Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt - Jörg Maurer - E-Book
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Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt E-Book

Jörg Maurer

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Beschreibung

Der Tod liebt frischen Pulverschnee. Kommissar Jennerweins stimmungsvollster Fall – der elfte Alpenkrimi von Nr.1-Bestsellerautor Jörg Maurer In einer verschneiten Berghütte hoch über dem idyllisch gelegenen Kurort will Kommissar Jennerwein mit seinem Team feiern. Einmal ohne Ermittlungsdruck und Verbrecherjagd gemütlich am Kaminfeuer sitzen und Geschichten erzählen. Aber was bedeuten die blutigen Spuren im Schnee, die draußen zu sehen sind? Warum kreist eine Drohne über der Hütte? Und welcher unheimliche Schatten streift durch die Nacht? Während drunten im Kurort die Polizeistation verwaist ist und eine Gestalt leblos in einem versperrten Keller liegt, erkennt Jennerwein, dass er in eine Falle geraten ist, aus der es kein Entkommen gibt. Wenn er sein Team retten will, muss er mit dem Tod Schlitten fahren…

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Seitenzahl: 473

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Jörg Maurer

Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt

Alpenkrimi

FISCHER E-Books

»Lebe glücklich, werde alt, bis die Welt in Stücke knallt.«

(Beliebter Spruch fürs Poesiealbum)

Erstechen, Ertränken, Erwürgen, Vergiften – Die Faszination, die von gewaltsamen und unnatürlichen Toden ausgeht, bleibt ungebrochen. Aber wem sage ich das. Eine der dramatischsten Formen ist die öffentliche Hinrichtung mit dem Fallbeil. Darin haben sich besonders die Franzosen ausgezeichnet. Die letzte Veranstaltung dieser Art fand nicht etwa während der bluttriefenden Französischen Revolution statt, sondern im Februar 1939. Die Enthauptung des Serienraubmörders Eugen Weidmann muss einem Fest geglichen haben. Nach dem Fall des Beils tränkten Frauen, die im gegenüberliegenden Hotel gewartet hatten, ihre Taschentücher im Blut des »Mörders mit dem Samtblick«. Das Totenglöcklein hat einen süßen Klang. Denn gerade den Toden mit unnatürlicher Ursache haftet etwas zutiefst Romantisches und Verklärtes an. Dem Abtrennen des Kopfes, dem Ersticken und Ertränken werden sogar vielfach angenehme Gefühle zugeschrieben. Unzählige Heldinnen der Literatur sind ins Wasser gegangen, schmerzlos eins geworden mit dem Element, aus dem wir alle stammen. So erzählt man sich. Pustekuchen! Fragt man Mediziner, ist das Ersticken im Wasser äußerst schmerzhaft und dauert mehrere Minuten, genauso wie die meisten anderen künstlich herbeigeführten Tode. Auch die Explosion von Höllenmaschinen wird seit jeher verklärt zu revolutionären Aktionen und weltgeschichtlich bedeutsamen Attentaten, durchgeführt von sympathischen Bombenlegern und idealistischen Bastlern. Doch auch hier hält der Mediziner dagegen. Die Druckwelle einer mittleren TNT-Explosion, die bis zu 300 m/s erreicht, führt zu schauderhaften Verletzungen: Zerreißen innerer Organe (insbesondere der Lunge), Luftembolien, Pneumothorax, Schädelhirntraumata, Verletzung des Gehörsystems, Ruptur des Trommelfells. Die Verletzungen durch herumfliegende Trümmer sind noch gar nicht mitgezählt.

 

Daran dachte Verena Vitzthum, als sie die freigelegten Drähte des Zünders sah. Sie als medizinisch Kundige wusste, dass eine Explosion nicht zwangsläufig zu einem raschen Tod führen musste, selbst wenn man ganz in der Nähe saß. Ein letztes Mal blickte sie hinüber zu Kommissar Jennerwein, der mit versteinerter Miene aus dem Fenster starrte. Grauen überkam sie. Doch alles der Reihe nach.

1

Wie ein enges, weißes Totenkleid lag der Schnee auf den Hügeln des Vorgebirgskamms. Der Bergwind pfiff in kurzen, asthmatisch rasselnden Stößen und rüttelte wütend an den Tannen. Vergeblich. Sie standen da wie eingefrorene Figuren aus dem Eisballett, streckten ihre marmorierten Nasen in alle Richtungen und schnüffelten reglos. Und ruhig war es. Nicht einfach still und friedlich, viel schlimmer: ruhig wie vor dem Urknall. Jetzt aber bewegte sich einer der starren Baumtrolle, erzitterte, räusperte sich, gab schließlich einen Teil der Schneelast frei, die sich fein klirrend auf den harten Boden ergoss. Am milchigen Himmel stand eine kalte, herzlose Wintersonne, unten im Schneetal waren zwei Paar tiefe, frische Stiefelspuren zu sehen.

 

Der Schuhgröße nach zu urteilen waren es zwei erwachsene Männer, die ohne große Eile nebeneinander hergegangen waren, es fehlten die energisch nach unten gedrückten Schuhspitzen, die dem Fährtenleser die schnellere Gangart verrieten. Vielleicht waren es geübte Winterwanderer, womöglich zwei sonnengebräunte Bergbauernburschen auf der traditionellen Brautschau am ersten Weihnachtsfeiertag. Auf der vereisten Hügelkuppe hatten sie Rast gemacht und ihre zwei kleinen, leichten Rucksäcke auf den Boden geworfen. Hatten sie die Aussicht auf die urzeitliche Gletscherrinne, die sie hochgestiegen waren, genossen oder sich schlicht orientiert? Davon verrieten die Spuren freilich nichts. Im Gewirr der Drehungen und Schritte fanden sich auch keine anderen Hinweise auf die Verursacher, kein Fuzzelchen Tabak, kein Krümelchen Brot. Sie waren nach der vermutlich rauch- und jausenlosen Rast im gleichen Tempo weitergestapft, wieder nebeneinander, Richtung Südwest, höher und höher, der Sonne entgegen. Geradewegs in die Falle.

 

Nach einem weiteren Hügel beschrieben die Spuren einen Bogen, die eventuellen Bauernburschen umgingen auf diese Weise eine Wechte, einen tückischen Schneeüberhang, der hinter dem Berg steinig und schroff abfiel. Es wären zwar nur zehn Meter gewesen, aber genug, um sich das Genick zu brechen. Manch braver, unkundiger Hans Guckindieluft war genau so umgekommen. Danach blieben sie wieder stehen, drehten sich um, vielleicht, um sich die überstandene Gefahr kurz anzusehen und sich den Schweiß symbolisch von der Stirn zu wischen. Puh! Jetzt führten die Stiefelabdrücke in einen Abschnitt mit verschneitem Gebüsch, geradewegs ins Unterholz, an manchen Stellen hatten sie sich wohl gebückt fortbewegt, da und dort waren Abdrücke von Handschuhen zu erkennen. Und etwas Kleines, Glitzerndes lag neben der Spur und versank langsam im pulvrigen Schnee des Dickichts.

 

Die Spuren wiesen nun einen stark bewaldeten Hügel hoch, und bald waren nicht nur die Tapper im Schnee zu sehen, sondern die beiden Männer selbst. Sie sahen so aus, wie man sie sich vorgestellt hatte, groß und kräftig und mit einem festen Ziel vor Augen. Es fehlten nur noch ein paar Meter zu der dunkel gestrichenen Blockhütte, die stolz auf dem Hügel thronte. Als sie dort angekommen waren, blieben sie keuchend stehen, streiften ihre Rucksäcke ab und warfen sie auf den Boden. Der knochigere der beiden setzte sich auf die Holzbank neben der Tür, zückte sein Fernglas und blickte damit kurz ins Tal. Sein Haar war stoppelkurz geschnitten, aus seinen sonnenverbrannten Gesichtszügen leuchteten helle, wache Augen, denen nichts zu entgehen schien. Der andere, unauffälligere Mann war damit beschäftigt, sich den Schnee von Schuhen und Kleidung zu klopfen. Seine Bewegungen waren ruhig und zielsicher, auch er blickte ins Tal, lächelte versonnen, als hätte er etwas Altbekanntes entdeckt. Dann drehte er sich um und ging zur Tür. Er langte in die Hosentasche, schüttelte ärgerlich den Kopf, griff in die andere und suchte dann in den Taschen seines Anoraks.

 

»Das gibts doch nicht! Ich kann den Schlüssel nicht finden«, sagte Jennerwein.

»Echt jetzt?«, erwiderte Ludwig Stengele. Er lachte gutmütig. »Unsere Hüttengaudi geht ja schon gut los.«

Jennerwein schüttelte den Kopf.

»Ich bin mir ganz sicher, dass ich ihn mitgenommen habe.«

»Vielleicht ist er Ihnen vorhin herausgefallen, als Sie sich ein neues Päckchen Taschentücher gegriffen haben?«

Jennerwein schnitt eine unwillige Grimasse.

»Im Unterholz? Ja, das kann sein. Verdammter Schnupfen! Man ist einfach nicht voll konzentriert, wenn man so angeschlagen ist. Es tut mir leid, Stengele, aber das ist mir noch nie passiert.«

»Denken Sie sich nichts«, sagte der grobschlächtige Mann schulterzuckend. »Es gilt die alte Pfadfinderweisheit: Ein Hüttenabend, bei dem man nichts vergessen hat, ist kein guter Hüttenabend!«

»Aber gleich den Schlüssel! Normalerweise vergisst man den Korkenzieher. Oder das Feuerzeug.«

Nun lachten beide. Es waren keine Bauernburschen auf Brautschau, es waren Hubertus Jennerwein, erster Kriminalhauptkommissar der Mordkommission IV und Ludwig Stengele, ehemaliges Mitglied des Kernteams, jetzt Leiter der Spezialeinheit eines international operierenden Sicherheitsdienstes. Beide ließen sich die gute Laune, die sie beim Aufstieg gezeigt hatten, nicht verderben.

»Ich werde auch den Rucksack noch filzen«, sagte Jennerwein seufzend. »Ich glaube zwar nicht, dass er da drin ist. Aber sicherheitshalber –«

 

Während Stengele an der Tür rüttelte und sich das Schloss und den Rahmen näher besah, warf Jennerwein ein paar Kleidungsstücke und einige Medikamentenpäckchen auf den Boden und schüttelte den Rucksack aus. Stengele blickte mit skeptischer Miene auf.

»Ein Schlüssel wäre schon besser«, murmelte er. »Diese Tür lässt sich wahrscheinlich nur mit einem schweren Rammbock öffnen.«

»Wem sagen Sie das«, erwiderte Jennerwein geknickt. »Ich habe sie erst vor ein paar Monaten gegen Einbruch sichern lassen.«

2

Jjóoglyü und M’nallh stiegen aus dem Raumschiff auf den Planeten Erde und schnupperten. Sie als hochentwickelte und hyperintelligente Seidenspinnerschmetterlinge waren fähig, Duftstoffe über Tausende von Kilometern hinweg wahrzunehmen.

»Der Planet ist unbelebt«, sagte Jjóoglyü. »Hieß früher mal Erde.«

»Trotzdem rieche ich noch etwas«, erwiderte M’nallh und schob seine Mandibeln tastend vor.

Sie scannten die Stelle, aus der das Pheromon-Signal kam.

»Hier hat mal meterdick Schnee gelegen.«

Sie sahen das Objekt sofort. Ein kleiner, glatter Metallstift mit einer durchlöcherten Platte auf der einen Seite und dicken, verzweigten Enden auf der anderen. Jjóoglyü schlug im galaktischen Universallexikon nach.

»Ein sogenannter Schlüssel«, sagte er. »Mit so etwas haben die ihre Türen geöffnet.«

M’nallh scannte die über die Jahrhunderte und Jahrtausende gut erhaltene DNA, die sich an dem Schlüssel befand.

»Der hat mal einem humanoiden Mann gehört. Mittelgroß, mittelmuskulös, mitteleuropäisch.«

An dem Schlüssel aus längst vergangener Zeit hing ein Amulett mit dem blassen Bild einer schlaksigen Frau mit Brille.

»Ein Liebespaar?«, fragte Jjóoglyü.

»Keine Ahnung«, erwiderte M’nallh. »Lass uns verschwinden. Hier ist nichts mehr los. Schon lange nicht mehr.«

3

Jennerwein stopfte seine Sachen wieder in den Rucksack und stellte ihn unwillig an die Hüttenwand.

»Haben Sie nicht irgendwo in der Nähe einen Ersatzschlüssel versteckt, Chef?«, fragte Stengele.

Jennerwein war schon lange nicht mehr Stengeles Chef. Doch der knorrige Allgäuer aus Mindelheim blieb bei dieser Anrede.

»Nein, inzwischen nicht mehr«, antwortete Jennerwein. »Ich habe einmal einen in das Vogelhäuschen dort drüben gelegt. Den hat sich dann aber die Elster geholt. Oder der Rabe. Na ja, egal, es war ohnehin kein besonders originelles Versteck.«

Jennerwein und Stengele machten sich am Schloss der Tür zu schaffen. Sie versuchten es abwechselnd mit EC-Karte und Büroklammern. Doch sie mühten sich vergeblich ab, die Tür war auf diese Weise nicht zu öffnen. Stengele deutete auf eines der beiden vergitterten Fenster an der Vorderfront der Hütte.

»Kann man das Gitter nicht abschrauben?«

»Nein, keine Chance«, erwiderte Jennerwein. »Ich habe vor kurzem erst einen Kollegen vom Einbruchsdezernat gebeten, sich das ganze Objekt mal anzusehen. Darauf hat der mir alles furchtbar einbruchsicher gemacht. Das habe ich nun davon.«

»Hatten Sie vorher unerwünschten Besuch?«

»Schon ein paarmal, ja. Aber zu klauen gibt es ja nicht viel. Und kaputt gemacht haben sie praktisch nichts.«

Stengele trat einen Schritt zurück.

»Gut, also zur Vorderseite kommen wir nicht rein. Gibt es noch weitere Fenster? Hinten vielleicht?«

»Ja, da gibt es zwei, aber die sind sehr schwer zugänglich. Kommen Sie mit.«

Als sie um die Hütte herumgestapft waren, pfiff Stengele durch die Zähne. Die vierte Wand der Hütte lag direkt über einem Steilhang – eine Meisterleistung baulicher Statik. Durch diese Fenster konnte nur einsteigen, wer eine waghalsige Kletterei über die vereisten Felsen auf sich nahm.

»Aber ein schönes Plätzchen ist das hier«, sagte Stengele grinsend. »Ich selber habe eine Hütte im Allgäu. Aber Ihre hier ist wesentlich größer. Und versteckter. Und – ähem – einbruchsicherer.«

 

Bis vor ein paar Wochen hatte noch gar niemand gewusst, dass Kommissar Jennerwein Besitzer einer Berghütte war. Doch in diesem Jahr hatte sich das Polizeiteam endlich dazu entschlossen, die langgeplante Feier im engsten Kreis zu veranstalten. Anlässe gab es viele. Zum Beispiel das über zehnjährige Bestehen der Truppe. Oder Weihnachten. Vielleicht auch die Gelegenheit, sich einmal woanders als an schaurigen Tatorten zu sehen. Polizeiobermeister Franz Hölleisen hatte den Fitnessraum des Reviers vorgeschlagen.

»Wenn man die Tischtennisplatte wegräumt –«

»Aber da reden wir doch bloß immer wieder von Ermittlungen und Vernehmungen!«, hatte Maria Schmalfuß, die Polizeipsychologin, zu bedenken gegeben. »Wir sollten eher einen neutralen Ort wählen.«

»Vielleicht die Rote Katz?«

Der Gasthof war der Anlaufpunkt für Beerdigungen, Familienfeiern, Hochzeiten und andere Dramen. Warum also nicht auch für die Polizeiweihnachtsfeier der legendären Mordkommission IV? Doch Maria hatte den Kopf geschüttelt.

»Noch geeigneter wäre meiner Ansicht nach ein Ort außerhalb des Kurorts. So etwas wie Venedig, nur näher.«

Schließlich hatte sich Jennerwein fast schüchtern zu Wort gemeldet.

»Ich weiß nicht, ob ich das schon einmal erwähnt habe. Ich bin Besitzer einer Berghütte. Sie bietet Raum für ein Dutzend Personen –«

Alle waren baff. Jennerwein und eine Hütte?

»So richtig aus Holz und mit Einrichtung?«, hatte Nicole Schwattke, die Preußin, gefragt. »Mit Ziehharmonika, Feuerstelle und Hüttenkäse? Ehrlich gesagt war ich noch nie auf einer richtigen Hütte.«

»Dann wird es aber langsam Zeit.«

»Vielleicht lerne ich auf diese Weise einmal boa-y-e-risch.«

»Das lernen Sie nie, Frau Kommissarin«, rutschte es Hölleisen heraus.

Nicole nahm es ihm nicht übel.

 

Man hatte sich schließlich auf Jennerweins geheimnisvollen Rückzugsort geeinigt, die Sause sollte am ersten Weihnachtsfeiertag steigen. Einzige Bedingung: nichts Berufliches. Kein Wort über Schmauchspuren, Ein- und Ausschusswinkel, unzuverlässige Zeugenaussagen, verdächtige Rauchentwicklungen …

Dolche, Schierlingsbecher & Salpeterstangen

Erstechen, Ertränken, Erwürgen, Vergiften – die Romantik dieser drastischen Todesarten zeigt sich vor allem in der Oper. Aber wem sage ich das.

 

Die Oper unterlegt solche unnatürlichen Abgänge liebend gerne mit Koloraturen und Paukenwirbeln. Die Oper ist, ähnlich wie der Kriminalroman, undenkbar ohne dramatische Leiche, wobei die Lieblingstatwaffe von Verdi, Donizetti & Co. das Messer zu sein scheint: Maskenball, Rigoletto, Lucia di Lammermoor, Madame Butterfly, Carmen, Salome, Wozzeck … Die Metzelei als bevorzugte Todesart hat freilich durchaus handfeste Gründe: Die Opfer können schließlich nach dem Stich noch gut und gerne weitersingen. Beim Ertrinken ist das zwar nicht so ohne weiteres möglich, trotzdem haftet diesem etwas zutiefst Melodramatisches und eben Opernhaftes an. Richard Wagner hat sich dem wässrigen Finale geradezu verschrieben. Im Fliegenden Holländer stürzt sich Senta ins Meer, in der Götterdämmerung wird Hagen von den Rheintöchtern in die Tiefe des Flusses gezogen. Auch der Fall aus großer Höhe ist in Musikdramen beliebt, Puccinis Tosca etwa stürzt sich von der Engelsburg. In diesem Zusammenhang wollen wir auch Don Giovannis Höllenfahrt als Sturz durchgehen lassen. Ferner seien genannt das Vergiften (Lucrezia Borgia), Erschießen (Lulu), Verbrennen (Hänsel und Gretel), lebendig Einmauern (Aida) und das Erlöst-in-den-Himmel-Aufsteigen (Mefistofele). Sogar das (eigentlich unehrenhafte) Erdrosseln findet sich in Verdis Otello: Der Mohr von Venedig erwürgt dort bekanntlich Desdemona, und das ausgerechnet an der empfindlichsten Stelle des Sängers, an der Gurgel.

 

Die unheimlichste und beängstigendste Todesart jedoch, nämlich die der Explosion von Höllenmaschinen, das Sprengen und Bombenlegen wird in der Oper so gut wie nie thematisiert, obwohl es von Revoluzzern, Anarchisten und Attentätern dort geradezu wimmelt. Oder gibt es doch eine Oper, bei der sich am Schluss alles auf diese Weise in Luft auflöst? Ja, durchaus: Le prophète (Der Prophet) ist eine Grand opéra in fünf Akten von Giacomo Meyerbeer, die im Jahre 1849 uraufgeführt wurde. Im fünften Akt passiert es im Kellergewölbe des Stadtpalastes zu Münster: Jean zündet den im Gewölbe lagernden Salpeter an, eine Explosion bringt das Schloss zum Einsturz und vernichtet alle Anwesenden. Hierzu Richard Wagner: »Mir ward übel von dieser Aufführung. Nie vermochte ich je wieder diesem Werke die geringste Beachtung zu schenken.«

 

Dies alles ging Verena Vitzthum, der Opernkennerin, durch den Kopf, als sie die beiden Drähte sah, deren lose Enden nun gefährlich nahe beieinanderlagen. Der Sprengstoff reichte aus, um alles im Umkreis von zehn Metern zu pulverisieren. Sie blickte hinüber zu Jennerwein und hoffte inständig, dass er einen Plan hatte. Jennerweins Mundwinkel zuckten nervös. Doch alles der Reihe nach.

4

Jennerwein griff in die Tasche und fischte nach seinem Handy.

»Es gibt noch eine Möglichkeit«, sagte er zu Stengele. »Ich könnte meinen Nachbarn anrufen. Der hat vielleicht den Ersatzschlüssel.«

Jennerwein ging ein paar Schritte talabwärts in Richtung einer kleinen Baumgruppe. In der Nähe der Hütte war der Empfang sehr schlecht, aber fünfzig Meter weiter, inmitten dieses idyllisch gepflanzten Ensembles aus Latschen und Zirbelkiefern, kam man meistens durch.

 

Währenddessen suchte Stengele nach anderen Möglichkeiten. Er inspizierte den kleinen Schuppen, der sich seitlich an die Hütte duckte. Auch von hier aus gab es keinen Weg ins Innere. Der Allgäuer seufzte. Er konnte gar nicht anders, als die Umgebung zu scannen bezüglich Angriffswegen und Verstecken, Deckungsmöglichkeiten und Fluchtoptionen. Schon beim Heraufkommen hatte er es bemerkt: Die Vorderseite der Hütte war am wenigsten für eine eventuelle, natürlich höchst theoretische Attacke geeignet, es gab viel zu viel freie Fläche, einen Angreifer hätte man direkt ausschalten können. Die Rückseite der Hütte war noch ungeeigneter für einen Überfall, da kam nur ein Kletterer rauf, und den hätte man vom Fenster aus sofort bemerkt. An der linken Seite hingegen war die Bergkuppe mit mannshohen Zirbelkiefern und Latschen bewachsen, hier konnte sich vielleicht jemand verbergen und anschleichen. Stengele persönlich hätte dieses Gestrüpp als Erstes abgeholzt, nur dann hätte er sich in der Hütte ganz sicher gefühlt. Doch er vermutete, dass Jennerwein den Latschenurwald absichtlich gepflanzt hatte, so dekorativ stand er jetzt da. Sogar eine weitere Bank war aufgestellt worden. Nicht sein Problem. Jetzt fiel ihm in der hintersten Ecke des Schuppens ein kleiner Hackstock ins Auge. Er hob ihn an, schätzte ihn auf fünfunddreißig, vierzig Kilo. Daneben lagen U-förmige, verrostete Eisenklammern, solche, wie sie verwendet wurden, um Baubretter aneinanderzufügen. Er nickte zufrieden. Daraus konnte man, wenn Jennerweins Schlüssel nicht doch noch in einer Seitentasche des Rucksacks steckte, einen perfekten SEK-Rammbock basteln. Die Vordertür der Hütte war mit stabilen Sicherheitsschließbändern und Pilzzapfenverriegelung bestückt – Hochachtung vor dem Kollegen aus der Abteilung Raub/Einbruch, der die Hütte des Chefs in Fort Knox verwandelt hatte. Mit Dagegentreten oder Einrennen war sie sicher nicht zu öffnen. Aber mit diesem Rammbock konnte es vielleicht gelingen. Wenn er es geschickt anstellte, lockerte sich beim ersten Schlag lediglich die Schlosshalterung, dann wäre die Tür nicht völlig zerstört, und die Party könnte trotzdem stattfinden.

 

»Hallo! Jennerwein hier.«

»Ach, der Herr Nachbar. Fröhliche Weihnachten, Kommissar.«

»Das wünsche ich Ihnen auch.«

»Was gibts denn?«

»Ich habe ein Problem. Vor Jahren habe ich Ihnen doch mal einen Schlüsselbund zur Aufbewahrung gegeben. Könnten Sie vielleicht nachsehen, ob da ein Schlüssel mit extra breitem Bart dranhängt?«

»Mach ich, Kommissar.«

Schritte in der Wohnung. Geraschel. Wer ist denn dran, Schnuffi? Du wirst es nicht glauben! Rate mal. Jennerwein lauschte gespannt. Türen wurden geöffnet, Schubladen auf- und zugezogen, Kisten durchwühlt. Wie lange war es her, dass sie die Schlüssel getauscht hatten? Er konnte sich gar nicht mehr erinnern. Schließlich kam der Nachbar wieder ans Telefon.

»Tut mir leid, Kommissar. An Ihrem Bund gibt es keinen Schlüssel mit extrabreitem Bart. Brauchen Sie den so dringend?«

»Nun ja, ich stehe vor meiner Berghütte, fünfzehnhundert Meter hoch, bald wird es dunkel, ich habe einen Haufen Leute eingeladen, es ist kalt und ich habe keinen Ersatzschlüssel.«

»Ich könnte Ihnen meine Hütte anbieten, Kommissar. Aber die steht in Norwegen.«

Jennerwein lachte gequält.

»Danke, ein andermal vielleicht.«

»Schöne Feiertage noch. Dann werde ich mich mal wieder auf die Suche nach der Katze machen.«

Jennerwein konnte nicht anders. Er musste nachfragen.

»Was für eine Katze?«

»Die vom Nachbarsjungen, Sie kennen ihn vielleicht. Tobias. Er ist ganz traurig, weil seine Mieze seit zwei Tagen verschwunden ist. Sie haben sie nicht zufällig gesehen?«

Nein, hatte Jennerwein nicht. Er drückte weg.

 

Der Kommissar, der zumindest heute Abend keiner sein wollte, setzte sich auf die kleine, grob zusammengezimmerte Holzbank inmitten des Latschenensembles. Er dachte intensiv nach. Es gab ja noch einen dritten Schlüssel. Wo hatte er den aufbewahrt? Im Revier? Bei einem Bekannten? Oder doch in seinem Haus? Langsam gewöhnten sich seine erkältungsgeröteten Augen an die gleißende Helligkeit des Schnees. Der Mond ging schon auf, er schien zu warten, bis die Wintersonne ihren Abgang auf der anderen Seite der Bühne gemacht hatte. Zwei Stars gleichzeitig an der Rampe, das ging selten gut. Auf einmal fiel Jennerwein ein, dass man heute bei Dunkelheit den ›Supermond‹ zu sehen bekommen würde, der aus irgendwelchen Gründen größer war als sonst. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es dämmerte. Jennerwein hatte den Eindruck, dass die Schneeflächen dadurch noch mehr blendeten, als würden sie sich wehren gegen die heranpreschende Nacht. Er steckte sein Telefon ein und sah hinunter ins Tal. Die Nebelsuppe, die den ganzen Kessel bedeckt hatte, floss langsam weg, oben rissen rosafarbene Föhnlinsen die Wolken auf. Der Nebel lichtete sich weiter, man konnte ganz undeutlich die Forststraße sehen, die sich in Serpentinen durch den Hochwald ins Tal quälte. Wann hatte er das letzte Mal hier oben auf der Hütte gesessen und hinuntergeschaut? Ein Lächeln huschte über Jennerweins Gesicht. Sein Blick blieb an dem verwinkelten Schulgebäude des Kurorts hängen. Es war das Gymnasium, das er ganze neun Jahre besucht hatte. Erinnerungen stiegen in ihm auf. Erinnerungen an die Vorweihnachtszeit Anfang der achtziger Jahre.

5

Anders als viele Menschen hatte Hubertus Jennerwein fast nur angenehme Erinnerungen an seine Schulzeit. Er war kein ganz guter Schüler gewesen, auch kein ganz schlechter. Er bewegte sich schon immer in der Gauß’schen Mitte und fiel dadurch nicht auf. Die Schule machte ihm Spaß, und er hatte das Glück, engagierte Lehrer zu haben. Die Kette von Ereignissen, die großen Einfluss auf sein künftiges Leben haben sollte, begann am 1. Dezember des Jahres 1980. Super Trouper von ABBA dudelte aus jedem Lautsprecher, das Birkhuhn war Vogel des Jahres geworden, Steve McQueen war gerade gestorben (bei John Lennon würde es nicht mehr lang dauern), und wegen des besonderen Datums standen Millionen von ersten Adventskalendertürchen sperrangelweit offen. Die Stimmung in der Schule war prächtig, in jedem Klassenzimmer brannte eine dicke, dunkelrote Kerze, alle waren von Frau Deutzl, der umtriebigen Elternbeiratsvorsitzenden, gestiftet worden. Nur in Mathe brannte keine. Der Mathelehrer fand, dass Mathematik und Kerzenschein nicht zusammenpassten, er blies sie aus, entzündete sie am Ende der Stunde wieder neu, für den nächsten Lehrer mit einem romantischeren Fach, wie zum Beispiel – äh – Chemie. So saß Hubertus Jennerwein im Chemiesaal des Gymnasiums, auf dem Pult vor der Tafel standen Dutzende von Gläsern mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten, der Chemielehrer mischte gerade zwei zusammen. Er hatte ein weiches, ballonartiges, gutmütiges Gesicht, das gar nicht zu den vielen gefährlichen Säuren und Laugen passen wollte, die er spielerisch und lustvoll ineinandergoss. Oberstudienrat Heinz Peterchen war beliebt, er erklärte anschaulich und leicht fasslich, man hatte ihm auch keinen albernen Spitznamen verpasst, was immer ein gutes Zeichen ist.

 

Hubertus starrte während des Zuhörens auf die Reagenzien, manche Gläser waren unverschlossen, aus einem schien Dampf emporzusteigen, während andere, vermutlich die giftigeren und übleren, still und unauffällig vor sich hin lauerten. Ihr werdet schon noch sehen, schien die zäh im Glas dahinätzende Kalilauge zu blubbern.

»Wir machen jetzt einen Versuch«, sagte Peterchen und schrieb die sperrige Strukturformel von Peroxycarbonsäure an die Tafel.

Hubertus Jennerwein notierte sich das Ungetüm. Alle in der Klasse waren über die Hefte gebeugt, niemand zeigte Desinteresse, lärmte oder störte. Viele hatten vor, später Medizin zu studieren, und brauchten deshalb einen guten Schnitt. Auch wollten die zukünftigen Ärzte den Durchblick in Chemie haben. So kam der Anschlag aus heiterem Himmel. Mitten in die konzentrierte Ruhe hinein. Plötzlich hatte sich im Klassenraum eine schwere, dumpfe Gestankwolke ausgebreitet, die allen den Atem nahm. Niemand verstand den üblen Geruch nach faulen Eiern sofort als Streich, die meisten brachten ihn mit den Flüssigkeiten auf dem Pult in Verbindung. Sie hatten die farbigen Mixturen dauernd vor Augen gehabt, deshalb nahmen alle an, dass etwas ausgelaufen sein musste. Dass es eine Stinkbombe war, darauf kam zunächst keiner. Es war auch kaum zu glauben. Das war so unmöglich vorpubertär, so kindisch!

 

»Pfui Teufel!«, platzte Ronni Ploch heraus. »Das gibts doch wohl nicht.«

»Ist ja widerlich!«, stöhnte Susi Herrschl und hielt sich angeekelt die Nase zu.

Einige sprangen auf, als ob sie dadurch der Zumutung entkommen könnten. Andere fächelten sich, genauso zwecklos, mit einem Collegeblock Luft zu. Der weißbekittelte Chemielehrer stürmte zum Fenster und riss es auf.

»So eine Sauerei«, rief er. Mit dem Ärger vergaß er sogar seine Weichheit. In seinem gutmütigen Luftballongesicht blitzte so etwas wie Zorn auf.

»Ja, wirklich, eine Riesensauerei«, fluchte Bernie Gudrian, Jennerweins Banknachbar. »Den Gestank hab ich jetzt in den Haaren. Am Nachmittag wollte ich mich mit Irene aus der 10b treffen. Das kann ich ja wohl vergessen.«

Mit Irene Gödeke aus der 10b war das ohnehin ein Problem. Ihre Eltern waren schweinemäßig begütert, sie besaßen eine weltweite Hotelkette. Deswegen fand sie auch keinen Freund. Niemand wollte sie angraben, weil keiner in den Verdacht kommen wollte, ein Geier zu sein. So ging es noch zu in den Achtzigern.

 

Jennerwein sah seinen Freund skeptisch an, als wäre das, was er gesagt hatte, schon so etwas wie ein Geständnis gewesen. Als hätte Bernie beim Werfen der Stinkbombe nicht bedacht, dass sich der Geruch auch in den eigenen frisch gekämmten Haaren festsetzt. Jennerwein schämte sich sofort, ausgerechnet ihn verdächtigt zu haben.

»Wer immer das getan hat«, sagte Peterchen mit einem traurigen, tief von der Schülerwelt enttäuschten Ton in der Stimme, »den erwartet eine Strafe, die sich gewaschen hat. Den kriegen wir! Aber hundertpro. Die Duftspur führt direkt zu ihm.« Er schritt zur Tür und riss sie auf. »Aber ich sorge erst mal für Durchzug.«

Er blickte kurz auf den Gang hinaus, sah nach links und nach rechts, schloss die Tür wieder.

»Es kommt vom Flur her«, sagte Peterchen etwas hilflos.

 

In diesem Augenblick regte sich in Jennerweins Innerem etwas, wofür er noch keinen Begriff hatte. Es war ein unbestimmtes, namenloses Gefühl, so etwas wie der Wunsch, aus einer trüben Suppe eine glasklare Flüssigkeit zu destillieren. Er wollte herausbringen, wer hinter der Tat steckte. Und dann mischte sich noch ein zweites Gefühl in dieses erste. Schon gleich nach dem Anschlag ahnte er, wer es getan hatte. Natürlich nicht konkret. Er hatte zwar kein Gesicht und erst recht keinen Namen von diesem Scherzkeks, das jetzt auch wieder nicht. Aber er hatte ein schemenhaftes Profil von ihm. Oder ihr. Oder ihnen. Jemand zog aus der drastischen Störung der weihnachtlichen Beschaulichkeit einen großen Lustgewinn. Jemand freute sich diebisch über die vielen gerümpften Nasen, über die zornig erregten Lehrer und die genervten Schüler. Der Begriff für solch einen Jemand sollte erst Jahre später aufkommen. Ein Troll hatte zugeschlagen.

 

»Ich hoffe ja schwer, dass es nicht jemand von euch war«, sagte Peterchen.

Hubertus blickte sich unauffällig um und musterte ein Gesicht nach dem anderen. Heinz Jakobi, Uta Eidenschink, Harry Fichtl … Er passte in dieser Stunde nicht auf, sondern checkte Verdächtige. Die nächste Klassenarbeit war dementsprechend.

6

Jennerwein riss sich von seinen Schulerinnerungen los und stapfte zurück zur Hütte, die still und friedlich in der zaghaft beginnenden Dämmerung lag. Darüber der witwengesichtige Mond und ein leichter Winselwind. Weit und breit war niemand zu sehen. Stengele war wohl bei seinem traditionellen und unverzichtbaren Sicherheitsrundgang. Er musste zwanghaft jede Umgebung checken und sie in verschiedene Sicherheitsstufen einteilen. Als sie noch in der Dienststelle zusammengearbeitet hatten, war Jennerwein einmal mit ihm essen gegangen, um einen Fall zu besprechen. Es war nicht auszuhalten gewesen. Der Allgäuer hatte das Menü kaum beachtet, hatte sich auf die Ausgänge der Kneipe konzentriert, die Bedienung misstrauisch beäugt und die Gerichte vorher beschnüffelt, bevor er sie hastig hinunterschlang. Unter dem Vorwand, sich verlaufen zu haben, war er sogar in das Allerheiligste des Restaurants eingedrungen.

»Entschuldigen Sie, wo bin ich denn hier gelandet? Ach, das ist die Küche!«

Zum genussvollen Essen waren sie damals eigentlich nicht gekommen. Sie hatten aber im Folgenden die Lebensmittelkontrolle wegen Salmonellengefahr alarmiert, zwei Schwarzarbeiter gefasst, die Brandschutzbehörde über das offene Feuer informiert, zwei Drogendealer hochgenommen, eine Geldübergabe verhindert …

 

Jennerwein klopfte sich erneut die Schuhe ab. Er überlegte. Es blieb wohl nichts anderes übrig, als die Hüttentür mit einer Ramme aufzubrechen. Aber war das überhaupt möglich? Die ganze Sache wurde ihm langsam wahnsinnig peinlich. Den Schlüssel verlieren! Vielleicht war es besser, seine Teamkollegen anzurufen und ihnen vorzuschlagen, doch im Kurort in der Roten Katz zu feiern, vielleicht sogar im Polizeirevier, wie ursprünglich vorgesehen. Genügend Getränke hatten sie ja eingekauft. Jennerwein stand nun fünf Schritte entfernt vor der Tür. Er warf ein weiteres Hustenbonbon ein, das zehntausendste heute. Er versuchte, sich zu erinnern, was er einst im Kurs Haussuchung/Gefahrenabwehr gelernt hatte, über den günstigsten Einschlagspunkt für die Ramme. Er meinte behalten zu haben, dass man am besten zwei Handbreit unterhalb der Türklinke zuschlägt, und das in einem leichten Winkel nach oben. Jennerwein betrachtete die Tür. Sie war neu, sah superstabil aus, der Kollege vom Einbruchsdezernat hatte sicher auch daran gedacht, sie rammbockfest zu machen. Doch plötzlich wurde Jennerwein jäh aus seinen Gedanken gerissen. Erschrocken zuckte er zusammen, trat unwillkürlich einen Schritt zurück, wäre dadurch fast in den Schnee gefallen und den Abhang hinuntergerutscht. Denn die Tür, die verschlossene, einbruchsichere Fort-Knox-Hüttentür öffnete sich langsam, Zentimeter für Zentimeter, wie von Geisterhand. Erst einen Spaltbreit, dann ging sie ganz auf. Ludwig Stengele trat grinsend aus der Hütte heraus ins Freie.

»Wo kommen Sie denn her?«, entfuhr es Jennerwein und war sich sofort der Widersinnigkeit seiner Frage bewusst.

»Sie meinen, wie ich das gemacht habe? Alte Schule, Chef. Während Sie telefoniert haben, bin ich aufs Dach gestiegen und habe die kleine Luke entdeckt.«

»Aber Sie sind doch nicht durch diese winzige –«

»So winzig ist die gar nicht. Ich habe bemerkt, dass das Holz des Dachfensterrahmens eine andere Farbe hat als das der übrigen Rahmen. Daraufhin habe ich mir die Luke genauer angeschaut und bin zu dem Schluss gekommen, dass da wohl irgendwann einmal ein anderes Fenster dringewesen sein muss.«

Jennerwein hatte sich wieder gefangen. Er schüttelte anerkennend den Kopf.

»Ja, das ist richtig. Das wurde ausgetauscht.«

»Aber eben nicht sorgfältig genug. Die seitlichen Bretter waren leicht zu lösen, ich habe sie fast ohne Werkzeug entfernen können. Eine der alten Bauklammern, die ich neben dem Hackstock gefunden habe, hat genügt. Und ich bin ohne größere Anstrengungen reingekommen. Nur geschnitten habe ich mich.«

»Brauchen Sie ein Pflaster?«

»Nein, im Speicher habe ich schon einen alten Verbandskasten entdeckt.«

Als sich Stengele das Pflaster angelegt hatte, war sein neugieriger Blick kurz an einer uralten Kartusche für einen Camping-Gaskocher hängen geblieben, die danebenlag. Ob die noch intakt war?

»Ich danke Ihnen jedenfalls sehr, Stengele«, sagte Jennerwein. »Ich bin richtig erleichtert. Die erste Anekdote für den Hüttenabend haben wir schon.«

»Sie wollen das allen erzählen, Chef?«

»Natürlich, wenn die Unterhaltung mal stocken sollte. Alter Verhörtrick, erinnern Sie sich nicht mehr? Der Lehrgang bei Szroczcki über ›Verhör- und Befragungstechniken‹: Wenn das Schweigen unangenehm lang wird, ist es oft nützlich, ein kleines Missgeschick von sich selbst zu erzählen.«

Stengele lachte. Jennerwein bat ihn an den großen Tisch. Hier drinnen schien es wesentlich kälter als draußen zu sein. Stengele deutete mit dem Daumen nach oben zur Decke.

»Da in dem kleinen Speicher, durch den ich gekommen bin, wissen Sie, dass Sie da einige Raritäten gelagert haben?«

»Ach, die alten Ski meinen Sie?«

»Mit Klappbindung, ja. Und dann die Skischuhe: handgenagelt und aus Leder. Richtig historisch.«

»Historisch? Wie bitte? Ich bin damit noch gefahren!«

 

Die beiden ehemaligen Teamkollegen packten ihre Rucksäcke aus und verstauten sie im Nebenraum. Elektrisches Licht gab es in Jennerweins Hütte nicht, ebenso wenig wie fließendes Wasser. Im Winter wurde es aus Schnee geschmolzen, im Sommer holte man es direkt vom Bach. Jennerwein zündete die Petroleumlampe und die Kerzen an, die in den wachsverkrusteten Haltern warteten. Stengele kümmerte sich sofort um den Ofen, bald züngelte schon ein erstes kleines Flämmchen.

»In einer Stunde haben wir die Bude warm.«

Die Hütte war geräumiger, als es von außen den Anschein hatte. In der Mitte stand ein alter, gemütlich aussehender Holztisch. Die beiden Fenster nach hinten waren größer als die nach vorne. Jennerwein nahm die Innensicherungsgitter ab und wies auf die Aussicht. Die dämmrige Senke lag vor ihnen. Unscharf konnte man in der Mitte des Tals einen Bach erkennen, der sich mühsam durch Schnee und Eis kämpfte. Stengele öffnete eines der Fenster, sah hinunter und stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

»Vierzig oder fünfzig Meter geht es runter, schätze ich mal. Frau Schmalfuß darf da nicht rausschauen, bei ihrer Höhenangst.«

Jennerwein lächelte.

»Wir werden die Vorhänge auf dieser Seite zuziehen, wenn sie kommt.«

Schon bald wurde es tatsächlich warm in der Hütte. Erst jetzt fiel Jennerweins Blick auf den Briefumschlag, der auf dem Tisch lag.

»Ach, das wird eine Nachricht vom letzten Besucher sein. Mike W. Bortenlanger ist ein befreundeter Detective aus Chicago. Er hat die Hütte ein paar Tage genutzt. Wahrscheinlich bedankt er sich für den Aufenthalt. Ich lese den Brief später.«

»Sie vermieten die Hütte ab und zu?«

»Vermieten ist zu viel gesagt. Ich stelle sie zur Verfügung. Hauptsächlich an Kollegen.«

Und Ganoven, fügte er insgeheim hinzu.

 

Stengele trat zu einem der vorderen Fenster und deutete hinaus.

»Ich glaube, wir bekommen Besuch. Vielleicht von Bob Marley.«

Tatsächlich stapfte ein hagerer Mann mit Rucksack den Hügel hoch. Zunächst schien es so, als würden dicke, dunkelbraune Dreadlocks aus seiner Mütze quellen, die ihm bis zu den Hüften reichten. Doch als er näher kam, entpuppten sich diese als mehrere Ketten von Räucherwürsten, die außen am Rucksack baumelten und auf diese Weise frisch und luftig transportiert wurden. Polizeiobermeister Franz Hölleisen war nicht den Weg gekommen, den sie gegangen waren, sondern schon mittags mit der Gondel zur Hemmacher Alm gefahren und von dort zur Hütte abgestiegen. Er begrüßte die beiden Kollegen freudig, half Stengele auch gleich beim Holzhacken.

»Wissen Sie, wen ich – knacks! – unten im Tal – knacks! – noch getroffen habe? Ich bin über den Friedhof gegangen –«

»Friedhof? Dann können es eigentlich bloß die Graseggers gewesen sein.«

»Alle vier. Ursel wollte mir – knacks! – selbstgebackene Plätzchen mitgeben. Ich habe höflich abgelehnt, habe gesagt, dass ich dann – knacks! – bei der Hüttenfeier keinen Appetit mehr hätte.«

»Alle vier Graseggers?«

»Ja, die Kinder waren auch dabei. Furchtbare Gören.«

»Wie alt sind die denn?«

»Um die – knacks! splitter! – dreißig, schätze ich.«

 

Jennerwein kümmerte sich indessen weiter ums Feuer, das langsam Fahrt aufnahm. Ihm fiel die Bemerkung seines Nachbarn über die verschwundene Katze wieder ein. Als er mit seinem Wanderrucksack am frühen Nachmittag aus dem Haus gegangen war, um sich mit Stengele zu treffen, war er an einem begrünten Seitenstreifen zwischen Straße und Radweg vorbeigekommen, der momentan mit einer dichten Schneedecke überzogen war. Er war kurz stehen geblieben, denn ihm war eine Erhebung auf der zugeschneiten Wiese aufgefallen. Und gleich hatte er das Bild wieder vor sich: Der kleine Hügel hatte ungefähr die Ausmaße einer Katze gehabt. Jennerwein ging nach draußen zu der Latschen- und Zirbelgruppe, zu der Stelle mit dem guten Handyempfang. Er rief Hansjochen Becker an, den Spurensicherer, der ebenfalls zur Party geladen war.

»Hallo, Jennerwein hier. Immer noch bei der Arbeit?«

»Kann man so sagen. Aber ich bin gleich fertig. Was gibts? Soll ich noch einen Träger Bier mitbringen?«

»Das weniger. Aber können Sie mir einen Gefallen tun? Fahren Sie bitte zu meiner Wohnung, am Haus vorbei, hundert Meter ortseinwärts. Auf dem Seitenstreifen, kurz vor der Ampel, da sehen Sie eine kleine, aber auffällige Erhebung. Es könnte sich um ein Tier handeln. Wenn das der Fall ist, bergen Sie es bitte.«

»Klar, mach ich, Chef.«

Jennerwein erzählte Becker von Tobias, dem Jungen, dem die Katze gehörte. Dann legte er auf und beeilte sich, wieder ins Warme zu kommen. Inzwischen wurde es dunkler, zumindest im Innenraum der Hütte. Hatte er da nicht ein Geräusch gehört? Er drehte sich um und blickte aus dem Fenster. Nichts. Keine weiteren Auffälligkeiten. Hölleisen und Stengele hackten – knacks! – Holz. Er konnte sich wegen des Schnupfens heute einfach nicht auf seine Sinne verlassen. Gut, dass er ganz privat und un-ermittlerisch unterwegs war. Er öffnete den Brief von Mike W. Bortenlanger. Der Detective begann mit einem herzlichen Dank an seinen Gastgeber. Für den Fall, dass Jennerwein wieder mal nach Chicago käme, am Michigansee besäße er ebenfalls eine Hütte, er wäre jederzeit willkommen. Das Feuer zischte, ein aufgebautes Holztürmchen fiel rasselnd und splitternd in sich zusammen. Jennerwein unterbrach die Lektüre und steckte den Brief wieder in die Tasche. Sein amerikanischer Freund kurvte jetzt sicher schon wieder im hektischen Chicago herum. Er würde den Brief später in Ruhe zu Ende lesen. Vielleicht auch erst morgen. Heute wollte er ganz für seine Gäste da sein.

7

Eine halbe Stunde von der Hütte entfernt bewegte sich ein großer, schwarzer Rucksack unruhig zitternd und nach allen Seiten hin unregelmäßig schlingernd durch den Wald. Er war zum Bersten vollgestopft, von innen drückten eckige und spitze Gegenstände an seine Hülle und formten schnuppernde Nasen und hässliche Beulen, dazu war er außen über und über bestückt mit eingerollten Decken und Matten. Die dünne Stange, die oben herausschaute und den Rucksack einen halben Meter überragte, sah einem in Tüchern eingehüllten Gewehr verdammt ähnlich.

 

Die gesichtslose, dunkel gekleidete Gestalt, die den Rucksack trug, stapfte durch den verschneiten Wald, nicht so leichtfüßig wie Polizeiobermeister Hölleisen, auch nicht so zielgerichtet und entschlossen wie Stengele und Jennerwein. Sie schleppte sich dahin, ächzte hörbar unter ihrer großen Last, schien auch leicht zu hinken, hatte sich wohl verletzt oder war einfach nur zu erschöpft, um Schritt vor Schritt gerade zu setzen. Jetzt blieb sie an einem Baum stehen, lehnte sich dagegen und verschnaufte. Sie atmete schwer in der Kälte. In diesem Teil des Waldes war es schon fast dunkel, die Tannenwipfel schluckten das Tageslicht.

 

Dann stellte die gesichtslose Gestalt den Rucksack auf den Boden und nestelte darin herum. Eine Taschenlampe flammte auf und beleuchtete einige Konserven mit Dörrfleisch. Schmutzige Hände in zerrissenen fingerfreien Handschuhen öffneten eine Dose, die Gestalt beugte sich drüber und verschlang den Inhalt gierig, dann vergrub sie das Leergut sorgfältig im Schnee. Sie zog eine abgegriffene Landkarte hervor und leuchtete mit der Taschenlampe darauf. Sie musste es vor der Dunkelheit noch schaffen. Sie musste Kontakt mit dem Team aufnehmen. Unbedingt. Jetzt streifte sie sich die breiten Schneeschuhe über, schulterte den Rucksack und hinkte weiter. Auf jeder Lichtung blickte sie nach oben in den aschfahlen Himmel. Fliegen, das wärs, hoch über alles wegfliegen, alles hinter sich lassen. Die Gestalt blieb stehen und lauschte. Aus der Ferne vernahm sie undeutliche Klänge. Der Wind hatte ein paar Fetzen Blasmusik aus dem Kurort heraufgeweht.

8

»Ein wirklich schönes Fleckerl haben Sie sich hier ausgewählt, Chef«, sagte Hölleisen, als er mit einem Stapel Holzscheite hereinkam. »Das hätte ich gar nicht von Ihnen – ich meine, das passt nicht zu – ja, wie soll ich jetzt sagen –«

Jennerwein lachte.

»Schon gut, Hölleisen. Vielleicht stimmt das wirklich nicht so recht mit meinem Profil überein. Dass der ungesellige Eigenbrötler eine solche Partyhütte hat, das kann man sich auch schwer vorstellen!«

»Nein, so habe ich das nicht – ganz im Gegenteil – ich finde gerade, dass –« Doch Hölleisen hatte sich endgültig verheddert. Er wechselte das Thema. »Seit wann haben Sie denn die Hütte?«

»Eigentlich schon ewig. Meine Eltern haben sie damals gekauft, ich bin schon als Kind hier gewesen. Sehr oft sogar. Aber das ist eine lange Geschichte.«

»Es wird ja auch ein langer Abend«, fügte Hölleisen augenzwinkernd hinzu.

 

Stengele kam schwerbeladen herein, er schichtete einen Holzstapel neben dem Ofen auf.

»Das dürfte für einige Zeit genügen. Wenn Sie nichts dagegen haben, mache ich die Dachluke, durch die ich eingestiegen bin, ein bisschen einbruchsicherer. Ein paar Stützstreben von innen dürften genügen. Dann kommt hier keiner mehr rein.«

»Wenn Sie Werkzeug brauchen –«

»Ich habe draußen im Schuppen schon welches entdeckt.«

Und schon war er wieder verschwunden. Jennerwein und Hölleisen wärmten sich nun am verschmitzt knisternden Feuer. Als sich Jennerwein einmal kurz umdrehte, erschrak er. Ein Gesicht am Fenster! Und schon war es wieder verschwunden. Was war das gewesen? Eine Spiegelung? Vermutlich bloß wieder sein Schnupfen. Und die Medikamente. Die Beeinträchtigungen seiner Sinnesorgane nervten ihn. So etwas war er nicht gewohnt. Doch da war es wieder, das Gesicht. Ein Grinsen. Ein hämisches, fettes Grinsen. Diesmal war kein Irrtum möglich. Schnell trat Jennerwein ins Freie und leuchtete die Umgebung der Hütte mit der Taschenlampe ab. Nichts. Auch im Schnee waren keine Spuren zu finden. Merkwürdig. Wie konnte das sein? Spielte ihm seine Phantasie einen Streich? Er lauschte in den Wald. Es war sehr still. Und es war sehr einsam hier oben. Jennerwein schüttelte den düsteren Gedanken ab und richtete seine Aufmerksamkeit nach unten ins Tal. Ganz in der Ferne konnte er die zitternden Lichtkegel eines Jeeps erkennen. Das waren sicher die nächsten Hüttengäste, vermutlich Nicole und Maria, die die Forststraße heraufkamen. Jennerwein hörte bis hierher, wie der Motor aufjaulte. Wer von den beiden auch immer fuhr, sie hatten einen ziemlichen Zahn drauf.

 

Ludwig Stengele konnte sich in dem kleinen Speicher nur gebückt fortbewegen. Er versplintete das einzige Fenster so, dass eine schnelle Einstiegsoperation wie vorher nicht mehr möglich war. Von innen jedoch war die Luke nach wie vor zu öffnen. Er blickte hinaus. Schon hatte sich die Dämmerung vollständig über die Berge gelegt. Der Mond war über den blaugeriffelten Gebirgszügen aufgetaucht, aus der Farbe des Zwielichts leitete Stengele ab, dass ein Föhnsturm im Anzug war. Er stemmte sich hoch und kletterte aufs Dach. Die hintere Schräge führte direkt dem Abgrund zu, hier auf der glatten Oberfläche zu stehen war hochgefährlich. Stengele bewegte sich vorsichtig zum Dachrand und blickte hinunter in die Tiefe. Im Speicher hatte er eine Holztruhe mit Bergsteigerausrüstung entdeckt. Ihm kam eine Idee.

 

Nicole Schwattke, die Recklinghäuser Austauschkommissarin, und Maria Schmalfuß, die spindeldürre, kopfige Polizeipsychologin, saßen in dem kleinen, wendigen Jeep und fuhren den steilen Weg zu Jennerweins Hütte hinauf. Die Forststraße war auf keiner Landkarte eingezeichnet, man musste sie kennen, sonst hatte man sowieso keine Chance, die versteckte Hütte zu erreichen. Maria saß am Steuer, sie bretterte den schneebedeckten Waldweg in halsbrecherischer Geschwindigkeit hoch, dank der aufgezogenen Schneeketten war das möglich. Als sie die Hälfte der halbstündigen Auffahrt geschafft hatten, sagte Nicole:

»Machen Sie mal ein bisschen langsamer, Maria. Das hier ist keine Verfolgungsjagd.«

Anstatt einer Antwort betätigte Maria die Gangschaltung. Der Motor jaulte erbärmlich hochtourig auf.

»Das werden Sie als Flachländerin nicht verstehen, Nicole. Ich muss eine bestimmte Geschwindigkeit halten, sonst drehen wir durch. Also mit den Rädern, meine ich. Das ist gefährlich. Viele Preußen sind auf diese Weise schon hängen geblieben. Und erst Jahrzehnte später gefunden worden.«

Der Forstweg verlief jetzt nicht mehr in Serpentinen, sondern führte gerade durch den Wald, rechts und links lauerten große, uralt erscheinende Tannen. Er wurde immer schmaler, Maria war gezwungen, im Schritttempo zu fahren. Nicole lächelte.

»Sehen Sie, es geht auch so.«

»Aber es macht nicht so viel Spaß. Ich gebe es zu, ich gehöre zur Gruppe der Risikofreudigen. Ich verspüre einen gewissen Nervenkitzel, der eine Art lustbetonte Angst auslöst.«

»Ich wiederum habe mal in einem Psycho-Vortrag gelernt«, versetzte Nicole ironisch, »dass der Raser deshalb rast, weil er nicht zu viel nachdenken will. Rasen zwingt das Gehirn, in den existenzerhaltenden Modus umzuschalten. Es ist eine Grübelbremse.«

»Grübelbremse! Pah!«, rief Maria. »Das ist aber ein äußerst unscharfer psychologischer Terminus. Und ein veralteter noch dazu.«

»Ich habe nur Angst, dass wir von der Straße abkommen.«

Maria deutete schwungvoll nach hinten.

»Dann können wir uns ja mit der Winde selbst wieder herausziehen. Ich wollte das Ding ohnehin einmal ausprobieren.«

Sie schwiegen. Maria fuhr sehr gut, aber eben auch sehr schnell.

»Wir sind eigentlich noch nie zusammen gefahren«, sagte sie nach einem erneuten Spurt. »Wenigstens nicht allein.«

»Echt nicht?«

»Ach, doch, bei dem Marder-Fall, erinnern Sie sich? Da sind wir dem Täter nachgehetzt.«

»Wir wollten doch nicht über vergangene Fälle reden, Maria. Das haben Sie selbst vorgeschlagen!«

Wieder verging eine Weile. Der Forstweg wurde noch steiler. Schließlich sagte Nicole:

»Lassen Sie mich auch mal ans Steuer? Ich bin noch nie mit Schneeketten gefahren.«

»Gut, wenn Sie wollen.«

An einem flacheren Wegstück tauschten sie die Plätze. Nicole fuhr los, gab gefühlvoll Gas und sagte nach einer Weile:

»Fühlt sich echt gut an.«

Sie beschleunigte. Ein Rest von Helligkeit hatte sich noch gehalten. Maria sah deshalb die steil abfallende Schlucht schon von Weitem. Nicole wusste über Marias Höhenangst Bescheid, sie fand es völlig normal, dass sich die Psychologin jetzt einfach vom Sitz gleiten ließ und sich mit dem Gesicht nach unten auf den Fußboden des Jeeps kauerte. Es war einfacher so.

»Geben Sie mir Bescheid, wenn wir wieder auf einem normalen Weg sind?«, keuchte Maria.

»Aber natürlich, mach ich.«

»Am besten ist es, wenn wir uns weiter über etwas Belangloses unterhalten. Das lenkt mich ab.«

»Ja klar«, fuhr Nicole munter fort. »Es war wirklich eine Schnapsidee, ein Fässchen Bier mit auf die Hütte zu nehmen, finden Sie nicht, Maria? Das ist oben so durchgerüttelt, das muss erst ein paar Stunden stehen, bevor wir es anzapfen können.«

»Dann fangen wir halt mit dem Glühwein an«, krächzte Maria aus dem Fußraum.

Jetzt kam Nicole zu dem gefährlichen Wegabschnitt. Rechts schoss der Bergwald steil hoch, links fiel er genauso steil ab. Nicole konzentrierte sich. Sie musste darauf achten, nicht aus der Spur zu kommen. Gott sei Dank brauchte Maria das nicht mit anzusehen.

»Sie fragen sich sicher, Nicole, warum ich es eigentlich nicht schon längst mal mit einer Therapie probiert habe«, japste sie. »Die Wahrheit ist die, dass ich schon mehrere davon mitgemacht habe. Einen Lufthansa-Kurs. Einen von Air India. Und von der Aeroflot. Und und und. Es nützt nichts. Eine Angst kann man nicht ausradieren. Man kann sie nur überschminken.«

»Das sagen Sie als Psychologin?«

Maria redete weiter von ihren vergeblichen Bemühungen, ihre hinderliche Akrophobie zu bewältigen. Nicole drosselte das Tempo. Doch das hätte sie nicht tun sollen. Ein typischer Anfängerfehler. Der Jeep schlidderte, die Räder drehten durch, mit einem Rumms kam der Wagen zum Stehen. Und war nicht mehr weiterzubewegen. Nicole blickte sich vorsichtig um. Der Jeep hatte sich quergestellt, und nach ihrer Einschätzung hingen sie mit einem Rad über dem Abgrund.

»Sind wir schon da?«, fragte Maria ahnungslos aus der Höhe der Gummifußmatte.

»Nein, ich bin nur in einen Schneehaufen gefahren«, log Nicole. »Bleiben Sie in Ihrer Position, Maria. Momentan sind wir zwar mitten im Wald, aber da vorne sehe ich schon wieder ein steiles Stück.«

Maria erwiderte nichts. Nicole gab vorsichtig Gas, der Motor heulte ungut auf, der Jeep neigte sich Richtung Abgrund. Jetzt kroch ihr die Angst durch die Brust hoch in die Schläfen und wieder zurück. Hoffentlich bekam Maria nichts davon mit. Wenn sie jetzt durch die Fahrertür ausstieg, kippte der Jeep durch Marias Gewicht weg, wenn sie beide drinblieben, rutschte das Auto langsam ab. Sollte sie durchstarten? Nein, das war viel zu riskant. Es gab nur eine Lösung: Sie mussten beide das Fahrzeug schnellstmöglich verlassen.

»Auf Ihrer Seite können Sie nicht aussteigen«, log Nicole abermals. »Ich bin an eine Schneewand gefahren. Wir nehmen beide die Fahrertür, das ist einfacher. Kriechen Sie rüber.«

Nicole öffnete die Fahrertür vorsichtig. Dann ergriff sie Marias Hand und zog sie aus dem Fahrzeug. Der Jeep wackelte etwas, aber er kippte nicht, wie Nicole befürchtet hatte. Er stand quer auf der Straße und versperrte diese vollständig. Das rechte Hinterrad hing tatsächlich in der Luft. Maria erhob sich. Sie hatte die Augen geschlossen, wandte sich zusätzlich noch vom Auto ab.

»Was machen wir jetzt?«, fragte sie mit brüchiger Stimme. Nun ahnte sie wohl, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging.

Nicole überlegte. Zur Hütte war es nicht mehr weit, vielleicht eine Viertelstunde Fußmarsch. Eher weniger. Am besten wäre es, das Auto zu viert oder zu fünft wieder in die Spur zu bringen, und das möglichst ohne jemanden mit Höhenkoller. Sie rief Jennerwein an. Kein Empfang. Auch Stengele hatte keinen. Kurzentschlossen fischte sie ihren und Marias Rucksack aus dem Fond des Jeeps, befestigte das Fahrzeug mit der Winde an einem der größeren Bäume.

»Wir gehen zu Fuß rauf«, sagte sie bestimmt. »Halten Sie die Augen geschlossen und geben Sie mir Ihre Hand.«

»Und das Fass Bier hinten im Auto?«

»Das holen wir später.«

 

Ludwig Stengele war vom Dach der Hütte aus schnell und problemlos die Felswand abgestiegen. Er blickte nach oben. Die unregelmäßige, an manchen Stellen vereiste, an anderen Stellen etwas lehmige Wand hatte eine Höhe von vierzig Metern. Der Aufstieg würde genauso unproblematisch werden – so sicher war die Rückseite von Jennerweins Hütte bezüglich eines Einbruchs also doch nicht. Zumindest nicht für erfahrene Kletterer. Er sah sich um. Die Schneedecke reichte bis fast an den Wandfuß. In der Nähe hörte er das Rauschen des Baches. Eine Hütte mit eigener Wasserstelle, wirklich eine feine Sache. Stengele bückte sich und untersuchte den Boden. Keinerlei Trittspuren. Hier war in letzter Zeit keiner rauf- oder runtergeklettert. Und erst recht keiner abgestürzt. Genau das hatte er sich nämlich oben auf dem Dach mit leisem Erschaudern vorgestellt.

 

Langsam kam sich Stengele dann doch ein wenig lächerlich vor. Überall musste er sichern, Gefahrenszenarien ausschließen und Exit-Strategien entwickeln. Er war jetzt zwei Jahre im Sicherheitsdienst tätig und hatte sich das angewöhnt. Er musste aufpassen, dass es nicht zum Tick wurde. Am Anfang hatte er diesem Drang nachgegeben, um in Übung zu bleiben. Dann hatte er sich dabei ertappt, dass er gar nicht mehr anders konnte, als Katastrophenszenarien durchzuspielen. Stengele begann wieder mit dem Aufstieg. Im oberen Drittel der Wand machte er dann doch noch eine äußerst beunruhigende Entdeckung. Das musste er sich morgen bei Tageslicht nochmals anschauen.

9

Ein paar Kilometer von Jennerweins Hütte entfernt, etwas unterhalb des Maxenrainer-Grats, schoss eine Fontäne von feinem Pulverschnee hoch in die Luft. Die drei dunklen Gestalten kamen wie aus dem Nichts. Nacheinander hoben sie ab. Sie schwebten. Sie ruderten und kreisten. Sie drehten Schrauben, überschlugen sich und kamen mit einem scharf zischenden Geräusch wieder auf die Piste. Dann stiegen sie erneut hoch, machten sich klein, streckten sich zu den Sternen, schraubten und ästelten sich in die unterschiedlichsten Richtungen. Schließlich, nach drei besonders spektakulären und noch nie vorher gesehenen Figuren, landeten sie endgültig, fuhren winkend und johlend aufeinander zu und bremsten im letzten Augenblick scharf ab. Alter, Geschlecht, Nationalität, Ethnie und andere menschliche Eigenschaften waren bei dem Schlabberlook nicht zu erkennen, die unförmigen Anzüge verrieten sie schon von Weitem als Snowboarder. Sie trugen schwarzglitzernde Plexiglashelme.

»Ein praller run!«, rief der eine.

»Voll praller run«, erwiderte der andere. »Feinstes powder. Endcool. Japp.«

 

Alle Wintersportdisziplinen sind genau betrachtet nichts anderes als Varianten des Rutschens. Gerutscht wird hinunter, hinauf, auf irgendetwas zu, um etwas herum, mit und ohne irgendetwas, miteinander, gegeneinander, alleine, im Rudel. Die so ziemlich unnatürlichste und tollpatschigste menschliche Fortbewegungsart soll auf diese Weise geadelt und in den Olymp gehoben werden. Folgerichtig kommen deshalb auch alle vier Jahre weitere, zunächst unsinnig erscheinende Varianten des Rutschens dazu. Man würde sich beispielsweise nicht wundern, wenn beim nächsten Mal das Schnee-vom-Autodach-Räumen mit gelben Skiern zur olympischen Disziplin würde. Die Snowboarder nehmen hier allerdings eine Sonderstellung ein. Zwar rutschen auch sie, aber lediglich, um Schwung zu nehmen für die eigentlichen Leibesübungen, die in den Lüften stattfinden. Sie machen sich über das plumpe Gleiten und Schlingern quasi lustig, sie erheben sich darüber. Vielleicht sind sie deshalb immer so gut drauf.

 

Die drei Snowboarder klappten die Visiere ihrer schwarzen Helme hoch und blickten versonnen auf die Strecke, die sie gerade heruntergefahren waren. Sie waren zu dieser späten Stunde hier, weil sie die einzige Natur-Halfpipe der Alpen austesten wollten. Ein urzeitlicher Gletscher, der weiter oben schon durch die Landschaft gepflügt war, hatte hier eine zwanzig Meter breite Rinne gefräst, die so gleichmäßig röhrenartig geraten war, dass man kaum glauben konnte, dass der Bagger nicht nachgeholfen hatte. Die drei Snowboarder nickten zufrieden.

»Wo bleibt eigentlich Sloopy?«, fragte der Erste.

Er war es, der vorhin einen Dreifachsalto mit vierfacher Schraube gesprungen war. Entschuldigung: einen Backside Triple Cork oder 1260 Off The Heels oder, vielleicht, noch genauer, einen Cab 180 Quadruple Backflip Shifty Roast Beef.

»Sloopy müsste schon längst da sein«, sagte der Zweite.

Von ihm hatte man einen amtlichen Gestrecktsalto mit zweieinhalb Schrauben gesehen. Einen 3060 Triple-Grab, auch Deadman’s Blues genannt.

 

»Lasst uns nochmals raufsteigen«, sagte der Dritte. »Vielleicht treffen wir Sloopy unterwegs.«

Der dritte Snowboarder hatte vorhin einen besonders waghalsigen Sprung probiert. Und hatte ihn bravourös gestanden. Die genaue Bezeichnung für seinen Trick nahm allerdings mehr Zeit ein als der Sprung selbst.

»Leute, lasst uns raufgehen und am Ende der Pipe noch nach rechts rausspringen«, sagte der Zweite.

Er deutete talabwärts. Dort war eine Art Schanze zu sehen, die ins Nichts führte. Doch die beiden anderen schüttelten den Kopf.

»Das ist viel zu gefährlich. Wir wissen nicht, ob unten auf dem Schotterfeld genug Schnee liegt.«

»Okay, das sollten wir morgen bei Tageslicht erst mal überprüfen.«

 

Die Snowboarder zogen ihre Visiere wieder herunter und schalteten die Stirnlampen an, die nun wie helle Schwerter auf die Piste niederfuhren. Dann nahmen sie ihre Boards über die Schulter und stapften hinauf. Sie sahen aus wie Yetis, die von einem Raubzug aus dem Tal heimkehrten.

10

Im Jahr 1980 starb Jean-Paul Sartre, kurz darauf brachte Mike Krüger seinen Nippel-Song heraus, dann überschwemmten Ernö Rubiks Zauberwürfel die Spielläden und Deutschland gewann in Italien gegen Belgien die Fußball-Europameisterschaft. Hubertus Jennerwein ging in diesem Jahr in die Klasse 11a des Gymnasiums. Er hatte gerade Chemie.

 

Nachdem er die Klassenzimmertür geschlossen hatte, fuhr Oberstudienrat Peterchen mit dem Unterricht fort, so, als wäre nichts geschehen. Sein Zorn war schnell verraucht, wenn ein solcher überhaupt in ihm aufgestiegen war. Jennerweins Gedanken gingen immer wieder in Richtung der übelriechenden Attacke, deren anfängliche beißende Wucht schon fast verflogen war. Verstohlen sah er sich in der Klasse um. Harry, Beppo, Uta, Simon – alle waren eigentlich aus dem Alter heraus, eine Stinkbombe zu werfen. Aber sicher konnte man sich nicht sein. Grinste nicht Harry Fichtl geradezu unverschämt vor sich hin? Und war Beppo Prallingers Körperhaltung nicht eine ganz andere als sonst?

»… so dass bei der Synthese von Stickoxyd …«

Wie auch immer. Der Täter saß jetzt irgendwo in diesem Schulgebäude und badete sich in dem Gefühl, den Schulfrieden empfindlich gestört zu haben. Und er genoss das sicher noch weitaus erregendere Gefühl, Herrscher über die Gedanken von sechs- bis siebenhundert Personen zu sein. Die meisten hassten oder verachteten ihn, einige bewunderten ihn aber vielleicht sogar. Jennerweins Blick fiel auf Antonia Beissle, eine humorlose Streberin und Musterschülerin. Sie verstand komplizierte Zusammenhänge, begriff aber die einfachsten Dinge nicht. Jennerwein wusste damals noch nicht, dass sich ihre Lebenswege später mehrmals kreuzen würden. Und zwar nicht immer positiv. Gerade blickte Antonia gelangweilt nach vorn zu Peterchen, notierte manches in ihren Block. Jetzt nahm sie einen Lippenstift aus ihrer Tasche und zog dessen Schutzkappe herunter.

»… Dihydrogensulfat, auch Schwefelsäure genannt …«

Sie drehte den grenadinefarbigen Stift mit Glitzereffekt bis zum Anschlag aus der Nockenhülse und betrachtete ihn neugierig von allen Seiten. Peterchen schrieb eine Formel an die Tafel, Antonia versuchte, den Boden der Drehhülse abzuziehen. Das gelang ihr auch nach mehreren Anläufen. Jennerwein grinste. Die interessiert sich ja wirklich null für Chemie, dachte er.

 

Der beißende Geruch war jetzt gänzlich verflogen, man konnte wieder durchatmen. Wann war so etwas das letzte Mal passiert? Jennerwein massierte sich die Schläfen, um sich besser erinnern zu können. War es in der Unterstufe gewesen? Also auf jeden Fall praktisch vor Jahrhunderten. Kaum hatte er sich wieder auf den träge dahinfließenden Redeschwall von Peterchen konzentriert, stürmte der Direktor zur Tür herein, ohne anzuklopfen. Er war offenbar auf hundert. Und er polterte gleich los.

»Ein Glasröhrchen ist genau vor eurem Klassenzimmer gefunden worden. Raus damit: Wer von euch war das?«

Alle schwiegen. Jennerwein schüttelte insgeheim den Kopf. So ging das doch nicht. Glaubte der wirklich, dass sich jemand freiwillig meldete und einfach so zugab, die Stinkbombe geworfen zu haben?

 

Der Direktor schritt die Reihen entlang und musterte jeden eindringlich. Er blickte einem nach dem anderen scharf ins Gesicht, das heißt, es sollte so aussehen, als täte er das, in Wirklichkeit war es nur lächerlich. Was erwartete er? Ein Geständnis? Jetzt hatte sich der Direktor vor Jennerwein aufgebaut. Der blickte ihn ohne Furcht an.

»Du!«, sagte der Direktor. Er duzte alle. Er interpretierte Jennerweins Furchtlosigkeit wahrscheinlich als Aufmüpfigkeit.

»Ja?«, sagte Jennerwein.

»Was heißt ja – wie ist dein Name?«

»Jennerwein. Hubertus Jennerwein.«

Der Direktor verzog die Mundwinkel. Dann kam der übliche Scherz mit dem Wildschütz. Es war ein Schütz in seinen besten Ja-ha-ren … Der Direktor schritt weiter durch die Reihen. Nachdem er alle gemustert hatte, ging er nach vorn zum Pult, um sich die Reagenzien genauer anzusehen. Und daran zu schnüffeln.

»Und Sie sind sich sicher, Herr Kollege, dass da nichts fehlt?«

»Ja, ganz sicher.«

Der Pausengong ertönte. Der Direktor wandte sich wieder an die Klasse. Sein Ton wurde unverschämt.

»So, alle die Hände vorstrecken!«

Jennerwein konnte es kaum fassen. Was machte der Direktor da? So brachte er die Klasse wirklich gegen sich auf. Und schon ging es los. Murren. Gelächter. Geflüster.

»Ich zeige meine Hände nicht her.«

»Ich habe doch meinen Spicker da reingeschrieben.«

»Geht die Faust auch, Herr Direktor?«

Susi Herrschl streckte ihm kokett die Hand zum Handkuss entgegen.

»Aber bitte schön, Herr Direktor!«

Wieder Gelächter. Der Direktor brach das Vorhaben ab. Jennerwein wusste jetzt schon, dass dieser Werfer ziemlich schlau war. Und er ahnte auch, dass das nicht die letzte Bombe sein würde.

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Hansjochen Becker, der gewitzte Spurensicherer in Jennerweins Team, war ein stämmiger Mann mit kurzgeschnittenen Haaren und auffällig abstehenden Ohren. Er verschloss die Tür zu seinem Labor sorgfältig. Die Weihnachtsfeiertage über hatte er sich freiwillig für diese Schicht einteilen lassen, denn da war es ruhig, kaum jemand rief an und fragte ungeduldig nach ausstehenden Messergebnissen und Wahrscheinlichkeitsanalysen. Doch für heute hatte auch er Dienstschluss, es schien, dass sich seine ewig zusammengekniffenen Spurensucheraugen entspannt weiteten. Auf zu Jennerweins Party! Es hatte Becker außerordentlich gefreut, dass er, der Nicht-Ermittler, der reine Datensammler, Wasserträger und Technik-Freak, ebenfalls eingeladen worden war zu der für alle doch recht überraschenden Hüttenfeier. Wie Maria und Nicole hatte auch Becker vor, mit seinem Geländewagen hinaufzufahren. Als er den Schlüssel ins Zündschloss steckte, fiel ihm ein, dass er Jennerwein versprochen hatte, nach der verschwundenen Katze zu sehen. Die Stelle, die ihm der Kommissar beschrieben hatte, lag auf dem Weg.

 

Er parkte in der Nähe von Jennerweins Haus. Ganz wenige wussten, dass der Chef hier wohnte, auch Becker selbst hatte dieses Haus noch nie betreten. Die Ortschaft lag eine Dreiviertelstunde Bahnfahrt vom Kurort entfernt, bei Ermittlungen mietete sich Jennerwein deshalb oft in einer Pension im Kurort ein. Es war jedoch kein Zufall, dass Becker ebenfalls in diesem Ort wohnte. Viele Beamte residierten hier im