Im Sturm der Macht - Tuomas Oskari - E-Book

Im Sturm der Macht E-Book

Tuomas Oskari

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Beschreibung

Helsinki 2028: Bei einem Staatsempfang wird die finnische Ministerpräsidentin von einem Scharfschützen aus dem Hinterhalt erschossen. Die politische Lage im Land hatte sich schon zuvor zugespitzt, als die Regierung Flüchtlinge auf einer stillgelegten Kreuzfahrtfähre interniert hatte. In dieser dramatischen Lage kehrt Leo Koski, der Ex-Ministerpräsident, nach Helsinki zurück, zunächst nur als Spielball mächtiger Männer. Doch bald erkennt er, dass ein Staatsstreich geplant ist. Und den muss er mit allen Mitteln verhindern!

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumFAKTENPROLOGTEIL IKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5KAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10KAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15KAPITEL 16KAPITEL 17KAPITEL 18KAPITEL 19TEIL 2KAPITEL 20KAPITEL 21KAPITEL 22KAPITEL 23KAPITEL 24KAPITEL 25KAPITEL 26KAPITEL 27KAPITEL 28KAPITEL 29KAPITEL 30KAPITEL 31KAPITEL 32KAPITEL 33KAPITEL 34KAPITEL 35KAPITEL 36KAPITEL 37KAPITEL 38KAPITEL 39KAPITEL 40KAPITEL 41KAPITEL 42KAPITEL 43KAPITEL 44KAPITEL 45KAPITEL 46KAPITEL 47KAPITEL 48KAPITEL 49KAPITEL 50KAPITEL 51KAPITEL 52KAPITEL 53KAPITEL 54KAPITEL 55KAPITEL 56KAPITEL 57KAPITEL 58TEIL 3KAPITEL 59KAPITEL 60KAPITEL 61KAPITEL 62KAPITEL 63KAPITEL 64KAPITEL 65KAPITEL 66EPILOGNACHWORT

Über dieses Buch

Helsinki 2028: Der Einfluss extremer Parteien hat erschreckend zugenommen, und die finnische Regierung beschließt, Flüchtlinge in einem »Transit-Zentrum« auf einem stillgelegten Kreuzfahrtschiff einzusperren. Zudem will sie einer Koalition aus faschistischen Parteien, angeführt von Italien, beitreten. Als die finnische Ministerpräsidentin den italienischen Kollegen in Helsinki empfängt, wird sie von einem Scharfschützen aus dem Hinterhalt erschossen. In dieser dramatischen Lage kehrt Leo Koski, der Ex-Ministerpräsident, nach Helsinki zurück, zunächst nur als Spielball mächtiger Männer. Doch bald erkennt er, dass ein Staatsstreich geplant ist. Und den muss er mit allen Mitteln verhindern!

Über den Autor

Tuomas Oskari, geboren 1980, ist das Pseudonym von Tuomas Niskakangas. Er ist Politik- und Wirtschaftsjournalist bei Finnlands größter überregionaler Tageszeitung und war viele Jahre als Auslandskorrespondent in den USA tätig. Der dystopische Wirtschaftsthriller TAGE VOLLER ZORN ist sein viel beachtetes und preisgekröntes Romandebüt. Von der Literaturkritik seines Landes wurde der Thriller durchweg begeistert aufgenommen und ein Bestseller. Er beschreibt darin auf hochspannende Weise und zugleich sehr fundiert die Gefahren, denen demokratische Gesellschaften aktuell ausgesetzt sind. Tuomas Oskari lebt und arbeitet in Helsinki.

Übersetzung aus dem Finnischen vonAnke Michler-Janhunen

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der finnischen Originalausgabe:

»Miekka«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2022 by Tuomas Niskakangas

Published in German language by arrangement with Rights & Brands

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Textredaktion: Anja, Lademacher, Bonn

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Einbandmotive: © FinePic, München (2); GettyImages / Moment / oxygen

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4766-0

luebbe.de

lesejury.de

FAKTEN

Die Internationale Vereinigung demokratischer Juristen (International Association of Democratic Lawyers, kurz IADL) ist eine Organisation, die seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg radikal linke Juristen in ihren Reihen versammelt.

Im Oktober 2000 fand in der kubanischen Hauptstadt Havanna ein Kongress der IADL statt, dessen Tagesordnung deprimierend war. Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren die Finanzierung der Organisation und die Popularität der sozialistischen Ideale eingebrochen. In der Folge sah sich die IADL einer unipolaren Welt gegenüber, in der unregulierter Kapitalismus und neoliberale Globalisierung alles überrollten, was sich ihnen in den Weg stellte.

Die versammelten Juristen unterzeichneten auf der Konferenz ein Abschlussdokument, in dem sie ihre Mitglieder aufforderten, sich mit all ihrem Mut dem bevorstehenden Kampf zu widmen, da die Menschheit an einem Punkt angekommen sei, an dem sich ihr Schicksal entscheiden könnte.

In den folgenden fünf Jahren gab es weltweit eine Reihe von Attentaten, bei denen mehrere führende Rechte und Kriminelle, die sich ihrer Verurteilung hatten entziehen können, ermordet wurden.

Die Attentäter blieben allesamt unerkannt.

PROLOG

Die Kuchengabel fiel klirrend auf den Teller. Henrik Berthold hob den Blick und sah, wie sein Gast am gegenüberliegenden Ende des langen Tisches mit glasigem Blick auf den Nachtisch starrte, der vor ihm stand und den er nicht angerührt hatte. Seine Gesichtszüge waren fahl. Frisur und Bart wirkten ungepflegt.

Sie hatten das Abendessen schweigend eingenommen. Nach dem Eintreffen des Gastes hatten sie ein paar Worte über ihre körperlichen Beschwerden gewechselt, die sich in ihrem Alter nicht vermeiden ließen, doch seit Berthold die Vorspeise serviert hatte, war kein weiteres Wort gefallen.

Berthold glaubte allerdings zu wissen, warum sein Gast ihn aufgesucht hatte. Es ging um eine Bitte, die auszusprechen Zeit erforderte. So unerhört war sie.

Henrik Berthold war der Kanzleichef des Obersten Gerichtshofes, und als Richter desselben wahrte er wie alle seine Kollegen eine strenge Etikette: Sie mieden die Öffentlichkeit und betrachteten sich als namenlose Diener des Rechts. Auf gar keinen Fall ließen sie sich auf Gespräche über eine Rechtssache mit Leuten ein, die sie in ihrer Entscheidung beeinflussen wollten.

Bertholds Gast wusste das, und gerade darum fiel es ihm so schwer, seine Bitte vorzutragen. Sie laut auszusprechen hieße, sich auf eine Stufe zu stellen mit jenen, denen entgegenzustellen sie sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten.

Die Stille wurde vom heiseren Räuspern seines Gastes unterbrochen. »Hat die Welt denn nichts aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt?«

Berthold nickte bedächtig, um den Ernst der Situation zu unterstreichen. Er stach ein Stück seiner Schokoladentorte ab. Das gab ihm die Gelegenheit, seine Worte sorgsam zu wählen. Genau das erwartete man von ihm. Als Kanzleichef des Obersten Gerichtshofes repräsentierte Berthold eine Institution, die in der Gesellschaft die Aufgabe hatte, das letzte Wort zu sprechen. Eine derartige Verantwortung hatte ihn gelehrt, genau abzuwägen, bevor er sprach.

»Die Geschichte muss sich nicht wiederholen«, erklärte er schließlich. »Auch damals ist es letztlich gelungen, das Böse zu besiegen.«

Der Gast schnaubte verächtlich. »Doch dieses Mal ist kein Churchill in Sicht.«

Darauf wusste Berthold nichts zu erwidern. Er sah aus dem Fenster. Aus seiner Wohnung auf dem Tähtitorninmäki, dem Sternwartenhügel, konnte er den Südhafen überblicken. Es war die dunkelste Zeit des Winters hier oben im Norden. Die Lichter im Zentrum wurden in ihrem Kampf gegen die Dunkelheit von einer dünnen Schneedecke unterstützt.

Berthold wandte sich wieder seinem Gast zu. Gott, wie heruntergekommen er aussah. Der Mann hatte die Entwicklung der letzten Monate noch schlechter überstanden als er selbst.

Die konservative Rechte in Finnland hatte die Gesellschaft zwar nicht so fest im Griff wie in anderen europäischen Ländern, aber ihr Einfluss war innerhalb kürzester Zeit bedeutend gewachsen.

Letzten Endes war ein Staat nur so widerstandsfähig wie seine Institutionen. Henrik Berthold hatte mitverfolgt, wie um ihn herum Staatsangestellte und Polizisten scharenweise einknickten, sobald die Rechtskoalition unter Berufung auf den »Willen des Volkes« die Zügel straffer anzog. Berthold sah sich als Vertreter jenes Teils des Systems, dessen Aufgabe es war, das Volk auch vor sich selbst zu schützen. Das Rechtssystem durfte Bestrebungen, die Demokratie zu untergraben, niemals nachgeben.

»Du kannst mich ruhig nach Emma Erola fragen«, sagte Berthold. »Deswegen bist du doch hergekommen.«

Der Gast hob seine Augen, die tief in den Höhlen lagen, und sah Berthold aufmerksam an. »Der Prozess gegen Erola könnte für Finnland ein Neubeginn sein«, brachte sein Gast aufgeregt hervor. »Oder das Ende von allem. Du hast eine große Verantwortung.«

Berthold konnte es seinem Gast nicht verübeln, dass er sich mit letzter Hoffnung an Emma Erola klammerte. Das taten viele andere auch. Erola war die schillerndste Politikerin, die Finnland in den letzten Jahrzehnten gesehen hatte. Die einsame Hoffnungsträgerin der Linken in einer Welt, die von immer brutaleren und rechteren Werten beherrscht wurde. Sicher hatte Erola während der Unruhen im vergangenen Jahr Fehler gemacht, aber die Umstände, mitten in einer nie dagewesenen Wirtschaftskrise, waren auch außergewöhnlich gewesen.

Aber ein besonders schwerer Fall von Hochverrat? Das war nun wirklich überzogen.

Berthold verzog nachdenklich den Mund. »Du verstehst sicher, dass diese Bastarde mein Amt unmöglich gemacht haben. Die wirklich unabhängigen Richter sind einer nach dem anderen aussortiert worden, und die Neuernennungen durch den Präsidenten haben das Kräfteverhältnis gewaltig verändert. Ich bin von Richtern umgeben, die sich lieber bei der Regierung anbiedern, als dem Recht zu dienen.«

»Aber du entscheidest über die Zusammensetzung des Richtergremiums.«

Berthold schüttelte den Kopf. »Das wird dieses Mal nicht reichen.«

»Das habe ich befürchtet«, antwortete der Gast. In seinem Blick loderte eine Glut auf, die sich aus jahrelang unterdrückter Wut nährte.

Berthold zuckte unter diesem manisch anmutenden Blick zusammen. Da begriff er. Natürlich. Die finstere Vergangenheit seines Gastes fiel ihm ein – Berthold war einer der wenigen, die wussten, wie sein Gast in jungen Jahren im Glauben an die rechte Sache Tod und Verderben gesät hatte. Jetzt wurde Berthold auch klar, wie tief sein Gegenüber in seiner Verzweiflung gesunken war. Und wozu er in der Lage war.

»Du hast doch nicht vor …«

Doch, sprach es aus seinem Blick.

»Nach so langer Zeit. Du hast selbst gesagt, dass es falsch war, was ihr damals getan habt.«

»Falsch war, dass es uns nicht gelungen ist, den Lauf der Geschichte zu ändern. Es ist die letzte Möglichkeit, etwas zu unternehmen.«

»Ich lasse mir etwas einfallen«, startete Berthold einen letzten Versuch. »Ich finde einen Weg, wie wir Erola noch retten können.«

»Hier geht es um mehr als um Emma Erola. Schau dir nur an, was die Regierung vorhat.«

Berthold konnte nicht glauben, was sein alter Freund da von sich gab. »Was würde Gott dazu sagen?«

Die Stuhlbeine knirschten, als sein Gast aufsprang. »Lass meinen Glauben aus dem Spiel! Wer nichts hat, verkaufe sein Kleid und kaufe ein Schwert.«

Düstere Stille senkte sich wie eine Wolke über den Tisch. Der Gast verbeugte sich und wandte sich zum Gehen.

Berthold sah ihm nach, wie er in den Flur ging und seine zerschlissene Winterjacke überzog. Der Gedanke, dass dieser verwahrloste alte Mann den Lauf der Geschichte verändern könnte, war einfach lächerlich. Aber gleichzeitig auch bitterernst.

Als die Tür ins Schloss gefallen war, ging Berthold zu seinem Barschrank. Mit zitternder Hand goss er sich einen Schnaps ein und setzte sich auf das antike Sofa im Wohnzimmer. Nicht einmal der brennende Schluck aus dem Glas konnte ihn beruhigen.

Es klingelte. Während er sich vom Sofa erhob und zur Tür ging, überlegte er, was sein Gast wohl vergessen haben könnte.

Er drehte den Türknauf. Im gleichen Moment wurde die Tür aufgestoßen, und eine dunkle Gestalt stand im Rahmen. In Lederjacke. Die Haare nach hinten gegelt, ein stechender Blick, wie der Teufel persönlich.

Die Augen kenne ich, dachte Berthold, doch mehr Zeit, in seinem Gedächtnis zu kramen, blieb ihm nicht. Der Mann machte einen großen Schritt ins Haus und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Mit einer schnellen Bewegung stellte sich der Eindringling hinter Berthold und hielt ihm den Mund zu. Ein schwarzer Lederhandschuh presste sich derb auf sein Gesicht und drückte seine Lippen schmerzhaft gegen die Zähne.

Bertholds Blick blieb an einem Tattoo am Handgelenk des Mannes hängen, das zwischen Handschuh und Ärmel zum Vorschein kam. Zwei ineinander verschlungene Schlaufen. Ein aus der Mathematik bekanntes Symbol. Das Unendlichkeitszeichen? Ein Mathematiker? Angesichts der Grobschlächtigkeit seines Angreifers ein geradezu absurder Gedanke.

Sein Rücken knackte, und die Füße lösten sich vom Boden, als er ins Arbeitszimmer geschleppt wurde. Der Lederhandschuh verschluckte seinen Schrei und hinderte ihn am Luftholen. Der Angreifer setzte ihn auf den Lehnstuhl hinter dem Mahagoni-Schreibtisch. Der Handschuh grub sich immer tiefer in sein Gesicht. Der Angreifer war zu stark.

Dann musste er den Griff lösen, um etwas aus der Tasche zu ziehen. Berthold konnte den Kopf so weit drehen, dass er wieder atmen konnte. Dabei sah er das Gesicht des Mannes. Jetzt erkannte er ihn wieder, aus einer fernen Vergangenheit. Der Mann war kein Mathematiker, weit entfernt davon. Das verschlungene Symbol an seinem Handgelenk symbolisierte keineswegs seine Liebe zur Mathematik.

Als die Hand des Mannes wieder in Bertholds Gesichtsfeld erschien, lag eine Pistole darin. Bertholds Panik wich krampfhafter Lähmung. Der harte Griff des Eindringlings verriet ihm, dass er nicht gekommen war, um ihm Angst zu machen oder ihn auszurauben. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen, der keinen Raum für Verhandlungen ließ.

Der Lederhandschuh drückte seinen Hinterkopf hart gegen die Stuhllehne. Der Lauf der Pistole zielte auf seine Stirn. Die Mündung suchte nach der besten Stelle, sodass der Schuss sein Gehirn zerfetzen würde, ohne die Lederfinger zu treffen.

Mit seinem letzten Gedanken musste Berthold seinem Tischgast doch recht geben. Bald ist alles vorüber.

TEIL I

ZWEI MONATE SPÄTER

KAPITEL 1

Heute ist der Tag.

Sara Hegering korrigierte ihre Haltung auf dem unbequemen Plastikstuhl. Sie spürte, wie ihre Hände feucht wurden, obwohl die Temperatur in der riesigen Industriehalle kaum über dem Gefrierpunkt lag. Zwei Jahre lang hatte sie auf diesen Tag gewartet, hatte sich Menschenunmögliches abverlangt, ihre wahre Identität ausgeblendet.

Heute ist der Tag, für den ich mich in ein Monster verwandelt habe.

Sara betrachtete die sieben Männer, die hier mit ihr auf den Stühlen saßen, die an einer Seite der matt erleuchteten Halle in einer Reihe aufgestellt waren. Äußerlich verkörperten sie eine bunte Truppe. Einige von ihnen wären in einer anderen Umgebung glatt als Buchhalter durchgegangen. Andere sahen aus wie Kneipenschläger. Gemeinsam war ihnen nur der Blick, der vor Stolz und Verbundenheit strotzte.

Für Sara war es nicht leicht gewesen, in dieser Männertruppe ernst genommen zu werden. Sie war erst sechsundzwanzig Jahre alt und nur ein Meter sechzig groß, vom Körperbau eher zart und viel zu nett. Ihr Elternhaus, ihr Vater Wissenschaftler und ihre Mutter Lehrerin, hatten Sara dazu erzogen, sich präzise auszudrücken, und es war ihr alles andere als leichtgefallen, ihren Wortschatz zu reduzieren und mit Kraftausdrücken anzureichern. Ihr drehte sich der Magen um, wenn sie an die schlimmen Worte dachte, die sie in den Mund genommen hatte, damit die Männer hier sie als eine der ihren akzeptierten.

Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Sie zog den Ärmel über ihr Handgelenk. Die tragbaren Spionagekameras hatten bei Amazon hundertneunzehn Euro das Stück gekostet. Sie hatte zwei davon gekauft und beide mitgenommen. Sie sahen aus wie jede beliebige Smartwatch, doch hinter dem dunklen Glas verbarg sich anstelle einer Uhr eine Kamera. Damit konnte sie zweieinhalb Stunden lang in einer Auflösung von 1080p filmen und das Video auf einer Micro-SD-Karte speichern. Mit zwei Kameras konnte sie also fünf Stunden lang filmen.

Sie wandte sich an den narbengesichtigen Mann neben ihr, mit dem sie schon bei früheren Treffen hin und wieder ein Wort gewechselt hatte. »Was meinst du? Was wird unsere Aufgabe sein?«

Er zuckte mit den Schultern und nahm einen militärisch steifen Ausdruck an.

»Das wird man uns mitteilen, wenn es so weit ist.«

Sara nickte, als würden seine Worte eine tiefere Weisheit enthalten. »Need-to-know«, pflichtete sie ihm bei und erntete ein bestätigendes Grunzen.

Die knapp gehaltene Einladung war vor zwei Tagen in der privaten Chatgruppe verschickt worden. Darin hatte ihr Anführer Kristian Kahilainen alle Freiwilligen aufgefordert, sich zu melden, die bereit wären »bei einer wichtigen Operation für die Sache des Vaterlands« mitzumachen. Eine Bedingung allerdings gab es: Sie mussten einen Lkw-Führerschein besitzen.

Sara besaß keinen Lkw-Führerschein.

Trotzdem saß sie jetzt hier. Es ging nicht anders. Nur indem sie an der Operation heute teilnahm, konnte sie beweisen, dass sie richtiglag. Endlich kann ich klarstellen, was das für Schweine sind.

Nachdem sie sich freiwillig gemeldet hatte, wurden ihr Zeit und Koordinaten des Treffens in der Antwortnachricht mitgeteilt. Als Zeitpunkt wurde 0700 angegeben. Die Koordinaten, in eine mobile Karten-App eingespeist, führten zu einem ehemaligen Industriegebiet im Espooer Stadtteil Kera, das teilweise schon für neue Wohngebiete abgerissen worden war.

Die militärische Art, Zeit und Ort mitzuteilen, war nur ein Beispiel für das lächerliche Getue, das Sara wohl oder übel hatte lernen müssen, um voll anerkanntes Mitglied der Truppe zu werden. Sie hatte ihr Äußeres verändert, um ihrer neuen Identität zu entsprechen, trug die dunklen Haare zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden und hatte ihre hochwertigen Baumwollkleider gegen Jeans aus dem Discounter getauscht.

Sie hatte ihre alten Freunde nur noch selten getroffen und zur Sicherheit auch nur außerhalb der Hauptstadtregion. Trotzdem hatte sie immer wieder auch heftige Unsicherheit geplagt.

Nur keine Panik, befahl sie sich. Die glauben, du bist eine von ihnen.

Die Angst war ein geringer Preis für das, worum es ging. Als sie am Treffpunkt eintraf, fand sie ein verlassenes und in Teilen abgerissenes Verteilzentrum vor, an dessen Laderampe mehrere Zugmaschinen mit Sattelaufliegern standen. Acht hatte sie gezählt. Genauso viele wie jetzt Freiwillige auf den Stühlen saßen. In Kürze würde sie den Befehl erhalten, einen davon zu fahren. Helfen würden ihr dabei nur die Tipps, die sie von ihrem Kumpel Mikko übers Telefon erhalten hatte.

Fieberhaft überlegte sie, wie sie aus der Sache noch herauskommen sollte, wie sie es vermeiden konnte, sich wirklich hinter das Steuer setzen zu müssen. Vielleicht unter einem Vorwand, der ihr erlaubte, im letzten Augenblick auszusteigen? Doch zuerst musste sie in Erfahrung bringen, um was für einen Auftrag es eigentlich ging.

Bisher hatte man sie noch nicht darüber informiert, woraus die Fracht bestand, geschweige denn wohin sie geliefert werden sollte. Man hatte sie lediglich gebeten, sich den ganzen Tag freizunehmen. Das war alles.

Die schwere Metalltür der Halle öffnete sich. Sara blickte über die Schulter und sah, wie Kristian Kahilainen den Raum betrat. Er legte sein Handy in eine Kiste neben der Tür zu denen der anderen, klappte den Deckel herunter und ließ seinen Blick durch die halbdunkle Halle schweifen wie der Maestro vor einem Konzert.

Sein blondes Haar war noch stärker nach hinten gegelt als sonst – wohl zur Feier des Tages. Anstelle seiner Lederjacke trug er heute einen Trenchcoat. Seine hervortretenden Backenknochen fingen das spärliche Licht ab, sodass seine untere Gesichtshälfte im Dunkeln lag. Die tiefliegenden stahlblauen Augen fixierten die acht Freiwilligen auf den Plastikstühlen.

»Freunde des Vaterlandes! Es ist mir eine Ehre, mit euch heute hier zu sein«, verkündete er und ging auf Sara und die Männer zu. »Das wird heute zum wichtigsten Tag in der Geschichte unserer Organisation.«

Sara zog unauffällig den Ärmel hoch und drehte ihr Handgelenk so, dass die kleine Kameralinse hinter dem Glas auf Kahilainen gerichtet war.

Am anderen Ende der Reihe räusperte sich einer der Männer und fragte: »Kannst du uns sagen, was unsere Aufgabe ist?«

»Bald«, antwortete Kahilainen streng. »Ihr habt sicher schon gesehen, dass es sich um einen Transportauftrag handelt. Jeder bekommt seinen eigenen Sattelzug. Das Ziel wird später bekanntgegeben, sobald die Autos beladen sind und es Zeit ist loszufahren. Eins solltet ihr jedoch wissen, diese Aufgabe fordert mehr von euch als irgendetwas, was ihr bisher getan habt. Die Operation zur Rettung des finnischen Volkes hat eine völlig andere Tragweite als alles, was wir bis zum heutigen Tag unternommen haben. Wenn jemand nicht dabei sein möchte, dann melde er sich jetzt.«

Keine Hand hob sich. Kahilainens Blick wanderte abschätzend die Reihe entlang, als suche er nach dem schwächsten Glied in der Kette. Seine furchteinflößende Erscheinung wurde verstärkt durch Tätowierungen, die ihm aus Kragen und Manschetten quollen. Soweit Sara das beurteilen konnte, handelte es sich um mythische Darstellungen aus den Geschichten der nordischen Völker. Künstlerisch gesehen war das Ganze eher stümperhaft. Alles floss in der Zahlenkombination 88 zusammen – dem Code der Neonazis für die Grußformel Heil Hitler. Allerdings waren die Bögen recht formlos geraten und an den Rändern verschwommen.

Sara zog beiläufig den Reißverschluss ihres Anoraks so weit herunter, dass der freizügige Ausschnitt ihres Pullis sichtbar wurde, unter dem sich ihr eigenes Tattoo befand, das sie abgrundtief hasste. Es zeigte eine schwarze Sonne, eines jener Symbole der germanischen Mythologie, das die radikale Rechte sich zu eigen gemacht hatte. Es war eine Art psychologische Unterstützung für sie – quasi ein Mitgliedsausweis, den sie vorzeigen konnte, wenn sie wieder einmal Mut brauchte, sich der Gruppe anzuschließen.

»Während wir warten, bis die Lastwagen beladen sind, möchte ich ein paar Worte an euch richten«, fuhr Kahilainen fort.

Er machte eine dramatische Pause und schaute großtuerisch auf die Reihe der Freiwilligen. Sara verabscheute die Melodramatik dieser Leute – all diese aufgeblasenen Gesten und Rituale, um ihren gemeinsamen Glauben an die Rechtschaffenheit der Stärke zu festigen. In deren autoritärem Weltbild war das Charisma König, und selbst ein ekelerregendes Fake-Charisma war besser als gar keins.

Als Kahilainen zu sprechen anfing, verlieh er seiner Stimme einen staatstragenden Tonfall.

»Seit die Garde gegründet wurde, war ihr größtes Anliegen die Sorge um Finnen wie dich und mich – die Sorge um unsere Familien und Freunde. Um unser Volk. Wir wissen, dass die Geschichte der Menschheit immer von Kampf geprägt war. Wenn eine Menschengruppe ausstirbt, erwacht sie nie wieder zum Leben.«

Kahilainen trat vor die Stuhlreihe wie ein General, der seine angetretene Armee musterte. Das Gerät um Saras Handgelenk folgte unauffällig seinen Bewegungen. Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass sie sich zunehmend auffällig benahm. Ihre Handhaltung war unnatürlich, und das konnte jeden Augenblick jemandem auffallen. Außerdem waren alle Anwesenden unmissverständlich aufgefordert worden, sämtliche elektronischen Geräte in der Kiste am Eingang abzulegen. Angst erfasste sie, und sie zog den Ärmel über das Armband. Eine Audioaufnahme musste an dieser Stelle reichen.

»Wurden wir gegründet, um den finnischen Staat zu schützen?«, fragte Kahilainen schneidend.

»Nein!«, antwortete Sara im Chor mit den anderen.

»Wurden wir nicht«, bekräftigte Kahilainen. »Die einseitige Konzentration auf die staatliche Unabhängigkeit hat die Entscheidungsträger blind gemacht für die wahre Gefahr, die dem Volk droht. Wozu brauchen wir einen finnischen Staat, wenn die Menschen auf den Straßen hier aussehen wie die in Kabul oder Mogadishu? Welchen Sinn hat der Staat noch, wenn die finnische Sprache immer mehr an Bedeutung verliert und die Multikulti-Ideologie unsere Traditionen unter sich begräbt? Der finnische Staat hat sein eigenes Volk viel zu lange vernachlässigt. Glücklicherweise hat unsere jetzige Regierung das Problem erkannt. Sie versteht die Bedeutung der Garde als Beschützerin des finnischen Volkes.«

Die Organisation, in die Sara sich eingeschlichen hatte, hieß offiziell Heimatschutzgarde für Nationale Sicherheit, wurde aber von ihren Mitgliedern einfach nur »Die Garde« genannt. Sie war vor zwei Jahren gegründet worden, als die Gelder für die Polizei in der Wirtschaftskrise zum ersten Mal gekürzt wurden. Infolge dieser Kürzungen bildete sich in den sozialen Medien eine Massenbewegung, aus der schließlich die von national gesinnten Kreisen gegründete Freiwilligenorganisation für die Sicherheit der Finnen hervorging.

Anfangs hatte sich das Medieninteresse an der Garde auf einige Zeitungsartikel beschränkt, aber seit der Zuspitzung der Flüchtlingskrise im vergangenen Sommer hatte sich alles verändert. Nach einer Welle von Vergewaltigungen und Raubüberfällen Anfang August hatten Hundertausende Finnen ihre Einstellung gegenüber den Flüchtlingen grundlegend geändert. Von Migranten verübte Verbrechen erhielten sowohl in den sozialen als auch in den traditionellen Medien eine ganz neue Aufmerksamkeit. In der Vorstellung der Menschen stellten die Einwanderer eine Gefahr dar, obwohl die Statistik für diese Annahme keinerlei Basis lieferte.

In den letzten Monaten war in der Öffentlichkeit viel über die Garde und ihre Patrouillen diskutiert worden, meist mit einem positiven Unterton. Obwohl die Garde eine offen rassistische Ideologie vertrat, hielten viele ihre Absichten für richtig. Die Männer der Garde waren »gute Jungs«, die Frauen und Kinder schützen wollten. Unter zwanzig Prozent ihrer aktiven Mitglieder waren Frauen, und Sara war eine der ganz wenigen, die es in den engsten Kreis der persönlichen Vertrauten und Gesprächspartner von Kristian Kahilainen geschafft hatten. Heute war sie die einzige Frau vor Ort und hatte das Gefühl, sich auf äußerst unsicherem Boden zu bewegen.

Was wenn ich den Lkw gar nicht erst in Bewegung setzen kann?

Kristian Kahilainens Gesten wurden immer ausladender, während sich seine Rede in gewohnter Manier immer weiter von der Realität entfernte und in die Welt der rechtsextremen Mythen abglitt.

»Weil wir uns von unseren nationalen Wurzeln entfremdet haben, wurden die Grundlagen unserer Existenz vernichtet. Unsere traditionelle Orientierung auf die Familie wurde ersetzt durch eine seelenlose Konsumkultur, die zu einem Einbruch der Geburtenrate führte. Dann entstand die glorreiche Idee, diesen schrecklichen Fehler zu korrigieren, indem man Fremde ins Land holte. Selbst ein Dummer kann sehen, dass eine fremde Bevölkerungsbasis eine fremde Kultur hervorbringt. Wir tragen durch unser eigenes Handeln dazu bei, unser Heimatland zu zerstören und unser Volk zum Aussterben zu verdammen.«

War er in Bezug auf ihre heutige Aufgabe auch weiterhin einsilbig, so verrieten sein Pathos und seine Gefühlslage Sara doch, dass es sich um etwas Großes handeln musste. In den letzten Wochen waren sie darüber informiert worden, dass ihr »Bereitschaftsgrad« erhöht worden war, was konkret bedeutete, alle verfügbaren Waffen zusammenzutragen, Sprengmittel zu montieren und die Kampfbereitschaft der einzelnen Gardemitglieder abzufragen. Letzteres war die zentrale Aufgabe der regionalen Anführer: Sie mussten Bescheid wissen, wer im Ernstfall, wenn der Befehl erteilt wurde, wirklich bereit war zu kämpfen.

Während Kahilainen sprach, hörte Sara von der Laderampe ein Scheppern, als ob Metall gegen Metall schlug. Die Hecktüren der Laster wurden aufgeklappt. Wollte sie herausfinden, was sich im Inneren der Anhänger befand, war das jetzt ihre Chance.

Sie wartete noch kurz, stand dann auf und sagte: »Ich geh mal kurz aufs Klo.«

»Jetzt nicht«, befahl Kahilainen. »Ich bin noch nicht fertig.«

Widerstrebend drehte sie sich um. Sie hatte gelernt, dass sie als Frau keinerlei Zeichen von Schwäche zeigen durfte, wenn sie wollte, dass die anderen sie für ihresgleichen hielten.

Sie stöhnte betont geräuschvoll. »Kristian, ich kann länger die Pisse anhalten als jeder von euch. Aber ich werde mich sicher nicht mit voller Mooncup hinter das Steuer eines Lasters setzen.«

Dass sich das Gespräch Fragen der weiblichen Hygiene zuwandte, war Kahilainen erwartungsgemäß unangenehm. Er murrte und fuchtelte scheuchend mit der Hand.

Sara ging zu einer Tür in der Ecke der Halle, durch die sie in einen betongrauen Treppenaufgang gelangte. Hinweisschilder aus Plastik zeigten den Weg zu den Umkleideräumen der Mitarbeiter im zweiten Stock.

Sie stieg bis zum nächsten Treppenabsatz hinauf, von dem schmale Fenster den Blick auf die Laderampe freigaben. Sie sah vorsichtig hinaus.

Zwei Männer waren gerade dabei, eine Kiste, die an einen Sarg erinnerte, in den Laderaum des ersten Lkw in der Reihe zu hieven. Einen der Männer hatte Sara schon zuvor in Kahilainens Gesellschaft gesehen. Aber auch der zweite gehörte zweifelsohne zum engeren Kreis der Garde.

Sie hob das Handgelenk so vors Fenster, dass die Kamera nach draußen zeigte. Sie konnte nicht genau wissen, wie viel auf den Bildern zu erkennen sein würde, aber sie brauchte die Aufnahmen schon allein deshalb, um das Aussehen der Kiste festzuhalten.

Sie sah schwer aus, die Männer mussten zu zweit anpacken. Sie sprangen auf die Ladefläche und trugen sie mit vereinten Kräften tiefer in den Wagen hinein. Dann sprangen sie wieder heraus und verschlossen die Hecktüren, bevor sie sich die nächste Kiste vornahmen. Es sah so aus, als wäre es je eine Kiste pro Lastwagen. Das war alles? Die Sattelauflieger da unten wirkten völlig überdimensioniert für den Transport dieser Kisten. Offensichtlich sollte noch mehr auf die Anhänger geladen werden. Aber was? Und wo?

Sara drückte ihr Gesicht fest gegen die Scheibe, direkt neben die Kamera an ihrem Armgelenk. Sie strengte sich an, konnte aber auf der Laderampe nichts weiter erkennen.

Ein Geräusch am Fuß der Treppe ließ sie zusammenzucken. Sie nahm schnell den Arm herunter und drehte sich um. Stechend blaue Augen schauten sie von unten her an.

Kristian Kahilainen stand im Treppenaufgang der Industriehalle und studierte Sara wie ein Direktor, der einen seiner Schüler bei etwas Ungehörigem erwischt hat. Es schien, als könnte sein Blick Sara durchdringen, als könnte er ihre Gedanken lesen.

»Was stiefelst du mir nach?«, brummte Sara so mürrisch wie sie konnte.

»Du wolltest aufs Klo, nicht aus dem Fenster starren.«

»Na und? Ich habe nur kurz angehalten und beim Beladen der Laster zugeschaut.«

»Es geht dich nichts an, womit die Laster beladen werden«, zischte Kahilainen.

»Das geht mich sehr wohl etwas an, wenn ich einen von ihnen fahren soll.«

Darauf wusste Kahilainen nichts zu erwidern. »Nun mach schon, geh aufs Klo, und zwar sofort. Wenn du in zwei Minuten nicht zurück bist, setze ich dich vor die Tür.«

Demonstrativ langsam drehte sie sich um. Als sie die Treppe nach oben ging, versuchte sie fieberhaft zu überlegen, wie schlimm es sie erwischt hatte. Ohne Frage hatte sie zu neugierig gewirkt. Aber offenbar hatte Kahilainen nicht gesehen, wie sie die Spionagekamera an ihrem Handgelenk ans Fenster gehalten hatte.

Es gab jetzt zwei Möglichkeiten: Bleiben oder fliehen. Ihr Unterbewusstsein hatte seine Wahl schon getroffen und verkündete es laut und deutlich: Flieh!

Aber das war unmöglich. Das Logistikzentrum war von einem Zaun umgeben, und am Tor saß einer von Kahilainens Männern. Sara konnte nicht entkommen, selbst wenn sie wollte. Außerdem bedeutete Flucht Scheitern. Sie hatte noch keine eindeutigen Hinweise auf den Plan der Garde. Und immer noch keine Ahnung, worum es hier ging.

Ich muss zurückgehen, entschloss sie sich. Sollte Kahilainen die Sache noch einmal ansprechen, würde sie wiederholen, dass sie auf dem Weg zur Toilette kurz am Fenster stehen geblieben war, um sich anzuschauen, wie die Lkw beladen wurden. Eine ganz natürliche Reaktion.

Als sie den Eingang zur Halle fast wieder erreicht hatte, kam ihr ein Gedanke. Sie wog ihn kurz ab und traf dann eine Entscheidung.

Sie nahm die zweite Spy-Cam, die sie bisher nicht benutzt hatte, aus der Tasche. Dann schlug sie die Kamera gegen die Betonwand, bis das Glas zerbrach.

KAPITEL 2

Sara Hegering zog die schwere Metalltür auf und ging zurück in die halbdunkle Fabrikhalle. Bleischwer stapften ihre Füße über den Betonfußboden und führten sie widerstrebend zurück zu Kristian Kahilainen und den Mitgliedern der Garde, die immer noch in einer Reihe saßen.

Sie fühlte, wie sich Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten, zog ihre Jacke zur Seite, um das Tattoo der Schwarzen Sonne in ihrem Dekolleté ganz freizulegen, aber auch das verschaffte ihr keine Erleichterung.

Kristian Kahilainen proklamierte vor den Männern der Garde die bekannten Phrasen, die wie ein Rauschen in ihren Ohren summten.

Gleich wird er mit dem Finger auf mich zeigen und rufen: »Verräter!«

Aber nichts dergleichen geschah.

Von den eigenen Worten berauscht, näherte er sich dem Höhepunkt seines Monologs. Sara nahm ihren Platz auf dem Plastikstuhl wieder ein und hörte zu.

»Heute wurde die Garde dazu aufgerufen, sich an einer Operation zu beteiligen, deren Auswirkungen bis weit in die Zukunft reichen werden. Ich muss euch warnen: Es wird uns viel abverlangt. Ich weiß, dass jeder von euch bereit ist, im Notfall sein Leben für unser Volk zu opfern. Warum ist das unerlässlich?«

Mit einem angedeuteten Nicken erteilte Kahilainen dem neben Sara sitzenden Narbengesicht das Wort.

»Weil das, was wir verteidigen, von großem Wert ist«, antwortete der Mann.

»Genau. Wir verteidigen unsere Art zu leben und unser Fortbestehen, da spielt es keine Rolle, wie viel Blut und Schweiß wir dabei vergießen. Gebäude kann man wieder aufbauen, aber eine ausgestorbene Sprache oder Kultur ist für immer verloren. Ganz zu schweigen vom finnischen Bluterbe.«

Wieder machte Kahilainen eine Pause, um die Dramatik seiner Rede zu unterstreichen. Sara wurde übel; schwer zu sagen, ob es an seinen Worten oder ihrer Anspannung lag.

Kahilainen ließ den Blick über die Reihe der vor ihm Sitzenden gleiten. Bei Sara hielt er inne. Oder kam es ihr nur so vor? Sie bemühte sich um Gelassenheit, doch ihre Wangenmuskeln arbeiteten angestrengt.

»Wir sind eine hierarchische Organisation, weil eine solche im Krisenfall effektiver agieren kann«, fuhr er fort. »Und Finnland steckt in einer Krise. Unsere Aufgabe ist von so enormer Wichtigkeit, dass ich von euch allen absoluten Gehorsam erwarte. Und Ergebenheit!«

Sein Blick nahm Sara ins Visier.

Ich sterbe.

Der Gedanke traf sie unvermittelt wie ein Blitz. Sie hatte sich auf ein zu hartes Spiel eingelassen. Fieberhaft suchte sie nach Erklärungen, spielte verschiedene Szenarien durch, forschte nach Wegen, mit dem Leben davonzukommen. Doch in ihrem Kopf war nichts als Leere.

Eine innere Stimme schrie wieder: Flieh! Lauf!

Sie wehrte sich gegen die Stimme, verlieh ihrem Gesicht einen entschlossenen Ausdruck und gab vor, konzentriert Kahilainens Worten zu lauschen. Panik stieg in ihr auf.

»Sara!«, brüllte Kahilainen.

Jetzt ging es nur noch darum, ob er sie eigenhändig töten würde. Ja. Genau das würde er tun. In dieser Gruppe würde es gegenüber Verrätern keinerlei Nachsicht geben.

Er kam schnurstracks auf sie zu. Die anderen folgten ihm mit Blicken.

»Hast du etwas am Handgelenk?«

Sara versuchte, fragend die Brauen hochzuziehen, als verstehe sie nicht. Schweigen wäre verdächtig und würde die Aufmerksamkeit der anderen nur noch stärker auf sie ziehen.

Beinahe väterliche Enttäuschung machte sich auf Kahilainens Gesicht breit. Er schüttelte den Kopf. »Zum letzten Mal. Hast du ein elektronisches Gerät, dessen Benutzung auf unseren Versammlungen verboten ist?«

»Nur eine Sportuhr«, entgegnete sie patzig.

»Gib sie mir.«

Sara zog ihren Ärmel hoch. Darunter kam das Armband mit dem kaputten Glas zum Vorschein. In ihrem Kopf dröhnte es, Adrenalin schoss ihr durch die Adern.

Kahilainen starrte auf das gesprungene Glas. »Funktioniert die?«, fragte er.

»Sieht es danach aus? Die ist mir heute Morgen beim Gewichtheben kaputtgegangen, als ich gegen die Hantelstange gestoßen bin. Darum habe ich sie auch nicht in die Kiste gelegt. Eine kaputte Uhr ist ja wohl kein Sicherheitsrisiko.«

»Du warst heute schon im Fitnessstudio?«, fragte Kahilainen und musterte ihre zierliche Figur.

»Hey, sieht man das etwa nicht?«, bemerkte sie schnippisch und spannte ihre Armmuskeln an.

Kahilainen zog einen Mundwinkel hoch, schaute sie aber weiter streng an. Er griff nach Saras Handgelenk und öffnete das Armband. Dann begutachtete er es kurz und drückte auf die Knöpfe an der Seite. Schließlich gab er sich mit ihrer Erklärung zufrieden.

Vorsichtig ausatmend rollte sie den gewaltigen Stein beiseite, der ihr Herz zusammengedrückt hatte. Engelsgesang schien die Hallenluft zu erfüllen.

Auf einmal stand das Narbengesicht neben ihr von seinem Stuhl auf, trat zu Kahilainen und nahm ihm das Armband aus der Hand. Sara war sofort klar, dass er etwas vermutete. Das Narbengesicht hatte wohl den Verdacht, dass es sich nicht um eine ganz normale Sportuhr handelte.

Das Narbengesicht hob die Uhr am Armband hoch und hielt sie gegen das Licht, dann zeigte er auf das Glas. Sara stockte der Atem. Ihr war klar, dass man trotz des gesprungenen Glases bei genauem Hinsehen die Kamera dahinter sehr wohl erkennen konnte.

Wieder schrie die Stimme in ihr: Lauf!

Dieses Mal wehrte sie sich nicht dagegen.

Sie schnellte empor und stürzte zur Tür, die ins Treppenhaus führte.

Es dauerte nur einen Augenblick, bis Kahilainen sich von seiner Verblüffung erholt hatte und ihr nachstürzte. Sara schlüpfte durch die Tür, drückte den kleinen Verriegelungshebel am Schloss und schob die Tür zu.

Hinter der Tür war ein Wummern zu hören, als Kahilainens Fäuste wutentbrannt gegen die verschlossene Tür hämmerten.

Sara rannte die Treppe hoch, denn einen anderen Weg gab es nicht. Ein Stockwerk weiter oben entschied sie sich dagegen, in den Gang mit den Umkleide- und Sanitärräumen für das Personal einzubiegen. Stattdessen rannte sie weiter die Treppe hinauf.

Auf dem nächsten Treppenabsatz gab es nur noch eine einzige Tür. Die stieß sie auf, und kalte Luft schlug ihr entgegen. Hinter der Tür erstreckte sich ein Flachdach, so groß wie die darunter befindliche Halle.

Sie betrat das Dach. Während die Tür zuschlug, suchte sie nach einem Gegenstand, den sie unter die Klinke klemmen konnte, fand aber nichts.

Der Morgen war noch dunkel, davon abgesehen hatte man vom Dach aus freie Sicht in jede Richtung. Um die Halle herum gab es Baustellen, Lagerhallen, Werkstätten und Berge von Bauschutt. Jede Menge Verstecke, aber alle zu weit weg. Zuerst musste sie irgendwie von dem zehn Meter hohen Dach heruntergelangen und dann noch den Stacheldrahtzaun überwinden, der das Gelände umgab. Einige der Männer waren garantiert schon dabei, die Halle von außen zu verbarrikadieren. Die anderen würden ihr auf das Dach folgen, sobald sie die Türverriegelung aufbekommen hatten.

Kalter Wind wehte ihr die Haare ins Gesicht, und sie fühlte sich einsamer als jemals zuvor in ihrem Leben. Der Schrecken in ihr machte blanker Panik Platz.

Sara stolperte zum Rand des Daches, an dem ein Lüftungsschacht aufragte. Zwischen diesem Kasten und dem Rand des Daches war ein schmaler Streifen, dort konnte sie sich verstecken. Der böige Wind fuhr ihr unter die Jacke. Sie drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand des Lüftungsschachtes, und ihr schwindelte, als sie hinunterschaute. Doch dann blieb ihr Blick an etwas dort unten hängen. Es war vielleicht der rettende Strohhalm. Die Idee, die in ihr heranreifte, war lächerlich halsbrecherisch.

Sie bringen mich sowieso um, dachte sie dann.

Also nahm sie ihren letzten Mut zusammen und trat über den Rand.

KAPITEL 3

Der ehemalige Ministerpräsident von Finnland knetete nervös eine Perücke in seiner Hand.

Auf dem Weg zur Toilette blickte er zurück in die Kabine des Privatjets. Die Höhenanzeige oberhalb des Cockpits bestätigte ihm, was ihm schon der Druck in seinen Ohren verraten hatte. Der Landeanflug hatte begonnen.

Seit ihn jene seltsame Einladung erreicht hatte, waren weniger als vierundzwanzig Stunden vergangen, und jetzt war er hier. Seit mehr als einem Jahr stand er kurz davor, wieder finnischen Boden zu betreten. Voller Begeisterung, aber innerlich zerrissen auch starr vor Anspannung. Und mit einer Perücke in der Hand.

Er holte tief Luft und sah in den Toilettenspiegel. Er setzte den Rand an die Linie seines Haaransatzes und zog die flexible Perücke nach hinten über den Kopf. Sie saß wie angegossen. Die Perücke war aus echten rabenschwarzen Haaren handgefertigt. Bei dem angedeuteten Stirnansatz war nicht an Details und Arbeitszeit gespart worden. Leo schob seine Haare unter den Rand der Perücke und musste feststellen, dass sein salopper Scheitel, der in der Politik zu seinem Markenzeichen geworden war, vollständig darunter verschwand.

Als der Unbekannte die Einladung aussprach, hatte er darauf bestanden, dass Leo inkognito erschien. Dabei war ihm aus unerwarteter Richtung geholfen worden. Er hatte einen indischen Filmmogul angerufen, der, genau wie er, eine Luxusvilla in dem bei Milliardären beliebten Ort La Zagaleta an der spanischen Sonnenküste Costa del Sol besaß. Der Ort hatte schon die unterschiedlichsten Leute angezogen, die alle eines verband: ein unerschöpfliches Vermögen, gepaart mit einem umfangreichen sozialen Netzwerk. Der Inder hatte ihm einen absoluten Top-Maskenbildner geschickt mit einer Reihe von Perücken im Gepäck.

Das Ergebnis war das Werk eines Profis. Trotzdem zuckte Leo zusammen, als er sich im Spiegel betrachtete.

Das finnische Volk hatte ihn als glattwangigen, fünfunddreißigjährigen Ministerpräsidenten in Erinnerung, der viel jünger aussah. Das war weniger als ein Jahr her. Eine Ewigkeit. Seit er keinen Appetit mehr hatte, war sein ehemals jungenhaftes, hübsches Gesicht knöchern geworden. Auch die Bartstoppeln, die er sich seit Kurzem stehen ließ, konnten seine eingefallenen Wangen nicht verdecken. Die ungeweinten Tränen hatten sich während der vergangenen fünf Monate um seine Augen gesammelt. Seine breiten Schultern waren eingesunken, seit er ständig den Kopf hängen ließ. Nur sein Gesicht war gebräunt von den vielen Runden, die er auf dem Grundstück seiner Villa drehte, was den desolaten Eindruck ein wenig milderte.

Er trat aus der Toilette in die Kabine und war sich der Perücke auf seinem Kopf unangenehm bewusst. Die junge Stewardess starrte ihm nach, als er an seinen Platz ging.

Als er wieder saß, riss sie ihren Blick von ihm los und machte weiter, als wäre nichts geschehen.

»Nun fragen Sie schon, das wollen Sie doch«, forderte er sie freundlich auf.

»Wir erkundigen uns bei unseren Passagieren nicht nach dem Grund ihrer Reise«, antwortete sie, als zitierte sie aus den Arbeitsanweisungen. Die Charterfluggesellschaft und ihre Mitarbeiter waren es gewohnt, die Reisen ihrer Milliardäre vertraulich zu behandeln.

Milliardär.

Das genau war Leo, obwohl der Gedanke ihm immer noch seltsam vorkam und er einen bedeutenden Teil seines Erbes fortgegeben hatte.

Er setzte sich eine dickrandige Brille auf, die seine Verkleidung abrundete.

»Ich sehe wohl eher wie Harry Potter aus«, meinte er.

Die Stewardess lächelte und schüttelte nervös den Kopf. Leo lächelte beruhigend zurück, und der strenge, offizielle Ausdruck wich aus ihrem Gesicht.

»Harry Potter hat zerzausteres Haar und eine runde Brille. Sie sehen eher aus wie der Typ, der sich in der Telefonzelle in Supermann verwandelt.«

»Clark Kent?«, fragte Leo.

Die Stewardess kicherte und nickte schüchtern.

Der Copilot trat hinter dem Vorhang hervor in die Kabine, und die Stewardess verschluckte ihr Lächeln.

»Fünf Minuten bis zur Landung«, sagte er und warf einen beiläufigen Blick auf Leos Perücke. Statt zurück ins Cockpit zu gehen, blieb er stehen, als wollte er noch etwas sagen.

»Das Terminal für Geschäftsflieger ist außergewöhnlich frequentiert wegen dieses Treffens der Regierungschefs«, sagte er nach einer Weile und betrachtete Leos Perücke. »Ich dachte, das könnte Sie vielleicht interessieren, wenn Sie unnötiges Aufsehen vermeiden wollen.«

Das Gipfeltreffen.

Natürlich hatte Leo gewusst, dass Italiens Premierminister heute in Finnland eintreffen würde, um an diesem umstrittenen Treffen teilzunehmen, das jede Menge internationale Medienvertreter ins Land lockte. In seiner Naivität hatte er nicht bedacht, dass dies gerade auf dem Geschäftsfliegerterminal für Hochbetrieb sorgen würde und damit sein Finnland-Besuch leicht auffliegen konnte.

Selbst in Verkleidung wäre es nicht möglich, unerkannt durch das Terminal zu marschieren, wenn es dort vor italienischen Delegierten und internationalen Fernsehteams nur so wimmelte. Obwohl seine Zeit als Ministerpräsident nur sieben Monate gedauert hatte, war sein Gesicht im Zuge der Ereignisse vor einem Jahr auch in den internationalen Medien häufig zu sehen gewesen. Perücke und Brille würden nicht viel helfen, wenn er Journalisten und Staatsangestellten gegenüberstand.

»In der Tat würde ich unnötige Begegnungen lieber vermeiden«, sagte Leo. »Können wir da etwas tun?«

»Die Staatsgäste kommen im VIP-Bereich an, das erleichtert die Sache ein wenig«, entgegnete der Copilot.

Das wird nicht reichen, dachte Leo und rief sich das Geschäftsfliegerterminal ins Gedächtnis. Es war recht klein, und die Fensterfront des VIP-Bereichs für Staatsgäste grenzte direkt an den Bereich für Geschäftsleute.

Leo schüttelte den Kopf. »Kann mich nicht ein Wagen direkt am Flugzeug abholen?«

»Das wäre sehr ungewöhnlich. Derjenige, der sie abholt, bräuchte ein Begleitfahrzeug, um über das Rollfeld fahren zu dürfen.«

Leo sah den Copiloten hilfesuchend an, bis dieser die Schultern hochzog.

»Grundsätzlich ginge das. Eine Sicherheitskontrolle brauchen wir nicht, weil wir uns innerhalb der Schengen-Region bewegen.«

»Könnten Sie für mich die Erlaubnis einholen?«, bat Leo. Der Copilot nickte und ging zurück ins Cockpit.

Leo schnallte den Sitzgurt um, als er auf einen harten Gegenstand in der Tasche seines Anzugs stieß. Er zog einen Zauberwürfel heraus, der auf allen sechs Seiten komplett gelöst war.

Eine Welle der Trauer erfasste Leo, als er den Würfel betrachtete.

»Wow«, sagte die Stewardess. »Mir ist es nie gelungen, ihn zu lösen.«

»Mir auch nicht«, antwortete Leo.

»Ach ja? Wer hat ihn dann gelöst?«

»Jemand, der sehr viel schlauer ist als ich.«

Er hielt den Rubik-Würfel noch kurz in der Hand, bevor er ihn zurück in seine Tasche gleiten ließ.

Kurz darauf erschien der Copilot wieder.

»Ich habe Antwort vom Terminal. Sie werden direkt am Flugzeug abgeholt.«

»Danke«, sagte Leo erleichtert.

Er musste lachen, dass ausgerechnet das Schengener Abkommen zum Wegfall der Grenzkontrollen ihm half, unbemerkt in Helsinki einzutreffen. War doch gerade der freie Personenverkehr innerhalb Europas ein Grund, warum Italiens Premierminister heute nach Finnland reiste.

Zwei Jahre zuvor war die Welt von einer globalen Wirtschaftskrise erschüttert worden, die an den Grundfesten der westlichen Gesellschaften gerüttelt hatte. Finnland war in eine ausgesprochen tiefe Rezession gerutscht, was eine politische Krise zur Folge hatte, die die Aufmerksamkeit der internationalen Medien auf sich gezogen hatte.

Heute würden erneut internationale Reporter und Kamerateams nach Finnland kommen, aber aus einem anderen Grund: Es ging um die Flüchtlingskrise in Europa.

Als die Auswirkungen der Wirtschaftskrise Afrika und Asien mit voller Wucht trafen, war die Schattenseite des enormen Bevölkerungswachstums in den ärmeren Ländern schnell zutage getreten. Die Arbeitslosigkeit war explodiert, und insbesondere südlich der Sahara hatte sich die Armut wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Eine Dürreperiode verursachte zudem eine Hungersnot, und so war eine nie dagewesene Bevölkerungsbewegung in Gang gesetzt worden. Erst hatte die Migration innerhalb der Staaten Afrikas zugenommen, doch schon bald machten sich immer mehr auf die Reise nach Europa. Bis zum Herbst waren schon dreimal mehr Menschen nach Europa gekommen als in der vorherigen Flüchtlingswelle im Jahr 2015. Im November und Dezember hatte sich die Situation weiter verschärft.

Im gleichen Takt, wie die Migrationsströme zunahmen, waren in Europa politische Unruhen aufgeflammt. Die Situation hatte die europäischen Staaten in zwei Lager gespalten: Die Länder Süd- und Osteuropas verfolgten eine harte Linie und hatten sich zum sogenannten FAST-Verbund zusammengeschlossen. Offiziell stand der Name für ihre Forderung nach einer schnellen und dauerhaften Lösung der Krise, aber auf den Fluren in Brüssel witzelten die Bürokraten, dass FAST eher wie eine Abkürzung für Faschisten klang. Der größte FAST-Staat war Italien, das auch als geistiger und ideologischer Führer des Verbundes fungierte.

Mittel- und Nordeuropa dagegen hatten an den Prinzipien der Menschenrechte und den Verträgen zum Schutz der Flüchtlinge festgehalten.

Bis jetzt.

Jetzt schloss sich auch Finnland dem Verbund an. Von den unter der Flüchtlingskrise leidenden nordischen Staaten war Finnland der erste, der sich zu diesem Schritt entschlossen hatte, und das würde weitreichende Folgen haben.

Leo hieß die Entscheidung der finnischen Regierung nicht gut. Die national gesinnte Ideologie der FAST-Länder war offen rassistisch. Vom Standpunkt eines Politikers aus konnte er die Regierung sogar verstehen. Laut Umfragen sprach sich das Volk für einen härteren Kurs aus, weil es Angst hatte. Und das war kein Wunder. Die konservative Koalition erschuf ununterbrochen Bedrohungsszenarien, in der alle Flüchtlinge wie Angehörige einer kriminellen Vereinigung erschienen. Schon zeichneten sich die Wipfel der Bäume gegen den Himmel ab, und kurz darauf setzte das Flugzeug auf dem Asphalt auf. Es war Landebahn 15, wie Leo feststellte, an deren Ende sich das Geschäftsfliegerterminal befand. Bis dahin rollten sie höchstens noch eine oder zwei Minuten.

Vor dem flachen Terminalgebäude parkten sieben oder acht Privatmaschinen nebeneinander. Als Leos Flugzeug an ihnen vorbeirollte, öffnete sich ein Tor neben dem Terminal, und zwei Fahrzeuge der Sicherheitsfirma Securitas näherten sich ihnen. Dahinter folgte der Wagen, der Leo abholen sollte. Leo klappte die Kinnlade herunter. Auf seinen Reisen durch die ganze Welt hatte er nur wenige Male gesehen, wie führende Politiker oder Milliardäre einen Wagen dieses Typs benutzten: einen Rolls-Royce Phantom.

Falls er möglichst unauffällig in Finnland ankommen wollte, war diese markante Luxuslimousine wohl eher ungeeignet. Im Geiste verfluchte er den Mann, auf dessen Einladung er nach Helsinki gereist war.

Erst soll ich in einer Verkleidung aufkreuzen, und dann gestaltet sich meine Ankunft wie eine verdammte Parade??

***

Eine Frau in unauffälliger Winterkleidung zuckte in ihrem Auto auf dem Parkplatz des Geschäftsfliegerterminals zusammen, als ein von Sicherheitsfahrzeugen flankierter Konvoi in ihrem Sichtfeld auftauchte.

Nein, verdammt.

Sie schnappte sich ihre Spiegelreflexkamera mit dem langen Objektiv vom Beifahrersitz und sprang aus dem Auto.

Der Konvoi fuhr gerade durch die Pforte zum Flugfeld. Leo Koski hatte erstaunlich viel Vorsicht an den Tag gelegt, und jetzt zählte jede Sekunde. Keine Minute, und er säße im Wagen hinter verdunkelten Scheiben.

Die Kamera baumelte wild gegen ihren Körper, als sie zum Maschendrahtzaun stürmte, der das Gelände abriegelte. Die Anspannung erzeugte ein angenehm prickelndes Gefühl. Das vergangene halbe Jahr war für sie die reinste Enttäuschung gewesen. Dieser Tag jedoch konnte vielleicht endlich die Wende bringen und ihre neue Aufgabe zu dem machen, was sie sich erhofft hatte. Zu etwas Großem.

Neben dem Zaun stand ein Bauarbeitercontainer. Sie zwängte sich in den schmalen Spalt, der zwischen Container und Zaun blieb und von dem aus sie einen freien Blick auf die Rollbahn hatte.

Gerade wurde die Tür am Flugzeug geöffnet und die Treppe herabgelassen. In der Türöffnung erschien ein großgewachsener Mann, der eine helle Anzughose und darüber eine dunkle Winterjacke mit Kapuze trug. Die Kapuze hatte er hochgeschlagen, trotzdem konnte sie sein attraktives Gesicht nicht ganz verdecken, das von einer schwarzen Perücke eingerahmt wurde. Er sah noch schlanker aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Dennoch bestand kein Zweifel. Die hochgeschossene Gestalt war Leo Koski, Finnlands ehemaliger Ministerpräsident, der in sein Heimatland zurückgekehrt war. Und damit einen schrecklichen Fehler beging.

Sie nahm die Kamera hoch, zielte auf sein Gesicht, stellte scharf und schoss das erste Foto.

KAPITEL 4

Die vorgefahrene massige Limousine hielt in dem Moment, in dem die Flugzeugtreppe auf dem vereisten Asphalt aufsetzte.

Der Chauffeur stieg aus und ging um den Wagen herum.

Leo sah zum Geschäftsfliegerterminal hinüber. Der Kapitän hatte gute Arbeit geleistet und die Maschine so zum Stehen gebracht, dass sie einen Sichtschutz zwischen ihm und dem Terminal bildete.

Der Frost kniff ihm in die Wangen. Seit fast einem Jahr stand er zum ersten Mal wieder unter finnischem Himmel. Er trat auf die oberste Stufe, stieg hinab und schnurstracks in den Wagen.

Am anderen Ende der Rückbank saß ein beleibter Mann, der so breit lächelte, wie die Enden seines gewachsten Schnurrbartes reichten, als er Leo begrüßte.

»Schniekes Auto«, konstatierte Leo.

»Schnieke?«, ereiferte sich der Mann gespielt gekränkt. »Dieses Auto als schnieke zu bezeichnen ist, als würde man sagen, dass Martin Luther King nette Reden gehalten hat. Phantom ist das erstklassigste Wägelchen, das Rolls-Royce je gefertigt hat.«

Leo musste zugeben, dass es eine überwältigende Erfahrung war, in dem Auto zu sitzen. Der Innenraum war noch großzügiger, als es von außen den Anschein hatte. Die Sitze der Rückbank waren geradezu unbeschreiblich bequem, verglichen damit war der Ledersessel im Privatjet, von dem er sich gerade erhoben hatte, nicht mehr als ein biederer Küchenstuhl. Nirgends ein Teil aus Plastik: Knöpfe und Lüftungsschlitze waren aus rostfreiem Edelstahl gefertigt. Der Vorderraum erinnerte eher an die Kommandobrücke auf einem Schiff als an den Fahrersitz eines Pkw. Das Eindrucksvollste war jedoch das Dach des Fahrgastraums, in dem Hunderte LED-Leuchten ein Sternenhimmelambiente schufen.

»Ich dachte, meine Ankunft in Finnland sollte unauffällig erfolgen«, meinte Leo und deutete auf seinen Kopf.

Belustigt betrachtete der Mann Leos Perücke. »Aber hier sind wir doch sicher wie im Schoß des Herrn«, erwiderte er und wies mit der Hand auf die verdunkelten Scheiben der hinteren Fenster, »außerdem braucht ein großer Mann wie Sie ein angemessenes Gefährt.«

Auf Leos Kopfschütteln hin, brach er in Lachen aus. »Ich habe für den Wagen ein Vermögen ausgegeben! Glauben Sie, ich will ihn in der Garage verrosten lassen?«

Angesichts seiner Heiterkeit zerbröckelte Leos Verärgerung, und er musste lächeln.

Ingvar Neufville war auch ohne den Wagen eine eindrucksvolle Erscheinung. Seine schwergewichtige Statur und seine Kleidung harmonierten vollkommen mit der Ausstattung des Phantom. Mann und Auto schrien den Vorübergehenden geradewegs zu: Haltet ein in dem, was ihr gerade tut, und richtet eure Blicke auf uns!

Ingvars klassischer Tweed-Anzug war von feinster Qualität, doch die eigentlichen Hingucker waren die lose gebundene Ascot-Krawatte im Barockstil und eine schneidige rote Weste. Sie vermittelten einen stattlichen, beinahe protzigen Eindruck. Wie ein Zirkusdirektor, dachte Leo.

Trotz seines schwedisch-französisch klingenden Namens war Ingvar Neufville durch und durch Finne. Die Medien unterstrichen gern seine Herkunft aus französischem Adel, aber Leo erinnerte sich, einen Artikel gelesen zu haben, in dem hinterfragt wurde, ob das mit dem aristokratischen Stammbaum tatsächlich stimmte. Zumindest schwamm Ingvars Familie in ererbtem Geld und scheute sich nicht, das auch zur Schau zu stellen.

Im Unterschied zu seiner Verwandtschaft verschwendete Ingvar seine Zeit nicht damit, sich in den Jetset-Kreisen der Welt zu vergnügen. Er hatte sich als Jurist einen Namen gemacht und erfolgreich eine eigene Anwaltskanzlei in Helsinki gegründet.

Trotz seines großspurigen Gebarens konnte ihm Leo nicht absprechen, dass er auch viel Gutes getan hatte. Seine kleine, aber feine Boutique-Kanzlei hatte sich auf die Verteidigung der Menschenrechte und der Natur in solchen Fällen spezialisiert, die üblicherweise ohne den Rechtsbeistand renommierter Kanzleien blieben und auf Beratungshilfescheine oder Pro-Bono-Anwälte gemeinnütziger Organisationen angewiesen waren. Von der Geschäftswelt finanzierte Kreise hatten in Rechtsstreitigkeiten schon rein ressourcenbedingt häufig einen Vorteil, und Ingvar wollte dem etwas entgegensetzen. Leo war sich sicher, dass er die Kanzleikosten aus seinem Erbe gewaltig bezuschussen musste.

In diesem Jahr hatte die Flüchtlingskrise Ingvars Kanzlei auf Trab gehalten. Doch spätestens seit Juli stand er vollends im Rampenlicht, als er den spektakulärsten Fall seit Jahren übernommen hatte: die Verteidigung von Emma Erola, die wegen Hochverrats angeklagt war.

»Wie geht es ihr?«, fragte Leo.

»Das sehen Sie gleich selbst«, antwortete Ingvar.

»Danke, dass ich sie endlich wiedersehen kann.«

»In der Tat«, meinte Ingvar. »Sie waren sehr überzeugend.«

Leo verstand nicht ganz, worauf Ingvar hinauswollte. Immerhin war er es, von dem die Initiative zu diesem im Eilverfahren organisierten Treffen ausgegangen war. Leo hatte in keiner Weise versucht, ihn dazu zu überreden.

Doch Leo zerbrach sich nicht länger den Kopf darüber, schließlich hatte er viel gewichtigere Sorgen.

»Glauben Sie, ich kann im Gerichtssaal anwesend sein, ohne dass mich jemand erkennt?«

»Folgen Sie mir einfach. Ich werde die Blicke der Leute auf mich lenken.«

Ingvar Neufvilles Selbstvertrauen beruhigte Leo ein wenig. Betritt der Herr Direktor die Arena, wenden sich ihm alle Blicke zu.

Hinter den Scheiben des Rolls-Royce war jetzt die Einfallsstraße nach Helsinki zu erkennen. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich im morgendlichen Raureif der Sträucher. Die in glitzernde Eiskristalle getauchte Umgebung sah nach der langen Abwesenheit beinahe exotisch aus.

Leos sieben Monate währende Zeit als Ministerpräsident kam ihm beinahe prähistorisch vor, obwohl sie weniger als ein Jahr zurücklag. Die Erinnerungen an diese hektische Zeit waren fragmentarisch, und den größten Teil von ihnen würde er am liebsten komplett vergessen.

Mitten in der Wirtschaftskrise hatte Leo auf Betreiben konservativer Hintermänner das Amt des Ministerpräsidenten übernommen. Er war beliebt und lächelte, was ihn zum perfekten Werkzeug machte, dem eisernen Kurs der Regierung ein menschliches Gesicht zu geben. Er hatte radikale Kürzungen durchboxen müssen, die das zum Einsturz brachten, was vom Wohlfahrtsstaat noch übrig war. Das Volk hatte sich gewehrt und war auf die Straße gegangen. Viel zu spät hatte Leo angefangen, sich gegen den Willen der konservativen Koalition und die einflussreichen Strippenzieher aus der Wirtschaft zur Wehr zu setzen. Gemeinsam mit Emma Erola, der Anführerin der Linken, hatte er in der Krise eine Lösung herbeigeführt.

Dabei hatte er sich unsterblich in Emma verliebt.

Das Problem war nur, dass Emma, bevor die Krise schließlich überwunden werden konnte, in Putschpläne verwickelt gewesen war, die sich gegen die legitime Regierung richteten. Menschen waren zu Tode gekommen. Obwohl Emma entscheidend zur Beruhigung der angespannten Lage beigetragen hatte, war Leo dennoch klar, dass sie eine lange Haftstrafe erwartete.

Er hatte ihr zur Flucht aus Finnland verholfen. Ein halbes Jahr hatte sie mit ihm im Exil in seiner spanischen Villa in dem von der Welt abgeschirmten Luxusressort La Zagaleta verbracht. Für Leo war es die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. Sie hatten die Vormittage im Schlafzimmer, die Nachmittage am Pool und die Abende in ihrem privaten Kino im Keller verbracht und historische Dramen geschaut, die Emma so liebte. Die Welt außerhalb des Zauns verwandelte sich in der zunehmenden Wirtschaftskrise in immer düsterere Gefilde. Aber Leo gelang es, die Nachrichten aus seinem Geist zu verbannen und sich auf sein privates Glück zu konzentrieren.

Emma gelang das nicht. Eines frühen Vormittags im Juli war Leo vom Golfplatz heimgekehrt und hatte die Villa leer vorgefunden. Emma war gegangen. Ohne Vorwarnung. Ohne Abschied.

Er war außer sich vor Sorge. Fürchtete er doch, man werde Emma festnehmen und in Finnland vor Gericht stellen.

Seine Unsicherheit dauerte nur sechs Stunden. Noch am gleichen Abend erschienen die ersten Bilder auf finnischen Nachrichtenseiten. Kurz darauf auch in der internationalen Presse. Emma Erola, die ehemalige Führerin der Linken in Finnland, war ein halbes Jahr untergetaucht und dann wie aus dem Nichts auf dem Flughafen Helsinki-Vantaa gelandet und hatte sich den Behörden gestellt.

Das war jetzt fast sechs Monate her. Auf Ingvars Bitte hin hatte Leo Abstand zu Emma und dem Prozess gehalten. Aus Sicht der Verteidigung war es wichtig, geheim zu halten, dass Leo Emma in seiner Villa versteckt hatte.