Im Unterholz - Sara Strömberg - E-Book
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Im Unterholz E-Book

Sara Strömberg

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Beschreibung

In den Wäldern des Nordens gibt es Bären, Wölfe – und einen Mörder! Der Platz-1-Bestseller aus Schweden!

Als in den endlosen Wäldern Schwedens die Elchjagd beginnt, sucht die ehemalige Journalistin Vera Bergström den Schauplatz eines Mordes auf: Unter einem Hochsitz wurde die Leiche einer Frau aufgefunden, die grausam ihr Leben verlor. Während die Polizei auf der Stelle tritt, soll Vera ihrem früheren Zeitungschef die Hintergrundstory zur Tat zu liefern. Doch die Geschichte, die Vera zuerst noch widerwillig aufdeckt, ist weit dunkler als erwartet – und die Vergangenheit des Opfers enger mit Veras Mitmenschen verwoben als ihnen allen lieb ist.

Ein tiefgründiger Krimi mit einer ungewöhnlichen Protagonistin! Verpassen Sie nicht den Auftakt der Bestsellerreihe – von der schwedischen Krimiakademie als »bestes Debüt« sowie »bester Kriminalroman« ausgezeichnet!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 526

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Als in den endlosen Wäldern Schwedens die Elchjagd beginnt, sucht die ehemalige Journalistin Vera Bergström den Schauplatz eines Mordes auf: Unter einem Jägerstand wurde die Leiche einer Frau aufgefunden, die grausam ihr Leben verlor. Während die Polizei auf der Stelle tritt, soll Vera ihrem früheren Zeitungschef die Hintergrundstory zur Tat zu liefern. Doch die Geschichte, die Vera zuerst noch widerwillig aufdeckt, ist weit dunkler als erwartet – und die Vergangenheit des Opfers enger mit Veras Mitmenschen verwoben als ihnen allen lieb ist.

Autorin

Die Schwedin Sara Strömberg avancierte in ihrem Heimatland zum Bestseller-Phänomen: Sie wurde 1975 geboren und lebt als Autorin und Journalistin in Östersund nahe der norwegischen Grenze. Ihr erster Roman ›Im Unterholz‹ erschien 2021 und wurde von der Schwedischen Krimiakademie zum besten Debüt des Jahres gekürt. 2022 folgte der zweite Band der Serie über die Journalistin Vera Bergström, der von der Schwedischen Krimiakademie als bester Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet wurde. Seitdem feiert die Serie überwältigende Erfolge bei Leser*innen und Kritiker*innen; zahlreiche weitere Nominierungen folgten, unter anderem für den Glasnyckeln 2023 – den wichtigsten skandinavischen Krimipreis. Strömbergs Romane über Vera Bergström wurden alle zu Platz-1-Bestsellern in Schweden; sie werden in zahlreiche Sprachen übersetzt und von den Produzenten der »Millenium«-Reihe verfilmt.

Sara Strömberg

Im Unterholz

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Leena Flegler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Sly« bei Modernista, Stockholm.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen. 

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Sara Strömberg

Published by arrangement with Sebes & Bisseling

Literary Agency Scandinavia

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Holger Wolandt

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: plainpicture / Janusz Beck;

www.buerosued.de

BL · Herstellung: SAM

Karte: © Peter Palm, Berlin

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31265-7V002

www.blanvalet.de

Für Anders

Das Gesicht der Fahrerin

Das Gesicht der Fahrerin sieht wächsern aus. Sie seien unterwegs zu einem Heim für solche wie Maria, sagt sie.

»Dort war ein Akutplatz frei. Du kannst im Auto schlafen.«

Vom Rücksitz aus sieht Maria ihre Kindheit verschwinden. Der Wald, die Moore und die Strommasten sind kaum noch zu erkennen. Ihre gesamte Habe liegt in einer Tasche im Kofferraum. Der Pullover ist ihr samt Sicherheitsgurt über dem Bauch hochgerutscht. Sie bringt es nicht fertig, ihn wieder runterzuziehen. Wie eine schlaffe Kaugummiblase quillt das Fett über den Hosenbund.

Maria sagt keinen Ton, es wäre ja doch alles schmutzig, ihre Unschuld ist Geschichte, den letzten Rest haben ihr die Mücken ausgesaugt. Sie ist wie Windbruch, nirgends mehr verankert. Irgendwo in der aufgerissenen Erde blitzen noch immer Erinnerungen auf, die schlackernden Fliegermützenklappen ihres Vaters, das uringetränkte Trauerlaken der Mutter, Jörgens Kehlkopf – all das, was den Sommer über immer übermächtiger geworden ist.

Ja, die Erinnerungen blitzen noch immer auf, doch die Baumkronenträume sind ausgeträumt. Elisabeths Geheimnisse sickern durch die Astlöcher ans Licht, mit dem Harz versickert auch ihre Freundschaft und alles ist Marias Schuld. Sie hätte nie geglaubt, dass sie so niederträchtig sein könnte – aber sie war es. Während draußen der Tag in den Abend übergeht, umklammert sie ihre eigene Hand.

Solche wie sie müssen sich immer selbst an der Hand halten.

Der Elchbulle lag auf der Seite

Der Elchbulle lag auf der Seite. Aus dem Mundwinkel hing die schlaffe Zunge – hellbeige mit dunklen Adern – bis runter auf einen verblühten Siebenstern. Thomas kniete vor dem aufgebrochenen Bauch des Tieres und wuchtete die Eingeweide heraus. Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, die Ärmel seiner Helly-Hansen-Jacke hochzukrempeln, der ausgefranste Stoff saugte Blut und Schmiere auf, und über dem sumpfigen Boden hing der Geruch von Eisen. Ich stieg vom Quad und lud den Hänger ab. Wasserkanister, Handtuch und Bierkästen verschwanden beinahe im milchigen Morgennebel, der vollkommen still zwischen den Fichten hing. Zwischen meinen Brüsten kühlte der Schweiß spürbar ab. Das letzte Stück von Ånn zum Harsjön ging es ordentlich bergauf, und an mehreren Stellen hatte ich neben der Maschine herlaufen oder mich tief über den Lenker beugen müssen, um nicht umzukippen.

»Brauchen wir bis Samstag noch irgendwas?« Ich stemmte die Hände in die Hüften.

»Nein, ich glaube, das war alles. Wir haben so viel Bier und Renwurst, dass es für eine ganze Woche Jägerlatein reicht. Wir treffen uns morgen früh bei mir. Der Fuhrpark bleibt übers Wochenende zu.«

Zumindest etwas, was sich nie geändert hatte. Die meisten aus der Jagdgesellschaft kannten sich von klein auf. Wir waren über dieselben Felsen geklettert wie unsere Eltern, hatten Wasser aus denselben Bächen getrunken wie unsere Großeltern. Hier gehörten wir hin, und ich freute mich auf unser alljährliches Wochenende in der Jagdhütte: auf die Besprechung am Morgen, auf das Lagerfeuer am Abend, auf Räuberpistolen. Wärme und Gespräche brauchte ich mehr denn je, da war es egal, wenn ich in dem harten unteren Stockbett und mit Thomas’ Schnarchen von oben kaum ein Auge zumachen würde.

Ich zitterte, es mussten mehrere Grad unter null sein. Der September war kälter als sonst, ein rauer, eintöniger Herbst. Eine Krähe krächzte.

»Wie viele haben wir in diesem Jahr?«, erkundigte ich mich.

Thomas blickte von dem toten Tier auf.

»Sieben ausgewachsene und sieben Kälber. Gleich am ersten Tag haben wir eine Kuh mit Kalb erlegt und der hier ist mir heute Morgen quasi als zweites Frühstück vor die Flinte gelaufen. Ich hab ihn durchs Küchenfenster der Hütte gesehen. Kommt nicht allzu oft vor.«

Ich lächelte.

»Brauchst du mich, um ihn aufzuladen?«

»Ach was, die anderen kommen ja bald.«

Immer wieder verschwanden seine Arme in der Bauchhöhle des Tieres. Immer mehr Schmiere sammelte sich zu seinen Füßen. Ich wusste, die Körperwärme war noch da. Vor wenigen Minuten hatte es noch geschlagen. Das Herz.

»Na dann.«

Auf dem Weg zum Plumpsklo schlang ich mir die Arme um den Leib. Zog die Tür nicht ganz zu, damit ich ein bisschen Licht hatte und der Gestank rausziehen konnte. Der Türhaken baumelte im Wind. Von der Styroporklobrille aus konnte ich die Elchschaufeln am roten Giebel der Jagdhütte sehen. Ein paar davon hatte ich selbst erlegt. Ich zählte durch. Die Größte hatte siebzehn Enden. Nicht übel. Ich wischte ab, und es war so, wie ich befürchtet hatte: Ich blutete. Lächerlich wenig, garantiert die Wechseljahre. Ein paar Lagen Klopapier mussten diesmal als Binde ausreichen. Irgendwas knallte aufs Dach. Ein Zapfen, der aufs Wellblech gefallen war.

Um umgestürzte Bäume herum und durch Blaubeergestrüpp ging ich zurück. Allmählich lichtete sich der Nebel. Das Sylanmassiv und der Storsnasen waren aufgetaucht. Bald wären auch die bläulichen Fjälls bis rüber nach Norwegen zu sehen.

Thomas stand auf und zog sich die Jacke aus, drehte den Kanister auf und wusch sich die Hände. Wasser platschte auf die Erde.

»Übrigens – schon gehört, dass es Mord war?«

»Mord?«

Ich knöpfte meine Jeans zu und schloss den Gürtel. Ein metallischer Geschmack lag mir auf der Zunge.

»Die Frau, die dieser Waldbesitzer vor einer Woche in der Nähe von Kall bei einem Hochsitz gefunden hat. Anscheinend ist sie ermordet worden.«

Er trocknete sich die Hände an einem zerschlissenen Handtuch ab.

»Ist ja ein Ding.«

Einen Moment lang betrachtete Thomas den Elch. Das Mikadodurcheinander aus Beinen und Hufen. Thomas hatte diese spezielle Ruhe, scherte sich nicht darum, in welchem Tempo eine Unterhaltung fließen musste, damit die Stille nicht unangenehm wurde. Mit solchen Menschen wurde es dementsprechend nie unangenehm. Früher, als die alte Clique noch vollzählig gewesen war, waren wir regelmäßig zusammen unterwegs gewesen. Das fehlte mir.

»Ja. Der Leiter der Voruntersuchung hat vorgestern angerufen. Sie brauchten die Hilfe von uns Nachsuchenführern, um das Handy der Frau zu finden, bevor sie mit Mord an die Presse gehen wollten. Inzwischen dürfte es aber in der Zeitung stehen.«

»Ich hab heute noch keine Nachrichten gelesen.«

Was gelogen war. Ich war seit drei Uhr nachts wach, aber statt nur aufs Handy zu glotzen, hatte ich dagelegen, auf Sattelschlepper gelauscht und dem Licht im Schlafzimmer zugesehen. Das Schwarz hatte sich in immer helleres Grau verwandelt.

»Und wie ist es gelaufen?«

Thomas gähnte.

»Wir sind zu dritt hingefahren, haben aber nichts gefunden.«

»Warum sind die Blindfische denn nicht selbst rausgefahren?«

»Die Polizei? Die hatte irgendwo zweihundert Kilometer weiter noch etwas anderes zu tun, wenn ich es richtig verstanden habe.«

Thomas schob sich die Mütze aus der Stirn.

Ich nickte. Musste daran denken, was zehn, zwanzig Kilometer hinter Åre an eine Felswand geschmiert stand. Hier endet das Gesetz. Hier galten also keine Gesetze – und Straßen gab es auch keine. Ringsum nur Wald, keinerlei Bebauung, abgesehen von ein paar grauen Holzhütten, nach denen man richtiggehend suchen musste, wenn man die Wege nicht kannte.

Thomas musterte mich. Allmählich kam die Sonne heraus. Ein Sonnenstrahl landete wie ein Pfeil in seinem dunklen Bart. Mir war klar, dass er nur darauf wartete, dass ich nachhakte. Wer war sie, hatten sie schon jemanden festgenommen, gab es Zeugen. Doch ich begegnete seinem Blick mit Schweigen.

»Komm schon, Vera, ich kenne dich jetzt schon ein Leben lang. Juckt es dich wirklich kein bisschen in den alten Reporterfingern?«

Ich schüttelte den Kopf. Dass ich die Zeitung, mein Ein und Alles, hatte aufgeben müssen, tat immer noch weh.

»Nicht im Geringsten.«

Er zog die Augenbrauen hoch.

»Willst du nicht mal wissen, wie sie gestorben ist?«

Ich seufzte.

»Meinetwegen, erzähl.«

»Laut Polizei war es ein totaler Gewaltexzess. Mehr weiß ich nicht. Vielleicht solltest du da mal nachhaken.«

Wider Erwarten fing meine Haut an zu prickeln, und ich zuckte zusammen, als hätte ich einen schwachen Stromschlag abbekommen. Ich hatte fast vergessen, wie sich Neugier anfühlte. Was früher mein Leben gewesen war, kam mittlerweile eher einer alten, hässlichen Wunde gleich, an der ich endlich aufgehört hatte zu kratzen. Ich schüttelte mich und das Prickeln ließ nach.

»Thomas, ich arbeite jetzt als Schulbegleiterin in Järpen.« Ich sah auf die Uhr. Der Unterricht würde in anderthalb Stunden beginnen. Ein nasser Film hatte sich auf den Quadsitz gelegt; als ich aufstieg, drang die Feuchtigkeit durch meine Jeans. »Apropos, ich muss los, in die Schule.«

Mein Auto stand vollgetankt unten im Dorf. Wenn ich Gas gäbe, würde ich es noch rechtzeitig schaffen. Hier maß man Strecke in Stunden, immer in Stunden.

Und wusstet ihr auch

»Und wusstet ihr auch, dass der Fitis ganz spezielle Plätze hat, an die er immer wieder zum Singen zurückkehrt?«

Kurt ließ den Blick durch die Klasse schweifen. Von meinem Platz ganz hinten im Klassenzimmer sah es nicht so aus, als würde er jemand Bestimmten angucken. Die Schülerinnen und Schüler waren schon vor geraumer Zeit zu einer undefinierbaren Masse verschmolzen. Das schien bei sämtlichen Lehrern der Fall zu sein, die so lange durchhielten. Dieses ganze Gerede – dass der Beruf auf der persönlichen Beziehung basiere – hatte alle nur weiter auseinandergetrieben. Eine Beziehung erforderte nun mal weit mehr, und was, wenn man dazu nicht imstande war? Da kapselte man sich besser ab.

Er zog die Leinwand herunter und löschte das Deckenlicht. Nur ein Naturkundelehrer konnte ernsthaft glauben, dass sich an einem Ort, an dem der Tod Einzug gehalten hatte, irgendwer noch mit Singvögeln beschäftigen wollte.

Ich hatte den ganzen Tag über versucht, es von mir fernzuhalten, aber es war nun mal in aller Munde. Lehrer- und Schülerschaft waren gelangweilt und gelangweilte Menschen glichen blutrünstigen Menschen. Immer wieder der gleiche Text: Der Mörder müsse in der Dunkelheit einem wehrlosen Opfer aufgelauert haben. Einer Frau. Und dann sei sie gekommen – gutgläubig und allein, wie der Elchbulle. Aber wer mochte es ihr verdenken? In unseren Wäldern hatte es doch noch nie einen Mörder gegeben.

Thomas hatte schon recht: Wenn alles wie früher gewesen wäre, hätte ich mich auf diese Sache gestürzt, ich hätte mich festgebissen, festgekrallt und nicht mehr losgelassen, bis ich herausgefunden hätte, was da passiert war.

Aber nichts war mehr wie früher. In vielfacher Hinsicht war ich ein anderer Mensch.

Mit einiger Mühe tastete sich Kurt durch die Dunkelheit zurück zu seinem Rechner. Er angelte die Brille aus der Brusttasche seines Flanellhemds, setzte sie auf und fing an, durch die Ordner zu klicken. Sekunden verstrichen. Wurden zu Minuten. Nichts passierte. Die Maus wanderte kreuz und quer übers Pult. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen. Noch so eine Technikpfeife, na großartig. Die Schülerinnen und Schüler versuchten nicht mal, ihre Schadenfreude für sich zu behalten. Sie lachten, wechselten vielsagende Blicke. Als ich vor hundert Jahren aufs Gymnasium gegangen war, hätte ich mich das niemals getraut.

Ich verließ meinen Platz an der Rückwand und ging nach vorn. Kurt zuckte zusammen, als hätte er schon ganz vergessen, dass es mich auch noch gab, ließ mich dann aber machen.

»Es ist dieses Powerpoint …«

An seinem Hals waren rote Flecken aufgeflammt.

Ein paar Sekunden später hatte ich die Datei aufgerufen und auf die Leinwand projiziert. Eine Karte der Provinz Jämtland. Pfiffe und Beifall aus dem Publikum. Kurt hauchte ein tonloses »Danke, Vera« in meine Richtung und übernahm wieder.

»Also, wie schon gesagt, kehrt der Fitis an seine Singplätze zurück. Und ein solcher befindet sich hier am Ånnsjön.«

Der lange Zeigestock folgte dem Lauf des Flusses bis runter zum See und zu dem niedrigen, luftigen Birkenwäldchen, das dort am Ufer stand, wie ich wusste. Der Vogel des Fjälls.

Ich sah mich um. In wenigen Minuten würde die Klasse sich in alle Winde zerstreuen. Dann würde das Getümmel in Järpen sich auflösen, wie jeden Freitag. Mehrere Mädchen hatten sich schon ihre Daunenjacken angezogen, aber die brauchten sie bestimmt auch, wenn man bedachte, dass sie untenrum nur dünne Strumpfhosen und Vans trugen. Ich konnte meinen früheren Kollegen, Håkan Jönsson vom Newsdesk, regelrecht schimpfen hören: »Herrgott noch mal, will der Unterleib auf die Bahamas und der Oberkörper in die Antarktis, oder was ist da los?«

Stühlerücken und Rascheln, jemand ritzte etwas mit dem Spindschlüssel in seinen Tisch – ein Geräusch, das ich aus allem herausgehört hätte. Aber es lag nicht an dem Mord, meine Konzentration hatte schon vor einer Weile nachgelassen. Kurts Ausführungen stießen auf taube Ohren. Seine Mundpartie sah leicht verspannt aus, trotzdem redete er unbeirrt weiter.

»Vor dem Winter legt er eine gewaltige Strecke zurück – bis runter nach Afrika, südlich der Sahara. Er fliegt nachts und orientiert sich an Sternbildern und am Sonnenauf- und -untergang. Sobald der Frühling kommt, kehrt er hierher zurück, baut sein Nest, paart sich und legt Eier – und singt, wie man sich denken kann.«

Ich schloss die Augen. Hörte den weichen, leicht wehmütigen Gesang des Fitis. Ich wusste genau, wie es sich anfühlte, die Hände um das kleine Herzchen zu legen, das so verzweifelt pochte, und den gelbgrünen Körper wieder freizulassen. Sosehr ich den Vogel hätte festhalten wollen – zwanghaft folgte er seinem Instinkt und kämpfte sich von Kontinent zu Kontinent. Zehn Gramm im Sternendunkel.

»Und die, die bleiben?«

Schau an, wenigstens einer, der bei der Sache war. Wer die Frage gestellt hatte, konnte ich nicht sehen. Kurt drehte sich in Richtung der Stimme.

»Es gibt weit mehr Zugvögel als solche, die bleiben. Aber Letztere passen sich an – an die Temperaturen, an die Dunkelheit und an den Nahrungsmangel. Manche Arten suchen sich mehrere Anlaufstellen, um Futter zu finden, das sind echte Überlebenskünstler. Sogenannte Jahresvögel.«

Der Gong ertönte. Kurt ergriff die Flucht wie ein Politiker nach einer heiklen Pressekonferenz. Ich fluchte in mich hinein, rückte die Tische in gerade Linie, rubbelte im Vorbeigehen Schmierereien weg und stellte die Stühle hoch, damit der Boden gewischt werden konnte. Dann schlurfte ich in meinen braunen Birkenstocks ins Lehrerzimmer. Die Flure hatten sich binnen Minuten geleert. Zack, bumm, alle weg. Die Lüftung hatte aufgehört zu brummen, nicht mal meine eigenen Schritte waren zu hören. Hier wurde ich zu jemandem, der auf Zehenspitzen ging.

Ulla stand in der Kaffeeküche und hatte den Wasserhahn voll aufgedreht. Die anderen waren schon gefahren, um es sich zu Hause bei Let’s Dance gemütlich zu machen, und hatten ihren Dreck einfach stehen gelassen. Am Montagmorgen hätten ihre Kaffeebecher schwarze, eingetrocknete Ringe am Boden. Auch ich war quasi schon unterwegs, auch wenn ich keinen Termin hatte. Oder besser gesagt: auch wenn ich überhaupt keine Termine mehr hatte.

Wie war ich nur hier gelandet? Ausgerechnet ich, die die Schule immer gehasst hatte, arbeitete jetzt seit einem guten Jahr am Gymnasium. Mein Teenager-Ich begehrte tagtäglich dagegen auf. Mit Grauen erinnerte ich mich an den Spießrutenlauf durch den verglasten Eingangsbereich, wo die Coolen gesessen und jeden vorbeikommenden Arsch kommentiert hatten. Eckig, Medizinball oder Sanduhr. Ich war eckig und verzogen. Ein Rhombus, dank vorstehender Hüftknochen komplett verzerrt. Mein Mund zeigte auf einer Seite nach oben, auf der anderen nach unten, wie ein Seil, das man durch die Luft schleuderte. Mein ganzes Gesicht wirkte deshalb schief. Levan hatte mich Jack Nicholson genannt, er hatte mein Wolfsgrinsen geliebt, eine Zeit lang zumindest.

Bislang hatte ich die Schulbegleitung als Übergangsjob betrachtet, aber womöglich war es die Endstation? Vielleicht sollte ich mich an den Geruch von Minestrone und verdorrten Träumen gewöhnen und auch nicht länger darüber nachdenken, dass die Lehrer hier herumstrichen und ihre Bücherwagen schaukelten.

Meine Dr. Martens standen unter dem Haken, an den ich meine Softshelljacke gehängt hatte. Als ich nach Hause gekommen war, hatte ich auf die Schnelle keine andere Herbstjacke finden können. Die grüne lag bestimmt noch in irgendeiner Bananenkiste, zusammen mit den restlichen Überbleibseln meines Lebens.

»Tschüss dann«, rief ich in Richtung Kaffeeküche, »schönes Wochenende und so!«

Ulla drehte sich um und ihr Gesicht hellte sich auf. Sie hob die tropfnassen Hände.

»Was für ein Tag, oder? So viel Unruhe, so viel Gerede.« Ich nickte, woraufhin sie den Kopf schüttelte und leise fortfuhr: »Wir können froh sein, dass es keine von unseren Schülerinnen war. Von denen wohnen ja einige auf der anderen Seite des Åreskutan.« Abermals wechselte sie die Tonlage. »Und stell dir vor, es wäre eine Touristin gewesen, da hätte es einen Riesenaufschrei gegeben!«

Richtig, diese Frauen. Irgendein hohes Tier in einer Firma oder vielleicht sogar ein Promi. Botoxstirn und Colmar-Jacke. Blank gewetzte Kreditkarte in der Tasche und Absätze, die einen harten Boden erforderten.

Für den Tourismus wäre es eine Katastrophe gewesen. Aber nun standen die Chancen ja nicht schlecht. Diese Frauen konnten auf ihrer Après-Ski-Terrasse, die jetzt im Herbst schon geöffnet hatte, mit ihren aufgespritzten Lippen beruhigt weiter an ihrem Schampus nippen und sich einbilden, dass die Welt sich ausschließlich um sie drehte. Die mussten nicht erst rausgehen und mit anderen reden, um über alles Bescheid zu wissen.

Ulla spülte ihre Lunchbox aus. Der harte, weiß sprudelnde Wasserstrahl färbte sich vom öligen Inhalt, der sich in die Kratzer in der Plastikbox gelegt hatte, sofort rötlich gelb.

»Du, ich hab mir überlegt, dass die Elfte vielleicht mal etwas Literarisches probieren sollte – so was wie eine Erinnerung, die ihnen viel bedeutet. Eine DIN-A4-Seite wäre doch okay? Das wäre doch bestimmt eine gute Übung?«

»Klingt super.«

Mein Lächeln steckte fest, doch dann presste ich es hervor und stopfte meine eigene ungespülte Lunchbox, die ein Käsebrot ohne Butter enthalten hatte, weil mir die Butter ausgegangen war, in eine ausgediente Einkaufstüte.

»Da wäre es natürlich gut, wenn du vorher noch Zeit hättest, dich in die Stilmittel fiktiver Erzählformen aus dem Lehrplan einzulesen. So könntest du mit aushelfen. Damit tun sich viele schwer.«

Frenetisch trocknete sie ihre Lunchbox ab und schob sie in eine eigens dafür vorgesehene Clas-Ohlson-Lunchboxtasche. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich ihr Multifunktionstuch schon über die Haare gezogen. Ich hätte aus Tausenden Leuten jederzeit die Lehrer herauspicken können: Multifunktionstuch, Rucksack und Fahrradhelm. Praktische Windsachen, aus denen sie sich nach der anstrengenden Fahrt zur Arbeit herausschälten.

»Okay, mach ich am Wochenende.«

»Klasse. Aber sieh um Himmels willen zu, dass du auch ein bisschen freihast. Dieser Job raubt einem die letzte Kraft. Kraaa-haaaft! Aber ich weiß auch schon, was ich am Sonntag mache.«

Mit einem Seufzer zeigte sie in Richtung ihres Schreibtischs, wo sich unkorrigierte Aufsätze türmten. Daneben lagen ordentlich gestapelte, zerlesene Ratgeber: Nein sagen lernen, Selbstbewusst auftreten und Nimm dein Leben selbst in die Hand.

»Tja, der Lehrerberuf«, kommentierte ich vielsagend, auch wenn ich insgeheim etwas anderes dachte.

Der Lehrerberuf war das Lascheste, was ich je erlebt hatte. Und das Traurigste obendrein. Jeder hier wollte nur weg: die Schülerinnen und Schüler dorthin, wo sie in Ruhe mit ihren Handys spielen konnten, und die Lehrer nach Hause zu … Tja. Zu was? Was wusste ich denn schon, was sie im Herbst in ihrer Freizeit machten? Nordic Walking und Pilzesammeln vielleicht. Bestimmt kochten sie auch ihren eigenen Fischfond ein und gossen Dekogefäße aus Beton. Dieses scheinheilige Gutmenschentum hing mir zum Hals raus. Lehrer waren doch genau die Idioten, um die ich als Jugendliche einen Bogen gemacht hatte, und genau die Erhabenheitsmafia, bei der ich als Erwachsene bis vor Kurzem auf Abstand geblieben war.

Die Tür fiel hinter mir zu, und das Schloss surrte kurz, als es sich sofort wieder verriegelte. Unbefugte hatten hier keinen Zutritt. Die einzige Schülerin, die noch draußen im Aufenthaltsraum saß, hatte die Nase in Snapchat gesteckt. In den Sofakissen ringsum waren immer noch die Abdrücke menschlicher Körper zu erahnen. Sie sahen merkwürdig verlassen aus.

»Hast du den Bus nach Hause verpasst, Wilma?«

Sie blickte auf.

»Nein, ich muss warten, bis ich abgeholt werde. Meine Mutter will nicht, dass ich allein vom Bus nach Hause gehe.« Und prompt kam die Schmolllippe.

»Ja, richtig, gerade sind alle übervorsichtig«, erwiderte ich und lächelte.

»Auf dem letzten Stück sind keine Straßenlaternen.« Sie riss theatralisch die Augen auf. »Meine Mutter hat gehört, dass die Frau an einem Hochsitz aufgehängt wurde. Echt gruselig.«

»Ja, hab ich auch schon gehört, dabei weiß man noch gar nichts mit Sicherheit.«

Herrgott, irgendwer musste diese Sache doch aufklären, sonst war das Einzige, was in Zeiten von Personaleinsparungen passierte, dass die Monster übermenschlich groß wurden.

»Nee, stimmt auch wieder.«

Sie biss sich auf die Unterlippe und wandte sich wieder Snapchat zu. Ihre Daumen huschten über das Handydisplay und immer wieder blitzte es in ihrem Gesicht auf.

Draußen sah es aus wie in einer Touristenbroschüre: klarblauer Himmel, gelbe Tupfen in den belaubten Birkenkronen, betörende Ausblicke. Ich hasste das, aber so war es nun mal, wenn der September sich zu etwas hinreißen ließ, was der Sommer uns in der Regel vorenthielt: schönes Wetter. Ich selbst sehnte mich nach Novemberdunkelheit, die wie eine schwarze Katze auf Raubzug schon kurz nach der Mittagszeit erbarmungslos zuschlug.

Auf dem Weg über den Schulparkplatz trat ich hart mit den Fersen auf. Noch ging ich nicht in Vollzeit auf Zehenspitzen. Facebook quoll derzeit über mit Vorschlägen für erquickende Fjällwanderungen, doch ich wollte nur noch auf mein Sofa zu Hause in Ånn, mich ausstrecken und höchstens zusehen, wie die Sonne durch die Lamellen der Jalousie und auf den Staub zwischen Fenster und Fernseher fiel. Regen wäre mir lieber gewesen, ein düsterer, schwermütiger Himmel, perfekt, um sich eine komplette Fernsehserie am Stück anzusehen. Weder Åsa noch Linda hatte mein jüngstes Status-Update gelikt – dass ich nach dem Urlaub wieder arbeiten gegangen war. Sie würden es wahrscheinlich für alle Zeiten missbilligen.

Das Auto wartete bereits auf mich. Ich fuhr raus auf die Landstraße. Der Asphalt spiegelte und ich klappte die Sonnenblende nach unten. Selbst diese minimale Armbewegung tat weh. Sechsundfünfzig. Nur noch ein Wimpernschlag dessen übrig, was sich einst wie die Ewigkeit angefühlt hatte. Die Vorstellung war schmerzhaft. Ein feiner grauer Schleier hatte sich auf mein Gesicht gelegt, über die Augen. Unaufhörlich versuchte ich, ihn beiseitezuwischen, als wollte ich nach einer Feuersbrunst Überbleibsel in der Asche finden. Ich passte in keine Rolle mehr. Gewisse Rollen hatten noch nie gepasst. Niemand bezeichnete mich mehr als jung und vielversprechend, dabei hatte die Jugend an sich mich einst begehrenswert gemacht, sowohl beruflich als auch für das andere Geschlecht. Und eines Tages stellte ich einfach fest, dass es vorbei war. Ich war unsichtbar geworden. Wie oft wünschte ich mir, irgendwer würde mich wieder sichtbar machen.

Ich war nie Mutter geworden und würde nie Großmutter werden. Hatte nicht Schwester sein dürfen, würde nie Tante werden. Tochter war ich noch, zumindest für einige Zeit. Ich hätte jemand Besseres werden sollen.

Was blieb einem da noch?

In Åre hielt ich

In Åre hielt ich, um zu tanken. Mountainbiker rasten den Åreskutan herunter. Ich drehte mich weg, wollte sie nicht sehen. Nicht mehr lange, dann würden dort andere vorbeikeuchen, Skifahrer mit Pelz über den Ohren. Aber auch die wollte ich nicht sehen, diese wippenden Ärsche, die tagsüber tiefe Rillen in das Fjäll kerbten und nachts eigene Pisten zwischen den teuren Lokalen zogen.

Vor fünfundzwanzig Jahren hatte man hier zumindest noch den Sommer und Herbst für sich gehabt. Sobald alle – Touristen und Saisonkräfte – gegen Ende April abgereist waren, hatte es sich angefühlt, als hätte ein Sturm sich gelegt. Verwundert angesichts der unverhofften Ruhe, waren wir von Storlien nach Åre gefahren, hatten uns ins düstere Torvtaket gesetzt – das einzige Restaurant, das dann noch geöffnet war – und hatten Pizza bestellt. Die Pizza hatte nie so gut geschmeckt wie in diesem Moment. Inzwischen hielt der Trubel das ganze Jahr über an, rund um die Uhr, und fürs Durchatmen blieb keine Zeit mehr. Natürlich kam das der Wirtschaft zugute, zumindest redeten sich das alle ein, sobald auch nur der geringste Zweifel aufkam – oder wenn Zlatan hier oben vorbeischaute. Allerdings hielt mittlerweile der Boden nicht mehr stand: Kaum dass es regnete, traten sämtliche Flüsse und Bäche über die Ufer. Sümpfe und Fjällwälder, die früher das Wasser absorbiert hatten, waren zugunsten von Bauland geopfert worden. Die Fische wanderten nicht mehr ihre angestammten Flüsse hinauf und trauerten, genau wie wir Alteingesessenen auch.

Ich betrat die Tankstelle und kaufte mir eine Cola und ein Snickers, obwohl ich genau wusste, dass ich es bleiben lassen sollte. Als ich gerade wieder ins Auto gestiegen war, klingelte mein Handy auf dem Beifahrersitz.

»Na, Bergström, wie läuft’s als Wallraff des schwedischen Schulsystems?«

Die laute Stimme von Nils Strömqvist, genannt »Strömmen« oder auch »Schande«.

»Ganz okay. Inzwischen schreibe ich nur noch für Leute, die nichts lesen wollen, und lese Texte von Leuten, die nicht schreiben wollen.«

»Ach du Schande, ist es wirklich so schlimm?«

Er ächzte laut und sank unter Garantie tiefer in seinen riesigen Bürostuhl. Ich konnte regelrecht vor mir sehen, wie er den Stift in seiner rechten Hand kreisen ließ. Wie er die Füße auf den Tisch gelegt hatte – samt seinen schwarzen Holzschuhen. In denselben Holzschuhen war er mal von einem Bären verfolgt worden, davon schwadronierte er in der Kaffeeküche bis heute. Chefredakteure wie er waren mittlerweile eine vom Aussterben bedrohte Art. Jemand, der von einem Verlangen nach Rache angetrieben war, die sich auf alles und jeden im Leben richten konnte. Das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte, waren Leute in Führungspositionen, die ihre Privilegien nutzten, um sich über die Wahrheit zu erheben. Denen solle man Reißnägel auf ihre Chefsessel legen, sagte er immer. Sein Blick – sein professioneller Blick – kam immer leicht von der Seite und war gleichermaßen skeptisch und energisch, ganz gleich, wie müde er als Mensch gerade war.

»Ja, es ist wirklich so schlimm.«

»Ach, Schande. Da kannst du doch nicht bleiben!«

»Tja, du hast die Redaktion in Järpen doch selbst dichtgemacht.«

»Wenn’s so gewesen wäre, hätte sich das schon tags darauf für mich gerächt. Das weißt du.«

»Ja, ja, ich weiß.«

Als junger, aufstrebender Chefredakteur hatte Strömmen mich unter seine Fittiche genommen. Wir hatten irgendwann beide zum Inventar der Jämtlandsposten gehört, bis ich schließlich in der Tonne gelandet war. Wir lagen neun Jahre auseinander. Im kommenden Jahr würde Strömmen in Rente gehen – wie immer das funktionieren sollte. Doch er war gut gealtert, immer noch der Cowboy, der aus der Hüfte schoss, nur dass er das meiste Pulver schon verschossen hatte.

Ich schob den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn herum.

»Übrigens können wir froh sein, dass es die Stammredaktion noch gibt. Letzte Woche hat das heilige Mutterschiff neue Sparmaßnahmen bekannt gegeben.«

»Wie geht es denn allen?«

»Na ja, wir halten die Füße still, hoffen auf mehr Subventionen für die weißen Flecken auf der Landkarte und darauf, dass uns das Kultusministerium rettet. Die Gewerkschaft ist mit ihrem Latein am Ende – und ich bin es allmählich auch. Nicht mehr lange, und unsereins wird gegen irgend so einen Marketingmenschen ausgetauscht. Schande aber auch, dass wir nicht an die Presse gehen und uns ausheulen können, so wie die von der Polizei.«

Strömmen lachte kurz tonlos in sich hinein, schlürfte dann laut und schluckte. Garantiert Automatenkaffee vom Flur, schwarz und bitter. Die Milch aus solchen Maschinen konnte man ja nicht trinken. Laut Strömmen bestand sie aus demselben Scheiß, mit dem er seine Klamotten wusch. Hatte er mal irgendwo gelesen.

»Okay, spuck’s endlich aus.«

»Was denn?«

»Na, warum du anrufst. Dein Anliegen. Was du auf dem Herzen hast. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«

Beim letzten Satz schob ich die Zunge unter die Unterlippe, wie dieser Typ aus der Werbung, der gerade im Lotto gewonnen hatte. Ich öffnete die Coladose. Die Kohlensäure zischte.

»Nee, schon klar.«

Ich konnte ihm anhören, wie er den Mund verzog. Vermutlich war es als Lächeln gedacht, nur verhinderte die riesige Portion Snus-Tabak, die er sich unter die Oberlippe geschoben hatte, dass es als solches erkennbar war.

»Ich will, dass du dir das mit der Toten aus Kall näher ansiehst. Wir hatten von Anfang an den Verdacht, dass es ein Mord war. Dass die Polizei wirklich diesem Trend nachlaufen muss … wie heißt das gleich wieder … hat eigentlich mit Essen zu tun …«

»Slow Food?«

»Genau. Die setzen auf Slow Work.« Strömmen lachte erneut dumpf – und verstummte. Es klang, als kaute er auf etwas herum. »Über das Opfer kannst du natürlich nicht viel schreiben, aber du könntest die Stimmung auf der Straße einfangen – was der kleine Mann denkt, was die Leute reden, im Supermarkt, im Dorfgemeinschaftshaus. Ich hab läuten hören, dass sich die Frauen nicht mehr trauen, allein auf die Straße zu gehen.«

»Ich hatte noch keine Zeit, viel zu lesen. War den ganzen Tag im Unterricht.«

Ich wollte ihm lieber nicht erzählen, dass ich mich inzwischen ebenso schnell vor Nachrichten wegduckte, wie ich sie früher selbst geschrieben hatte.

»Egal. Bislang kursieren nur zwei Kurzmeldungen, die hast du im Nu gelesen. Zeit, dass was Größeres kommt. Um die Polizei kümmern wir uns, aber die Stimmung wollen wir von dir.«

Ich schluckte.

»Ich weiß nicht, Strömmen, ich bin inzwischen an der Schule …«

»Ja, ja, aber doch nur unter der Woche. Und jetzt ist Wochenende.« Auch er schien die Zunge unter die Unterlippe zu schieben. »Außerdem glaube ich, dass du mal wieder richtig unter Menschen kommen musst. Schulkinder werden doch erst zu Menschen, wenn sie die Schule verlassen, das weiß doch jeder – bis auf die Lehrer natürlich.«

»Außerdem wollte ich jagen gehen …«

»Ach, Jägermeister trinken und in den Wald scheißen, das hast du doch schon mit achtzehn gemacht.«

»Und der Nachrichtenchef weiß Bescheid?«

»Ja, verdammt. Per hat nun mal niemanden, den er schicken könnte, vom Schreibtisch aus kriegen wir nichts aus den Leuten raus und die Polizei hält dicht. Jemand muss die Bewohner vor Ort direkt ansprechen.«

»Aber nach Kall sind es hin und zurück hundertsechzig Kilometer.«

»War das für dich je ein Hinderungsgrund?«

»Nein.«

In Wahrheit war mein erstes Gefühl, als ich drei Jahre zuvor meinen Posten als Lokalredakteurin hatte räumen müssen, Erleichterung gewesen: endlich keine einsamen Nachtfahrten im Schneesturm auf vereisten Straßen mehr, um als Erste an einem Unfallort einzutreffen – manchmal noch vor der Polizei und dem Krankenwagen. Keine Albträume mehr, die damals vom Knistern und Pfeifen im Polizeifunk auf meinem Nachttisch begleitet waren. Keine Einsätze mehr mit der schweren Fotoausrüstung über der Schulter, mit der Schneeschaufel oder dem Schneemobil-overall im Kofferraum. Ich konnte nicht mehr. Wollte nicht mehr. Als ich anschließend versuchte, mich als Freiberuflerin über Wasser zu halten, und scheiterte, war da nur noch Leere. Ich versuchte vergeblich, mit dem Fuß einen kleinen Felsvorsprung zu ertasten, aber da war einfach nichts mehr.

Und plötzlich war Strömmen in der Leitung und kramte in der Tonne nach mir. Ich war mir nicht sicher, ob er bloß alten Unrat finden würde oder ob dieses alte Möbelstück hier ein unverhoffter Glücksfund wäre. Aber ich hatte auch gar keine Lust, es herauszufinden. Noch mehr Niederlagen würde mein Herz nicht verkraften.

»Gut. Gib Bescheid, so schnell du kannst, ob du den Job übernimmst. Ich schicke dir die Links zu den Artikeln, die wir bislang haben.«

»Okay. Ich melde mich.«

Im Kopf hatte ich bereits abgelehnt. Allerdings war ich es Strömmen schuldig, zumindest einen Hauch Interesse zu heucheln.

Noch knapp dreißig Kilometer. Einhändig riss ich die Verpackung von meinem Schokoriegel auf und hielt mit der anderen Hand das Lenkrad fest. Die Erdnüsse staubten im Hals. Ich spülte sie mit süßer Cola hinunter. P3 meldete explodierende Kosten beim Slussen-Umbau und bei der Stockholmer Stadtumfahrung. Ich zappte zu P4 Jämtland. Die Apotheke in Föllinge stand kurz vor der Schließung.

Hinter Duved wurde die Bebauung spärlicher. Hinter Gevsjönhatte sich niemand die Mühe gemacht, die alten Schneestangen am Straßenrand einzusammeln. Ich fuhr ein Stück durch Nadelwald, dann zwischen Birken hindurch; in der Stille griffen erst nadelspitze Klauen, dann knorrige Finger nach mir. Ich kam an mehreren tiefschwarzen Seen und an braunschlammigen Mooren vorbei, immer schön am Rand entlang, an den Säumen aus Wollgräsern, sich emporwölbenden Soden und verblühten Moltebeeren.

Noch schien die Sonne, aber nach und nach würden die Tage wieder kürzer werden. Dann würde das Herbstdunkel alles verschlucken, was sich ihm in den Weg stellte. Ich fuhr durch diese Landschaft, die Teil meiner DNA war: Hier hatte ich gespielt, hier war ich aufgewachsen, mit dem Geruch von Moor und Moos in der Nase. Mein Körper erinnerte sich noch daran, war noch immer vernarbt vom Dornengestrüpp. Er sehnte sich beständig nach Wärme, doch sobald ich zu lange irgendwo im Süden war, wollte er zurück nach Hause, um wieder richtig atmen zu können. Hier waren die Schießereien und Explosionen und die Bandenkriminalität der Großstadt unendlich weit entfernt. In diesen Breiten wurden andere Kämpfe ausgetragen, doch unterm Strich hatten sie hier wie dort in der Vorstadt denselben Ursprung: das Stockholmer Regierungsviertel Rosenbad.

Ånn badete in grellem Nachmittagslicht, als ich dort ankam. Am Straßenrand spazierte Eskil Eriksson mir in seiner üblichen Warnweste entgegen. Er hob die Hand, ich hob die Hand. In der Ferne glitzerte das Fjäll – der erste Schnee war gefallen. Wer keinen Sinn dafür hatte, erlebte das Dorf kaum je als einen idyllischen Ort: Der sah nur die kargen Gärten und war überzeugt, dass es für alle das Beste war, wenn der Schnee dieses Elend unter sich begrub; der wollte den Anblick korrigieren, so wie man mit Tipp-Ex einen Fehler korrigierte. Der Dorfkern verwirrte ihn – ein kurzes, schnurgerades Stück Straße, an dem Häuser standen, die nicht zusammenzugehören schienen. Jedes davon stand dort für sich allein und wirkte, als hätten Wind und Wetter es erst nach und nach in Form gebracht.

Doch wer einen Sinn dafür hatte, kannte die Wahrheit: dass man hier hinter die Fassade blicken musste. Dass die karge Landschaft hier nackt und unverstellt war. Das Schönste, was ich mir nur vorstellen konnte.

Nun paarten sich hier auch prickelnde Erwartungen mit misstrauischer Trägheit; das Gefühl von ewigem Wochenende hier im Dorf hatte mir nie recht behagt. Die Tür zum Wirtshaus, das die Einheimischen für immer nur »das Haus« nennen würden, stand sperrangelweit offen. Wahrscheinlich wollte Björn vor der Schicht noch ein bisschen frische Luft hereinlassen. Aus dem Fenster hing eine Steppdecke ohne Bezug. Waren Übernachtungsgäste im Anmarsch? Im Obergeschoss vermieteten sie immer noch ein paar Zimmer. Als ich ausstieg, kläffte in der Ferne Ågrens Laufhund. Anscheinend ging gerade ein anderes Leben zu Ende.

Ich wusste, dass der Geruch im Treppenhaus hing, allerdings fiel es mir zunehmend schwer, ihn überhaupt wahrzunehmen, den Geruch der Vergangenheit. Er hing im ganzen Gebäude und schlug einem im Eingangsbereich als eigentümliche Mischung aus feucht gewischtem Linoleum und ausgekühltem Sommerhaus entgegen.

Ich nahm zwei Stufen auf einmal, und wie üblich versuchte ich, nicht zum Wartesaal mit dem verbarrikadierten Schalter und den leeren Sitzbänken zu sehen. Das ganze Gebäude atmete Wehmut, trauerte um jene Jahre, in denen es der hiesige Dreh- und Angelpunkt gewesen war. Wie viele mit ihren Rucksäcken und Hoffnungen hier gewartet hatten …

Meine Zweizimmerwohnung war ein Drecksloch – aber ein günstiges Drecksloch über der einstigen Schalterhalle des Bahnhofs. Die Bahn hatte das Gebäude schon vor Jahren an einen privaten Investor verkauft, von dem ich die Wohnung angemietet hatte. Ganz früher hatten der Bahnhofsvorsteher und Bahnarbeiter hier gewohnt. Die Spuren ihrer strammen Schritte waren auf dem Boden immer noch zu erkennen. Seit geraumer Zeit wartete ich darauf, dass irgendwer in die kleinere Wohnung nebenan einziehen würde. Die Gleise draußen gab es nach wie vor, wie Wurzeln gefällter Bäume im Boden, und manchmal hielten sogar noch Züge. Manchmal. Die meisten rauschten durch, auch das bei Weitem nicht mehr so oft wie früher, aber ein paarmal am Tag ratterte hier noch einer vorbei.

Als meine Mutter gestorben war und mein Vater ins Heim nach Åre zog, verkaufte ich auf Papas Anraten mein Elternhaus an einen Norweger, der zum Schneemobilfahren herkam. Das Haus wäre für mich zu groß gewesen, außerdem war der Verkauf nach der Kündigung finanziell für mich die Rettung. Ich zog in derselben Woche im Bahnhof ein, in der ich in der Redaktion meinen Schreibtisch geräumt hatte, und am selben Tag, an dem Levan bei einer anderen einzog. Man könnte sagen, dass mein komplettes Leben drei Jahre zuvor den Bach runtergegangen war.

Mein Koffer stand immer noch unausgepackt im Flur, obwohl ich schon vor gut zwei Monaten aus Mallorca zurückgekommen war. Ich ignorierte ihn, würde meine Sommerkleider ohnehin erst wieder im kommenden Jahr brauchen. Nur die schmutzige Unterwäsche hatte ich hervorgekramt und den Koffer wieder zugemacht.

Das Licht im Bad erwachte flackernd zum Leben. Der Boden fühlte sich eisig an. Zum Glück konnte ich meinen Wäschetrockner zugleich als Heizung benutzen. Ich hielt ein sauberes Handtuch unter den Wasserhahn, warf es in die Trommel und schaltete die Maschine ein. Während das Handtuch herumwirbelte, wehte die warme Abluft über Waschbecken, Badewanne und Toilette. Kurze Zeit später konnte ich mich endlich ausziehen, ohne direkt zu erfrieren. Ich drehte das heiße Wasser auf und seifte mich von Kopf bis Fuß ein. Die Stoppeln unter meinen Armen konnte man inzwischen nicht einmal mehr als Stoppeln bezeichnen. Ich strich mir über die delligen Oberschenkel. Holprig, zugewuchert, einsam, wie selten genutzte Forstwege. Meine Hand wanderte ein Stück nach oben und einen atemlosen Moment lang befriedigte ich mich mit dem rechten Zeigefinger. Es dauerte nur ein paar Sekunden.

Anschließend kramte ich meine Jogginghose heraus. Jeans trug ich nur bei der Arbeit, T-Shirt und die dünne Fleecejacke hingegen jederzeit. Ich schnupperte an der T-Shirt-Achsel. Ein Hauch von altem Schweiß hatte sich in den Fasern festgesetzt, aber noch ging es. Meine »Reporteruniform« hatte Levan die Sachen immer genannt und gelacht. »In deiner Branche gibt es statt Casual Fridays nur Casual Fleecedays.« Seine blöden Wortspiele fehlten mir. »Dad Jokes«, hatten wir dazu gesagt, bis der »Vater« nur mehr trauerbesetzt gewesen war.

Ich zwirbelte mir die Haare zusammen. Es waren noch genügend da, sodass es zu einem Pferdeschwanz reichte, allerdings waren meine Haare drahtiger und dünner geworden. In einer Woche würde ich Katta wegen eines Friseurtermins anrufen. Mein Handy plingte. Eine SMS von Strömmen. Komm schon, Bergström, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.

Mir brach der Schweiß aus. Keine Hitzewallungen, aber die Nachwirkungen vergangener Ereignisse. Wie dunkle Ringe auf einem Küchentisch.

Mein ganzer Körper wehrte sich, als ich schließlich doch den Rechner hochfuhr. Blaues Dämmerlicht hatte sich über die Gleise und die Jagdhunde draußen herabgesenkt. Die Verbindung zickte und kam nur schleppend in Gang. Es dauerte eine Viertelstunde, bis ich Strömmens E-Mail vor mir hatte. Er hatte zwei Links geschickt, beide von der Jämtlandsposten-Website. Der erste Text war bloß die knappe Meldung, dass eine Woche zuvor eine Frau tot bei einem Hochsitz gefunden worden sei. Ein Mann, der ein Zeltlager auf seinem Grund und Boden habe räumen wollen, habe die Tote entdeckt. Ich nahm an, dass die Nachtschicht in Sundsvall die Meldung auf der Polizei-Website gefunden und für die Jämtlandsposten online gestellt hatte.

Bis zur nächsten Meldung waren sechs Tage vergangen. Erst an diesem Morgen war die Öffentlichkeit davon in Kenntnis gesetzt worden, dass die Polizei von einem Mord ausging. Der Leiter der Voruntersuchung sprach von schwerer Gewaltanwendung, zur Stunde wolle er jedoch zum Tathergang nicht mehr sagen, als dass die Tat wohl spätabends am 6. September verübt worden sei. Sie hätten immer noch nicht alle Angehörigen des Opfers informieren können. Wieso eigentlich nicht? Aber wie dem auch sei – die Polizei bat um Hinweise aus der Bevölkerung.

War wirklich nicht mehr darüber berichtet worden? Ich versuchte es mit Google, schrieb Mord und Kall in die Suchmaske, doch unter sämtlichen Links des Zeitungskonzerns war nur die Meldung zu finden, die ich bereits gelesen hatte. Abgesehen davon handelten die Nachrichten aus Kall entweder von kaputten Straßen oder davon, dass das Seniorenheim drohte, zu einer Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert zu werden. Die meisten Artikel hatte ich selbst geschrieben. Es fühlte sich an, als wäre es länger her, als es das tatsächlich war.

Ich tippte stattdessen Åre und Mord ein und entdeckte einen Artikel auf der Dagens-Nyheter-Homepage, doch als ich den Link anklickte, ging es um einen Thriller von Hans Rosenfeldt.

Ich rief Flashback auf. Wie üblich war dort einiges mehr los. Irgendwer, der sich Winter75 nannte, hatte in derselben Sekunde, als die Meldung über den Mord bei der Jämtlandsposten online gegangen war, einen Thread über das Opfer eröffnet.

Wer weiß was über den Mord im Wald bei Kall? Hit me!

Ich scrollte flüchtig durch den Thread, und natürlich, ungefähr in der Mitte, entdeckte ich einen Facebook-Link. Das Mordopfer stand daneben. Der Link führte zum Profil einer gewissen Isabella Sandgren. Auf dem Profilbild war eine schlanke Frau in Jeans und einem braunen Pullover zu sehen, die einen dünnen lila Schal mit Fransen um den Hals trug – nicht sehr vorteilhaft bei Aknenarben und blondierten Haaren. Sie lehnte an einem Holzzaun vor einem tosenden Wasserfall. Vielleicht der Tännforsen. Der Fotograf hatte der Frau nicht das mindeste Lächeln entlocken können. Den Profildaten zufolge war sie im Juli 1979 zur Welt gekommen. Mehr stand da nicht, keine Verwandten, kein einziger Facebook-Freund, keine weiteren Fotos oder Posts in der Timeline. Isabella Sandgren konnte in den sozialen Medien nicht sehr aktiv gewesen sein.

Ich googelte ihren Namen. Eine Forschungsprojektkoordinatorin, eine Imkerin und eine Schönheitschirurgin desselben Namens, allerdings schienen diese drei online ziemlich aktiv zu sein. Die ermordete Isabella hingegen war nach wie vor ein Rätsel. Schien weniger Anknüpfungspunkte zu haben als ein Stöckchen, das auf einem Fluss dahintrieb. Hatte sie abgesehen von ihrer Facebook-Seite online wirklich nicht die geringste Spur hinterlassen? Dann war es also immer noch möglich, sich von dieser Welt fernzuhalten. Oder nicht?

Wer war sie? Ich kehrte zu Flashback zurück und überflog die Kommentare. Durchweg die gleichen Infos, die ich schon in der Schule aufgeschnappt hatte. Die Frau hatte ein paar Jahre zuvor ein leer stehendes altes Haus im Wald hinter Kall gekauft und bezogen, gar nicht weit von der Stelle entfernt, wo sie ermordet worden war. Aber da hörte es auch schon auf. Niemand schien etwas zu ihrer Vergangenheit sagen zu können, auch wenn die Fragen nur so hereinprasselten.

Was jedoch Mordtheorien anging, herrschte kein Mangel an Fantasie. Ein Gerücht, das sich hartnäckig hielt, handelte von Sextouristen in Åre – von Männern, die zum Skifahren herkamen und ihrem Urlaub eine zusätzliche Würze verleihen wollten. Von dieser Schattenseite des Tourismus war selten die Rede, aber ich wusste sehr wohl, dass es so etwas gab und es umso häufiger vorkam, seit neureiche Russen diese Breiten für sich entdeckt hatten. Man munkelte sogar, dass Isabella mit den baltischen Stripperinnen nach Mörsil gekommen war; als die Striplokale dichtgemacht worden waren, war sie hiergeblieben und hatte sich stattdessen prostituiert. Einem User namens Genusgenius zufolge hatten Männer, die für Sex bezahlten, ENORMES Gewalt Kapital, insofern könnte im Prinzip jeder der Mörder sein und aus jedweder Schicht stammen. Ein Banker genauso gut wie ein Fliesen Leger.

Ich seufzte. Deppenleerzeichen, na großartig. Ich schenkte mir ein Glas Rotwein ein. Der erste Schluck war immer der beste. Mein leerer Magen zog sich zusammen. Meine leere Seele zog sich zusammen. Dann brannte der Wein darüber hinweg. Ich las weiter.

Wenn man mal überlegt, schrieb Wasserbaer, wie die Leiche arrangiert war, die haben ja gesagt, sie hätte dagelegen wie eine Schauspielerin auf der Bühne und wär angestrahlt gewesen, da würd es mich wundern, wenn das kein durchgeknallter Fernfahrer war, der schon öfter mit so was davongekommen ist. Der stand bestimmt nur die eine Nacht auf dem Forstweg. So was ist echt schwer nachzuweisen, aber ich drück der Polizei die Daumen.

Es hieß »habe dagelegen«, nicht »hätte«. Dass die Leute nicht kapierten, was der Unterschied war. Aber zumindest war Wasserbaer fleißig gewesen und hatte gleich mehrere Links angefügt, die von einem Serienkiller in den USA handelten.

In der Schule hatten sie von Erhängen geredet, und hier stand nun, dass der Mord einem Bühnenarrangement geglichen hatte. Es war nicht klar, ob auch nur eine der Mutmaßungen der Wahrheit entsprach. Sie konnten genauso gut der stillen Post im Dorf entsprungen sein. Allerdings war in beiden Fällen von einer Art Inszenierung die Rede. Ich zwirbelte mir die Haare um den Finger und trank einen großen Schluck Wein. Nippen war nie mein Ding gewesen. Nahm den Rest Käse aus dem Kühlschrank und hobelte die letzten Scheiben ab. Damit war der Kühlschrank endgültig leer.

Der vorletzte Beitrag war kryptischer als alle anderen und von jemandem namens Thetruthwillsetyoufree verfasst. Das sogenannte Opfer war immer schon eine Lügnerin. Hat sich das doch wieder selbst eingebrockt.

Winter75, der den Thread erstellt hatte, war der Erste, der darauf reagiert hatte. Wie, »sogenanntes Opfer«? Wie, »immer schon Lügnerin«? Wie, »selbst eingebrockt«?! Was soll das heißen, Thetruthwillsetyoufree? Los, raus mit der Sprache.

Ich hätte es nicht besser sagen können.

Doch Thetruthwillsetyoufree glänzte durch Abwesenheit. Die Wahrheit ebenso.

Fürs Erste schien es außer dem Grundbesitzer, der die Frau gefunden hatte, keine weiteren Zeugen zu geben. Strömmen hatte erzählt, dass sie nach den ersten zwei Meldungen vergeblich versucht hätten, der Polizei weitere Informationen zu entlocken. Aber irgendwer wusste Bescheid, so war es immer. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. Auf Flashback hatte niemand auch nur in Erwägung gezogen, dass in der Gegend ein Irrer umherstreifte. Wie immer war es jemand von außerhalb, bloß niemand aus unserer Mitte. Unwillkürlich musste ich an die Schülerinnen und Schüler aus meiner Schule denken. Obwohl die meisten cool getan hatten, waren sie verängstigt gewesen, ich hatte es ihnen angesehen.

In mir erwachte die Neugier, jenes alte Bedürfnis, mehr in Erfahrung zu bringen, das ich gleichermaßen willkommen hieß und das mir Angst machte. Jahrelang hatte ich mich genötigt gesehen, immer über alles informiert, immer online zu sein, immer ganz nah an allem dran, was in der Welt passierte. Doch nach und nach war mir die Neugier abhandengekommen. Irgendwann war mein Gratis-Abo der Jämtlandsposten ausgelaufen und ich hatte es nie verlängert. Meine Fernsehtermine – heilige Uhrzeiten, etwa wenn Aktuellt oder Rapport lief – wurden seltener. Inzwischen spielten sie gar keine Rolle mehr.

Trotzdem würde ein kleiner Ausflug in die Zeitungswelt mich nicht umbringen. Ich beäugte den Waffenschrank im Flur. Mein Elchstutzen war frisch geölt, die Stiefel waren imprägniert. Das hatte ich bereits in der vergangenen Woche erledigt. Das Einzige, was ich vergangene Woche überhaupt erledigt hatte. Aber die Jagd konnte warten. Es kämen noch weitere Gelegenheiten für ein Wochenende in der Jagdhütte. Ich drehte mich wieder zum Computer um. Strömmen hatte recht, ich brauchte wieder Kontakt zur Wirklichkeit.

Ich streckte mich nach meinem Handy aus, das drauf und dran war, zwischen die Sofakissen abzutauchen, und schrieb: Hej, fahre morgen nach Kall. Strömmens knappe Antwort kam postwendend und war begleitet von einem lauten Pling. Gut! Kurz darauf kam eine weitere SMS, in der er hinzufügte: Und vergiss nicht, die Blumen zu gießen!

Wie jemand sich um seine Freunde kümmere, sehe man daran, wie es seinen Topfpflanzen gehe, sagte er gern und steckte bei Leuten, die er besuchte, den Stummelfinger in die Blumenerde.

An die letzte Nachricht hatte Strömmen ein Smiley angefügt. Wider Willen musste ich lächeln – ein Smiley mit Snus unter der Oberlippe. Doch schon im nächsten Moment war ich bedrückt. Meine Topfpflanzen brauchten Wasser, alle miteinander.

Schlagartig hatte ich einen Kloß im Hals. Ich legte den Kopf in den Nacken, um nicht zu heulen. Verdammt noch mal, ich hatte gedacht, damit wäre endlich Schluss. Aber die Tränen ließen sich einfach nicht aufhalten.

Das ist doch ein echter Scheißsommer

»Das ist doch ein echter Scheißsommer. Schön, wenn er vorbei ist.«

Die Mutter sagt es immer wieder. Erst trocknet die Schneeschmelze nicht und danach regnet es nur noch. Der riesige Acker in Järpen steht unter Wasser. Ihr eigener Keller bleibt zwar verschont, nicht aber der von Björklunds. Das Brummen der Bautrockner ist bis raus auf die Straße zu hören. Der Regen und die Kälte machen alle wahnsinnig. Wenn es mal warm wird, dann höchstens für einen Tag. Aus dem Moor hinterm Haus schießen die Mücken hervor wie die Gülle aus einem Gülletraktor. Maria bringt an sämtlichen Türen Fliegenfänger an, einen verdammten Klebedschungel, durch den man sich hindurchkämpfen muss. In der Wassertonne im Garten und im Straßengraben kann man mit bloßem Auge die Mückenlarven kopfüber hängen sehen.

»Die atmen durch den Arsch.«

Magnus sagt das immer wieder. Er mischt Zimt, Knoblauch und Spülmittel in einer Sprühflasche. Maria beobachtet ihn dabei, wie er die dümpelnden Hinterteile besprüht. Sprüh, sprüh.

»So können sie sich gar nicht erst zu Mücken entwickeln.«

Magnus grinst sie breit an. Man könnte meinen, er hätte einen Sieg errungen, doch niemand bemerkt einen Unterschied. Marias Hals ist ständig von aufgekratzten, übel riechenden Quaddeln bedeckt. Dann verschwindet Magnus gen Westen. Auch das wird eine offene Wunde.

Die ganze Feuchtigkeit sorgt dafür, dass Maria aufgeht wie ein Hefeteig. Sie war nie schlank, aber jetzt geht sie völlig aus dem Leim. Der Busen schwillt an, eines Tages hängt der Bauch über den Bund ihrer Jeans und beim Gehen scheuern die Schenkel aneinander.

Bei ihrer Mutter ist es die Kälte, die sich wie ein ungebetener Gast in ihr einnistet. Die Schuppenflechte blüht – große silbrige Flecken auf bleicher Haut. Die Arthritis macht ihren ohnehin aufgeschwemmten Körper müde und unbeweglich. Die dünnen, ärmellosen Baumwollkleider – das Einzige, was sie je anzieht – saugen einen Teil des Elends auf, verhindern aber nicht, dass sich der Geruch im ganzen Haus ausbreitet. Wenigstens ist es unten im Partykeller, wo Maria schläft, ein bisschen besser. Das Zimmer ist eigentlich für alle da, hat deshalb auch keine Tür, aber Maria hat ein Stück roten Samt in den breiten Durchgang gehängt. Hauptsächlich, um die schwarzen Zwischenräume zwischen den Treppenstufen nicht sehen zu müssen.

Trotzdem hat sie neuerdings Schwierigkeiten einzuschlafen. Die Treppe ächzt und stöhnt und oft liegt Maria bis weit nach Mitternacht wach und starrt das gelbe Kiefernpaneel an. Sie hat die Astlöcher gezählt und abgetastet und kennt sie inzwischen alle.

Mit einer einzigen Bewegung erweckt Maria die Küche zum Leben. Das Licht strömt herein, als sie die Gardine vor dem Fenster beiseitezieht. Irgendwann in der Nacht zieht ihre Mutter die Vorhänge zu, Maria kann das Pantoffelschlurfen durch die Kellerdecke hören. Sie stellt sich das Haus von außen vor: wie das Licht in einem Fenster nach dem anderen erlischt. So spät ist das Haus von außen schwarzrot wie geronnenes Blut.

Gegenüber stehen keine Häuser, sie sind die Letzten an der Straße, dahinter liegt das Industriegebiet. Hier kommt selten jemand zu Fuß vorbei, trotzdem wird der Mutter bei der Vorstellung, aufs Klo zu müssen und in ein Paar blitzende Augen zu sehen, jedes Mal angst und bange. Wer will, kann hier überall reinsehen, vor allem, wenn draußen Schnee liegt.

»Man muss sich ja nur auf eine feste Schneewehe stellen«, sagt ihre Mutter.

Deshalb macht sie alles zu, versteckt sich und verdrängt.

Gegenüber hängen die Wolken tief in den dunklen Fichten. Die Treppe zur Haustür liegt im Schatten. Auf den schattigen Stufen gedeihen ausschließlich Frostrisse und Moos. Nur an Mittsommer, wenn die Sonne am höchsten steht, fällt Licht dorthin.

Früher hat ihr Vater hinter dem Haus Kartoffeln angebaut und Ringelblumen gesät. Breitbeinig und mit gebeugtem Arbeiterrücken stand er auf dem einzigen Streifen Land, der nicht im Schatten der Fichten lag. Sie mochte das immer, wenn er mit seinem grünen Mückenhut dastand und die Insekten wie schwarze Stecknadelköpfe auf dem Netz saßen.

Maria macht das Radio an und unbekannte, wohlbekannte Stimmen füllen die Küche. Sie brät Fleischwurst an, toastet Brot und setzt Teewasser auf. Allmählich wird es leer im Kühlschrank. Laut Kalender dauert es noch, bis wieder Geld kommt.

Ihre Mutter tut, was sie immer tut, stillt ihr Bedürfnis nach Nikotin und sieht fern, als Maria ihr das Frühstück bringt. Manchmal findet Maria, dass sie ihrer Mutter das Essen hinstellt wie einem Hund. Die Mutter bedenkt sie mit einem trägen Blick, stemmt sich hoch und streckt sich nach dem Betttablett. Unter der Decke riecht es ungewaschen und nach getrocknetem Urin. Die Scham ihrer Mutter ist nur noch von einzelnen glatten Haaren bedeckt. Zigarettenrauch umweht sie, als wäre sie Schauspielerin auf einer Bühne. Maria sieht, wie sie sich nach dem Teller vom Vortag mit geronnenem Ketchup ausstreckt, um ihn als Aschenbecher zu verwenden.

»Nein, nein, nein.«

Ihre Mutter erstarrt. Sieht sich inmitten des Verfalls verwirrt um.

»Ich hole den Aschenbecher. Wie geht’s deinem Kopf?«

Die Mutter schluckt und runzelt die Stirn, als fiele ihr das gerade erst wieder ein.

»Wie gestern. Genau wie gestern. Ist sicher ein Tumor.«

»Ach was, du hast keinen Tumor.«

Maria hebt den Gürtel des Bademantels vom Boden auf. Eine rote Polyesterschlange zwischen eingetrocknetem Erbrochenem auf dem Teppich.

»Woher willst du das denn wissen?«

»Da wärst du längst tot, so viel Kopfweh, wie du in den letzten Jahren hattest.«

»Sag das nicht.«

Die Mutter stöhnt. Schiebt ihren schlaffen Bauch zurecht.

»Du HAST keinen Tumor, das schwöre ich dir. Jetzt iss. Und dann finde ich, du solltest mal rausgehen. Den Rollator hast du immerhin aus einem bestimmten Grund gekriegt.«

Vorsichtig stellt Maria den Teller ab. Ihre Mutter legt die Zigarette beiseite. Die Asche wird immer länger und sieht aus wie ein Rattenschwanz. Eigentlich müsste sie abfallen, klammert sich aber krampfhaft fest.

»Das geht nicht.«

»Und warum nicht?«

»Euer Vater will das nicht.«

»Unser Vater will mittlerweile gar nichts mehr.«

Ihre Mutter sieht erst verdattert aus. Dann verschüchtert. Die großen Blumen auf der Tapete scheinen in die Mitte des Zimmers zu rücken. Einmal lag Maria in der Ritze zwischen den Matratzen ihrer Eltern und sah an den grünen Stielen kleine Männchen emporklettern. Als das Fieber sich endlich gelegt hatte, saß ihre Mutter auf der Bettkante und strich ihr über die verschwitzte Stirn. Damals benutzte sie immer Lippenstift und blauen Lidschatten. Ihre Ohrringe klimperten, sobald sich ihr Lippenstiftmund bewegte, echt schön. Inzwischen wollen die Stängel der Schuppenflechtenblüten die welke Schauspielerin in ihrem Bett erwürgen.

Die Sonne kämpfte sich immer noch über den Horizont

Die Sonne kämpfte sich immer noch über den Horizont. Auf dem Thermometer vor dem Fenster war es ein Grad unter null. Draußen sah alles hart und gefroren aus. Es würde noch mal wärmer werden, danach aber so richtig kalt. Ich saß am Küchentisch und trank Kaffee wie ein normaler Mensch. Eine überwinterte Fliege naschte Zucker in der Spüle. Am Vortag war mir ein Stück Würfelzucker aus der Schachtel gefallen, als ich nach etwas Essbarem gesucht hatte. Der Pulverkaffee versuchte, eins mit dem Wasser zu werden, ich rührte und rührte und musterte die fettigen Béarnaise-Flecken an der Küchenwand. Ein gelbes Muster, an das ich mich gewöhnt hatte.

Anschließend nahm ich meine Fototasche aus dem Schrank. Ich pustete den Staub von der Klappe und schob Notizblock und Bleistift hinein; Kugelschreiber ließen einen bei Kälte im Stich. Als ich den Gurt schulterte und die Tasche an meiner Seite spürte, fühlte sich das Gewicht sehr vertraut an.

Ich sollte auch meine Stiefel mitnehmen. Sie standen auf einem Handtuch im Bad und waren bis hoch zum Schaft verdreckt, als wäre ich irgendwo herumgestapft und halb eingesunken. Keine Ahnung, wo und wann ich sie das letzte Mal angehabt hatte. Ich versuchte, den eingetrockneten Schlamm über dem Waschbecken abzuklopfen, bekam die Stiefel aber nicht ganz sauber. Als ich sie hinten in den Fußraum stellte, war das Gummi immer noch von hellbraunem Schlamm und Vergessenheit überzogen.

An sich war Kall ein hoffnungsloser Fall: zu weit entfernt von den schicken Lokalen in Åre, zu nah dran am Alltag in Järpen, das die Rolle von Åres abgehalfterter Schwester spielte. Die stillgelegte Zellulosefabrik hatte im Boden ihre Spuren hinterlassen – eine Art schlummernde, latente Krankheit. Ein Gendefekt, der alles und jeden ringsum in Mitleidenschaft zog.

Der Supermarkt hatte noch nicht geöffnet. Ich setzte mich vor den Eingang, zog meine Strickjacke enger und lehnte den Kopf gegen die kühle Hauswand.

Nach einigen Minuten ratterte es hinter der Eingangstür. Eine Frau mit lila Haaren schob die Einkaufswagen in Reih und Glied. Der Geruch von frisch gebackenem Brot und altem Bier schlug mir entgegen. Ich nahm mir einen Einkaufskorb. Wenn ich schon da war, konnte ich auch gleich einkaufen. Planlos lief ich an den Regalen entlang, nahm mir Wurst, eine Packung Nudeln und ein paar Tiefkühlpizzas. Ich hätte eine Einkaufsliste schreiben sollen, das machten andere doch auch. Es lag sogar ein ausgedienter Einkaufszettel in meinem Korb. Irgendwer mit krakeliger Handschrift hatte anscheinend ein Schmorgericht kochen wollen. Rindfleisch, Karotten, Pilze, Tomatenmark und Schnittlauch sprachen für Bœuf bourguignon. Ich knüllte den Zettel zusammen. Stundenlanges Schmoren brächte ich nicht zustande, ganz im Gegenteil.

Außer der lilahaarigen Frau war kein Personal zu sehen. Wenn sie auch an der Kasse säße, würde ich ihr mein Anliegen dort vortragen müssen.

Die Frau blickte lediglich kurz auf und grüßte, bevor sie den Blick aufs Kassenband richtete. Nach und nach scannte sie meine Einkäufe.

»War heute nicht sonderlich inspiriert, was Essen anging«, sagte ich. »Eigentlich müsste man einfach so eine Pille einwerfen, statt zu essen.«

Die Frau lachte und schüttelte dann den Kopf. Sie hielt den Blick weiter aufs Kassenband gerichtet.

»Du liebe Güte, wie schrecklich! Also, mir macht Kochen Spaß!«

Ich lächelte.

»Da beneide ich Sie.«

Der Pfandapparat am Eingang fing an zu prasseln.

»Übrigens …« Ich gab mir einen Ruck. »Ich heiße Vera Bergström und arbeite für die Jämtlandsposten.«

Ich streckte die Hand aus. Die Frau blickte auf, guckte zwar erst misstrauisch, gab mir dann aber die Hand.

»Ich wüsste gern, wie es Ihnen hier im Dorf geht, wo doch dieser grässliche Mord passiert ist. Hätten Sie vielleicht kurz Zeit, sich darüber zu unterhalten?«

»Mit mir? Sie wollen mit mir reden?« Eilig zog sie die Hand zurück und presste die Lippen zusammen.

»Klar, warum denn nicht?«

»Wollen Sie die da auch benutzen?« Sie zeigte auf meine Kamera. Typisch für Frauen ihres Alters. Beschwerten sich, dass in den Zeitungen bloß Männer zu Wort kamen, weigerten sich aber, selbst zur Gleichstellung beizutragen. Von einhundert Pflegekräften war es in aller Regel der einzige Mann im Team, der sich äußerte.

»Schon, aber es muss ja keine Nahaufnahme sein.«

»Nee, das will ich nicht.«

Ich schluckte meinen Frust hinunter und setzte auf Schmeichelei. Das funktionierte manchmal.

»Dabei sehen Sie so toll aus … Aber würden Sie mir vielleicht auch ohne Foto ein paar Fragen beantworten?«

Die Frau überlegte kurz. Dann seufzte sie theatralisch.

»Okay. Aber leider kann ich von der Kasse nicht weg.«

Ich atmete auf. Sie würde mir nicht davonkommen. Besser ein griesgrämiger O-Ton als gar kein O-Ton. Das Adrenalin schoss mir durch die Adern. Genau aus diesem Grund hatte ich meinen Job geliebt. Der Nervenkitzel, wenn ich in das Leben eines mir fremden Menschen eintauchte und etwas aus ihm herauskitzelte, war schwer zu toppen, da fühlte ich mich wie auf Entdeckungsreise.

»Wollen wir mit Ihrem Namen anfangen?«

»Anneli.«

»Anneli …?« Wie einem Kind musste ich ihr alles aus der Nase ziehen.

»Holmqvist.«

»Was halten Sie von alledem, was passiert ist?«

Sie nestelte an der goldenen Haarspange, die ihre chemikalienschweren Locken seitlich zusammenhielt. Der mausgraue Haaransatz reichte fast bis zu den Ohren.