Tage voller Zorn - Tuomas Oskari - E-Book
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Tuomas Oskari

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Beschreibung

Ein Land vor dem Zusammenbruch - und nur 24 Stunden, um die Katastrophe aufzuhalten ...

Helsinki 2027. Leo Koski, der junge Ministerpräsident Finnlands, ist charismatisch. Was niemand weiß: Er ist nur die Marionette einer Gilde reicher Männer. Sie sind es, die bestimmen. Die Spaltung der Gesellschaft und die zunehmende Armut in weiten Teilen der Bevölkerung sind ihnen egal.

Doch als sich eine junge Frau am Vorabend einer großen Massenkundgebung aus Protest selbst anzündet, gerät das Machtgefüge ins Wanken. Die Frau hatte zuvor Briefe verschickt, um das Land aufzurütteln. In dieser aufgeheizten politischen Lage wendet sich der Ministerpräsident das erste Mal von seinen Geldgebern ab. Aber auf wen kann er noch zählen? Auf seinen Ziehvater und reichsten Mann Finnlands Pontus Ebeling? Auf die Führungsfigur der Linken, Emma Erola?

Koski hat nur 24 Stunden, um sein Land vor einer Katastrophe und unzähligen Toten zu bewahren. Der Countdown beginnt ...

Ein gekonnt gemachter internationaler Thriller über die Gefahren, die westlichen Gesellschaften drohen ̵ und über die notwendige Entschlossenheit, sich dagegen zu wehren

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Seitenzahl: 713

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumFAKTENPROLOGTEIL I: ACHT STUNDEN SPÄTER1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344TEIL II: FÜNF STUNDEN SPÄTER45464748495051525354555657585960616263646566676869TEIL III: DREI STUNDEN SPÄTER707172737475767778798081828384858687888990919293949596EPILOGNACHWORTNAMENS- UND SACHREGISTER

Über dieses Buch

Helsinki 2027. Leo Koski, der junge Ministerpräsident Finnlands, ist charismatisch und beliebt. Er wird jedoch protégiert von sehr reichen Männern, die wollen, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Als eine junge Frau sich vor dem Haus des Polizeichefs selbst anzündet, gerät die Regierung um Leo Koski ins Wanken. Die Frau hatte zuvor Briefe verschickt, die das Land erschüttern. In dieser aufgeheizten politischen Lage wendet sich der Ministerpräsident das erste Mal von seinen Geldgebern ab. Er hat jedoch nur 24 Stunden, um das Land vor einer Katastrophe und unzähligen Toten zu bewahren. Der Countdown beginnt …

Über den Autor

Tuomas Oskari (Jahrgang 1980) hat ein abgeschlossenes BWL-Studium und ist ein bekannter Politik- und Wirtschaftsjournalist bei Finnlands größter, überregionaler Tageszeitung »Helsingin Sanomat«. Zuvor war er Auslandskorrespondent dieser Zeitung in den USA. TAGE VOLLER ZORN ist sein viel beachteter Debütroman, mit dem er von den Literaturkritikern seines Landes durchweg gelobt und in die Schar »internationale Thriller schreibender finnischer Erfolgsautoren« gehoben wurde.

Übersetzung aus dem Finnischen vonAnke Michler-Janhunen

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der finnischen Originalausgabe:

»Roihu« von Tuomas Niskakangas

Für die Originalausgabe:

Copyright © Tuomas Niskakangas 2021

Published in German language by arrangement with Rights & Brands

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022/2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Frauke Meier, Hannover

Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenSatz

Einband-/Umschlagmotive: © FinePic®, München (2) | © Moment/oxygen/getty-images

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2850-8

luebbe.de

lesejury.de

FAKTEN

Seit der industriellen Revolution hat sich das Vermögen in den westlichen Ländern immer mehr auf einzelne reiche Privatpersonen und Familien sowie deren Unternehmen konzentriert. Eine Reihe anerkannter Wirtschaftswissenschaftler sagt voraus, dass sich durch Automatisierung und Entwicklung künstlicher Intelligenz die Konzentration des Reichtums auf diejenigen, die sowieso schon darüber verfügen, im dritten Jahrtausend weiter verstärken wird.

Alle Schilderungen von Gebäuden, Wissenschaftstheorien und historischen Ereignissen entsprechen der Wahrheit.

PROLOG

Am schwersten drückten die Benzinkanister in der Tasche. Es waren zwei, jeder fasste zehn Liter und war randvoll. Als sie die schwarze Sporttasche probehalber hochhob, musste die junge Frau sie mit beiden Händen förmlich vom Boden reißen.

Sie überlegte kurz, ob auch ein Kanister reichen würde, verwarf aber den Gedanken. Überflüssige Überlegungen zu diesem Zeitpunkt waren wie Unkraut, das sofort ausgemerzt werden musste. Änderungen in letzter Minute, Experimente oder gar Zaghaftigkeit gestattete der Plan nicht.

In dem Lichtstreifen, den die Straßenlaterne auf den Boden des dunklen Schlafzimmers zeichnete, stellte sie die Tasche ab und kniete sich daneben. Sie betastete den wasserfesten Stoff. Überprüfte die robusten Riemen. Zog den Reißverschluss ein weiteres Mal auf, um den Inhalt zu kontrollieren: Kraftstoffkanister, Hüftgurt, Seile und Wurfgewicht. Alles von bester Qualität. Geld hatte für sie keinen Wert mehr.

Sie streckte die Hand aus und griff nach drei hellblauen Briefumschlägen auf dem Schreibtisch. Der oberste hatte einen dunklen Fleck, der von einer Träne stammte, der einzigen des Abends. Sie war aus ihrem Auge getropft, als sie den letzten Brief in den Umschlag geschoben hatte.

Morgen würden weitere Tränen auf die Briefe fallen, aber das wären nicht mehr ihre.

Zwei der Briefe steckte sie in das Seitenfach der Sporttasche. Den dritten lehnte sie gegen das Zierkissen auf dem Bett. Dann stützte sie sich mit den Ellenbogen auf dem Bettrand ab. Beten konnte sie nicht, aber wenigstens einen Moment zur Ruhe kommen und Mut sammeln. Ihre ganzen 25 Lebensjahre war sie im Schatten gewandelt. Viele würden ihr Leben als normal beschreiben, sie empfand es eher als belanglos. Bis zu diesem Tag.

Steh auf, befahl sie sich. Sie wuchtete die Tasche auf den Rücken und trat in den Flur. An der Wohnungstür sah sie sich noch einmal um. Sie teilte sich die Wohnung mit einer anderen jungen Frau, die ihre Angststörung wieder einmal im Neonlicht ertränkte und erst in den frühen Morgenstunden heimkehren würde. Sie entriegelte die Wohnungstür und trat ins Treppenhaus.

Unten zwickte sie ein kalter Wind in die Wangen und wehte ihr die Haare ins Gesicht. Der Wind rüttelte an den Blechverkleidungen der Balkone. Voll mit angehäuftem Unrat, sahen sie aus wie Käfige, die an einer schmutzigen Hauswand hingen. Ihr Wohnhaus würde sie nicht vermissen.

Der Weg vor ihrem Haus mündete auf die Straße Esikkotie, die zum Gerichts- und Polizeigebäude der Stadt Vantaa führte. Die äußere Hülle des Flachbaus war zu Ehren der finnischen Fahne in Blau-Weiß gehalten, die Menschen in seinem Inneren aber waren eine Schande für das Land.

Ursprünglich hatte das Polizeigebäude ihr Ziel sein sollen. Dann hatte jedoch ihr Alternativplan aus einem einfachen Grund den Sieg davongetragen: Er war persönlicher. Eine Geschichte brauchte zwei Hauptpersonen, eine gute und eine böse. An diesem Abend würden sich Gut und Böse direkt gegenüberstehen.

Aus Richtung Tikkurila, dem zentralen Stadtteil von Vantaa, näherte sich ein Streifenwagen. Als er in die Parkgarage unter dem Gerichtsgebäude einbog, warf ihr der Polizeibeamte auf dem Vordersitz einen Blick zu und lächelte. Die Situation amüsierte sie und sie lächelte zurück. Der Polizist sah in ihr nur eine hübsche junge Frau mit dichten dunklen Locken, die unter einer Wollmütze hervorquollen.

Sie unterschätzen mich und meinesgleichen, dachte sie. Sie unterschätzen uns alle: die Polizisten, die Politiker und die Firmenchefs. So wie der Mann, zu dem sie unterwegs war. Ihm würde es zum Verhängnis werden. So ergeht es Tyrannen immer.

Nach einem letzten Blick auf das blau-weiße Gebäude ging sie weiter in Richtung Zentrum. Hier betrat sie einen R-Kiosk, zog einen der beiden Briefe aus der Seitentasche und reichte ihn dem Verkäufer. Dieser warf einen prüfenden Blick auf die Briefmarke und schien sich zu fragen, warum sie die teure Expresszustellung für einen gewöhnlichen Brief gewählt hatte. Ohne etwas zu sagen, steckte er ihn dann in eine Kiste hinter sich.

Das Geräusch, als der Brief auf den nackten Boden klatschte, traf sie mit voller Wucht. Jetzt war der Plan unumkehrbar. Es gab kein Zurück mehr.

Sie rief sich ein Taxi. Die Fahrt bis zu der Siedlung mit kleinen, heruntergekommenen Einfamilienhäusern dauerte nur fünf Minuten. Sie bat den Fahrer zu warten und lief zu Fuß über die Straße zu ihrem Elternhaus. Die Dunkelheit schützte sie, auch wenn das nicht notwendig war. Sie wusste, dass ihre Mutter schon schlafen gegangen war.

Der linke in einer Reihe von vier Briefkästen gehörte ihrer Mutter. Sie zog den letzten der drei Briefe hervor, hob den schneebedeckten Deckel und ließ den Brief hineinfallen. Mit sanftem Pusten schickte sie einen Luftkuss Richtung Haus und ging zurück zum Auto.

Der Taxifahrer war einer von der schweigsamen Sorte, sodass sie auf der Fahrt nach Helsinki ihren eigenen Gedanken nachhängen konnte. Durch die Scheibe sah sie Gestalten, die resigniert durch die Straßen schlichen. Sie spielte mit dem Schmuck an ihrem Hals. Der Anhänger hieß Kuutar, Mondgöttin, und war von der Formensprache der Wikingerzeit inspiriert: die spiralförmigen Elemente im oberen Teil symbolisierten den Kreislauf des Lebens, und das fünfteilige, klingelnde Gehänge sollte böse Geister vertreiben. Die Kette war die letzte Erinnerung an bessere Zeiten, als die Geschenke ihrer Mutter für sie noch einen irdischen Wert besessen hatten. Vergangenheit und Zukunft schossen wie Atome durch ihren Kopf, doch indem sie mit den klöppelförmigen Metallplättchen an der Kette spielte, wehrte sie Gedanken, die ihre Aufgabe gefährdeten, ab.

Als das Taxi die Überführung an der Teollisuuskatu erreichte, sah sie die ersten Flammen. Im Dallapénpark links von ihnen hielt noch eine kleine Schar Demonstranten an Lagerfeuern die Stellung und trotzte dem eisigen Wind, der zu dieser späten Stunde die meisten schon in das Innere der Häuser getrieben hatte.

»Himmelarsch!«, fluchte der Fahrer und trat auf die Bremse. Die Spikes der Reifen fraßen sich im Schnee bis auf den Asphalt durch und brachten das Auto zum Stehen.

Sie drehte den Kopf und sah im Licht der Scheinwerfer einen Mann vor dem Auto torkeln. Er trug schmutzige, verschlissene Kleidung. Doch als er den Mund öffnete, um dem Fahrer eine Beleidigung zuzurufen, blitzten gesunde Zähne auf. Daran waren die schnell Abgestiegenen zu erkennen. Der Lebensstandard war in den Randbezirken von Helsinki plötzlich und heftig gesunken.

Der Mann schwankte unsicher ins Dunkel zurück, und das Taxi setzte seine Fahrt Richtung Töölö, dem attraktiven Stadtteil mit vielen Jugendstilbauten, fort.

»Wir müssen die Sporthalle umfahren. Die Kreuzung an der Oper ist durch die Barrikaden blockiert«, sagte der Fahrer und bog Richtung Olympiastadion ab. Als sie die breite Mannerheimintie überquerten, sah sie linker Hand gewaltige Barrikaden. Die Lagerfeuer der Demonstranten und ein gigantischer Flutlichtstrahler setzten die Straßensperren prächtig in Szene. Der Anblick verlieh ihr Kraft.

Sie bat den Taxifahrer, am nördlichen Rand des kleinen Platzes zu halten, auf dem vormittags der Wochenmarkt von Töölö stattfand, bezahlte mit einer Handy-App und wuchtete ihre schwere Tasche aus dem Auto.

Der Nordwind fuhr ihr unter die Kleidung. Sie lenkte ihre Schritte zum nahe gelegenen Topeliuspark. Ihre Beine fühlten sich ungewöhnlich schwer an, und das bereitete ihr Sorge. In Kürze würde sie all ihre Kraft brauchen.

Neben dem Park verlief eine Straße, an der sie das Haus fand, das sie suchte. Sie schaute auf die Uhr: 23.12 Uhr. Sie musste ihr Vorhaben unbedingt vor Mitternacht ausführen.

Im zweiten Stock brannte Licht. Er war wach. Perfekt.

Auf der anderen Straßenseite im Park stand die Linde, die sie sich vor ein paar Tagen ausgesucht hatte. Sie blickte die Straße links und rechts hinunter. Außer einem alten Mann, der vor der Stadtteilbibliothek mit seinem Hund die Straße überquerte, war niemand zu sehen.

Am Fuß der Linde stellte sie ihre Tasche ab und nahm die Kletterutensilien heraus.

Die Wurfleine flog gleich beim ersten Versuch über den Ast. Sie befestigte das Kletterseil an der Leine und zog es hoch. Dann legte sie den Hüftgurt an, nahm die Tasche auf den Rücken, zog das Seil straff und begann zu klettern. Die Schuhe rutschten erstaunlich wenig auf der glatten Rinde. Das Schlottern ihrer Knie hatte aufgehört. Auch der Sturm der Gedanken, der eben noch in ihr getobt hatte, war abgeebbt. Jetzt zählte nur noch der nächste Zug nach oben. Kurz darauf erklomm sie in vier Meter Höhe einen dicken Ast.

Von hier aus hatte sie eine ungehinderte Sicht in die Wohnung im zweiten Stock. Sie zuckte zusammen, als sie am unteren Fensterrand einen Hinterkopf ausmachte. Offensichtlich saß der Mann auf der Couch.

Die Straßenlaternen strahlten den Asphalt an. Im Lichtkegel nahm der turbulente Tanz der Schneekristalle an Fahrt auf. Sie hievte die Tasche vom Rücken und legte sie quer über den Ast. Dann holte sie einen der Kanister heraus und öffnete den Verschluss. Wie ein kleiner Bach rann das Benzin am Baum hinab, als sie es auskippte. Auf dem Boden am Fuß des Baums bildete sich eine kleine Pfütze.

Dann holte sie eine Rolle Draht hervor und band sich an dem Ast fest. Nach dreißig mühsamen Windungen versuchte sie, Beine und Hüfte zu bewegen. Sie rührten sich keinen Zentimeter. Der Draht musste sie ohnehin nur einen Augenblick halten. Dann wäre alles vorüber. Angst blubberte in ihr wie das Wasser einer defekten Fontäne, aber sie überließ sich ihr nicht. Sie zog den zweiten Kanister aus der Tasche und ließ den Verschluss zurückschnappen, stemmte ihn über den Kopf und goss.

Als ihr das Benzin über das Gesicht rann und ihre Kleidung benetzte, dachte sie an Mohamed Bouazizi – einen bescheidenen Mann, der mit seinem Mut die Welt verändert hatte. Jetzt bin ich an der Reihe, das Gleiche zu tun. Die Zeit ist reif. Es bedarf nur eines Funkens.

Es schepperte dumpf, als der Kanister auf den Boden traf. Sie zog ein Feuerzeug aus der Tasche und griff nach einer Papierfackel, die sie zuvor mit Benzin getränkt hatte. Der Zündknopf klackte, und sie erschrak, als die Flamme gierig nach der Papierfackel leckte. Sie ließ die Fackel fallen und beugte sich zur Seite, um zu sehen, wie das Feuer in die Pfütze am Fuß des Baumes übersprang. Hungrig kletterten die Flammen den Stamm hinauf. Sie spürte den Rauch in ihrer Lunge und wusste, ihr Plan war geglückt.

Zuerst erreichten die Flammen ihre Hose, danach ihre Jacke. Als das Feuer ihren Hals erreichte, begann sie zu schreien. Durch die flimmernde Luft konnte sie noch sehen, wie sich das ihr bekannte Gesicht Richtung Fenster drehte. Dann zwangen Hitze und Schmerz sie, ihre Augen für immer zu schließen.

TEIL I

ACHT STUNDEN SPÄTER

1

Finnlands Ministerpräsident Leo Koski schreckte aus dem Schlaf hoch. Er versuchte, sich an seinen Traum zu erinnern, aber er war ihm schon entglitten.

Seit einem halben Jahr schon konnte er sich an seine Träume nicht mehr erinnern. Sobald er aufwachte, nahm die Wirklichkeit von ihm Besitz, so auch jetzt.

Alles war real. Dieses Appartement im Obergeschoss des Amtssitzes des Ministerpräsidenten war jetzt tatsächlich sein Zuhause. Das Chaos, das ihn draußen erwartete und von Tag zu Tag schlimmer wurde, war ebenfalls real. Der Sturm aus Anschuldigungen würde auch an diesem Morgen genau in der Sekunde über ihn hereinbrechen, in der er aus der Tür seiner Amtsvilla Kesäranta trat.

Auch der gestrige Abend hatte wirklich so stattgefunden.

Er konnte den Atem der Frau im Bett neben sich hören.

Ich habe es wirklich getan.

Er versuchte, Feuchtigkeit aus den Speicheldrüsen herauszupressen, um den Nachgeschmack der Party vom Vorabend hinunterzuschlucken. Durch die Dunkelheit starrte er an die weiß gestrichene Zimmerdecke. Die Privatwohnung des Ministerpräsidenten befand sich im zweiten Stock der am Meer gelegenen Jugendstilvilla Kesäranta, »Sommerstrand«. Die Decke des Schlafzimmers zeichnete die Form des Satteldaches des Gebäudes nach. Die schrägen Wände verstärkten den ohnehin beengten Eindruck.

Leo Koski hatte im Laufe seiner kurzen Amtszeit schon eine Reihe von Staatsmännern in den Repräsentationsräumen seines Amtssitzes empfangen. Hätte er sie jedoch eine Etage höher in seine Privaträume gebeten, hätten sie über deren Schlichtheit nur gelacht.

Erleichtert stellte er fest, dass sich das Zimmer nicht um ihn drehte. Er hatte maßvoll getrunken. Dass er die neben ihm liegende Frau in seine Amtswohnung gebracht hatte, war sicherlich unklug gewesen, aber zumindest musste er sich dem Problem nicht verkatert stellen.

Ein Tag nach dem anderen. Möglicherweise überstand er auch diesen Tag, so wie er bereits die vergangenen 188 Tage seiner Amtszeit als Ministerpräsident überstanden hatte.

Während des letzten halben Jahres waren in seinem Leben eine Reihe klassischer Albträume wahr geworden: Er war öffentlich gedemütigt worden, aufgrund eines Missverständnisses an einen falschen Ort geraten, und man hatte sein Leben bedroht.

Als Junge hatte er nach dem Tod seines Vaters immer wieder Albträume gehabt. Noch heute konnte er sich an das Gefühl der Erleichterung danach erinnern. Nie ist ein Mensch so glücklich wie in dem Moment, in dem er aus einem Albtraum erwacht und erkennt, dass er sicher im eigenen Bett liegt.

Nach diesem Gefühl sehnte er sich.

Ruhig lauschte er den Atemzügen neben ihm, bis er sich sicher sein konnte, dass sie gleichmäßig waren. Dann erhob er sich behutsam und betrachtete die Frau in seinem Bett. Die Decke war verrutscht und gab ihre Brüste frei. Hunderttausende finnische Männer träumten davon, sie nackt zu sehen.

Keiner von ihnen wäre enttäuscht.

Diese Frau wusste um ihre Wirkung. Im Fernsehen trat sie in knallengen Shirts und körperbetonten Jackenkleidern auf. Die Üppigkeit ihrer Brüste wurde durch den flachen Bauch betont, über dem jetzt das weiße Laken lag.

Leo schlich sich um das Fußende des Bettes herum ins Badezimmer. Hier war die Decke noch niedriger als im Schlafzimmer, und die Dachschräge berührte fast seinen Rücken, als er sich unter den Wasserhahn beugte, um zu trinken. Der anstrengende Herbst hatte auch physisch seinen Tribut gefordert.

Zum Glück war der Anblick im Spiegel erträglich. Sein jungenhaftes Gesicht war kaum gerötet. Der zu seinem Markenzeichen avancierte saloppe Scheitel war heute noch ungezähmt, aber er würde ihn unter der Dusche bändigen. Die roten Äderchen würden spätestens bis zur Beerdigung verschwunden sein.

Er warf einen Blick ins Schlafzimmer. Sie schien noch immer fest zu schlafen. Vorsichtig schloss er die Tür wieder, griff nach der Zahnbürste und gab ordentlich Zahnpasta darauf. Mit gleichmäßigen, energischen Bewegungen putzte er sich die Zähne und dachte dabei an den gestrigen Abend zurück.

Der Ministerpräsident organisierte jedes Jahr eine Weihnachtsfeier für die Politikredaktionen. Traditionell fand diese im Amtssitz des MP statt, doch das war dieses Jahr nicht infrage gekommen. Die Feierstimmung wäre sofort hinüber gewesen, hätten die Journalistinnen und Journalisten auf dem Weg hinein erst die Menge der protestierenden Demonstranten passieren müssen. Also waren die Gäste in die Festräume der Regierung im sogenannten Smolna an der Süd-Esplanade geladen worden.

Wie üblich hatte Leo am Eingang jeden Gast per Handschlag begrüßt. Auch sein Grußwort verlief reibungslos. Natürlich konnte er nicht in gleichem Umfang Witze reißen wie sonst. Am Anfang seiner Rede streifte er kurz die Lage in Finnland und kam danach zu persönlichen Weihnachtserinnerungen. Die Botschaft seiner Rede war einfach: In schweren Zeiten kommt es darauf an, den Ärger zu vergessen und innezuhalten, um nachzudenken, was wirklich zählt.

Der anschließende Applaus war mittelkräftig – angesichts der Gesamtsituation eine Glanzleistung.

Nach seiner Rede begab sich Leo unter die Journalisten und unterhielt sich mit ihnen. Diese Phase bei öffentlichen Veranstaltungen war immer wieder aufs Neue verwirrend. Die gleichen Journalisten, die ihn in ihren Texten und Nachrichtensendungen verrissen, benahmen sich hier sanft und gesittet.

Leo stand mit einem Rauchlachs-Tartelette bei einer Gruppe aus drei aufgeblasenen Journalisten, als er quer durch den Raum einen intensiven Blick auf sich spürte. Die Fernsehjournalistin Vilma Varis starrte ihn auf eine Weise an, die fern jeder Professionalität war, und das nicht zum ersten Mal. Bereits bei einem Interview vor drei Monaten hatte sie offen ihr Interesse gezeigt und danach hin und wieder mit ihm geflirtet.

An den Köpfen seiner Gesprächspartner vorbei warf er einen verstohlenen Blick auf die Frau. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Einschaltquoten ihrer Sendungen besonders beim männlichen Teil der Bevölkerung exorbitant hoch waren. Ihre kohlschwarzen Haare strotzten vor Kraft und Sexappeal. Dunkelblauer Lidschatten und eine leicht gekrümmte Nase betonten ihre aufreizende Erscheinung. In gewisser Weise erinnert sie an eine Hexe, befand Leo. Varis, die Krähe. Ein passender Name für die schärfste Journalistin der Welt.

Leo ließ die Männer stehen und ging auf sie zu.

»Dieser Ort hat etwas Trostloses«, sagte sie, als er vor ihr stand. »Kesäranta ist viel gemütlicher.«

»Da bin ich der gleichen Meinung«, sagte Leo und schaute sich um. Er hatte sich wie auch seine Vorgänger dagegen gewehrt, das Smolna-Gebäude anstelle der Strandvilla Kesäranta zur Amtswohnung des Ministerpräsidenten umzubauen.

»Sollten wir das dann nicht schleunigst korrigieren?«, fragte sie.

»Wie …?«, fragte er vorsichtig.

Vilma sah ihn an wie eine Lehrerin, die von ihrem Schüler eine klügere Antwort erwartet hätte. Vilma Varis war 45 Jahre alt, zehn Jahre älter als Leo. Vielleicht wagte sie es deshalb, ihn, den Ministerpräsidenten, so unverblümt herauszufordern.

»Wir könnten den Abend in der Villa Kesäranta fortsetzen, sobald du diese Langweiler hinauskomplimentiert hast«, sagte sie.

»Na klar«, sagte Leo mit einem kurzen Lachen. »Als ob ich dort einfach so einen geheimen Gast einschleusen könnte. Du weißt genau, was dort vor der Pforte los ist.«

Sie hatte ihren Kopf gehoben und ganz nah an seinem Ohr geflüstert: »Du bist der Ministerpräsident. Dir fällt bestimmt etwas ein.«

Ein Geräusch aus dem Schlafzimmer brachte ihn in die Gegenwart zurück. Vilma Varis war aufgewacht. Mist.

Er spuckte die Zahnpasta ins Waschbecken und schaute sein Spiegelbild an, als fragte er sich selbst um Rat. Leos Vorgängerin hatte ihr Amt nur sechs Monate zuvor niederlegen müssen. Es wäre fatal, wenn Leo sich jetzt in einen selbstverursachten Skandal verstrickte. Vilma Varis war die bekannteste Fernsehjournalistin des Landes und dazu verheiratet. Die Presse würden sich wochenlang das Maul zerreißen, käme sein nächtliches Abenteuer ans Licht.

Leos bisherige Amtszeit ließ sich mit einem Wort beschreiben: grauenhaft. Im schlimmsten Fall könnte ihn ein Skandal vom Kaliber Vilma Varis unwiederbringlich jegliches Vertrauen kosten.

Ihm war glasklar, dass er unmöglich einen Fahrer oder Sicherheitsbeamten der Regierung bitten konnte, Vilma Varis aus der Villa zu schleusen.

Es gab nur eine Möglichkeit.

Er musste den gleichen Menschen um Hilfe bitten, der Vilma Varis in der Nacht heimlich in die Amtswohnung kutschiert hatte. Jenen Menschen, zu dem er besser keinen Kontakt haben sollte.

2

Das Taxi fuhr vor dem Terminal 2 am Flughafen Helsinki-Vantaa in die Haltespur und bremste.

Lewis Higgins, Dozent an der Universität Edinburgh, hielt dem Fahrer von der Rückbank aus die Kreditkarte hin, noch ehe die Reifen stillstanden.

Come on, hurry up …

Der Fahrer schob den Schalthebel in Parkstellung und reichte Higgins das Kartenlesegerät. Das Gerät forderte die Eingabe des PIN-Codes, und er tippte ihn so schnell, wie seine zitternden Finger es zuließen.

Er war am Taxistand in den ersten freien Wagen gesprungen, obwohl er zu einem großen Taxiunternehmen gehörte, das seine Fahrer mit Dumpinglöhnen sklavisch ausbeutete. Higgins wollte einfach nur schnell weg. Weg aus Finnland.

Er schnappte sich seine Computertasche, stürzte aus dem Taxi und wäre fast über eine der Jungbärenskulpturen gestolpert, die vor dem Terminal wachten. Der Taxifahrer schaute ihm kurz nach und fuhr dann davon.

Außer dem Computer hatte Higgins kein Gepäck bei sich. Alles war im Hotel geblieben.

Vor dem Terminal schaute er sich kurz um. In der Nacht hatte sich endlich eine weiße Schneedecke gebildet, wie er sie bei jeder seiner Reisen in das herbstliche Finnland herbeigesehnt hatte. Doch jetzt hatte er keine Zeit, sich daran zu erfreuen. Er stürmte durch die Automatiktür.

Beim Gehen beäugte er die Passanten und Flughafenmitarbeiter im Eingangsbereich. Hat dieser Mann mich angeschaut? Ein einzeln stehender Mann auf dem Gehweg trug einen legeren Trainingsanzug, aber seine Haltung war unnatürlich gerade und sein Blick wachsam. Higgins hatte das Gefühl, als ob dieser Mann ihn beobachtete, aber sicher war er sich nicht.

Hinter der Automatiktür erstreckte sich die geräumige Abfertigungshalle vom Terminal 2, in der an diesem Samstagmorgen ungewöhnlich reger Betrieb herrschte. Viele Reisende starteten bereits diese Woche in ihre Weihnachtsferien.

Higgins suchte auf der riesigen Anzeigetafel nach der Maschine Richtung Edinburgh. Es sah so aus, als würde der Flug planmäßig starten. Sein Ticket hatte er sich gerade im Taxi gekauft. Zu einem unverschämt hohen Preis. Dennoch hatte er keine Sekunde gezögert, den Kauf mit seinem Fingerabdruck zu bestätigen.

Auf dem Weg zur Sicherheitskontrolle warf er einen Blick über die Schulter. Der Mann vom Eingang war nirgends zu sehen. Higgins eilte zum Ende der Schlange, überholte mit zwei schnellen Schritten eine Familie, die der Kleidung nach in den Süden unterwegs war.

Der Familienvater warf ihm einen missbilligenden Blick zu, machte aber kein Trara wegen des Vordrängelns. Higgins meinte mal gehört zu haben, die Finnen seien Weltmeister im Schlangestehen. Zumindest waren sie still und höflich.

Auch diese Leute werden sich die Augen reiben, wenn sie am Swimmingpool auf ihren Handys in den Nachrichten lesen, was in ihrem Heimatland vor sich geht.

Higgins lauerte wie ein Falke darauf, dass es vorwärtsging. Schaffte er es durch die Sicherheitskontrolle, wäre alles in Ordnung. Doch auch jetzt war er bereits von Menschen umgeben. Eigentlich konnte ihm doch nichts mehr passieren.

Er nahm den Computer aus der Tasche und legte ihn zusammen mit seiner runden, randlosen Brille zum Durchleuchten in einen der Körbe. Er selbst trat durch den Metalldetektor.

»Haben Sie weiteres Gepäck? Any luggage?«, fragte der Sicherheitsbeamte.

»Nur den Computer«, antwortete Higgins auf Englisch.

»Wie bitte?«, fragte der Beamte.

Higgins seufzte. Er hatte schnell begriffen, dass man in Finnland seinen schottischen Akzent nicht verstand, und sich darum angewöhnt, seine Worte zum besseren Verständnis in die Länge zu ziehen.

»Einen Computer. Nichts weiter«, formulierte er überdeutlich.

Der Beamte begutachtete ihn misstrauisch, und Higgins konnte es ihm nicht einmal übelnehmen. Ein nervös auftretender Nuschler ohne Gepäck hätte auch seinen Argwohn geweckt.

Ein zweiter Beamter trat hinzu und bat ihn mitzukommen:

»Zufallskontrolle.«

Nein! Higgins fühlte, wie sich seine Atemwege verengten. Am liebsten hätte er geschrien und wäre an den Sicherheitsbeamten vorbei zum Flugsteig gerannt.

Nur mit Mühe zwang er sich, dem Beamten in einen kleinen Raum zu folgen.

»Ich muss meinen Flug kriegen«, sagte er.

»Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«

»Mein Flug! In dreißig Minuten! Wichtig!«, sagte Higgins silbenweise und klopfte sich zur Verdeutlichung seiner Eile auf das Handgelenk.

Der Beamte nickte, schloss die Tür und zog den Sprengstoffdetektor heran. Er wischte über Higgins’ Hände und die Tasche. Dann setzte er sich.

»Kann ich jetzt gehen?«

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Wir warten noch auf den Hund.«

Higgins sackte auf den Stuhl und übte sich in Geduld.

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und herein kam ein hyperaktiv agierender Hund. Higgins erstarrte, als der Hund mit schnellen Bewegungen seinen Stuhl umkreiste, obwohl er wusste, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Er war in seinem ganzen Leben noch nie mit Drogen in Berührung gekommen, geschweige denn mit Sprengstoff.

Nachdem ihn der Hund eine Weile beschnüffelt hatte, sagte der Hundeführer etwas mit monotoner Stimme auf Finnisch. Der Sicherheitsbeamte schlurfte zur Tür und öffnete sie. Er bedeutete Higgins mit der Hand, dass er gehen konnte.

Higgins sprang auf und sah auf die Uhr: 7.46 Uhr. Er konnte seinen Flug noch schaffen.

Er schnappte sich seine Computertasche vom Tisch, trat durch die Tür und stand mitten in der Kosmetikabteilung des Duty-Free-Shops, die alle durchqueren mussten, wenn sie die Sicherheitskontrolle passiert hatten. Dahinter war der unregelmäßige Strom zu den Gates zu sehen, in den er sich stürzen wollte. Dann noch die Passkontrolle am Gate, und er hatte es geschafft.

Da vernahm er neben sich eine Stimme.

»Verzeihung, darf ich kurz stören?«

Higgins sah neben sich eine Frau und fühlte, wie die Welt um ihn herum zusammenstürzte. Nicht jetzt noch. Sie trug eine Uniform und sorgfältig geschnittene, hinter die Ohren gekämmte kurze Haare – offensichtlich jemand von der Sicherheitsabteilung.

Sie hob die Hand. Higgins sah, dass sie etwas in der Hand hielt. Eine Mund-Nasen-Maske.

»Benötigen Sie eventuell noch eine?«, fragte sie.

»Entschuldigung. Ich habe meine in der Eile im Hotel vergessen.«

»Kein Problem. Wir wissen, dass es sich im Moment vielleicht überflüssig anfühlt. Aber Vorschrift ist Vorschrift.«

Sie reichte ihm eine blau-weiße Gesichtsmaske, die nicht verpackt war. »Sie ist aus Stoff, aber frisch desinfiziert.«

Lewis Higgins griff nach der Maske, setzte sie auf und bedankte sich. Die Frau winkte zum Abschied und wandte sich um.

Higgins schlängelte sich an den Regalen der Kosmetikabteilung vorbei. Dank der Maske traf ihn der Parfümdunst nicht so stark. Das Einzige, was er roch, waren die Stofffasern, das Desinfektionsmittel und das Adrenalin in seinem Schweiß, der ihm vor lauter Stress unter der Maske über die Oberlippe lief. Durch die hohe Glasfront sah er die Flugzeuge, die vor den Gates auf Passagiere warteten. Er merkte, wie er sich unwillkürlich bekreuzigte, obwohl er die Geste, die ihn seine katholische Mutter gelehrt hatte, seit Jahren nicht ausgeführt hatte.

Sein Gang wurde mit jedem Schritt leichter, je näher er der Maschine nach Edinburgh kam. Ich verlasse Schottland nie wieder.

Er setzte seine Brille ab und zog die Maske unters Kinn, als er die Gesichtserkennung der elektronischen Passkontrolle erreichte. Die Pforte öffnete sich. Im Flugzeug versuchte er ruhig zu bleiben, als die Leute vor ihm den Gang versperrten, um irgendwelche Dinge hervorzukramen, die sie während des Fluges unbedingt brauchten, aber trotzdem im tiefsten Winkel ihrer Taschen verstaut hatten. Endlich konnte er sich auf seinen Fensterplatz zwängen.

Sein Frühstück war jäh unterbrochen worden. Er schob seine Computertasche unter den Sitz und entnahm ihr vorher noch einen alten Schokoriegel. Die Finnen waren auf diese Schokolade ungemein stolz, Higgins allerdings fand den Geschmack nicht bemerkenswert. Die Schokolade enthielt zu viel Zucker und schmeckte gleichzeitig nach Salz. Das hinterließ einen eigentümlichen Nachgeschmack auf der Zunge. Er steckte sich das erste Stück von insgesamt fünf in den Mund.

Als das Flugzeug über die Startbahn rollte, ging Higgins die Erlebnisse der letzten Zeit in Gedanken durch. Die vergangenen sechs Monate kamen ihm vor wie eine Ewigkeit. So viel Elan. So viel Hoffnung. Und dann ist der Betrug aufgeflogen.

Durch einen unglücklichen Zufall hatte er letzte Nacht eine neue Seite an seinen finnischen Gastgebern entdecken müssen. Die Enthüllung ließ seine ganze bisherige Arbeit in einem neuen Licht erscheinen. An diesem Wochenende würde Finnland zum Versuchslabor eines historischen Experiments werden. Nur mit einer Versuchsanordnung, die Higgins nie erwartet hätte.

Er wusste, dass er eine Teilschuld trug an dem, was kommen würde. Mit etwas Derartigem hatte er sein Gewissen nie belasten wollen. Hätte er erst einmal sich selbst in Sicherheit gebracht, würde er versuchen, die Katastrophe noch abzuwenden. Das würde nicht leicht werden, denn die Pläne waren weit vorangeschritten.

Das Flugfeld war komplett weiß mit Ausnahme der geräumten Startbahn. In vielen anderen Ländern hätte der Schneefall von letzter Nacht den Flugverkehr zum Erliegen gebracht, nicht so in Finnland. In diesem Land hatte es so viel Gutes gegeben vor dem Großen Knall.

Als das Flugzeug beschleunigte, lehnte sich Higgins zurück. Er steckte sich ein weiteres Stück Schokolade in den Mund und zog die Maske wieder vors Gesicht. Sein Atem ging immer noch heftig, sodass sich der Stoff vor seinen Lippen jedes Mal, wenn er Luft holte, zusammenzog.

Das Flugzeug hob ab. Starke Turbulenzen erfassten die Tragflächen, doch diesmal versetzte ihn das nicht wie sonst in Panik. Durch das kleine Fenster sah er auf das schneebedeckte Finnland hinab, das aus der Luft betrachtet ganz friedlich aussah. Der vor Kurzem aufgeflogene Betrug kam ihm vor wie ein ferner Traum.

Vielleicht war es übertrieben, auf so dramatische Art und Weise zu fliehen. Das Projekt zu stoppen war die einzig richtige Entscheidung gewesen, aber war er selbst wirklich in Lebensgefahr? Vielleicht hatte er die Situation falsch interpretiert. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Hier war er jedenfalls in Sicherheit.

Lewis Higgins lauschte dem Brummen der Motoren und gestattete sich ein breites, erleichtertes Lächeln unter der Maske.

3

Ich habe keine andere Wahl, als Kinga anzurufen. Schon wieder.

Leo Koski fiel keine andere Lösung ein. Vilma Varis musste unbemerkt aus der Villa Kesäranta geschleust werden, und der einzige Mensch, den er in dieser Angelegenheit um Hilfe bitten konnte, war Samuel Kinga. Er war es auch, der Vilma am Vorabend hierherbefördert hatte.

Im Spiegel sah er, wie sich ein Grinsen in seinem Gesicht breitmachte. Trotz der kniffligen Situation mochte er sich keinen Vorwurf machen. Seit mehr als neun Monaten hatte er sich von den Frauen ferngehalten. Anders als in den Jahren nach seiner Scheidung, als er die Enttäuschung in ständig neuen Beziehungen zu ertränken versucht hatte. Damals waren er und Samuel Kinga, Immobilienmakler und sein Freund, unzertrennlich gewesen und gemeinsam durch die Helsinkier Nächte gestreift. Fast so wie letzte Nacht.

Leo schämte sich dafür, dass er Kinga in den letzten Jahren absichtlich auf Abstand gehalten hatte. Genau zu dem Zeitpunkt, als Leos Karriere durchstartete, war Kinga wegen eines geringfügigen Wirtschaftsvergehens verurteilt worden. Vermischung von Privat- und Betriebsvermögen – die bekannte Geschichte.

Dabei hatte Leo nie mit klaren Worten um Abstand gebeten, doch Kinga hatte seine subtilen Hinweise verstanden.

Ich kenne mich selbst nicht mehr, dachte er. Welcher Mann hielt seinen besten Freund erst auf Distanz und weckte ihn dann mitten in der Nacht, um ihn um Hilfe zu bitten?

Glücklicherweise hatte Kinga auf seinen nächtlichen Anruf in der für ihn typischen Art reagiert. Sein wieherndes Lachen hallte lange aus dem Hörer, als Leo ihn vorsichtig fragte, ob er kurz aufstehen und jemanden am Smolna abholen könnte. Zwanzig Minuten später war Kinga mit seinem giftgrünen, mit dem Werbebanner seiner Immobilienfirma geschmückten Wagen am Hintereingang an der Fabianinkatu eingetroffen und hatte Vilma Varis eingeladen. Zu diesem Zeitpunkt saß Leo schon in seinem Dienstwagen und war ebenfalls unterwegs zur Villa Kesäranta.

An der Villa war Kinga in James-Bond-Manier mit abgeschaltetem Licht auf den Hof gefahren und hatte sich an einer der Lichtsäulen, die den Kiesweg flankierten, eine Schramme geholt. Leo ermahnte sich, daran zu denken, die Reparaturkosten zu begleichen.

Leo merkte, dass er sein Handy auf dem Nachttisch vergessen hatte. Glücklicherweise konnte man mit dem Haustelefon im Bad auch nach draußen telefonieren. Er griff nach dem Hörer, ließ den Wasserhahn rauschen und wählte Kingas Nummer aus dem Gedächtnis. Nach dem ersten Klingeln antwortete Kinga mit verschlafener Stimme: »Hallo …«

»Hier ist Leo.«

Als Kinga Leos Stimme hörte, war er schlagartig hellwach. Kingas schepperndes Lachen dröhnte in Leos Ohr: »Und, waren sie aus Silikon?«

Leo stöhnte. »Ja. Aber ich habe …« Bevor er zur Sache kommen konnte, unterbrach ihn Kinga.

»Irre. Hast dein Klosterleben also mit einem Paukenschlag verabschiedet. Vilma Varis! Sag nicht, dass sie immer noch da ist.«

»Deswegen rufe ich an«, erwiderte Leo. Er drehte den Wasserhahn stärker auf und senkte die Stimme.

»Könntest du Vilma eventuell von hier abholen und nach Hause fahren?«

Sein Schweigen verhieß nichts Gutes.

»Keine Chance. Ich habe eine Wohnungsbesichtigung um neun in Kivenlahti, weit hinter Espoo«, lautete die Antwort.

Leo sackte zusammen. Außer Kinga fiel ihm niemand ein, dem er in dieser Angelegenheit vertrauen konnte.

Eine erneute Lachsalve aus dem Telefon beendete Leos Pein.

»Na klar komme ich. Ist sicher dringend«, wieherte er.

Leo holte tief Luft. Er hatte immer noch nicht gelernt, dass Kinga jede Gelegenheit nutzte, um sich auf seine Kosten zu amüsieren.

»Fahr nicht wieder gegen die Lichtsäule. Am Tor das gleiche Codewort wie gestern Nacht«, sagte Leo.

»No worries! In zehn Minuten bin ich da.«

Leo legte auf, drehte den Wasserhahn zu und öffnete die Badezimmertür. Als er über die Schwelle trat, blickte er ungläubig in Richtung Bett: Vilma Varis saß splitternackt auf dem Bett und tippte auf ihrem Handy.

»Zeit für mich zu gehen«, sagte sie.

»Das ist sicher das Beste.«

Als er Vilma jetzt betrachtete, gratulierte er sich zur Wahl seines Gastes. Natürlich waren ihre Reize ein Plus, aber wichtiger war die Gewissheit, dass sie über ihren nächtlichen Besuch nicht plaudern würde. Würde ihr Techtelmechtel publik, steckte sie ebenso tief im Schlamassel wie er. Für eine Spitzenjournalistin schickte es sich nicht, mit Politikern ins Bett zu gehen. Käme die Sache ans Licht, müsste sie ihren lukrativen Sendeplatz zumindest für die Dauer seiner Amtsperiode räumen und einen deutlichen Knick in ihrer Karriere hinnehmen.

Vilma war fertig mit ihrer Nachricht, ließ das Handy in ihre Tasche gleiten und erhob sich, immer noch vollkommen nackt.

Mein Gott, was für ein Körper.

»Kann ich mir vielleicht doch erst noch einen Kaffee holen?«, fragte sie mit einem Grinsen und zeigte nach unten, wo Leos Haushälterin sicher schon emsig herumwirbelte.

»Sicher. Brat uns gleich auch noch ein Ei«, erwiderte Leo und grinste zurück. Er gab sich Mühe, ihren Körper nicht anzustarren, obwohl sie wahrscheinlich genau das wollte.

»Ich kann Marja auch bitten, uns das Frühstück ans Bett zu bringen«, fuhr er fort.

»Für mich bitte Erdbeeren und Champagner«, spöttelte sie und ließ sich zurück aufs Bett fallen. Keine Regung deutete darauf hin, dass sie vorhatte, sich etwas anzuziehen. Sie hat doch nicht allen Ernstes vor zu bleiben?

»Ehrlich gesagt, habe ich schon meinen Hofmeister gebeten, dich nach Hause zu fahren«, sagte Leo jetzt.

»Ah, meinst du diesen dunkelhäutigen Immobilienmakler, der gestern unter anzüglichen Bemerkungen in der Mechelininkatu beinahe ein Taxi gerammt und hier eine deiner Lichtsäulen mitgenommen hat?«

»Kinga ist durch und durch Gentleman und ein hervorragender Fahrer«, sagte Leo im vollsten Bewusstsein, dass keins von beidem zutraf. »Falls ihm ein Fahrfehler unterlaufen ist, dann sicher nur, weil er von der unbeschreiblichen Schönheit deines Gesichts bezaubert war.«

»Mein Gesicht hat er nicht angestarrt.«

Sie zog ihren Slip unter der Decke hervor und streifte ihn über.

Erst als Leos Handy auf dem Nachttisch piepte, schaffte er es, den Blick abzuwenden. Sein politischer Ziehvater Pontus Ebeling hatte zwei Nachrichten geschickt.

Die erste war seltsam. Es ging um irgendeinen Ärger, den Harri Holsti, der wichtigste Geldgeber der Konservativen, mit irgendeiner Irren hatte.

Leo vergaß die Nachricht schnell, denn die zweite Nachricht interessierte ihn viel mehr. Der Text auf dem Display war kurz und klar – was er bedeutete, eine Katastrophe:

Bin in fünf Minuten da.

»Vielleicht könntest du dich etwas schneller anziehen, sonst haben wir gleich ein Riesenproblem«, sagte er zu Vilma.

4

Das Schrillen der Nachbarklingel auf seiner Etage drang durch die Wohnungstür und erschreckte ihn bis ins Mark. Harri Holsti stand im Flur seiner Wohnung und versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen.

Vorsichtig drückte er sein Ohr gegen die Tür. Er hörte, wie der Nachbar die Tür öffnete und zwei Polizisten sich vorstellten. Als Nächstes wäre seine Tür an der Reihe. Er hatte die Polizei schon die ganze Nacht erwartet und fühlte sich doch nicht bereit.

Verdammte Putznutte.

Auf Zehenspitzen schlich er zu dem Spiegel in seinem geräumigen Korridor. Der Spiegel war so schmal, dass er nur den mittleren Streifen seines gewaltigen Körpers wiedergab. Harri Holsti war etwa mittelgroß und wog über einhundertvierzig Kilo. Er sah beleibter aus, als er ohnehin schon war, weil Wangen und Hals besonders füllig waren. Sein Doppelkinn dominierte sein Gesicht so sehr, dass er durch einen sorgfältig gestutzten Bart versuchte, die Aufmerksamkeit auf die Umgebung seines kleinen Mundes zu lenken.

Letzte Nacht hatte er kein Auge zugetan. Er war die ganze Nacht im Wohnzimmer auf und ab marschiert und hatte die Arbeit der Feuerwehrleute und Polizisten unter seinem Fenster verstohlen durch die Vorhänge verfolgt.

Die Polizisten, die gleich an seiner Tür klingeln würden, durften nichts von seiner Übermüdung mitbekommen. Sie sollten glauben, sie stünden einem Mann gegenüber, der nach einem tiefen, langen Nachtschlaf gerade erst aufgestanden war.

Er zerstrubbelte das spärliche Haar, das infolge des Stresses schweißnass an der Kopfhaut klebte.

Es war fast halb zwölf, als Harri Holsti gestern in seinem Wohnzimmer auf die tanzenden Lichter an seiner Wand aufmerksam geworden war. Er hatte aus dem Fenster geschaut und den in Flammen stehenden Baum gegenüber im Park gesehen. Genau in diesem Augenblick drang ein entsetzlicher Schrei durch die Fensterscheibe, und er entdeckte die Frau im Baum. Die Szenerie wurde hell erleuchtet vom Licht der Straßenlaternen und der Flammen. Er hatte die schreiende Person sofort erkannt.

So ein hübsches Gesicht. Kranke Irre!

Die Schreie erloschen schnell, die Flammen nicht. Etwa ein halbes Dutzend verschieden großer Feuerwehrautos fanden sich ein. Einige Feuerwehrmänner eilten los, um den brennenden Baum zu löschen, andere riegelten das Gelände weiträumig ab.

Zehn Minuten vergingen, bevor Holsti seine Gedanken ordnen konnte. Er fluchte, schwitzte und überlegte fieberhaft, was ihn retten könnte. Er musste Halt an der Küchentheke suchen, um nicht umzukippen. Dann begriff er – Gott sei Dank –, dass er Hilfe benötigte. Weitere zehn Minuten lang sammelte er Mut, dann griff er zum Telefon. Eine andere Möglichkeit sah er nicht, und so suchte er in seinen Kontakten nach der Nummer, die er unter dem Namen »Peregrino« abgespeichert hatte.

Sein geheimnisvoller Retter hatte ihm damals, vor einem Monat, nur diesen Namen genannt. Holsti hatte im Wörterbuch nachgeschaut und festgestellt, dass es ein spanisches Wort war und Wallfahrer bedeutete.

Peregrino drückte ihn weg, rief aber zwei lange Minuten später zurück. Er hörte sich Holstis Ausführungen über die nächtlichen Ereignisse schweigend an und gab ihm dann Verhaltensanweisungen wie einem Kleinkind: Bleib zu Hause. Sprich mit niemandem.

Peregrino versprach nichts. Das war nicht nötig. Er hatte früher schon bewiesen, dass er vertrackte Situationen klären konnte.

Nach dem Telefonat beobachtete Holsti weiter das Schauspiel im Park. Der Feuerwehrfotograf stand auf einer Drehleiter und machte mit Blitzlicht Bilder von der verkohlten Leiche. Danach ließen sich zwei Feuerwehrmänner und ein Polizist im Korb hochfahren, um die Tote zu begutachten. Es dauerte unerträglich lange, die Leiche vom Baum zu lösen. Einer der Feuerwehrmänner drehte sich plötzlich um und übergab sich. Der scharfe Wind verteilte das Erbrochene über eine weite Fläche.

An dieser Stelle beschloss Holsti, dass er genug gesehen hatte. Die Aufmerksamkeit der Rettungskräfte auf sich zu ziehen war das Letzte, was er jetzt brauchte. Es wäre ein Risiko, auf die Liste der Augenzeugen gesetzt zu werden.

Vielleicht würde ja alles wieder in Ordnung kommen und ihm auch diesmal aus der Klemme geholfen werden. Seine einzige Aufgabe war, die Fragen der Polizisten zu beantworten. Den Rest würde Peregrino erledigen.

Harri Holsti schüttelte die Gedanken ab und kehrte ins Jetzt zurück. Er stellte sich wieder hinter die Wohnungstür und belauschte das Gespräch der Polizisten mit seinen Nachbarn.

Haben Sie Fotos gemacht? … Sehr gut. Falls Sie mitbekommen, dass jemand aus dem Haus fotografiert hat, fordern Sie ihn bitte auf, die Bilder zu löschen … Selbstmorde sind heikel … Wir möchten Sie auch bitten, über die Ereignisse nicht mit der Presse zu sprechen.

Aus den Fragen der Polizei schlussfolgerte Holsti, dass der größte Teil der Nachbarschaft nichts gesehen hatte. Und er hörte auch, dass die Polizei um Diskretion bat.

Nervös schlich Holsti ins Wohnzimmer und sah hinter dem Vorhang hervor nach draußen. Es fing gerade erst an zu dämmern, aber die Arbeit von Polizei und Feuerwehr war so gut wie getan. Die verbliebenen Feuerwehrleute schienen zu überlegen, was mit dem verbrannten Baum geschehen sollte.

Das Klingeln an seiner Tür dröhnte schmerzhaft in seinen Ohren.

Er wartete zwei Sekunden und ging dann zur Tür. Auf dem Weg rief er sich noch einmal Pelegrinos Rat in den Sinn: Sag möglichst wenig. Tu nichts, was die Aufmerksamkeit der Polizisten erregen könnte.

Holsti öffnete das Sicherheitsschloss und drückte die Klinke nach unten. Zwei Polizisten, ein Mann und eine Frau, standen im Hausflur. »Polizei, guten Morgen«, sagte die Polizistin. Ihr Kollege begnügte sich mit einem Nicken.

»Morgen«, antwortete Holsti. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Warum musste er auch immer so viel schwitzen!

»Haben Sie letzte Nacht zufällig aus dem Fenster geschaut und etwas bemerkt?«

Holsti schüttelte den Kopf und versuchte, verschlafen auszusehen, obwohl ihm fast das Herz in der Brust zersprang.

»Vor Ihrem Fenster gab es vergangene Nacht einen Brand.«

»Wie bitte? Besteht Gefahr für unser Haus? Warum hat mich keiner geweckt?«

»Der Brand ereignete sich auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber von ihrer Wohnung. Die meisten Hausbewohner haben die Flammen bemerkt oder sind spätestens von den Sirenen der Einsatzfahrzeuge geweckt worden.«

»Ich nicht.«

Die Polizisten starrten ihn an. »Sie haben wirklich nichts bemerkt?«

»Mein Schlafzimmer liegt zum Innenhof raus, und ich habe einen festen Schlaf«, erklärte Holsti.

Die beiden Polizisten wechselten einen Blick. Holsti merkte, dass sein Atem immer pfeifender wurde. Er ballte krampfhaft seine Hand zur Faust: Wenn ich den Atem anhalte, hören sie meine Anspannung nicht.

Der Polizist kratzte sich im Nacken. Sein Interesse, eine Schlafmütze weiter zu befragen, war auf null gefallen.

»Gut, dann können Sie sich jetzt wieder dem widmen, wobei wir Sie unterbrochen haben«, sagte seine Kollegin.

Am liebsten hätte er die Tür zugeknallt, bezwang sich aber; wie ein Mann, der nichts zu verbergen hatte, ließ er das Schloss stattdessen gemächlich zuschnappen.

Er holte tief Luft und gratulierte sich. Die erste Hürde war genommen, die Gefahr damit aber noch nicht vorüber.

Er ging ins Wohnzimmer und nahm sein Telefon von der Marmortheke. Keine neuen Nachrichten. Jeder Moment ohne weitere Informationen war eine einzige Qual. Konnte Peregrino ihm nicht helfen, dann war er verloren.

Verfluchtes Weibsstück, was hast du getan?

5

Ministerpräsident Leo Koski schaute aus dem Fenster seines Schlafzimmers in den dunklen Garten hinunter. Bisher war noch niemand zu sehen, aber es konnte sich nur noch um Minuten handeln.

Im Geiste sah er die unangenehme Ereigniskette vor sich, falls sein Freund Samuel Kinga und sein Ziehvater Pontus Ebeling gleichzeitig eintreffen sollten.

Ein Paar Arme umschlang ihn von hinten. Vilma Varis drückte ihren Körper gegen seinen Rücken und reckte sich, um ihn im Nacken zu küssen. Sie war hochgewachsen und trug schon Stöckelschuhe, dennoch erreichten ihre Lippen seinen Nacken nur mit Mühe.

»Ich habe es nicht geschafft, all die Dinge mit dir zu machen, die ich mir vorgenommen hatte«, raunte sie ihm ins Ohr.

Leo rief sich die vergangene Nacht ins Gedächtnis, in der die Starreporterin mehr »Dinge« mit ihm angestellt hatte, als er sich hätte träumen lassen. Schlug sie ihm ein neues Treffen vor? Das wäre sehr unvernünftig, und Leo wollte es eigentlich auch nicht. In diesem Augenblick konnte er an nichts anderes denken als daran, sie wieder loszuwerden.

Über die Schulter bedachte er sie mit seinem berühmten Lächeln. Das hatte ihn schon aus vielen Situationen gerettet, in denen er keine Antwort parat hatte. Auch dieses Mal genügte es. Ihr Blick kehrte von den Erinnerungen an vergangene Nacht in die Gegenwart zurück.

»Und? Was tun wir jetzt?«, fragte sie. »Hast du vor, mich in der Besenkammer zu verstecken?«

Leo drehte sich wieder zum Fenster. Er fühlte sich wie ein Teenager, der im Begriff stand, von seinen Eltern mit einem Mädchen überrascht zu werden.

Und genau so war es ja auch. Pontus Ebeling war wie ein Vater für ihn.

Leo erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem Pontus in sein Leben getreten war. Drei Tage zuvor war Leos Vater gestorben. Leo hatte in seinem Zimmer mit verweinten Augen Videos geschaut und Computerspiele gespielt. Er vermisste seinen Vater und sorgte sich um seine Mutter.

Als er zwischendrin in die Küche ging, um sich Kekse und Cornflakes zu holen, musste er den Scherben auf dem Boden ausweichen. Katarina Koski hatte während der vergangenen drei Tage alles in der Wohnung zerstört, was sie nur hatte zerschlagen können. IKEA-Bilder, Blumentöpfe und Geschirr waren Opfer ihrer Verzweiflung geworden. Nur ihr Hochzeitsbild und Leos Schülerporträt auf der Kommode blieben verschont.

Leos Onkel und Tanten kamen vorbei, aber Katarina komplimentierte sie nach weniger als einer Viertelstunde wieder hinaus. Dann weinte und schrie sie wieder. Am schlimmsten waren die stillen Momente, in denen seine Mutter mit offenen Augen dalag und an die Decke starrte.

Dann war Pontus Ebeling an ihrer Haustür erschienen. Leo hatte ihm die Tür geöffnet und in ihm einen von Vaters Freunden erkannt. Pontus trug ein zu weites Jackett und ein Poloshirt mit aufgestelltem Kragen, ein Kleidungsstil, dem er bis heute treu geblieben war.

Entweder war es pure Gastfreundschaft, oder Katarina traute sich nicht, den geschätzten Firmenchef abzuweisen. Oder in Pontus Ebelings Blick lag etwas, das sie beruhigte. Möglicherweise begriff sie auch trotz ihres Zorns und ihrer Wut, dass hier ein Mann stand, der die wirtschaftlichen Probleme lösen konnte, in die sie durch Mikaels Tod geraten waren.

Vom Treppenabsatz aus beobachtete Leo, wie Pontus seine Hand lange auf Katarinas Schulter legte und ihr etwas zuraunte, was er nicht hören konnte. Danach kam er ins Obergeschoss, nahm Leo bei der Hand und verließ mit ihm das Haus.

Sie fuhren zum Hesburger-Drive-In. Schon damals wunderte sich Leo darüber, warum Pontus als steinreicher Mann so ein bescheidenes Auto wie den VW Golf fuhr. Heute wusste er, dass Pontus nie mit seinem Vermögen prahlte. Eigentlich mochte Leo lieber Pizza, aber er sagte nichts und aß brav seinen Hamburger.

Auf dem Parkplatz des Schnellrestaurants hatte Pontus ihn dann gefragt, wie es ihm gehe. Leo antwortete erst kurz und knapp und dann immer länger. Zum ersten Mal seit Vaters Tod konnte er wieder ruhig atmen. Das schnörkellose Wesen des Freundes seines Vaters gab ihm den Glauben daran wieder, dass das Leben weiterging.

In der nächsten Woche hatte Pontus ihn erneut abgeholt. Ebenso in der übernächsten und der darauffolgenden. Dienstags gingen sie von nun an immer zusammen in die Eishalle in Pasila und schauten sich die Eishockeyspiele des Erstligisten Jokerit an. Die Wochenenden verbrachte er gleich ganz bei den Ebelings. Pontus’ Ehefrau Karen machte häufig dick mit Käse überbackene Hühnchenpfanne.

Die Ebelings hatten keine eigenen Kinder. Ab und zu nahmen sie Leo mit in den Urlaub nach Spanien oder in ihr Sommerhaus in Kuusamo, einer hügeligen Taiga-Landschaft im Nordosten Finnlands. Hierhin fuhren sie immer mit dem gleichen grauen Golf.

Auch heute noch vertraute Pontus auf Volkswagen, aber immerhin hatte er das Modell gewechselt und sich den um ein paar Stufen größeren Passat zugelegt.

Leo dachte daran, wie er Pontus als Teenager die Freisprechanlage für sein Handy installiert hatte, für die sich Pontus sofort begeisterte. Oft hatte er verfolgen können, wie Pontus kurze, aber unnachgiebige Telefonate führte, bei denen es meist um Zahlen ging, und zwar um große. Zu jener Zeit hatte Pontus viele der Unternehmensgeschäfte abgewickelt, die ihn zum heute reichsten Mann Finnlands gemacht hatten.

Bei Leos Abiturfeier hatte Pontus Ebeling neben seiner Mutter im Publikum gesessen. Und als Leo seine politische Karriere begann, hatte Pontus ihn unter seine Fittiche genommen. Als erst zwanzigjähriger Jurastudent war er in die Führungsriege der Jungen Sammlungspartei Kokoomus aufgestiegen, so wie seinerzeit sein Vater. Nachdem er sein Studium abgeschlossen und geheiratet hatte, gingen er und seine Frau gemeinsam nach London, um für eine Investmentbank zu arbeiten, in der er dank seiner sozialen Fähigkeiten schnell Karriere machte.

Wenige Jahre später jedoch trennte er sich sowohl von der Investitionsbank als auch von seiner Frau und kehrte nach Finnland und in die Politik zurück, weitestgehend auf Drängen von Pontus. Pontus sagte, dass die politische Karriere seines Vaters unvollendet geblieben sei und dieser gewollt hätte, dass er sie an seiner Stelle vollendete. Und so geschah es dann auch.

Pontus Ebeling war für Leos Karriere unersetzlich. Über Frauen allerdings sprachen Leo und Pontus nicht. Niemals.

Jetzt würde sich das wohl ändern.

Leo befreite sich aus Vilmas Umarmung und versuchte, ihr möglichst gelassen in die Augen zu schauen: »Vielleicht ist es besser, dich Pontus vorzustellen. Schließlich sind wir erwachsen, er wird es schon verstehen.«

Sie presste entschlossen die vollen Lippen zusammen.

»Ich habe nicht die Absicht, Pontus Ebeling auf diese Weise zu begegnen«, stieß sie heftig hervor. »Seit über einem Jahr versuche ich, ein Interview mit ihm zu kriegen. Ich will meine Chance nicht dadurch verspielen, dass er mich als Sexgespielin seines Wunderknaben sieht.«

Vergiss das Interview, dachte Leo. Pontus Ebeling hatte keinem finnischen Journalisten je ein Interview gegeben. Er fühlte sich wohler hinter den Kulissen und war im Lauf der Jahre zu einer Art mystischen Hintergrundfigur der konservativen Kreise Finnlands geworden. Vilma Varis’ Chancen, ihn zu interviewen, waren gleich null. Falls Pontus’ Referent ihr etwas anderes zu verstehen gegeben hatte, dann war das Taktik. Eine Interviewanfrage brüsk abzulehnen wurde leicht als Überheblichkeit verstanden. Es war klüger, die Journalisten in dem Glauben zu lassen, dass ein Interview mit Ebeling irgendwann möglich wäre.

Leo wunderte sich, dass Vilma Varis das nicht durchschaut hatte.

Ihre Antwort gab ihm allerdings Gelegenheit, die Begegnung mit Pontus noch einmal zu überdenken. Natürlich war er ein erwachsener Mann und in der Wahl seiner Freundinnen frei, aber die Vorstellung, Vilma Varis und Pontus Ebeling einander vorzustellen, war dennoch unangenehm.

Hallo, Pontus, ich habe meine Amtszeit als MP aufs Spiel gesetzt und beschlossen, mit Finnlands berühmtester Journalistin ins Bett zu gehen. Ich kann gut verstehen, wenn du enttäuscht bist. Und ich weiß, dass ich ohne dich nie zum Ministerpräsidenten aufgestiegen wäre und dass jetzt alles in Gefahr ist. Aber keine Sorge, ich habe meinen wegen Wirtschaftsdelikten verurteilten Ganovenfreund um Hilfe gebeten, obwohl ich dir versprochen hatte, ihn nie wieder zu treffen.

Leo hatte nicht vor, dieses Gespräch mit Ebeling zu führen. Kinga würde Vilma von hier wegbringen, ohne dass Ebeling etwas mitbekam, zumindest würde er es versuchen.

Leo griff nach dem Haustelefon und drückte die Taste mit dem Symbol einer Hütte. Die Antwort erfolgte innerhalb von zwei Sekunden, so wie immer.

»Herr Ministerpräsident?«

»Janos, kannst du bitte gleich Samuel Kinga reinlassen? Ein dunkelhäutiger Mann mit krausem Haar, er fährt ein grünes Auto mit weißen Werbeaufklebern. Es handelt sich um einen kurzen Privatbesuch, der nicht extra im Ein- und Ausgangsbuch vermerkt zu werden braucht.«

»Alles klar, Herr Ministerpräsident«, sagte der Mann an der Pforte. »Zu Ihrer Information. Herr Ebeling fährt vor, ich öffne ihm gerade das Tor.«

Pontus Ebeling war einer von drei Menschen, die außer dem Personal eine Zugangsberechtigung ohne gesonderte Anmeldung für Kesäranta hatten.

Natürlich, pünktlich wie immer. Er hängte das Haustelefon wieder ein und schaute zu einer Tür, auf der Arbeitszimmer Gatte/Gattin stand.

Vilma folgte seinem Blick und schüttelte den Kopf: »Das ist nicht dein Ernst.«

Auch Leo sah ein, dass es eine Sackgasse wäre, sie im Haus zu verstecken. So nahm er sie bei der Hand und zog sie durch das Wohnzimmer zu seiner kleinen Privatküche. Dahinter gab es eine schmale Hintertür, die Leo jetzt aufdrückte. Die Tür führte zu einer Treppe auf den zwanzig Meter hohen Aussichtsturm der Strandvilla.

»Das ist nicht dein Ernst!«, wiederholte Vilma, als Leo sie in das dunkle Treppenhaus schob. »Verbannst du mich in einen Turm wie irgendein gottverdammtes Dornröschen?«

6

Die Wohnung im Stadtteil Tikkurila befand sich in einem mehrgeschossigen Wohnhaus aus den Neunzigern an der Esikkotie. Metso, Chefermittler bei der finnischen Sicherheitspolizei, las das Namensschild auf dem Briefschlitz:

KAINULAINENNEVASMAA

Er fühlte, wie ihm das Adrenalin in die Adern schoss. Ein letzter Blick ins Treppenhaus, dann zog er sich lautlos die Schuhe aus.

Viel Zeit hatte er nicht. Er musste verschwunden sein, bevor seine Amtsbrüder von der Kriminalpolizei Helsinki hier auftauchten.

Er zog den Dietrich aus der Tasche und führte ihn ins Schloss ein. Es galt, äußerste Vorsicht walten zu lassen. Unbemerkt in eine Wohnung einzubrechen, solange sich jemand darin aufhielt, war ungeheuer schwer. Sein einziger Trumpf bestand darin, dass die junge Frau jenseits der Tür an einem Wochenendmorgen hoffentlich lange schlief.

Das Schloss knackte leise und gab nach. Metso betrat die Wohnung. Im Flur lag achtlos zurückgelassen ein zierliches Paar schicker Abendschuhe. Entweder hatte ihre Trägerin sie einfach von den Füßen geschleudert, oder sie war ordentlich betrunken gewesen. Seine eigenen Schuhe stellte er leise daneben.

Dann schlich er in das recht kleine Wohnzimmer, dessen Wände in einem bejammernswerten Zustand waren – selbst in Anbetracht der schäbigen Fassade. Zwei Türen führten offensichtlich zu den Schlafzimmern. Beide waren geschlossen.

Seine nur vagen Kenntnisse des Grundrisses verunsicherten ihn. Er musste raten. Seine Wahl fiel auf die nächstliegende Tür. Er ging hin und drückte leise die Klinke hinunter.

Metso wusste, dass das kleinste Geräusch ihn verraten konnte. Sollte er die falsche Tür gewählt haben und die dahinter schlafende junge Frau aufwachen, würde er als Erstes seine Dienstmarke hervorziehen. Mit seiner dickrandigen Brille und dem altmodischen Bürstenhaarschnitt sah er aus wie der Inbegriff der Vertrauenswürdigkeit – zumindest für all jene, die den Film Falling Down – Ein ganz normaler Tag nicht gesehen hatten. Seine Ähnlichkeit mit der von Michael Douglas gespielten Hauptfigur war Metso schon in der Polizeischule klar geworden, als ihn seine Mitschüler aufgefordert hatten, mit einem Baseballschläger zu posieren. Später dämmerte ihm, dass die Übereinstimmung nicht nur auf Haaren und Brille beruhte. Ein Klassenkamerad hatte ihm in betrunkenem Zustand gesagt, dass seine Augen die gleiche Kälte ausstrahlten wie die des Mannes, der erst im Stau feststeckte, dann zu einem Fußmarsch aufbrach und die Nerven verlor.

Als Alternative zur Alternative hatte er eine Smith & Wesson mit Schalldämpfer dabei, die ihn im Holster unter der Achsel drückte. Sollte er sie einsetzen müssen, wäre der Teufel los.

Er drückte die Türklinke millimeterweise nach unten, bis es nicht weiterging, und öffnete die Tür. Als Erstes fiel sein Blick auf ein Puppenhaus vor dem Fenster. Eine rosa Tagesdecke lag in einem unordentlichen Haufen auf dem Boden, und an der Wand hingen Poster. Alles in allem wirkte das Zimmer wie das einer Teenagerin.

Im Bett lag eine junge Frau auf dem Bauch in tiefem Schlaf.

Falsches Zimmer. Metso hielt seine Hand ruhig und zog die Tür wieder zu.

In diesem Moment gab die junge Frau ein Geräusch von sich und drehte sich um.

Metso verharrte regungslos. Sie drehte ihr Gesicht in seine Richtung. Die Augen blieben geschlossen. Der Kopf fiel zurück aufs Kissen, und sie atmete ruhig weiter.

Geräuschlos schloss er die Tür und ging langsam quer durchs Wohnzimmer zur zweiten Tür. Dieses Mal brauchte er nicht zu fürchten, dass sich dahinter jemand aufhielt. Die zweite Bewohnerin der Wohnung hatte sich letzte Nacht auf bestialische Art selbst angezündet.

Ihr Name war Lumi Nevasmaa.

Metso betrat das Zimmer und entdeckte das Gesuchte sofort. Volltreffer. An einem Kissen auf dem Bett lehnte ein hellblauer Briefumschlag, der nicht zugeklebt war. Es gehörte nicht zu seinen Aufgaben, den Abschiedsbrief einer Selbstmörderin zu lesen, außerdem war die Zeit knapp. Dennoch zögerte er keinen Augenblick, nahm den Umschlag an sich und zog den Brief heraus. Er wollte wissen, wieso er heute Morgen direkt von einem Peregrino, einem ihm unbekannten Auftraggeber, dessen Einfluss offensichtlich bis in höchste Polizeikreise reichte, mit dieser Aufgabe betraut worden war.

Die schrille Ironie des Namens Peregrino hatte ihn sofort fasziniert. Noch auf der Polizeischule hatte er während einer Busfahrt Paolo Coelhos »El Peregrino« gelesen, das Tagebuch einer Pilgerreise auf dem Jakobsweg in Nordspanien auf der Suche nach Wahrheit, Güte und Liebe. Jener Peregrino, der ihm den Auftrag erteilt hatte, wollte die Wahrheit verbergen, die Güte unterdrücken und empfand mit Sicherheit keine Liebe.

Es war jetzt zwei Jahre her, dass Metso in diese geheimen Aufträge außerhalb seiner Dienstaufgaben verstrickt worden war. Alles hatte mit der Aufdeckung seines Geheimnisses begonnen. Wenn er an jenen Moment zurückdachte, spürte er tiefe Scham. Sein Geheimnis war zu grässlich, um es seinen Liebsten zu offenbaren. Er war bereit, alles zu tun, um zu verhindern, dass es ans Licht kam. Seitdem hatte er sich darauf eingelassen, Dinge zu tun, die er sich in der Polizeischule noch nicht einmal hätte vorstellen können. Er war vom Weg abgekommen und hatte seine eigenen Werte verraten, und das alles nur, um seiner Familie die Schande zu ersparen.

Metso wusste, dass er sich in den Fängen schlechter Menschen befand, nahm es aber hin. All das konnte er akzeptieren, solange er sein Leben leben konnte. Solange er sein Zuhause, seine Frau und seine Kinder behalten durfte. Bei jedem neuen Auftrag, den er annahm, setzte er all das aufs Spiel und riskierte haarscharf, alles zu verlieren.

Jetzt las er den Brief einer jungen Frau, die Selbstmord begangen hatte, und fühlte, wie sein Puls mit jeder Zeile schneller schlug. Obwohl er in höchster Eile war, konnte er nicht aufhören zu lesen.

Ihre Schrift war verschnörkelt und stilisiert, ihre Worte eindringlich und scharf. Als er zu Ende gelesen hatte, liefen ihm kalte Schauer den Rücken hinunter. Etwas Vernichtenderes hatte er noch nie gelesen. Die junge Frau hatte Talent zum Schreiben, doch vor allem ging es um den Inhalt des Briefes. Konnten die Behauptungen in dem Text stimmen? Metso hatte keine Veranlassung, daran zu zweifeln, zumindest nicht nach dem, was er im letzten Frühjahr erlebt und gesehen hatte.

Dieser Brief hätte weitreichende Folgen und würde ganz Finnland erschüttern.

Falls er öffentlich würde.

Metso schob den Brief in die Innentasche seiner Jacke.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Aufgabe und konzentrierte sich auf sein zweites Zielobjekt: einen abgenutzten Computer auf dem kleinen Schreibtisch. Er griff danach, und als er die Enter-Taste drückte, schaltete sich der Bildschirm an. Nicht passwortgeschützt. Unter den Dateisymbolen am Rande des Desktops befanden sich nur zwei Textdateien, die beide nichts mit dem Selbstmordbrief zu tun hatten. Dann öffnete Metso das Mailprogramm und sah unter den gesendeten Nachrichten nach. Es waren nicht viele, und nach zwei Minuten hatte er alle aus dem letzten Monat durchgesehen, ohne auf eine einzige zu stoßen, die sein Interesse geweckt hätte. Alle waren kurz und banal. Keine von ihnen deutete auf eine glückliche junge Frau hin, aber noch viel weniger auf eine Selbstmörderin. In den letzten Tagen hatte sie gar keine Nachrichten mehr verschickt.

Wie es aussah, hatte sie ihre Botschaft nur in Form eines handgeschriebenen Briefes auf dem Bett hinterlassen. Er stellte den Computer zurück auf den Schreibtisch.

Dann schlich er auf Zehenspitzen durch das Zimmer und betrachtete die gerahmten Fotos, die auf einem niedrigen Bücherregal standen. Lumi Nevasmaa war attraktiv, lächelte aber auf den Bildern weniger als die Menschen um sie herum.