Im Visier: Nero -  - E-Book

Im Visier: Nero E-Book

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Beschreibung

Die große Nero-Ausstellung in Trier war den Autoren des Trierer Autoren Treffs Inspiration für zwölf Gedichte und kriminelle Kurzgeschichten, die in dieser Anthologie zusammengetragen werden.

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Seitenzahl: 294

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Hinter dem Kürzel TAT verbirgt sich der Trierer Autoren Treff, in dem sich die Krimi-Autoren Stephan Brakensiek, Carsten Neß, Moni Reinsch, Sabine Schneider und Paul Walz zusammengefunden haben.

Inhalt

Moni Reinsch

Nerónische Vérse

Stephan Brakensiek/ Sabine Schneider

In deinem Kopf

Paul Walz

Spiel mit mir

Moni Reinsch

Ich kenne die Geschichte

Stephan Brakensiek/ Sabine Schneider

Alte Kameraden

Moni Reinsch

Vor Rom brannt‘ Trier

Carsten Neß

Bataver Palaver

Moni Reinsch

Nerotik

Paul Walz

Welch ein Künstler stirbt mit mir!

Carsten Neß

Bis in den Tod

Moni Reinsch

Der Petrusstab

Stephan Brakensiek/ Sabine Schneider

El condor pasa

Nerónische Vérse

Moni Reinsch

Ích, Kaiser Néro, der Hérrscher von Róm,

verlór‘ meine Mútter, den Brúder, den Sóhn.

Ich háb nie geséh‘n, wo die Mósel lang flíeßt,

doch líeb ich die Rébe, die űppig dort spríeßt.

Von mír gibt es Líeder und Scháuspiel zuháuf,

nur léider führt níemand die Stűcke gern áuf.

Man ságt, meine Stímme sei nícht angenéhm.

So máncher der Krítiker músste früh géh‘n.

Ich spíel auf der Lýra und sínge dazú.

Meine Gáttin beháuptet, sie fänd‘ keine Rúh.

Ich wóllte nur síngen, jedóch der Senát

wűnschte mehr Zúcht und mehr Órdnung im Stáat.

Drum líeß ich Famílie und Féinde verníchten,

wovón die Históriker krítisch beríchten.

Die Mútter wollt úm alle Mácht mit mir stréiten,

da músste ich schnéll ihren Tód vorberéiten.

Die Chrísten in Róm haben díe Stadt verníchtet.

Ich háb sie in Scháren zum Tóde geríchtet.

Áuch Simon Pétrus war éiner von íhnen,

der beháuptete, díesem Herrn Jésus zu díenen.

Was ích hier erscháffe als Káiser von Róm

Und nícht etwa írgendein chrístlicher Dóm,

wírd die Geschíchte einmál überdáuern

und nícht nur zerfállen wie stéinerne Máuern.

In deinem Kopf

Stephan Brakensiek und Sabine Schneider

Müde und erschöpft betrat Friedrich Stahl die Lobby des IAT-Plaza-Hotels, das im höchsten Wohngebäude der Stadt untergebracht war. Den Portier grüßte er lediglich mit einem kurzen Nicken und betrat wortlos den Fahrstuhl, der ihn in das vierte Stockwerk zu seinem Zimmer brachte.

Stahl schob die Schlüsselkarte in die Öffnung unterhalb der Türklinke und trat ein. Das Zimmer war geräumig und modern eingerichtet. Man sah ihm an, dass das Hotel noch nicht lange wieder in Betrieb war, denn es war erst vor rund zwei Jahren nach umfangsreichen Renovierungsarbeiten neu eröffnet worden.

Ursprünglich stammte Stahl aus Lüdenscheid, doch seit über zwanzig Jahren war er als Ingenieur bei einem führenden Automobilhersteller in Zwickau beschäftigt. Seit drei Tagen war er nun in Trier. Einer der größten Zulieferer der Automobilbranche, der Schmiedeteile für Gelenkwellen produzierte, hatte eines seiner Werke in der Stadt. Bedauerlicherweise gab es bei einem neu entwickelten Bauteil Qualitätsprobleme. Daher war Stahl in letzter Zeit des Öfteren in Trier. Er hoffte, dass die Probleme bei der Entwicklung der Antriebswellen für die neue Baureihe eines Mittelklassewagens, der in den nächsten Jahren auf dem Markt kommen sollte, bald behoben sein würden.

Die langen Autofahrten zwischen Zwickau und Trier strengten ihn inzwischen an. Mit seinen 55 Jahren war er nicht mehr der Jüngste, wenn sich Stahl dies auch ungern eingestand. Seine Haare wurden immer schütterer und der verbliebene Rest immer grauer. Auch sein Bauchumfang ließ zunehmend die gewünschte Form vermissen. In seiner Abteilung war er bereits der älteste Mitarbeiter. Bis vor nicht allzu langer Zeit hatte ihm die Fahrerei nichts ausgemacht. Im Gegenteil, er hatte Dienstreisen immer als Privileg betrachtet und es genossen, wenn er dem alltäglichen Trott ein paar Tage entfliehen konnte. Am Anfang seiner Karriere hatte man ihn regelmäßig ins Ausland geschickt, er durfte Werke in Südamerika oder Asien besichtigen, wurde zu internationalen Konferenzen entsandt. Doch dies war schon lange vorbei. Seine Anzüge verstaubten im Schrank. Nun pendelte er lediglich innerhalb Deutschlands, von Zulieferer zu Zulieferer, drückte die Kosten und übte Druck aus, ganz im Sinne der Unternehmenspolitik des Vorstandes.

Sein heutiger Gesprächstermin war früher beendet gewesen als vorgesehen. Die Trierer Kollegen hatten endlich konstruktive Lösungen vorgelegt und zugesichert, sämtliche Probleme schnellstmöglich zu beheben. Sein Arbeitgeber kannte diesbezüglich kein Pardon, dies war den Trierer Ingenieuren bewusst. Wer aus dem Qualitätssicherungsprozess herausfiel, die erforderlichen Bewertungspunkte nicht erreichen konnte, wurde vom Einkauf gnadenlos gestrichen, und es war schwer, wenn nicht gar unmöglich, überhaupt wieder als Zulieferer in Betracht gezogen zu werden.

Stahl hasste es immer mehr, Druck ausüben zu müssen. Er hätte es nicht offen zugegeben, doch er freute sich auf seinen Ruhestand. Er musste nur noch die nächsten vier Jahre irgendwie überstehen. Und sich vor allem nichts anmerken lassen.

Da es für die Fahrt zurück nach Zwickau trotz des zeitigen Sitzungsendes bereits zu spät und das Hotelzimmer ohnehin für eine weitere Nacht gebucht war, hatte Stahl kurzerhand beschlossen, die Zeit sinnvoll zu nutzen und sich ein wenig in Trier umzusehen. Die Stadt kannte er zwar bereits von früheren Dienstreisen, doch hatte es bisher nie für mehr als kurze Bummel durch die Fußgängerzone gereicht.

Auch am heutigen Abend hatten ihn zwei der Trierer Mitarbeiter zum Essen eingeladen. Die Zeit bis zu seiner Verabredung in einem der renommiertesten Restaurants der Region hatte er im Landesmuseum verbracht. Einer der Kollegen aus Trier, Winfried Ackermann, den er seit vielen Jahren kannte, hatte ihm vorgeschlagen, sich die Ausstellung über den römischen ›Kaiser Nero‹ anzusehen. Stahl, der sich sehr für antike Geschichte interessierte, hatte die Empfehlung dankbar angenommen. Er erinnerte sich an einen interessanten Beitrag über die Ausstellung im Fernsehen. Er hatte sie in seinem alltäglichen Stress jedoch vergessen. Umso mehr hatte er sich über Ackermanns Tipp gefreut, sodass er die Zeit für einen Besuch im Landesmuseum nutzte.

Kaiser Nero hatte Stahl schon immer besonders fasziniert. Bereits in seiner Schulzeit hatte er alle Bücher, die ihm in die Hände fielen, verschlungen. Er hatte sich mit großer Begeisterung zahlreiche Filme zur römischen Geschichte angesehen, obwohl er sich über die meisten geärgert hatte. Insbesondere Peter Ustinovs Darstellung des Nero im Film »Quo Vadis« empörte ihn. Stahl glaubte nämlich nicht daran, dass Nero ein debiler Alkoholiker oder künstlerischer Stümper war, wie ihn seine Biografen überwiegend darstellten, vielmehr war er sicher, dass Neros Zeitgenossen ihn als Verrückten darstellten, um ihn in Verruf zu bringen. Stahl war überzeugt, dass Neros Widersacher ihm den Brand Roms in die Schuhe geschoben hatten.

Wenn Friedrich Stahl gekonnt hätte, wie er wollte, dann hätte er nach dem Abitur ganz sicher nicht, wie von seinem Vater gefordert, Maschinenbau studiert, sondern Alte Geschichte. Aber da hatte sein Vater letztlich die besseren Argumente gehabt.

Ackermann hatte nicht zu viel versprochen. Die Ausstellung begeisterte Stahl. Sie zeigte die wesentlichen Facetten von Neros Leben, seinen Aufstieg zum Kaiser, seine Herrschaft, aber auch sein gewaltsames Ende. Stahl interessierte sich vor allem für den Selbstmord Neros. Er hatte schon viel darüber gelesen, hatte in Bibliotheken und Museen recherchiert, oft zum Leidwesen seiner Familie, denn fast jede Urlaubsreise führte nach Rom, obwohl seine Frau liebend gerne auch einmal andere Länder wie Frankreich oder das nahe Polen besucht hätte. Aber da blieb Stahl stur und unnachgiebig. Die Beschäftigung mit der römischen Geschichte war nun einmal seine große Leidenschaft, der sich alles andere unterordnen musste.

Am Ende seines Ausstellungsbesuches nutzte Stahl die Gelegenheit und erwarb für seine Familie im Museumsshop ein paar Souvenirs. Für seine Frau Heike, eine leidenschaftliche Sammlerin von Espressotassen, erstand er eine Tasse, auf der das Profil Neros appliziert war. Für seinen fünfzehnjährigen Sohn Matthias kaufte er ein Buch, in dem die Lebensgeschichte des Kaisers mit zahlreichen Illustrationen anschaulich dargestellt war. Ein reines Sachbuch hätte Matthias sicher gelangweilt. Er hoffte, den beiden eine Freude zu bereiten. In der letzten Zeit hatte es zwischen ihm und Heike einige Reibereien gegeben. Sie hatte ihm seine zahlreichen Dienstreisen vorgehalten, und dass er aufgrund der vielen Überstunden immer weniger Zeit für seine Familie hatte. Matthias litt unter der angespannten häuslichen Situation. Obwohl Stahl und Heike es vermieden, im Beisein des Jungen zu streiten, blieb es Matthias nicht verborgen, dass sich seine Eltern nicht mehr allzu gut verstanden.

Als Stahl beide Geschenke an der Kasse bezahlen wollte, fiel ihm ein Stapel Taschenbücher ins Auge, der auf dem Kassentresen lag. Auf dem Stapel stand ein Hinweisschild, das die Bücher als ›besonders lesenswert für Freunde von Krimis und Historie‹ bewarb. Interessiert blätterte Stahl in einem von ihnen. Es handelte sich um eine Sammlung von Kurzgeschichten rund um das Thema ›Nero‹. Spontan entschloss er sich, eines zu kaufen.

Zufrieden verließ er das Museum, schlenderte noch ein wenig durch den Palastgarten und machte sich zu Fuß zum Stadtteil Olewig auf, wo er heute Abend mit dem Geschäftsführer des Trierer Werkes, Dr. Paul Weber, und seinem Kollegen Winfried Ackermann zum Abendessen verabredet war.

Auf dem zwanzig minütigen Fußweg dachte Stahl über die Einladung nach. Er fühlte sich geschmeichelt, dass man ihn in ein bekanntes Sternerestaurant eingeladen hatte. Bei allen bisherigen Besuchen hatte man ihn zwar in recht gute Restaurants geführt, doch niemals in ein Sternelokal.

Bei ihm zu Hause in Zwickau wäre dies niemals möglich gewesen. Sein Vorgesetzter hätte ihm einen Vogel gezeigt, wenn er auf die Idee gekommen wäre, einen auswärtigen Kollegen in einen Gourmettempel einzuladen. ›Nicht einmal auf Geschäftsführerebene, gibt es so was‹, hätte er ihm an den Kopf geworfen. Er schüttelte sich bei dem Gedanken an seinen neuen Chef, Richard Schminke, der seit rund einem Jahr die Geschicke der Abteilung in Zwickau leitete. Und Heike wunderte sich immer über die vielen Überstunden ihres Mannes. Sie hatte überhaupt keine Vorstellung von dem Stress, unter dem er jeden Tag stand. Er war sicher, dass Schminke davon ausging, dass Stahl noch in der Nacht zurück nach Zwickau fuhr, um am nächsten Tag pünktlich um acht Uhr im Büro zu sein. Dass der heutige Termin bereits früher beendet war, beschloss Stahl daher, für sich zu behalten.

Das Essen verlief äußerst angenehm. Sowohl Ackermann als auch Dr. Weber waren in bester Laune. Man scherzte, lachte viel und genoss das Acht-Gänge-Menü. Dr. Weber bestand auf der angebotenen Weinbegleitung, und so wurde zu jedem Gang der passende Wein serviert. Mit einem wohligen Gefühl im Magen und leicht beschwipst, orderte Stahl ein Taxi, das ihn zu seinem Hotel fuhr.

Stahl überlegte, ob er noch duschen sollte. Eigentlich fühlte er sich zu müde, doch dann betrat er das Badezimmer, entkleidete sich und stellte sich unter die Dusche. Er genoss das angenehme Gefühl, als ihm das heiße Wasser über den Rücken lief und spürte, wie er allmählich entspannte.

Ein leichter Lufthauch bewegte die Gardinen. Offenbar hatte er vergessen, das Fenster zu schließen. Er schloss es fröstelnd und legte sich ins Bett. Es war eines dieser modernen Boxspringbetten, wie es seine Frau Heike auch gerne zu Hause hätte. Doch Stahl waren sie einfach zu teuer. Außerdem fand er, dass man viel zu hoch lag. Wenn er auf der Bettkante saß, berührten seine Zehenspitzen so eben den Fußboden. Allerdings musste er sich eingestehen, dass es äußerst bequem war. Stahl arrangierte die Kissen in seinem Rücken so, dass er behaglich liegen und lesen konnte.

Er nahm das Büchlein aus dem Museumsshop vom Nachttisch und begann darin zu blättern. Er überflog das Inhaltsverzeichnis. Unter den rund zwölf Kurzgeschichten fiel ihm eine Geschichte besonders ins Auge. Sie trug den Titel ›In deinem Kopf‹. Interessiert schlug Stahl die im Buch angegebene Seite auf.

Schon beim Lesen der ersten Zeilen beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Inhalt und Sprache der Geschichte kamen Stahl auf Anhieb merkwürdig vertraut vor. Die Erzählung handelte von einem Ingenieur, der sich zu einem Geschäftstermin in Trier aufhielt und die in Trier gleichzeitig stattfindende Ausstellung über den römischen Kaiser Nero besuchte. Er blätterte einige Seiten weiter. Er konnte es kaum glauben, aber die Handlung schien absolut identisch mit seinem heutigen Tagesablauf. Aber nicht nur das, sogar die Lebensdaten der Hauptperson stimmten komplett mit seinen eigenen überein. Lediglich der Name war ein anderer. Stahl war nun plötzlich hellwach. Wie konnte dies nur möglich sein? Wollte ihn jemand auf den Arm nehmen? Erlaubte sich hier jemand einen Scherz mit ihm? Er dachte darüber nach, wer aus seinem Umfeld dafür in Frage käme. Ackermann! Ja, das konnte möglich sein. Sein Trierer Kollege war in der Firma für seine Scherze bekannt. Und war er nicht derjenige gewesen, der ihm den Besuch der Ausstellung empfohlen hatte? Vielleicht hatte Ackermann das Buch auf dem Verkaufstresen im Museumsshop so platziert, dass er es einfach kaufen musste. Ackermann kannte zudem sein Faible für antike Geschichte und auch, dass er hin und wieder gerne Krimis las. Ja, so musste es gewesen sein. Stahl seufzte erleichtert und war gleichzeitig amüsiert. Er fragte sich nur, warum Ackermann solch einen Aufwand betrieb. Seine Neugier war geweckt, und er wollte nun unbedingt wissen, wie die Handlung der Kurzgeschichte weiterging.

Der Ingenieur heißt Peter Eisen, stammt auch aus Zwickau, ist verheiratet und hat einen Sohn. Auch arbeitet er für denselben Automobilkonzern und leidet wie Stahl unter seinem Vorgesetzten. Nun gut, sagte sich Stahl, das war Ackermann alles bekannt. Doch dann ging es weiter. Ein Kollege empfiehlt der Hauptfigur den Besuch der Nero-Ausstellung. Der Gang von Peter Eisen, in dem Stahl sich wiedererkannte, durch die Ausstellung wird ausführlich beschrieben. Hier stutzte Stahl erneut.

Wie konnte das sein? Es wird genau geschildert vor welchen Vitrinen Peter Eisen steht und für welche Exponate er sich besonders interessiert. Es waren genau die Ausstellungsstücke, für die auch Stahl sich mehr Zeit genommen hatte. Selbst das Gespräch mit dem Wachmann, der ihn ermahnt hatte, nicht zu dicht an die Exponate heranzutreten, wird erwähnt. Peter Eisen hat das gleiche Erlebnis mit einem der Angestellten. Das konnte Ackermann doch unmöglich wissen! Oder hatte Ackermann ihn etwa verfolgt? War er ihm durch die ganze Stadt, durch die Ausstellung gefolgt? Und wenn ja, warum? Nur wegen eines Scherzes, den er sich mit ihm erlaubte? War dies nicht ein zu großer Aufwand? Stahl schüttelte den Kopf. Das ergab doch alles keinen Sinn. Ackermann war für seine recht geschmacklosen Scherze bekannt. Aber wie hätte Ackermann das alles anstellen sollen? Das Buch lag doch auf dem Verkaufstresen, fertig gedruckt und gebunden.

In Stahls Kopf rumorte es. Wer auch immer sich diesen Spaß mit ihm erlaubte, er hatte sich sehr viel Mühe gegeben. Einerseits empfand er diese Art des Humors als geschmacklos, anderseits platzte er vor Neugier. Er wollte unbedingt wissen, wie die Geschichte von Peter Eisen weiterging.

Stahl las weiter. Er gelangte an die Stelle, bei der das Abendessen von Eisen und seinen Kollegen beschrieben wird. Jeder einzelne Menüpunkt ist aufgeführt. Es sind exakt dieselben Gerichte, die auch Stahl zu sich genommen hatte. Das im Restaurant angebotene Menü hätte Ackermann allerdings gut im Vorhinein recherchieren können, dachte Stahl. Aber wie hätte er den Ablauf der Gespräche vorhersehen sollen? Denn auch diese waren identisch. Es wurde zusehends merkwürdiger. Sicher, man konnte die Konversation in die eine oder andere Richtung lenken. Aber wie hätte Ackermann im Vorfeld wissen können, dass die Trockenbeerenauslese, die der Sommelier zum Dessert servierte, Kork hatte? Weber, der ein ausgewiesener Weinkenner war, hatte den Sommelier darauf aufmerksam gemacht. Danach war eine interessante Unterhaltung mit diesem entstanden. Es war doch schwer vorstellbar, dass Ackermann dieses Gespräch geahnt hatte. Wie hätte das gehen sollen? Was ging hier nur vor sich? Das war mehr als nur ein Scherz.

Inzwischen kam Stahl an die Stelle im Text, in der Peter Eisen sein Hotelzimmer betritt. Genau wie er selbst legt Eisen das Taschenbuch, das auch er zuvor im Museumsshop erworben hat, auf den Nachttisch und beschließt, vor dem Schlafengehen zu duschen. Als er aus dem Badezimmer kommt, bemerkt er, dass das Fenster offen steht. Fröstelnd schließt Eisen das Fenster, legt sich ins Bett und beginnt zu lesen.

Stahl wurde kalt. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihm breit. Hier hatte die Geschichte im Buch seine eigenen Handlungen zeitlich eingeholt. Er war gespannt, was nun geschehen würde.

Eisen bekommt Durst, steigt aus dem Bett und geht zur Minibar, die sich unter dem Fernseher befindet. Er wundert sich, dass die kleine Flasche Whiskey, die er am Morgen noch gesehen hatte, fehlt.

Das Gelesene ließ Stahl nun keine Ruhe, zudem verspürte er plötzlich Durst. Er warf die Bettdecke zurück und ging ebenfalls zur Minibar. Wie befürchtet, fehlte auch in seinem Kühlschrank die Whiskeyflasche. Stahl sah sich im Zimmer um. Sicherlich handelte sich alles nur um ein Versehen. Womöglich hatte das Zimmermädchen sie falsch eingeräumt, und es war alles nur ein dummer Zufall. Aber so richtig glauben, konnte er dies nicht, denn er war sicher, das Fläschchen am Morgen noch gesehen zu haben, als er sich einen Underberg genommen hatte. Stahl schüttelte verwirrt den Kopf.

Plötzlich hörte er Schritte auf dem Gang vor seinem Zimmer. Bestimmt handelte es sich um spät heimkehrende Gäste, versuchte er sich zu beruhigen. Er lauschte gespannt. Der Klang der Schritte schien genau vor seiner Zimmertür zu enden. Stahl brach der Schweiß aus. Einer Eingebung folgend nahm er das Buch und las weiter. Stahl wurde schwindelig, er musste sich auf die Bettkante setzen.

Auch in der Erzählung hört Peter Eisen Schritte auf dem Flur, die sich seiner Zimmertür nähern. Stahls Herz raste und er spürte das Adrenalin in seinen Adern. Er atmete tief ein und aus, bemüht darum, Ruhe zu bewahren. Die Schritte waren verstummt. Sicher war der Gast längst in seinem Zimmer. Wovor sollte Stahl denn auch Angst haben? Sah er etwa schon Gespenster? Das war doch einfach alles Blödsinn, beschwor er sich. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Wer sollte ihn denn verfolgen? Er machte sich doch lächerlich, dachte er verärgert. Würde er diese Geschichte Heike nach seiner Rückkehr erzählen, würde sie ihn ganz sicher auslachen.

Wütend klappte Stahl das Buch zu und legte es auf den Nachttisch. Schluss damit, sagte er sich. Er musste schlafen, denn der folgende Tag würde anstrengend werden. Es war vereinbart, dass er noch einmal kurz bei den Trierer Kollegen vorbeischauen würde, ehe er sich auf die lange Heimfahrt nach Zwickau machen würde. Stahl legte sich wieder ins Bett, drehte sich auf die Seite und knipste die Nachttischlampe aus. Er versuchte, die Geschichte auszublenden und an andere Dinge zu denken. Doch es nutzte nichts. Immer wieder sah er sich selbst durch die Ausstellung gehen und verglich seine Handlungen mit denen von Peter Eisen. Es gab keinen Zweifel. Alles war identisch, die Wege durch die Stadt, die Ausstellung, das Abendessen. Nachdem er sich mehrere Minuten im Bett hin und her gewälzt hatte, gab er auf. Er fand einfach keine Ruhe. Diese Kurzgeschichte ließ ihn nicht mehr los.

In diesem Moment hörte er ein Poltern. Das Geräusch schien aus dem Nachbarzimmer zu kommen. Frustriert nahm Stahl das Buch zur Hand.

Natürlich hört auch Peter Eisen Geräusche, die aus seinem Nachbarzimmer zu kommen scheinen.

Stahl lauschte gebannt. Die Geräusche waren immer noch zu hören. Es klang, als würde jemand Möbel verrücken, allerdings bemüht, keinen unnötigen Lärm zu verursachen. Plötzlich hatte Stahl das Gefühl, dass irgendjemand an seiner Zimmertür hantierte. Vorsichtig erhob er sich aus seinem Bett und sah Richtung Tür. Unter dem Türschlitz drang ein schwacher Lichtstrahl in sein Zimmer. Ihm war, als wäre dort ein Schatten zu sehen, als würde jemand vor der Tür stehen. Stahl schlug das Herz bis zum Hals. Schnell nahm er das Buch zur Hand und las weiter.

Peter Eisen ist ebenfalls verwirrt. Er wähnt eine Person vor seiner Zimmertür. Dann wartet er eine Weile, und als er sicher ist, dass alles still ist, öffnet er vorsichtig die Zimmertür. Im Flur sorgt lediglich die Notbeleuchtung für fahles Licht. Eisen schleicht zum Zimmer, das sich rechts neben seinem eigenen befindet, und lauscht. Das Poltern hat aufgehört. Doch dann hört er wieder Schritte. Es klingt, als würde im nächsten Augenblick jemand um die Ecke kommen. So leise wie möglich geht Eisen in sein Zimmer zurück und schließt die Tür. Er bleibt hinter ihr stehen und horcht angespannt. Die Schritte kommen näher und näher. Dann scheint die Person erneut genau vor seiner Zimmertür zu stehen. Er hört, wie sie an der Tür nestelt, als ob sie versuche, in sein Zimmer einzudringen.

Während Stahl weiter las, vernahm auch er erneut ein Geräusch. Es klang, als ob jemand versuchen würde, sich Zugang zu seinem Zimmer zu verschaffen. Auf Zehenspitzen schlich er zur Tür. Vorsichtig betastete er die Verriegelung. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Tür abgeschlossen war, atmete er erleichtert auf. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Pyjamas den Schweiß von der Stirn. Er hatte das Gefühl, allmählich durchzudrehen. Das konnte doch unmöglich ein Scherz sein. Was wurde hier nur gespielt? Im Flur schien es plötzlich wieder ruhig zu sein. Er musste sich geirrt haben. Da war rein gar nichts, versuchte er sich einzureden. Er kauerte sich auf sein Bett und überlegte, was er tun sollte.

Peter Eisen im Buch ergeht es genau wie ihm. Er ist starr vor Angst und überlegt, was er tun soll.

Stahl schüttelte den Kopf. Dann legte er das Buch zur Seite. Wenn er weiter las, würde er verrückt werden. Dennoch war er hin- und hergerissen, denn er wollte trotz allem wissen, wie es Peter Eisen weiter erging.

Nach einer Weile fasste sich Stahl ein Herz und ging zur Zimmertür. Er lehnte sein rechtes Ohr an die Tür und lauschte. Auf dem Gang schien alles ruhig. Er seufzte, öffnete die Verriegelung und trat hinaus auf den Gang. Es war nahezu dunkel. Einzig die Hinweisschilder für die Notausgänge sorgten für schwaches Licht. Auf der Suche nach dem Lichtschalter, tastete Stahl die Wand ab. Als der Flur hell erleuchtet vor ihm lag, atmete Stahl erleichtert aus. Da war rein gar nichts. Alles war ruhig. Die anderen Gäste lagen sicher längst in den schönsten Träumen, und er machte sich unnötig verrückt. Plötzlich hörte er Schritte. Stahl erstarrte. Wie konnte dies alles nur möglich sein? Es erging ihm genau wie Peter Eisen! Er musste die Geschichte durchbrechen. Eisen war in sein Zimmer zurückgeeilt und hatte die Tür verriegelt. Wenn er, Friedrich Stahl, dem Ganzen einen anderen Verlauf geben wollte, müsste er dann nicht stehen bleiben? Stahl lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Angestrengt hörte er auf die näher kommenden Schritte. Es klang, als würde jemand im nächsten Moment um die Ecke kommen. Sollte er weiter warten? Noch war Zeit, sich in sein Zimmer zu flüchten. Flüchten? Hatte er das gerade wirklich gedacht. Er übertrieb maßlos und ärgerte sich. Wütend entschied er, stehen zu bleiben und abzuwarten, wer da kam. Wenn Peter Eisen so ängstlich war, Pech für ihn. Stahl war es nicht!

Stahl stand im Pyjama und mit pochendem Herzen im Flur. In diesem Moment war ihm egal, welchen Eindruck er so machen würde. Er wollte einfach nur wissen, was hier vor sich ging. Aber die Schritte verebbten genauso plötzlich, wie sie gekommen waren. Er hatte den Eindruck, als wäre irgendwo auf den Gängen eine Tür geöffnet und anschließend wieder geschlossen worden. Stahl seufzte. Es war genau, wie er sich gedacht hatte, einfach nur ein Gast, der sein Zimmer betreten hatte.

Stahl ging in sein Zimmer und verriegelte sicherheitshalber erneut die Zimmertür. Er legte sich wieder ins Bett. Er würde noch die letzte Seite lesen und dann wäre die Geschichte von Peter Eisen endlich beendet.

Auch Peter Eisen legt sich nach seinem Ausflug in den Hotelflur wieder hin. Das Poltern im Nachbarzimmer und ebenso die Schritte auf dem Flur, die er vernommen hat, sind verebbt. Vermutlich ist es ein spät heimkehrender Hotelgast, beruhigt Eisen sich.

Stahl las weiter. Plötzlich ließ ihn ein neuerliches Geräusch aufhorchen. Nun klang es, als würde jemand an seiner Zimmertür hantieren. Er überlegte, was er tun sollte. Eigentlich sollte er mutig sein, die Tür aufreißen und nachsehen. Aber ihm fehlte dieser Mut, wenn es ihm auch schwerfiel, sich dies einzugestehen. Vorsichtig erhob er sich aus seinem Bett und schlich zur Tür. War dort nicht auch ein Schatten unter der Tür? Es schien tatsächlich so, als würde jemand außen davor stehen. Wieder knarzte es an der Tür. Verzweifelt schaute sich Stahl im Zimmer nach einer Waffe um. Auf dem Schreibtisch stand eine Tischlampe. Die würde es sicher tun. Stahl schlich leise zum Schreibtisch, zog den Stecker der Lampe aus der Steckdose und ging zur Tür. Er hatte das Gefühl, dass man jeden seiner Schritte hören musste, dabei war der Boden mit Teppich ausgelegt. Seine Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Stahl stand hinter der Tür und lauschte erneut. Die Geräusche schienen verstummt. Er wartete noch einen Moment, und als er sicher war, dass alles ruhig war, öffnete er entschlossen die Tür und hielt dabei die Lampe wie einen Hammer in der Hand. Alles war leer und auf dem Flur herrschte eine gespenstige Stille.

Nun war Schluss. Stahl reichte es endgültig. Er machte sich hier doch total zum Affen. Kopfschüttelnd blickte er an sich hinunter. Wie er dastand, mit seinen karierten Pyjamas und der Lampe in der Hand! Er gab ein absolut lächerliches Bild ab und ärgerte sich.

Nachdem er die Lampe an ihren Platz zurückgestellt hatte, ging er ins Bett zurück. Er starrte an die Decke, dann wanderte sein Blick zum Buch auf dem Nachttisch. Was soll’s, dachte er. Die Geschichte war doch sowieso fast zu Ende. Nun konnte er auch noch die letzte Seite lesen.

Aus kurzem traumlosen Schlaf wird Peter Eisen durch ein neuerliches Geräusch gerissen. Diesmal klingt es wie ein Kratzen, das jedoch nicht aus dem Flur oder dem Nachbarzimmer kommt, sondern aus dem Badezimmer. Er ist müde und fühlt sich gerädert, er will einfach nur noch in Ruhe schlafen. Wütend steigt er aus seinem Bett und reißt die Badezimmertür auf.

Peter Eisen fährt zusammen. Vor ihm steht ein weiß gekleideter und mit einem weißen Mundschutz maskierter Mann. In seiner Rechten hält er einen Dolch. Der Mann kommt aus dem Bad auf Eisen zu. In seiner Panik versucht Eisen, die Badezimmertür zuzudrücken. Doch es gelingt ihm nicht. Der Mann, der kein Wort spricht, ist größer und kräftiger als er. Entsetzen macht sich in Eisen breit, als er spürt, dass er dem Mann hilflos unterlegen ist. Der Mann packt ihn an der Kehle und drückt ihn an die Wand. Eisen versucht, sich aus dem Griff des Mannes zu winden. Zunächst gelingt es ihm. Doch der Mann drückt immer stärker zu. Eisen hat keine Chance. Der Mann hält ihn am Oberarm fest. Dann rammt er ihm den Dolch in den Bauch. Eisen schreit vor Schmerz auf. Das letzte, woran er noch denken kann, ist, dass er sterben wird, ohne zu wissen warum.

Nachdem der Unbekannte Eisens Leichnam auf den Boden gelegt hat, entfernt er seine Maske. Der Mann ist kein geringerer, als Peter Eisens Arbeitskollege aus dem Trierer Werk. Verächtlich blickt er auf die Leiche.

»Du Schwein! Das hast du jetzt davon. Du wirst uns nicht den Auftrag kündigen. Die Arbeit der letzten Wochen soll nicht umsonst gewesen sein. Du und deine Liebe zu Nero! Nun bist du genauso gestorben, wie dein vergötterter römischer Kaiser!«

Stahl klappte das Buch zu und legte es zitternd auf den Nachttisch. Also war es doch der Arbeitskollege und somit Ackermann, ging es ihm durch den Kopf. Im nächsten Augenblick vernahm er ein kratzendes Geräusch, das aus dem Badezimmer zu kommen schien. Er erschrak, Schweiß trat ihm auf die Stirn, und Panik ergriff ihn. Er dachte fieberhaft darüber nach, was er tun sollte. Dann hörte er erneut ein Scharren. Diesmal war er sicher, dass es aus dem Badezimmer kam. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

Er überlegte fieberhaft, warum Ackermann ihn so quälen wollte. Wollte Ackermann ihn etwa nur wegen ein paar Bauteilen, die nicht durch die Qualitätskontrollen gekommen waren, und eines dadurch entzogenen Auftrags ermorden? Es war doch nicht seine Schuld. Die Order kam von ganz oben aus der Führungsebene, er war nur das kleine Licht, das man vorgeschoben hatte, um die schlechte Nachricht zu überbringen. Letztlich nutzte auch keine Einladung ins Sternelokal. Regeln mussten einfach eingehalten werden. Das müsste Ackermann doch bewusst sein.

Dann beschloss Stahl sich zusammenzureißen, eigentlich war Peter Eisen doch nur eine fiktive Figur aus einer dummen Kurzgeschichte. Was sollte das Ganze mit ihm zu tun haben? Gar nichts, gab er sich selbst die Antwort.

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen erhob er sich vorsichtig aus seinem Bett und schlich zur Badezimmertür. Er atmete tief durch und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Mit einem Ruck riss er die Tür auf. Ein Schrei entfuhr ihm, als er sich einem weißgekleideten und maskierten Mann gegenüber sah.

Er versuchte, den Mann abzuwehren, und schlug wild um sich. Aber dann wurde ihm plötzlich schwarz vor Augen. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass er sich wie auf Watte gebettet fühlte und aus der Ferne eine sanfte Stimme zu ihm drang, deren Worte er jedoch nicht mehr verstehen konnte.

Friedrich Stahl lag schweißgebadet und an Armen und Beinen fixiert auf einer Liege. Der Raum, in dem er sich befand, war fensterlos und vom Boden bis zur Decke mit weißen Fliesen gekachelt.

Ein großer, kräftiger, dunkelhaariger Mann wischte Stahl mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Dann schob er den Ärmel von Stahls Pyjama bis über den Ellenbogen hoch und verabreichte ihm eine Injektion in den Oberarm.

»Das wird Sie beruhigen, Herr Stahl.«

Anschließend verließ der Mann den Raum. Vor der Tür erwartete ihn eine Gruppe junger Leute, die ihn erwartungsvoll anblickten. Alle trugen - genauso wie er selbst - weiße Ärztekittel.

»Was fehlt dem Mann denn, Herr Professor Ackermann?«, fragte ein blondgelockter junger Mann.

Prof. Winfried Ackermann schüttelte den Kopf und sah in die Gesichter seiner Studenten. »Ein tragischer, wenn auch wissenschaftlich höchst interessanter Fall. Ich hätte Ihnen den Patienten gerne heute etwas näher vorgestellt. Aber er hatte seine Medikamente nicht genommen und stand unter extremem Verfolgungswahn.«

»Und wie ist seine Geschichte?«

»Der Patient«, erklärte der Psychiatrieprofessor weiter, »griff einen seiner Kollegen mit einem Dolch an, nachdem er ihn zuvor quer durch die ganze Stadt verfolgt hatte. Er leidet unter Wahnvorstellungen, wobei er sich von diesem einen Kollegen besonders bedroht fühlte. Er ist Maschinenbauingenieur und hat sich zudem als Historiker auf dem Gebiet der römischen Geschichte einen Namen gemacht. Sein Spezialgebiet ist Kaiser Nero. Da hat der Wahnsinn dann wohl Methode.«

Spiel mit mir

Paul Walz

Julian sah zu Bernie hinüber, der mit dem Mund lautlos die Worte formte: zehn Minuten. Er grinste und sah hinaus in einen Morgen, der nicht beginnen wollte. Obwohl es fast sieben Uhr war, konnte sich die Sonne nicht überwinden, so viel Licht durch den Bodennebel zu schicken, dass es langsam hell wurde. Ein Novembertag wie aus dem Bilderbuch für den Totensonntag.

Bernie trank einen großen Schluck aus seinem Becher und verzog das Gesicht.

»Wird schon kalt.«

Julian zuckte mit den Schultern. »Gleich kauf‘ ich Brötchen und dann gibt es einen Cappuccino wie beim Italiener.«

»Und dazu deine Ines.«

»Nur kein Neid.« Sie schwiegen wieder.

Bernie schielte erneut auf die Uhr und hob die Hand. »Noch fünf.«

Auch Julian freute sich auf das Ende ihrer Schicht, denn nun würden sich drei freie Tage anschließen, die er diesmal wirklich nötig hatte.

Seit vier Jahren fuhr er nun meistens mit Bernie auf Streife. Ihm machte der Schichtdienst nichts aus, bot er doch die Möglichkeit, seinem Sport nachzugehen, und Abwechslung, die ihm ein Bürojob im Präsidium nie gegeben hätte. Die letzte Nacht allerdings war schlimm gewesen. Erst eine Schlägerei in Trier-West. Zwei Kosovo-Albaner waren wegen eines Mädchens aneinandergeraten und derart in Fahrt, dass Bernie den einen nur mit einer Ladung Pfefferspray stoppen konnte, die wohl auch einen Ochsen blind gemacht hätte. So der Originalton seines Kollegen. Er selbst musste dem anderen den Arm auf den Rücken drehen und minutenlang ruhigstellen, bis dessen Wut verraucht war. Als endlich Ruhe war, begannen Betrunkene, in der Simeonstraße zu randalieren und Mülleimer anzuzünden. Zu allem Überfluss ereignete sich gegen vier Uhr ein schwerer Unfall am Katharinenufer. Julian war gerade einen Moment eingenickt, als der Funk ihn weckte. Ein Achtzehnjähriger hatte die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Er schleuderte über den schmalen Grünstreifen und krachte frontal auf einen LKW. Den Polizisten bot sich ein Bild des Grauens, als sie mit drei weiteren Streifen die Unfallstelle sicherten. Umgekommen war der Junge nicht, doch in dem Körper, den die Feuerwehr aus dem Wrack schnitt, war nicht mehr allzu viel Leben.

Julian gähnte und reckte die verspannten Knochen, seine Schulter knackte.

»Komm lass uns fahren, dann sind wir pünktlich.«

Bernie startete den Motor, rollte gemächlich die Südallee hinauf und bog auf den Parkplatz vor dem alten Polizeipräsidium, in dem nur noch ihre Wache übrig geblieben war. Eine Minute vor acht. Punktlandung.

Das Sprechfunkgerät knarzte, und eine leicht verzerrte Stimme ließ ihn die Augen verdrehen.

»Wagen 13, auf dem Hochhaus in Heiligkreuz an der Straßburger Allee steht ein Springer, ihr seid am nächsten dran.«

Julian griff das Mikrofon. »Verstanden. Wir sind unterwegs.«

Doch Bernie dachte nicht daran loszufahren, sondern hieb so aufs Lenkrad ein, dass es sich unter den Schlägen bog.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße. Warum kann dieser Blödmann nicht eine halbe Stunde warten und außerdem, wieso fahren nicht die von der Tagschicht da hoch? Die müssten alle da sein. Verdammt noch mal, ich bin hundemüde.«

Er wendete maulend und schimpfend den Wagen, brauste vom Parkplatz, schaltete das Blaulicht und das Martinshorn ein, um mit hohem Tempo die wenigen hundert Meter hinauf nach Heiligkreuz zu rasen, einem Ortsteil, der auf einer Moselterrasse oberhalb der Stadt lag.

Das Gebäude war nicht schwer zu finden. Schon als sie die Anhöhe hinaufkamen, fuhren sie frontal auf den zwölfstöckigen Bau zu, vor dem eine Handvoll Passanten standen und in den Dunst starrten, der die oberen Etagen umwehte.

Julian folgte mit den Augen ihrer Blickrichtung und sah die einsame Gestalt schemenhaft am Ende des langgestreckten Dachs stehen und in die Tiefe schauen.

»Ist der Seelenklempner informiert?«, fragte er ins Funkgerät.

»Ja, wird aber eine halbe Stunde dauern. Einer von euch muss da rauf und versuchen, den Mann hinzuhalten.«

»Du!« Bernie ließ keinen Zweifel offen. »Ich kann das nicht.«

Julian sah ihn missmutig an, hatte aber eigentlich nicht damit gerechnet, um die Aufgabe herumzukommen. Es war seit jeher ihre Aufgabenteilung, dass er die Dinge machte, in denen es darum ging, andere zu überzeugen. Also nickte er nur und stieg aus.

»Sperr den Bereich ab, nicht dass der noch einem Gaffer auf die Birne springt.«

Im Eingang zum Treppenhaus stand ein älterer Herr, der ihm in Bademantel und mit zerzausten Haaren erleichtert entgegensah.

»Er steht auf dem Dach.«

»Ja, ich habe es schon gesehen. Wie komme ich da rauf?«

»Mit dem Aufzug.«

Julian nahm die Mütze ab und blickte nach oben. Der hässliche Koloss aus Sichtbeton hatte nur ein Treppenhaus, von dem aus offene Laubengänge zu den Wohnungen führten.

»Sechsunddreißig Meter.«

»Wie bitte?«, er sah den Mann, der ihm geduldig die Tür aufhielt, verständnislos an.

»Das Haus hat zwölf Etagen und ist sechsunddreißig Meter hoch. Wenn er springt ...«

Er ließ den Satz unvollendet, doch es war klar, was er damit sagen wollte.

»Ja, das reicht aus. Bringen Sie mich hinauf.«

Als die Schiebetür des Fahrstuhls nach kurzer Fahrt zur Seite glitt, sah er eine schmutzige Betontreppe, die in einer Windung auf das Dach führte, da graues Tageslicht hineinfiel.

»Sie warten bitte hier«, wies er seinen Begleiter an und nahm die Stufen nach oben. Wind und Kälte schlugen ihm heftig entgegen, als er ins Freie trat und auf das Funkgerät drückte. »Ich bin oben. Bleib dran, damit du mich hörst, wenn ich dich brauche. Hoffentlich kommt der Psychologe bald.«

Bernie knurrte kurz seine Zustimmung.

Der Wind hatte inzwischen Bodennebel heran getrieben, der den Turm einhüllte. Das Ende des Daches war gerade noch auszumachen und mitten in diesem Grau zeichnete sich die Silhouette einer Gestalt ab.