogen. Sie lebte und arbeitete eine Zeit lang in Friaul, ehe sie zum Germanistikstudium nach Österreich zurückkehrte. Aktuell lebt und arbeitet sie in Klagenfurt.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2018 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Jaroslaw Pawlak/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-332-5

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literatur- und Textagentur Wortunion, BlueCat Publishing GbR, Berlin.

Für Birgit

EINS

Die Ruhe war beängstigend. Das Kratzen der Kugelschreibermine auf dem Papier durchbrach die Stille. Commissario Lorenzo Medeot setzte den Stift ab und starrte auf die verschnörkelte Unterschrift.

Es war die letzte Akte.

Er schlug den Ordner zu, versah ihn mit dem Vermerk »erledigt« und beförderte ihn auf den Stapel neben dem Schreibtisch. Dann warf er einen Blick auf die Uhr.

Zu früh für das Mittagessen. Viel zu früh.

Unruhig wippte er in seinem Bürosessel auf und ab. Er war drauf und dran, sich ein zweites Frühstück zu genehmigen, auch wenn er wusste, dass er es sich nicht erlauben konnte. Seine Hemden wussten es, seine Frau Claudia wusste es auch, und sie alle ließen keine Gelegenheit aus, ihn daran zu erinnern.

Er fuhr sich mit der Hand über den Bauch. Natürlich hatte Claudia recht, auch wenn er das niemals offen zugeben würde. Schließlich konnte er nichts dafür. Wenn es nach ihm ging, waren es der Job, der Stress, die mangelnde Bewegung, das Alter. Nein, weniger der Job, seine Arbeit war nach wie vor etwas, das ihn durchaus zu erfüllen vermochte. Die mangelnde Bewegung war es, die ihm zu schaffen machte.

Medeot nickte seinem leeren Büro bestätigend zu: Ohne Zweifel, das war es. Er war wie angekettet an diesen großen und mittlerweile fast leeren Schreibtisch.

Er liebte seine Arbeit, heute noch mehr als vor fünfundzwanzig Jahren, und hatte eigentlich nichts zu beklagen. Er mochte sogar den Kaffee, den das Görzer Polizeipräsidium, die Questura di Gorizia, eigens von Goriziana Caffé geliefert bekam. Dennoch schien es, als wäre genau dieser Kaffee im Moment das Einzige, was ihn bei Laune halten konnte.

Schon vor Wochen war eine sonderbare Friedlichkeit in der Provinz eingekehrt. Pünktlich mit Beginn des norditalienischen Frühsommers herrschte eine Ruhe, wie Medeot sie seit Jahren nicht mehr erlebt hatte.

Von Zeit zu Zeit hielt er gar den Telefonhörer prüfend an sein Ohr – wie gewohnt empfing ihn das Freizeichen.

Er hätte erleichtert sein müssen. Die sich in Sisyphus-Manier stets weiter ansammelnde Menge an Bürokram und Formalien, die er mit Vorliebe zur Seite schob, war erledigt. Jeder einzelne Bericht war zur Gänze abgearbeitet. Jeder. Selbst die, über die sich schon eine dünne Staubschicht gezogen hatte – was er allerdings mehr der mangelnden Motivation des Putzdienstes zuschrieb als seiner eigenen Verantwortung.

Er seufzte, nahm die Jacke vom Garderobenständer und machte sich auf den Weg zu Michele, dem kleinen Café in der Nähe seines Büros, in dem fast jeder Polizist der Questura sich zumindest hin und wieder blicken ließ. Würde es die Dienststelle nicht geben, das Michele hätte seine Türen wahrscheinlich schon vor langer Zeit für immer geschlossen.

»Bundì Dottore«, grüßte Luca, der Mann hinter der Theke. Einen Michele hatte es hier, soweit Medeot sich zurückerinnern konnte, nie gegeben. »Es freut mich, dass Sie mich so bald schon wieder beehren. Wieder das Übliche, Cappuccino und ein Cornetto?«

Luca war freundlich und lächelte ihn herzlich an. Auch wenn nichts darauf hindeutete, glaubte Medeot dennoch zu wissen, was er insgeheim dachte. Zwar würde sich jemand wie Luca nie einen anmaßenden Blick oder einen vermeintlich lustigen Kommentar erlauben, das war aber auch gar nicht nötig. Medeot wusste selbst, dass ihn die fehlende Arbeitsauslastung in ein Polizistenklischee verwandelt hatte.

Er beschloss, auf das Cornetto zu verzichten, leerte den für seinen Gaumen viel zu heißen Cappuccino in einem Zug und war schon wieder draußen. Vielleicht sollte er sich zu einem Verdauungsspaziergang aufmachen. Er warf einen weiteren Blick auf die Uhr. Um noch ein paar Minuten totzuschlagen, fügte er in Gedanken hinzu.

Als er fast eine geschlagene Stunde später auf die Piazza Cavour einbog, fühlte er sich wie ein anderer Mensch. Was ein wenig frische Luft und Bewegung doch ausrichten konnten!

Tommaso Bearzot, der junge Inspektor an Medeots Seite, der sich im letzten Jahr zu einem äußerst fähigen, wenngleich nach wie vor etwas tollpatschigen Polizisten gemausert hatte, stand wartend vor seiner Bürotür.

»Schießen Sie los«, forderte Medeot ihn auf. Es war dem Jungen anzusehen, dass er beinahe platzte vor Aufregung. Im Fall von Bearzot musste das allerdings nicht von Bedeutung sein. Er war über einen Mordfall gleichermaßen aufgeregt wie über die neue Sorte brasilianischer Röstung, die der Kaffeelieferant von Zeit zu Zeit als Geschenk mitbrachte.

»Es gibt einen neuen Fall«, verkündete Bearzot stolz, »genau genommen sogar zwei. Ich habe mir gleich beide geschnappt, damit Sie sich einen aussuchen können.«

Medeot konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Ein Einbruch in eine Schule, man hat ein paar PCs aus dem Computerraum gestohlen«, er hob einen der beiden Umschläge in seiner Hand, »oder ein Überfall auf einen Supermarkt.«

Keine sonderlich attraktive Auswahl, aber besser als nichts. »Se non è zuppa è pan bagnato«, entgegnete Medeot. Jacke wie Hose also. »Was ist denn weiter weg?«

»Weiter weg?«

»Ja, was ist zeitaufwendiger?«

»Ihnen macht die Langeweile auch zu schaffen, was? Bei der Schule handelt es sich um ein Gymnasium etwa drei Straßen von hier. Der Supermarkt ist ein kleiner Coop ein paar Kilometer westlich der Stadt.«

Medeot schnippte mit den Fingern. »Perfekt, fahren wir. Geben Sie die Schule Capello.«

Viel zu kurze Zeit später lenkte Medeot den Polizeiwagen auf den Parkplatz vor dem Supermarkt. Dafür, dass der Ort gerade einmal siebentausend Einwohner hatte, hatte sich eine beachtliche Anzahl an Schaulustigen entlang des weiträumig um den Eingang gezogenen Absperrbands versammelt. Schon aus der Entfernung vernahm Medeot lautstarke Beschwerden. Einer der uniformierten Polizisten versuchte vehement, die Menge zu beruhigen, doch viel schienen ihm seine Verständnisbekundungen nicht zu nützen. Vor allem ein Grüppchen älterer Damen, augenscheinlich alle Rentnerinnen, setzte ihm hart zu. Medeot musste sich bemühen, ernst zu bleiben ob des komödiantischen Anblicks. Andere wiederum gafften einfach, die Smartphones griffbereit, in der Hoffnung, einen interessanten Schnappschuss zu ergattern. Sie werden enttäuscht werden, dachte Medeot, schob ein paar von ihnen kommentarlos zur Seite und trat unter dem Absperrband durch. Eine Leiche gab es heute nicht.

»Bundì. Commissario Medeot und Ispettore Bearzot.« Er zückte seinen Dienstausweis. »Was ist hier passiert?«

»Unbekannte haben versucht, einen Überfall zu verüben, Dottore«, erklärte der uniformierte Polizist der Squadra Volante, die als Erstes eingetroffen war.

»Sie haben es versucht?«, wiederholte Medeot. »Das heißt, Sie haben sie bereits gefasst? Wieso sind wir dann überhaupt hier?«

»Nein, Dottore. Sie sind entkommen. Aber … es ging wohl etwas schief. Sie haben … nun ja … es wäre möglich, dass sie eine Geisel genommen haben.«

»Wie bitte?« Medeot schob zornig die Augenbrauen zusammen. »Eine Geisel? Wieso haben Sie das nicht gemeldet, Herrgott noch mal? Sie kennen doch die Vorschriften! Bearzot, wir brauchen Straßensperren. Sofort! Sagen Sie in der Zentrale Bescheid, dass wir eine Geiselnahme haben. Wenn wir Glück haben, werfen sie die Geisel irgendwo raus. Wenn wir Pech haben … Na ja.«

»Es tut mir leid, Dottore. Wir waren uns nicht sicher. Niemand hat es bislang bestätigt außer Nicolo Zaghet, der Verkäufer, der an der Kasse saß und somit im direkten Sichtfeld der Täter war.«

»Wo ist er? Ich will mit ihm sprechen.«

Der Polizist zeigte auf einen hageren Mann Mitte vierzig, der neben einem uniformierten Kollegen im Eingangsbereich des Supermarktes stand und zu Boden starrte. Die Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben.

»Wo sind die restlichen Leute, die zu der Zeit anwesend waren?«

Mit einem Kopfnicken deutete der Polizist auf eine Stelle im Schatten des Vordachs. Dort standen eine ältere korpulente Frau mit einem Rollator und eine Mutter mit einem Mädchen, etwa sechs oder sieben Jahre alt. Sie sah aufgeweckt aus, tänzelte ungeduldig um ihre Mutter herum. Sicher hatte sie gar nicht mitbekommen, was vor sich ging. Und ein Mann Anfang dreißig mit fettigem Haar, der schwitzte und Handschellen trug.

Medeot stutzte. »Was ist mit dem da? Wieso habt ihr ihm Handschellen angelegt?«

Der Polizist zögerte kurz, ehe er antwortete. »Das ist Pipi.«

»Verzeihung?«

»Pipi. Eigentlich heißt er Pietro Lugan, doch jeder kennt ihn unter seinem Spitznamen Pipi.«

»Und woher kennen Sie Pipi? Beziehungsweise noch viel wichtiger, was macht er hier?«

»Wir hatten ihn schon einige Male bei uns. Er dealt, allerdings konnten wir ihn noch nie mit einer größeren Menge erwischen. Hin und wieder greifen wir ihn auf, weil er irgendwo auf dem Gehweg übernachtet oder auch mal einen Passanten anpöbelt. Im Grunde ist er aber harmlos.«

»Harmlos klingt das für mich nicht. Halten Sie es nicht für einen eigenartigen Zufall, dass er ausgerechnet jetzt hier auftaucht? Und wieso haben Sie ihm überhaupt die Handschellen angelegt?«

»Er wollte abhauen. Aber nur weil er Drogen dabeihatte.«

Medeot schnappte hörbar nach Luft. Die Selbstverständlichkeit, mit der der Polizist diesen Umstand zum Ausdruck brachte, ließ seinen Blutdruck sofort in die Höhe schnellen. So konnte die Squadra Volante vielleicht auf der Straße arbeiten: hier ein Auge zudrücken, da sich ein Frühstückscornetto spendieren lassen. Medeot konnte unmöglich der Einzige sein, dem auffiel, dass das an Amtsmissbrauch grenzte. So ein Verhalten würde in seiner Abteilung nicht geduldet werden, da herrschten zweifellos andere Sitten, und man legte das Gesetz nicht so aus, wie es einem gerade genehm war. »Das hat er Ihnen gesagt?«, fragte er mühsam beherrscht und verkniff sich für den Moment alles, was ihm auf der Zunge lag.

»Ja, und wir haben auch tatsächlich welche bei ihm gefunden.«

»Das heißt nicht, dass er nichts mit dem Vorfall zu tun hat. Wir nehmen ihn mit.« Medeots Tonfall ließ keine Widerworte zu.

Er ließ den Polizisten einfach stehen und marschierte zum Eingang des Supermarktes.

»Sind Sie Zaghet?«

»Der bin ich, Nicolo Zaghet.«

»Sie arbeiten hier?«

»Ja, ich bin Verkäufer. Also, die Aushilfe eigentlich. Bin noch nicht so lange hier.«

»Erzählen Sie mir, was passiert ist.«

»Ich habe Ihrem Kollegen doch alles schon ganz genau …«

»Dann erzählen Sie es bitte noch mal.«

»Wie Sie wollen. Ich war allein im Laden. Der Chef hatte etwas zu erledigen, und da nicht viel los war, hat er mir die Verantwortung überlassen. Ich saß also an der Kasse, da hörte ich ein lautes Klirren in Gang zwei. Das ist der Gang direkt hinter der Kasse, den sehe ich von dort gut. Diese Göre hatte eine Glasflasche mit Tomatensoße aus dem Regal geworfen, die natürlich in tausend Stücke zerbrochen ist. Ein ganzer Liter Tomatensoße! Stellen Sie sich mal die Sauerei vor. Das Mädchen sah zuerst erschrocken aus, und ich rief ihr zu, sie solle das gefälligst aufwischen, da grinste sie mich blöd an und rannte davon, dieses Balg. Da fragt man sich schon, was die Mutter in der Zeit getrieben hat. Ein Supermarkt ist schließlich kein Spielplatz. Na, jedenfalls habe ich die Kasse versperrt und bin in Gang zwei, um den Boden sauber zu machen.«

»Haben Sie noch irgendjemand anderen gesehen außer diesem Mädchen?«

Zaghet schüttelte bestimmt den Kopf. »Nein, da war niemand. Nicht in meiner Nähe jedenfalls. Aber dann hörte ich was. Ich sah auf, und da machte sich doch tatsächlich ein Maskierter an der Kasse zu schaffen!«

»Ein Maskierter?«

»Ja, er hatte so eine Art Sturmhaube auf. Ich konnte gar nicht so schnell schauen, wie er die Kasse aufgebrochen hatte und begann, die Scheine in eine der Einkaufstaschen zu stopfen. Ich hab natürlich gerufen, er soll das lassen, und ihn gefragt, was ihm eigentlich einfällt. Der Chef lässt mich jeden Cent, der fehlt, aus eigener Tasche bezahlen. Stellen Sie sich mal vor, wie viele Jahre ich noch für den schuften muss, wenn die mir die komplette Kasse leer räumen. Bis ich auf dem Totenbett liege, das sag ich Ihnen.«

»Die? Wie viele waren es?«

»Zwei.«

»Gut. Sie haben also bemerkt, dass man Sie ausrauben wollte. Was ist dann passiert? Haben Sie versucht, die Männer aufzuhalten?«

»Ja, Herrgott noch mal, natürlich! Ich bin auf den Kerl zugestürmt – das heißt, ich wollte auf ihn zustürmen, doch in dem Moment hörte ich eine Stimme hinter mir am Ende der Reihe. Ich drehte mich also um, und da war der Zweite, ebenfalls maskiert. Er hielt einer Frau eine Waffe an den Kopf …«

»Die Frau haben Sie zuvor auch nicht gesehen?«

»Nein, sag ich Ihnen doch. Die kamen alle aus dem Nichts. Er drohte mir, er würde sie erschießen und auch mich, wenn ich nur noch eine Bewegung machte. Er sagte, ich solle mich zur Seite drehen, das Gesicht zum Regal mit der Tomatensoße, und die Hände auf das Regalbrett legen. Dann befahl er mir, die Augen zu schließen und bis hundert zu zählen.«

Zaghet verstummte, und es folgte eine lange Pause.

»Und dann?«, hakte Medeot ungeduldig nach.

»Na, dann habe ich das getan. Ich lasse mich doch nicht erschießen. So viel ist mir das Geld aus der Kasse auch wieder nicht wert.«

»Und die Frau?«

»Na ja, die kannte ich doch nicht. Natürlich tut es mir leid, dass sie von den beiden als Geisel genommen wurde, und ich hoffe, sie tun ihr nichts, aber persönlich kann ich dazu doch nicht …«

»Ich meine, ob Ihnen an der Frau etwas Besonderes aufgefallen ist. Können Sie sie beschreiben?«

Zaghet schüttelte erneut den Kopf und hob ratlos die Schultern. »Nicht wirklich, tut mir leid. Die haben mich doch gezwungen, die Augen zu schließen.«

»Aber davor. Davor haben Sie sie doch gesehen.«

»Alles, was ich gesehen habe, war eine riesige Kanone, Signor Commissario. Ich kann … ich weiß nicht, sie war … durchschnittlich. Dunkles Haar, normal groß. Mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Als ich die Augen wieder öffnete, waren alle drei verschwunden. Ein paar Kunden kamen herein und begannen ihren Einkauf. Es war, als wäre nichts geschehen.«

Medeot seufzte und klappte sein Notizheft zu. »Bleiben Sie in Reichweite, während wir uns umsehen.«

***

Medeot schloss die Tür zu seinem Büro auf. »Wie kann es sein, dass zehn Leute im Supermarkt waren und nur ein Einziger überhaupt etwas mitbekommen hat? Der Laden ist doch winzig.«

»Tja, das weiß ich leider auch nicht, Chef«, erwiderte Bearzot, »aber heutzutage schert sich doch ohnehin niemand mehr um seine Mitmenschen. Alle interessieren sich nur noch für sich selbst.«

»Oder vielleicht hat Zaghet sich die ganze Sache nur ausgedacht.«

»Und die Kasse selbst ausgeräumt? Glaub ich nicht.«

»Davon können Sie sich gleich selbst ein Bild machen«, sagte Santino Capello, der zweite Inspektor in Medeots Team, der vor Kurzem aus dem sonnigen Süden zu ihnen versetzt worden war, und trat an die beiden heran. Er reichte Medeot einen USB-Stick und machte sogleich wieder auf dem Absatz kehrt.

»Wie sieht es mit einer ersten Zwischenbilanz der Spurensicherung aus?«, fragte Bearzot den Commissario.

»Nicht besonders gut. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Menschen so ein Geschäft tagtäglich betreten? Die Kollegen sind noch nicht einmal damit fertig, alle Abdrücke zu nehmen. Und selbst dann wird die Auswertung dauern. Die von der Forensik behaupten, sie müssten erst ihren Rückstand aufarbeiten, ehe wir dran sind. Allerdings frage ich mich, womit die so überlastet sein können, während wir uns zu Tode langweilen.«

Er seufzte. Eine Massenanalyse wie diese versprach nur geringe Erfolgsaussichten. Dennoch, die Chance auf einen Glückstreffer war stets gegeben. In der Zwischenzeit galt es, andere Ansätze zu verfolgen.

In seinem Büro steckte er den Stick in den USB-Port und öffnete die Datei mit dem aktuellen Datum. Schweigend starrten er und Bearzot auf den Bildschirm, während die Aufnahme bis zur fraglichen Uhrzeit vorspulte. Die Qualität ließ zu wünschen übrig, und Medeot stieß einen leisen Fluch aus.

»Besser als nichts«, beruhigte ihn Bearzot und deutete auf die Gestalt, die sich gerade von der Kasse weg und in einen der Gänge hineinbewegte. »Wenn man die Geschichte kennt, ergibt es einen Sinn. Das muss Zaghet sein, wie er in Gang zwei geht, dort läuft das kleine Mädchen weg. Und jetzt sehen Sie mal hier.« Ein Schemen tauchte am unteren Bildschirmrand auf und marschierte zielstrebig hinter die Kasse.

»Hm«, brummte Medeot, »er hat also nicht gelogen. Jetzt fehlt nur noch … da ist es!«

Er stoppte die Aufnahme an der Stelle, an der eine weitere vermummte Gestalt in den Bildausschnitt trat. Das sich bewegende Durcheinander verschiedener Graustufen, das sie der grottenschlechten Auflösung zu verdanken hatten, zeigte, wie die Gestalt jemanden umklammerte. Es war eine Frau, so viel war gerade noch zu erkennen.

»Können wir das nicht vergrößern?«, wollte Medeot wissen.

Bearzot drückte verschiedene Tasten, und die Gestalten kamen näher.

»Jetzt erkennt man ja noch weniger als zuvor.«

»Tut mir leid, Chef. Die Qualität ist einfach zu schlecht.«

Medeot kniff die Augen zusammen, legte den Kopf schräg und winkte dann ab. »Nein, das hat eindeutig keinen Sinn. Geben Sie das Ding in die IT-Abteilung, vielleicht können die etwas drehen.«

Er speicherte die Datei, ehe Bearzot den Stick abzog, und ließ die Aufnahme erneut laufen. Und noch einmal. Dann ein viertes Mal. Etwas hatte ihn stutzig gemacht. Schon als Zaghet die Geschichte erzählte, hatte er sich gewundert, doch jetzt ergab das Ganze wirklich keinen Sinn mehr. Oder war es möglich, dass er sich das nur einbildete?

»Bearzot, was würden Sie tun, wenn Sie anstelle der Täter wären und der Kassierer kommt auf Sie zu?«

»Ich denke, ich würde Zaghet die Waffe an den Kopf halten, das Geld einsammeln und dann so schnell wie möglich abhauen.«

»Richtig. Ich auch.«

»Sie haben recht. Die Frau ist völlig unnötig. Die zwei hätten überhaupt keine Geisel gebraucht.«

»Die Frau steckt da mit drin. Nur so lässt sich das erklären. Ha!«

Medeots kurzem Triumph wurde ein jähes Ende gesetzt, als es draußen auf dem Gang laut wurde. Durch die angelehnte Bürotür drang eine aufgebrachte Frauenstimme zu ihnen herein. Dann wurde geschrien, und es folgte ein lautes Poltern, das Medeot sehr vertraut vorkam. Der Gummibaum in der Vorhalle des Präsidiums wurde gerade – nicht zum ersten Mal – zum Puffer für angestaute Wut. Normalerweise war es die Wut von Medeot, doch dieses Mal machte ihm eine junge Frau Mitte zwanzig Konkurrenz. In Handschellen und wild um sich tretend wurde sie von zwei fluchenden Polizisten durch die Halle befördert.

»Was ist denn heute los? Es scheinen ja auf einmal alle verrückt geworden zu sein.« Medeot wandte sich an einen der Uniformierten, der keuchend ohne die Frau zurückkam. »Worum ging es da gerade?«

»Mit der können Sie sich jetzt weiter herumschlagen, Dottore«, knurrte er und rieb eine gerötete Stelle an seinem Unterarm, die aussah wie eine Bisswunde. »Wir haben sie aufgegriffen, als sie Drogen kaufen wollte.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

»Sie hatte eine Coop-Einkaufstüte dabei, die voller Bargeld war. Die Summe entspricht exakt der, die aus der Kasse des Supermarktes gestohlen wurde.«

»Ist das Ihr Ernst? Das ist ja kaum zu glauben.« Medeot war bereits auf dem Weg in den Vernehmungsraum. »Sie sollten sich impfen lassen«, rief er dem Polizisten noch zu.

Man hatte die Frau unsanft auf einen der Stühle verfrachtet, ohne ihr die Handschellen abzunehmen. Das allerdings aus gutem Grund, wie die Bisswunde am Arm des Polizeibeamten und die beiden grimmig dreinblickenden Kollegen neben der Tür bewiesen. Zwar tobte sie nicht mehr, doch man konnte nicht vorsichtig genug sein. Entsprechend groß fiel Medeots Sicherheitsabstand aus.

»Wie heißen Sie?«, fragte er, an die gegenüberliegende Wand gelehnt.

Sie starrte ihn nur zornig an.

»Was ist, wollen Sie nicht mit mir reden?«

Er musterte sie. Sie hätte eine attraktive Frau sein können, und bestimmt war sie es früher gewesen, doch das Gift hatte bereits seine Spuren hinterlassen. Sie war blass und sah schlicht und ergreifend ungesund aus. Das pechschwarze Haar war ungewaschen und verfilzt, auch ihre Kleidung trug sie offensichtlich schon länger. Ihr Blick glitt suchend über die Wände.

»Sagen Sie, können Sie mich überhaupt verstehen?« Medeot sah sie mitleidig an.

Sie reagierte nicht, ihre schwarzen Augen tasteten nach wie vor den kalten Beton ab.

»Hören Sie mir gut zu, Signorina.« Er trat einen Schritt von der Wand weg. »Ich habe alle Zeit der Welt. Von mir aus können wir bis übermorgen hier sitzen, das macht mir gar nichts. Sie allerdings werden schon bald zu spüren bekommen, was es bedeutet, einen kalten Entzug zu erleben. Das wird nicht schön, für keinen von uns, aber ich lasse Sie hier nicht weg, bis Sie mir gesagt haben, was ich wissen will.«

Medeot musste sich bemühen, seinen streng und entschieden klingenden Tonfall nicht schleifen zu lassen, auch wenn er sich sicher war, dass sie den Unterschied in ihrem Zustand kaum wahrnehmen würde. Nichts lag ihm ferner, als die junge Frau, die vor ihm saß, zu quälen.

Um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen, nahm er gemächlich auf dem zweiten Stuhl ihr gegenüber Platz und sah sie unverwandt an.

»Alice«, murmelte sie. Ihr Blick hörte auf, umherzuwandern, sie fixierte stattdessen die Tischplatte. »Mein Name ist Alice Grion.«

»Gut, Signora Grion, das ist ein Anfang. Dann erzählen Sie mir, wer die anderen sind.«

»Welche anderen?«

»Ihre Komplizen, mit denen Sie den Supermarkt überfallen haben. Sind die auch abhängig? Waren Sie high, als Sie die Tat begangen haben? Haben Sie deshalb geglaubt, es sei notwendig, Sie als Geisel zu nehmen?«

»Wovon sprechen Sie? Welche Geisel? Und was für ein Überfall? Ich habe nichts damit zu tun!«

»Als man Sie aufgegriffen hat, hatten Sie die gesamte Beute dabei, auf den Cent genau. Wie wollen Sie mir das denn erklären?«

»Ich … ich …«, sie vergrub das Gesicht in ihren Händen, »ich weiß es nicht.«

»Was soll das heißen, Sie wissen es nicht? Denken Sie doch mal scharf nach.«

»Ich glaube, ich stand gerade in der Nähe eines Supermarktes, irgendwo in … ich weiß nicht mehr, an dieser Straßenecke.« Sie kniff angestrengt die Augen zusammen. »Da rannte jemand auf mich zu. Er drückte mir etwas in die Hand und rannte weiter. Ja, genau. Er hat mich dabei gegen die Wand geschubst. Sehen Sie!« Sie hob den Ärmel und legte eine frische Abschürfung am Ellbogen frei. »Ich habe mich hinter die Mülltonnen zurückgezogen und bin eine Weile dort sitzen geblieben. Und dann war da plötzlich die Tüte mit dem Geld.«

»Wie hat die Person ausgesehen?«

»Weiß nicht.«

»Geben Sie sich Mühe.«

»Ich weiß es nicht, sie trug einen dunklen Kapuzenpulli, dessen Kapuze sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Ich konnte es nicht sehen.«

Er war unschlüssig, was er von Alice Grion und ihrer Geschichte halten sollte. Einerseits fiel es ihm schwer zu glauben, dass jemand in ihrem Zustand in der Lage war, sich so etwas auszudenken, andererseits sträubte sich alles in ihm dagegen anzunehmen, die Täter würden ihre Beute einfach so wegwerfen. Schließlich hatten sie keine Bank überfallen, sie mussten also auch nicht befürchten, ein Farbpäckchen zwischen den Scheinen zu finden.

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Kann ich jetzt gehen? Bitte!«

Medeot deutete ein Nicken an und verließ den Verhörraum.

»Sie lassen sie einfach gehen?«, fragte Bearzot ungläubig. Er hatte gemeinsam mit Santino Capello in Medeots Büro auf ihn gewartet.

»Erst wird sie noch erkennungsdienstlich behandelt, aber dann soll sie von mir aus gehen.«

»Sie kaufen ihr die Geschichte also ab?«

»Ich bin mir nicht sicher. Veranlassen Sie bitte, dass eine Streife auf sie angesetzt wird. Sollte sie doch etwas mit denen zu tun haben, führt sie uns möglicherweise auf ihre Spur. Und lassen Sie die Einkaufstasche auf Spuren untersuchen, vielleicht haben wir ja Glück.«

»Letzteres ist schon geschehen, Commissario«, erklärte Capello und drückte den Rücken durch.

Motiviert und fleißig war er, das konnte Medeot ihm nicht absprechen. Grundsätzlich hatte er nichts gegen den jungen Kalabrier, er machte seine Arbeit gut und gewissenhaft, und auch menschlich schien Capello absolut in Ordnung zu sein. Medeot fragte sich vielleicht manchmal, was jemanden, der aus dem sonnigen und so völlig andersartigen Süden stammte, hierher, an dieses vergessene Fleckchen Erde, trieb. Dennoch, hätte man Medeot die Wahl selbst treffen lassen, er hätte sein Team auf Bearzot beschränkt. Doch es war nicht seine Entscheidung gewesen. Eine Etage weiter oben vertrat man die Meinung, dass »Zeiten wie diese« einen zusätzlichen Inspektorenposten erforderten. Man hatte Medeot erklärt, dass er sich darüber freuen könne, trotz der Kürzungen an allen möglichen Stellen zusätzliche Unterstützung zu bekommen. Der Sinn dahinter, dass die Unterstützung aus jemandem bestand, der nicht aus der Gegend stammte und Friaul wahrscheinlich nur aus dem Geografieunterricht kannte, erschloss sich Medeot nicht. Für kurze Zeit hatte der Kommissar sogar die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass Capello vom Polizeidirektor bewusst eingeschleust worden war, um seine Arbeit zu überwachen, aber das war natürlich Mumpitz.

»Es wurden nur die Abdrücke von Alice Grion gefunden«, fuhr Capello fort. »Aber damit haben Sie bestimmt schon gerechnet.«

Medeots Miene verfinsterte sich. Das hatte er tatsächlich. Leider bedeutete es, dass sie genauso schlau waren wie vor ein paar Stunden, als sie vor dem Supermarkt aus dem Polizeiwagen gestiegen waren.

»Liegt schon eine Rückmeldung der Squadra Volante vor? Was haben die restlichen Zeugenbefragungen ergeben? Wissen wir denn zumindest, ob sie ein Auto hatten?«

»Niemand hat etwas gesehen. Es ist, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Auf dem Parkplatz war zu der Zeit niemand, und Kameras gibt es dort nicht.«

»Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert! Absolut alles wird heute überwacht. Wie kann es sein, dass ausgerechnet das eine Mal, wenn wir es bräuchten, keine Kamera zu finden ist? Und die im Laden selbst ist auch zum Vergessen.«

»Es ist ein kleiner, alter Supermarkt, Chef, der noch nie überfallen wurde. Der Besitzer hielt es nicht für notwendig, in mehr Sicherheit zu investieren. Wir können noch froh sein, denn die meiste Zeit ist auch diese eine Kamera nicht angeschlossen.«

»Das grenzt ja schon fast an Fahrlässigkeit, so etwas«, brummte Medeot.

»Alice Grions Aussage zufolge können wir nun zumindest davon ausgehen, dass sie zu Fuß geflohen sind.«

»Vermummt und mit einer Geisel unterm Arm? Es ist unmöglich, dass das niemandem auffällt.«

»Was ist, wenn sie gar nicht geflohen sind?«, warf Capello ein. »Was, wenn sie sich in einer der Wohnungen dort aufhalten? Rund um den Supermarkt gibt es doch unzählige Seitengassen mit Dutzenden Apartments. Ich habe mir in der Nähe vor Kurzem eine Wohnung angesehen.«

»Sie könnten damit tatsächlich recht haben. Ich will alle verfügbaren Einheiten dort haben, sofort! An jeder Tür soll geklingelt, jeder einzelne Winkel durchkämmt werden. Wir unterhalten uns in der Zwischenzeit mit diesem Pipi. Mal sehen, was der uns zu sagen hat.«

Pietro Lugan war eine ähnlich traurige Erscheinung wie Alice Grion. Schmuddelig und irgendwie fahl. Er war auffallend klein und hatte schütteres Haar, aber im Gegensatz zu Alice schien sein Geist durchaus klar zu sein.

»Bin ich ein Zeuge oder ein Verdächtiger?«, fragte er, als Medeot den Raum betrat.

»Sie tragen Handschellen, was glauben Sie wohl?«

»Ach kommen Sie, Commissario. Das ist doch nicht notwendig. Ich bin auch ganz brav, versprochen.«

»Bei meinen Kollegen von der Streife haben Sie sich vielleicht den einen oder anderen Freund gemacht, Signor Lugan, aber hier wird über Straftaten nicht einfach so hinweggesehen.«

»Nennen Sie mich Pipi, Commissario, so nennen mich alle.«

»Das werde ich mit Sicherheit nicht tun. So, Sie wurden mit zwei Gramm Heroin erwischt und sind von einem Tatort geflüchtet.«

»So schlimm, wie es klingt, war das doch gar nicht«, maulte Pipi. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich erzähle Ihnen, was ich weiß, und Sie lassen mich laufen.«

»Sie sind nicht in der Position, jemandem Vorschläge zu unterbreiten, Signor Lugan«, erwiderte Medeot seelenruhig. Von diesem Rumpelstilzchen würde er sich nicht vorführen lassen.

»Ich habe aber nützliche Informationen für Sie, über die Räuber. Die gebe ich Ihnen nur, wenn Sie mir versprechen, mich laufen zu lassen.«

Medeot knirschte hinter geschlossenen Lippen mit den Zähnen. Zu oft hatte er sich heute schon auf die Zunge beißen müssen. Er begann zu verstehen, wieso man Lugan stets wieder laufen ließ. Sein Leben spielte sich auf der Straße ab, er sah viel und kannte viele. Wahrscheinlich wusste er über jeden in der Gegend eine Geschichte zu erzählen, vorausgesetzt, dass es ihm nützte.

»Erzählen Sie. Wenn Ihre Geschichte etwas wert ist, sprechen wir über Ihre Forderung.«

Bei ihm würde Lugan mit dieser Masche nicht weit kommen. Bis jetzt war er nicht hilfreich, er behinderte lediglich eine laufende Ermittlung. Medeot hatte gute Lust, ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Das in Kombination mit zwei Gramm Heroin konnte den Zwerg in ernste Schwierigkeiten bringen.

Lugan schien einen Moment lang angestrengt zu überlegen. »Gut«, sagte er und legte beide Hände flach vor sich auf den Tisch, »es waren drei.«

»Es waren drei? Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich hab den dritten Mann gesehen. Ich war hinten bei den Getränkekisten und habe dort … na ja, Sie wissen ja, in den Colaflaschen gibt es zurzeit diesen Gewinncode, und ich habe versucht …«

»Das will ich nicht wissen, lassen Sie das. Oder wollen Sie mir noch mehr Gründe geben, Sie festzunehmen?«

»Schon gut. Ich sah also hoch, und da stand er. Mit dem Rücken zu mir. Seelenruhig, rührte sich nicht und sah an die Decke.«

»Etwa auf die Überwachungskamera?«

»Gut möglich, das weiß ich nicht. Erst in dem Moment ist mir aufgefallen, dass etwas vorging. Es hat ja auch von den anderen Kunden keiner etwas mitbekommen, die waren alle noch weiter weg als ich. Ich habe kaum gewagt, mich zu bewegen, ich dachte, wenn er mich sieht, erschießt er mich.«

»Er war bewaffnet?«

»Hinten in seinem Hosenbund steckte eine Pistole.«

»Und sonst? Wie sah er aus?«

»Commissario, ich sah ihn doch nur von hinten. Aber ich würde sagen, er war eins fünfundachtzig, muskulös, männlich. Dunkel gekleidet.«

»Hautfarbe?«

»Er hatte eine Kapuze auf und trug Handschuhe.«

»Was ist dann passiert?«

»Irgendwann hat er in Richtung Kasse genickt und ist durch den Lieferanteneingang verschwunden. Ich wollte sehen, was da vor sich ging. Ich bin von Natur aus ein neugieriger Mensch, wissen Sie. Also schlich ich mich in die Nähe der Kasse und sah dort den zweiten Mann, der gerade das Geld einsackte.«

»Können Sie mir denn wenigstens den etwas genauer beschreiben?«

»Er trug eine Maske. Aber der Hellste war er wohl nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Na ja, im Zimmer daneben steht der Safe, und der Schlüsselbund lag direkt neben der Kasse.«

»Wie bitte?«

»Verzeihen Sie, ich habe nun mal ein Auge für solche Kleinigkeiten. Das ist kein Verbrechen, Commissario. Ich fand es eigenartig, dass er sich mit den kleinen Scheinen begnügt hat, wenn ihm der Inhalt des Tresors doch praktisch auf dem Silbertablett präsentiert wird. Er hat auch die Rubbel- und Lotterielose nicht angerührt. Alles ein ziemlich großer Aufwand, finde ich, wenn man überlegt, dass man das bisschen Beute am Ende auch noch durch drei teilen muss.«

»Was war mit dem Mann im Gang bei dem Verkäufer? Konnten Sie ihn sehen?«

»Tut mir leid, nein. Ist es wahr, dass er eine Geisel genommen hat?«

Medeot musterte ihn. Er wollte gar nicht wissen, wann Pietro Lugan das wieder aufgeschnappt hatte. Eigentlich durfte er davon gar nichts wissen.

»Ach Commissario, jetzt haben Sie sich doch nicht so. Ich versuche nur zu helfen. Und wo wir schon beim Thema sind, schlage ich Ihnen vor, ein Gespräch mit dem Filialleiter des Supermarktes zu führen. Fragen Sie ihn nach Nicolo Zaghet. Ich bin mir sicher, Sie werden noch ein paar interessante Infos bekommen.«

Medeot hatte sich still und leise in sein Büro geschlichen, wie er es immer tat, wenn er nachdenken musste. Es war der Ort, an dem er die Informationen ordnete, um ihnen einen Sinn zu geben, sozusagen seine Denkeroase. Er wollte es nicht zugeben, doch Lugans Worte hatten ihn ins Grübeln gebracht. Die Täter hatten tatsächlich einiges an Wert zurückgelassen. Er konnte sich dieses Verhalten noch nicht genau erklären, aber es passte perfekt zu Alice Grions Geschichte. Geld schien nicht das primäre Ziel der Diebe gewesen zu sein.

Es klopfte energisch.

Ehe Medeot reagieren konnte, stürzte Bearzot herein.

»Tut mir leid. Entschuldigung, Chef«, beteuerte er und schloss die Tür betont leise, so als würden diese beiden Aktionen sich gegenseitig aufheben. »Verzeihung, aber ich habe eine Theorie, die müssen Sie hören!«

Medeot richtete sich in seinem Sessel auf. Als wäre Bearzot mit seinen verrückten Theorien nicht genug, war ihm gerade selbst eine gekommen, die ebenso gut der Phantasie des Inspektors hätte entsprungen sein können.

»Sie wollen mir erzählen, dass es eine Entführung war«, mutmaßte er.

Bearzot blieb für einen kurzen Moment der Mund offen stehen. »Ja, ich … ich wollte genau das sagen«, murmelte er verblüfft. »Woher …«

»Mir kam ein ähnlicher Gedanke.«

»Es ist die einzige Erklärung, oder? Die Sache mit dem Raubüberfall war nur ein Ablenkungsmanöver. Man hat versucht, es so aussehen zu lassen, als wäre der Überfall schiefgegangen und man sei gezwungen gewesen, eine Geisel zu nehmen. Dabei wollte man von Anfang an nur diese Frau!«

Medeot antwortete nicht sofort.

»Chef, ich weiß, dass das vielleicht etwas weit hergeholt ist«, lenkte Bearzot sofort ein, »und Sie sagen ja immer, ich soll nur mit Theorien kommen, wenn ich sie auch beweisen kann, aber ich sage Ihnen, es ist die einzig logische Erklärung.«

»Es könnten genauso gut irgendwelche Junkies gewesen sein, die einfach nicht so genau wussten, was sie da eigentlich taten.«

»Bewaffnete Junkies, die nicht nur vermummt waren, sondern auch noch Handschuhe trugen?«

Medeot zuckte mit den Schultern. Es galt, alle Möglichkeiten abzuwägen. Sie durften nichts auslassen. »Wer, denken Sie, würde auf die Idee kommen, so etwas zu inszenieren, und vor allem aus welchem Grund?«

Diesmal war es Bearzot, der keine Antwort parat hatte.

Später am Nachmittag tigerte Medeot ungeduldig in seinem Büro auf und ab. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass schon fast Feierabend war. Die Zeit schien nun so schnell zu verrinnen, dass man meinen konnte, sie wollte ihre Trägheit der letzten Tage wieder ausgleichen. Und die Einsatzkräfte waren bereits seit Stunden unterwegs, ohne etwas von sich hören zu lassen. Dabei hatte er angeordnet, sofort über Neuigkeiten informiert zu werden.

Das Schrillen des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Er griff hastig zum Hörer. Cecchi, der Leiter des Einsatzkommandos, war am Apparat.

»Commissario? Wir haben das Versteck gefunden. Es liegt in einer der Seitengassen, so, wie Sie es vermutet haben. Im Dachgeschoss.«

»Verstehe. Haben Sie die Frau?«

»Negativ, Commissario. Die Wohnung war leer, sie waren bereits weg.«

Medeot fluchte und holte mit dem Telefonhörer zu einem Hieb aus. Wahrscheinlich hätte er ihn quer durch den Raum geworfen, hätte er nicht ausgerechnet Cecchi am anderen Ende der Leitung gehabt.

»Keine Sorge, wir erwischen sie, das schwöre ich Ihnen. Weit können sie noch nicht sein, und viel weiter werden sie nicht mehr kommen.«

Cecchis stets militärisch klingender Tonfall hatte etwas Endgültiges an sich, das Medeot tatsächlich etwas zu beruhigen vermochte. Er wusste, wenn er jemandem vertrauen konnte, dann ihm und seinem Team.

»Danke, Cecchi. Was haben Sie in der Wohnung gefunden?«

»Es gibt seit geraumer Zeit keinen Mieter mehr, was unsere Täter gewusst haben müssen. Sie haben die paar noch vorhandenen Möbel so platziert, dass man meint, man stehe vor einer Festung, wenn man zur Tür hereinkommt. Die haben sogar so etwas wie Schießscharten eingerichtet. Ich sage Ihnen, die meinten es todernst und waren auf alles vorbereitet.«

»Irgendwie ergibt das Ganze mit jeder neuen Information noch weniger Sinn.«

»Wenn Sie mich fragen, haben Sie es nicht mit irgendwelchen Möchtegern-Gangstern zu tun, die schnell mal einen Supermarkt ausrauben wollten. Sie sollten vorsichtig sein.«

»Denken Sie, wir haben noch eine Chance, die Frau lebend zu finden?«

Kurz herrschte Stille am anderen Ende der Leitung.

»Ich weiß es nicht, Commissario.«

»Lasst den Erkennungsdienst durchmarschieren. Wenn sie sich dort aufgehalten und umgezogen haben, müssen sie Spuren hinterlassen haben.«

»Chef«, tönte es an der Bürotür. Bearzot lugte herein. Medeot bedeutete ihm einzutreten und legte auf.

»Konnten Sie den Supermarktbesitzer ausfindig machen?«, fragte er ohne Umschweife.

»Es war nicht ganz einfach. Ich habe Signor Campodonico bei seinem täglichen Spaziergang mitten in der Pampa abgefangen. Seine Frau meinte, ich würde ihn so am ehesten finden. Und es hat geklappt.«

»Und was hatte er zu sagen?«

Bearzot musste seinen winzigen Notizblock zücken, auf dem er alles nur Erdenkliche notierte. Man konnte meinen, das Gespräch mit Campodonico hätte nicht gerade eben, sondern vor drei Monaten stattgefunden.

»Er fiel aus allen Wolken. Sein Handy hatte er nicht dabei, er hatte also keine Ahnung, was passiert war. Der arme Kerl regte sich so sehr auf, dass ich dachte, er würde gleich einen Herzinfarkt bekommen. Ich habe ihm den Gefallen getan, ihn zum Supermarkt zu fahren. Nachdem er sich im Auto ein wenig beruhigt hatte, erzählte er mir, dass er eigentlich den ganzen Vormittag hätte dort sein sollen. Erst danach wollte er nach Hause, um den Geburtstag seines Sohnes zu feiern. Dann habe er aber die Nachricht erhalten, die Bezirksleitung würde eine Sonderprüfung durchführen und er müsse dafür in die Zentrale nach Udine, um irgendwelche Unterlagen abzuholen, also verließ er den Supermarkt früher. Als er in Udine ankam, wusste die Sekretärin nichts davon, und der zuständige Herr war nicht anwesend. Campodonico war wütend, dass er den ganzen Weg umsonst gemacht hat, fuhr nach Hause und spielte den Gastgeber. Als das Fest vorbei war, machte er sich zu seinem Spaziergang auf, um sich ein wenig abzukühlen.«

»Und was hat er über Zaghet gesagt?«

»Nicolo Zaghet hatte ich inzwischen gründlich überprüft. Er ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt, sein Vorstrafenregister ist recht umfangreich. Als ich Campodonico fragte, warum er Zaghet überhaupt eingestellt hat, faselte er irgendetwas von einem Gefallen für seine Cousine. Ist wohl sein Neffe zweiten Grades, wenn ich das richtig verstanden habe. Allerdings scheint Campodonico, obwohl er Zaghet den Laden und die Kasse anvertraut hat, der Meinung zu sein, er habe immer noch kriminelle Dinge am Laufen. Und jetzt wird es erst richtig interessant, Chef: Laut Campodonico war es Zaghet, der ihm gesagt hat, man würde ihn in Udine erwarten. Angeblich hat jemand auf dem Firmenanschluss angerufen, und er war es, der abgehoben hat. Ein Zufall?«

»Wohl kaum. Dieser Wicht steckt da mit drin. Zitieren Sie ihn her. Nein, besser noch, lassen Sie ihn abholen. Nicht dass er uns auch noch abhaut.«

Es klopfte an der Tür, und Medeot rief: »Herein.« Man reichte ihm eine Mappe. Hastig schlug er sie auf, und für einen Moment schlich sich ein siegreiches Lächeln in sein Gesicht. Dem Erkennungsdienst war es tatsächlich gelungen, an einem der Regale in Gang zwei einen Fingerabdruck zu finden. Doch nicht nur das, es gab zu diesem Abdruck sogar einen Treffer in der landesweiten Datenbank.

Als Medeots Blick auf den Namen fiel, gefror sein Lächeln.

Alexandra Hüttenstätter.

Es war, als würden ihn die Buchstaben hämisch angrinsen.

Diesen Namen würde er sein Leben lang nicht vergessen. Fast ein Jahr war es her, seit er ihn zum letzten Mal gelesen hatte, den Namen der Frau, die er quer durch Friaul gejagt hatte, nur um festzustellen, dass er sie zu Unrecht beschuldigt hatte.

Wäre es irgendein anderer Name gewesen, Medeot hätte sofort geglaubt, die Person sei daran beteiligt. Doch nicht Alexandra Hüttenstätter. Es war unmöglich, dass die Schriftstellerin in einer Sache wie dieser als Komplizin in Frage kam. Das ließ für Medeot nur eine mögliche Schlussfolgerung zu. Er drehte sich in Richtung der großen Pinnwand, wo das unscharfe Standbild der Überwachungskamera hing, das selbst die IT-Abteilung nur minimal hatte verbessern können.

»Das könnte sie sein«, stellte Bearzot fest, der neben Medeot stehend mitgelesen hatte.

»Das ist sie. Da wette ich drauf. Lassen Sie mich mal ihre Adresse überprüfen.« Medeot setzte sich hinter seinen Schreibtisch und tippte den Namen in den Computer. »Sie scheint tatsächlich noch hier zu leben, gemeldet ist sie in der Via Udine in Cormòns. Das ist keine drei Kilometer vom Tatort entfernt.«

»Bringt uns das weiter, was die Täter angeht?«

Medeot zog die unterste Schublade auf, die in seiner Abwesenheit stets versperrt war, und nahm ein zerknittertes Foto heraus. Darauf war ein Wohnzimmer zu sehen, hinter der großen Terrassentür der tiefblaue Ozean. Auf der Rückseite stand in schwarzen Lettern: »Bitte verzeih mir.« Medeot wusste es nicht mit Sicherheit, aber er ging davon aus, dass es für Alexandra gedacht war und vermutlich von Angelo Cherubini stammte, dem Mann, der eigentlich hinter der ganzen Sache gesteckt hatte und der sie fast unschuldig ins Gefängnis hätte gehen lassen.

»Unglücklicherweise habe ich da eine Idee«, murmelte Medeot kaum hörbar.

»Sie glauben, es war Angelo Cherubini?«

»Ich wüsste nicht, wer sonst etwas davon hätte, sie zu entführen.«

»Aber er ist nach der ganzen Sache damals spurlos verschwunden. Ich dachte, er sei abgehauen. Irgendwohin, weit weg, wo es warm ist und paradiesisch. Wieso sollte er zurückkommen? Und wieso ausgerechnet jetzt?«

»Ich weiß es nicht, Bearzot.«

ZWEI

Es war schon lange dunkel, als Medeot die Tür zu dem etwas außerhalb von Görz gelegenen Einfamilienhaus aufschloss. Im Flur brannte Licht, doch es war still. Er wusste, dass Claudia immer eine der Lampen im Erdgeschoss anließ, wenn er nicht zu Hause war. Bei allem, was sie durch seinen Beruf zwangsläufig mitbekam – vieles erzählte er ihr gar nicht, und dennoch –, konnte er diese Angewohnheit durchaus nachvollziehen. Sein Gedanke bestätigte sich, als er die Tür zum Wohnzimmer öffnete. Dort war es nämlich dunkel. Claudia und der dreizehnjährige Elias schliefen bestimmt schon, Gabriella hingegen hing mit Sicherheit noch im Internet, das kleine Kästchen im Vorzimmer blinkte munter. Die Hausregel der Medeots, dass der Internetzugang nachts abgeschaltet wurde, war in dem Moment ad acta gelegt worden, als Gabriella kurzerhand ihr Handy benutzt hatte, um sich Filme anzusehen. Medeot wurde heute noch schwindlig bei dem Gedanken an die Handyrechnung. Claudia beschwerte sich zwar hin und wieder über das ständige Geblinke im Vorzimmer – sie behauptete, die Strahlung würde dafür sorgen, dass sie schlechter schlief –, doch meist nahm sie es einfach hin.

Wie gern hätte er sich jetzt neben seiner Frau auf das federweiche Kissen sinken lassen. Ein paar Stunden hätten gereicht, um seine Reserven wieder aufzufüllen. Doch daraus wurde nichts, in seinem Kopf ging es immer noch rund wie auf dem Jahrmarkt. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, sämtliche Gedanken zeitgleich zur Ruhe zu bringen.

Er verzichtete darauf, die große Deckenleuchte im Wohnzimmer einzuschalten, die Helligkeit des Flurs breitete sich weit genug in den Raum aus. Er ging zur Küchenzeile, öffnete den Kühlschrank und schnappte sich die erstbeste Tupperdose. Crespelle ricotta e spinaci, mit Butter und Käse im Ofen überbacken. Offenbar die Reste des Mittagessens. Es duftete einfach himmlisch und brachte Medeots Magen prompt dazu, ein lautes Knurren von sich zu geben – kein Wunder, hatte er doch seit dem Frühstück nichts mehr zwischen die Zähne bekommen.

Er nahm sich eine Gabel und wollte es sich gerade auf dem einladenden Sofa bequem machen, als er es hörte. Etwas schlich draußen vor der Terrasse durch die Dunkelheit. Schemenhaft zeichneten sich im Garten die Bäume ab, Oleander und Sommerflieder, von denen er jeden einzelnen kannte und von denen jeder an seinem Platz war. Er schüttelte energisch den Kopf und wandte sich wieder seiner Mahlzeit zu. Das Umland von Görz war eine ländliche Gegend, voll von weiten Äckern und Weingärten, Wiesen und Wäldern, und die Ufergegend des Isonzo, der unweit des Grundstücks südwärts floss, beherbergte beinahe unberührte Naturjuwelen. Es kam durchaus vor, dass wilde Tiere abseits ihrer eigentlichen Territorien auf Nahrungssuche gingen. Hauptsächlich waren es Wildschweine; Medeot hatte bereits einmal einem ausgewachsenen und äußerst kampflustigen Exemplar gegenübergestanden. Eine erneute Begegnung dieser Art wollte er tunlichst vermeiden, selbst wenn er dabei riskierte, den Ärger von Claudia auf sich zu ziehen, wenn sie bemerkte, dass jemand ihren Gemüsegarten vorzeitig abgeerntet hatte. Den Zorn seiner Frau zog er dem eines voll entwickelten Keilers definitiv vor.

Genüsslich schob er sich einen Bissen nach dem anderen in den Mund. Selbst kalt waren die Crespelle einfach unbeschreiblich köstlich. Er hatte fast aufgegessen, als er einen neuerlichen Blick nach draußen warf. Beinahe wäre ihm das Essen im Hals stecken geblieben. Da war ein Baum, ein schmaler, menschlich geformter, der dort definitiv nicht hingehörte.

Mit einem Satz war er zurück am Küchentresen, wo er seine Dienstwaffe abgelegt hatte. Er ergriff die Beretta, würgte den Rest Crespelle hinunter und schlich in Deckung der Möbel zur Rückseite des Wohnzimmers. Er war fast am Fenster angekommen, als etwas gegen die Scheibe klopfte. Beinahe wäre ihm die Waffe aus der Hand gerutscht, so sehr erschrak er über das unerwartete Geräusch. Es klopfte wieder. Leise, aber ungeduldig – an die Scheibe der Terrassentür. Mit vorgehaltener Pistole starrte er ungläubig auf den Mann, der da im Dunkeln vor seiner Tür stand.

»Cherubini«, keuchte er ungläubig und entsicherte seine Waffe.

»Nicht schießen, Commissario«, tönte Angelos Stimme dumpf durch die Scheibe, »bitte. Ich brauche Ihre Hilfe.«

Er hob demütig beide Hände in die Luft.

»Ich sollte Sie auf der Stelle erschießen, Sie verdammter …« Medeots Stimme bebte, und er spürte, wie sein Gesicht vom Hals aufwärts rot anlief. »Nach allem, was Sie sich geleistet haben, wagen Sie es, in meinem Zuhause aufzutauchen, noch dazu mitten in der Nacht? Während meine Familie oben schläft! Und was haben Sie mit Alexandra gemacht, Sie Bastard, wo ist sie? Haben Sie ihr etwas angetan?«

Er musste sich bemühen, nicht vollends loszubrüllen. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, seine Familie in Gefahr zu bringen. Er griff zum Handy, um Verstärkung anzufordern. Bei jemandem wie Cherubini konnte man nicht vorsichtig genug sein.

»Nein, bitte, Medeot. Lassen Sie das und hören Sie mir einen Moment zu, bitte. Wegen Alexandra bin ich doch hier.« Er trat noch näher an das Glas heran und fasste in seine Hosentasche.

Jeder Muskel in Medeots Körper spannte sich. Wenn Cherubini jetzt eine Waffe zog, würde er ihn erschießen, da gab es keine Diskussion. Doch Angelo zückte ein Blatt Papier und hielt es an die Scheibe. Es war ein DIN-A5-groß ausgedrucktes Foto von Alexandra Hüttenstätter, die benommen an der Kamera vorbei ins Leere starrte. Vor ihr lag auf einem Tisch die heutige Ausgabe des »Il Piccolo«, er erkannte die Regierungschefin Serracchiani auf der Titelseite.

»Das habe ich heute Nachmittag bekommen«, erklärte Angelo, und er klang beunruhigt. »Lassen Sie uns bitte kurz reden, ich mache mir Sorgen um sie.«

Medeot überlegte, musterte den attraktiven Mann mit den undurchschaubaren blauen Augen. Er sah hilflos aus. Medeot hielt nicht viel von ihm, dennoch war er sich sicher, dass Angelo Cherubini es nicht darauf abgesehen hatte, einen hochrangigen Polizisten in seinem eigenen Haus zu überfallen. Das war erstens nicht sein Stil, und ein Gewalttäter war der Mann obendrein nie gewesen. Er öffnete und ließ ihn eintreten, senkte die Pistole aber keinen Millimeter.

»Sie haben vielleicht Nerven«, knurrte Medeot.

»Es tut mir leid. Ich hätte vermutlich nicht herkommen dürfen, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.«

Medeot starrte ihn an. Er bekam gerade eine einmalige Gelegenheit auf dem Silbertablett präsentiert, einen Dieb, Betrüger und Kunstfälscher dingfest zu machen. Es gab nach wie vor einen Haftbefehl gegen Angelo Cherubini. Zwar nur wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Unterschlagung, denn der Beihilfe zu den Morden seines damaligen Komplizen war er nie überführt worden, doch für Medeot wäre es persönlich eine Genugtuung, diesem professionellen Lügner den Garaus zu machen.

»Commissario, Sie sind einer von den Guten. Deshalb komme ich zu Ihnen. Ich werde mich stellen.«

Medeot ließ die Waffe sinken und runzelte die Stirn. Er sollte ihn einfach in seinen Wagen verfrachten und auf das Präsidium schleifen, vorsichtshalber in Handschellen, um Cherubini zumindest ein Stück weit für seine Taten im vergangenen Jahr büßen zu lassen.

Doch er entschied sich anders. »Wie soll es Alexandra retten, wenn Sie sich stellen?«, wollte er wissen und legte seine Waffe zur Seite.

Angelo reichte ihm den Ausdruck. Am unteren Rand stand in gedruckten Buchstaben etwas, das Medeot auf den ersten Blick nicht aufgefallen war.

»Deine Freiheit für ihre«, las er.

»Deshalb bin ich hier«, sagte Cherubini ruhig. Entweder hatte er sich außergewöhnlich gut unter Kontrolle, oder er hatte sich seine Schritte vorab gut überlegt und bereits eine Entscheidung getroffen. »Ich will, dass Sie mich verhaften und es an die ganz große Glocke hängen.«

Es war also Letzteres der Fall.

»So wichtig, wie Sie glauben, sind Sie auch wieder nicht«, warf Medeot ein.

Cherubini verzog keine Miene. Es schien ihm ernst zu sein. »Es geht nicht darum, wie wichtig ich bin, sondern darum, dass eine möglichst breite Masse davon erfährt, dass ich meine Freiheit aufgegeben habe. Und damit hoffentlich auch derjenige, der hinter Alexandras Entführung steckt.«

»Haben Sie eine Idee, wer das sein könnte?«

Angelo Cherubini verneinte.

Medeot zögerte mit einer Entscheidung. Es wäre möglich, dass Cherubini seine beste Chance war, Alexandras Leben zu retten. Sie hatten nicht gerade eine heiße Spur zu den Tätern oder ihrem Aufenthaltsort, und mit jeder Stunde, die verstrich, sank die Wahrscheinlichkeit, sie lebend zu finden.

Er zog einen der beigefarbenen Ordner, die er in Erwartung einer schlaflosen Nacht inoffiziell aus dem Büro mitgenommen hatte, aus seiner Aktentasche und blätterte zum Foto von Nicolo Zaghet. »Schon mal gesehen?«

Angelo Cherubini schüttelte den Kopf. Der sonst so charmante und in Medeots Augen gleichermaßen schmierige Schwerenöter war heute äußerst still.

»Sind Sie sicher? Sehen Sie genau hin.«

»Nein, Medeot, ich kenne diesen Mann nicht. Wer ist das?«

Medeot ignorierte seine Frage. Sie hatten den Verkäufer mit der zweifelhaften Vergangenheit an dessen offizieller Adresse nicht mehr angetroffen und ihn auch telefonisch nicht auftreiben können. Sein Handy war ausgeschaltet und er wie vom Erdboden verschluckt. Der nächste Name auf der immer länger werdenden Liste von Leuten, die er besser heute als morgen finden sollte. Was für eine Ironie, dass ihm dafür genau die Person, die er gerade nicht auf der Liste hatte, quasi frei Haus geliefert worden war. Noch war er allerdings skeptisch.

»Wie haben Sie diese Nachricht erhalten?«

»Ich denke nicht, dass das etwas zur Sache tut.«

»Und ob es das tut. Was ist, sind Sie mal wieder in etwas Illegales verwickelt? Ich tue einfach so, als hätte ich es nicht gehört. Oder haben Sie Angst, ich könnte Sie das nächste Mal auf die gleiche Weise kontaktieren, wenn mir nach Plaudern ist?«

Die Rolle begann ihm zu gefallen. Der sonst so überhebliche Betrüger kam kleinlaut auf allen vieren angekrochen, im Bewusstsein, dass er zu verantworten hatte, was Alexandra Hüttenstätter damals alles Schlimmes passiert war.

»Nein, es gefällt mir nur nicht, in welche Richtung Sie dieses Gespräch zu lenken versuchen«, gab Cherubini gereizt zurück. »Sie sollten dankbar sein, dass ich überhaupt hier aufgetaucht bin.«

Nun, allzu weit ist es mit der verlorenen Überheblichkeit dann anscheinend doch nicht her, dachte Medeot säuerlich und entgegnete: »In meinem Garten, mitten in der Nacht und indem Sie mir einen Heidenschrecken eingejagt haben. Ich soll Ihnen dankbar sein? Wenn mich nicht alles täuscht, wollen Sie doch etwas von mir.«

»Dafür habe ich mich bereits entschuldigt. Ich konnte ja wohl kaum am helllichten Tag in die Questura spazieren.«

»Wieso denn nicht, wenn Sie sich doch ohnehin stellen wollten?«

»Ich musste sichergehen, dass alles getan wird, damit Alexandra da heil wieder rauskommt. Ich vertraue Ihnen.«

Medeot stieß schnaubend Luft durch die Nase aus. Da zeigte sich wieder einmal, wie manipulativ Cherubini war. Ich vertraue Ihnen. Als wenn ihn das dazu brächte, zu tun, was er verlangte.

»Mag sein, dass das so ist« entgegnete er, »doch es beruht keinesfalls auf Gegenseitigkeit. Und nicht zuletzt deshalb werden Sie sich meine Fragen wohl oder übel gefallen lassen müssen. Sie vertrauen mir? Gut, denn ich bin derjenige von uns beiden, der sagt, wo es in dieser Angelegenheit langgeht. Setzen Sie sich«, befahl er und deutete auf die Couch.

Er ging zur Küchenzeile, füllte die Caffettiera randvoll mit frisch gemahlenem Triestiner Kaffee und drehte den Gasherd auf. »Also noch mal von vorn: Es ist sehr wohl von Bedeutung, wie die Entführer Sie erreicht haben. Es zeigt uns nicht nur, ob die wussten, wo Sie sich aufhielten, sondern auch, ob sie Sie wieder kontaktieren können und umgekehrt.«

»Wenn Sie es unbedingt wissen müssen: Es wurde mir über eine E-Mail zugespielt. Ich habe auf die Nachricht geantwortet, gefragt, was sie von mir wollen, aber es kam keine Reaktion.«

»Unsere Techniker können bestimmt herausfinden, wem diese E-Mail-Adresse gehört oder von wo die Nachricht verschickt wurde.«

»Ich habe bereits versucht, die IP-Adresse des Absenders zurückzuverfolgen, aber das war zwecklos, sämtliche Spuren wurden verwischt. Wer immer das ist, sie sind schlau.«

»Wer kann von Ihrer E-Mail-Adresse wissen? Sie verteilen sie doch sicher nicht an jeden.«

»Es gibt einige Leute, die sie kennen und hätten weitergeben können. Wenn ich darauf zugreife, lasse ich mich aber bestimmt nicht verfolgen. So dumm bin ich nicht.«