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„Ich bin die Sonne – fass mich nicht an. Ich bin der Wind, den niemand fangen kann. Ich bin das Rascheln der Blätter, hab die Augen zu, flieg durch die Welt – wer dagegen bist du?“ Wenn es Lutz schlecht geht, spielt er sein Spiel, das ihn unsichtbar macht. Hätte er nicht seinen kleinen Bruder, wäre er schon längst abgehauen. Denn wenn sein Vater betrunken ist, dann schlägt er Lutz brutal. Das allerdings darf niemand erfahren, selbst Nini nicht, in die er sich Hals über Kopf verliebt. Und als ob Lutz nicht schon genug Probleme hätte, muss er bald herausfinden: Warum faselt der Gärtner, Jupp, ständig von gefährlichen Schweinen? Und was hat er zu verheimlichen? „Im Wald, da sind die Schweine“ zeigt ein ernstes Thema aus einer anderen Perspektive. Es bleibt noch jede Menge Raum für Abenteuer, erste Liebe und einen Hauch Magie.
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Seitenzahl: 410
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Nachdruck, auch auszugsweise sowie Verbreitung durch Film, Fernsehen, Kopien oder Datenverarbeitungssysteme jeder Art, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Die Namen und Personen des Romans sind frei erfunden. Eine Namensgleichheit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig. Ungeachtet der Sorgfalt, die auf die Erstellung des Textes verwendet wurde, kann die Autorin für mögliche Fehler und deren Folge, keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung übernehmen.
Meinem Vater, der meine Lust am Schreiben von klein auf unterstützt hat. Meiner Freundin Tanja, die immer an dieses Buch glaubte.
Allen Kindern, die bei meinem Malwettbewerb mitgemacht haben vor allem auch der Erweiterten Realschule Sulzbach und der Gemeinschaftsschule Sulzbachtal, die dieses Projekt unterstützt haben,
sagt eure Tina Krauss
Bild: Luisa Napthali ( 14 J. Berlin)
Für Julchen, die die Blaue Blume rettete
Daniel Hoffmann (Erweiterte Realschule Sulzbach)
Kein Buch wie jedes andere:
Bücher sind ein bisschen wie Menschen, keines ist wie das andere.
„Im Wald, da sind die Schweine!“ ist jedoch auf vielerlei Arten ein ganz besonderes Buch. Bewusst wollte ich in ihm ein schwieriges Thema auf eine andere Weise zeigen. Ich wollte sozusagen die Perspektive wechseln, was ich ja auch tatsächlich tat.
Manche finden das womöglich respektlos und zweifeln an meiner Ernsthaftigkeit, weil ich über Alkoholismus und Gewalt gegen Kinder in Reimen und aus kindlicher Sicht schreibe. Außerdem gibt es ja auch jede Menge zu schmunzeln z. B. über den legendären Captain Morgan oder den kleinen Leon.
Das kommt daher, dass ich glaube, dass das Leben selbst nie einseitig ist: Auch glückliche Menschen weinen und Kinder aus sehr belasteten Verhältnissen lachen gerne.
Andere Leute werden sagen: »Bei so einem Gewaltthema, da muss man einen Tick härter herangehen!« Ich sage denjenigen: »Jemanden zu schocken ist so leicht, ihn dagegen nur zu berühren ist viel schwerer!«
Außerdem richtet sich mein Buch vornehmlich an Jugendliche, für sie habe ich zwar ein Buch geschrieben, das einen ernsten Hintergrund, aber auch viel Unterhaltungswert hat und bei dem, nach der letzten Seite, kein bitterer Nachgeschmack bleibt.
Was war eigentlich 1984?:
„Im Wald, da sind die Schweine!“ spielt 1984, genauer gesagt im September. Man könnte die Handlung in die Neuzeit versetzen. Denn den Zusammenhang Alkohol und Misshandlung gibt es nach wie vor. Doch ich wollte meinen Roman gerne in den Zeiten meiner eigenen Kindheit spielen lassen. So konnte ich besonders authentisch beschreiben, was ich vor meinem inneren Auge sah.
Für die jüngeren Leser:
Mein Roman beschreibt das Leben in meinem Heimatort Herrensohr (bei Saarbrücken).
Dieser Ort wird von den Einheimischen auch heute noch „Kaltnaggisch“ („kalt und nackt“) genannt, was seltsam ist, denn es gibt sehr viel Wald dort.
In meiner Kinderzeit war es üblich, dass wir in großen Gruppen auf der Straße spielten. Es gab ja noch keine Handys und kein Internet.
Oftmals spielten wir im nahegelegenen Wald oder gingen zur „Sandkaul“, was wirklich ein besonders toller Ort war, besonders zum Bogenschießen.
Wir legten im Wald viele Kilometer auf dem Fahrrad zurück und jede Mutter heute bekäme wohl Schnappatmung, weil wir erst 6 oder 7 Jahre alt waren.
Die Musik war eine andere als heute, oft Rock und Pop aus Amerika z. B. Madonna, Billy Idol, aber die sogenannte „Neue Deutsche Welle“ mit z. B. Nena spielte auch eine Rolle. Die Musik hörte man zu Hause auf Schallplatte, unterwegs benutzten wir einen sogenannten „Walkman“.
Man bezahlte mit der D-Mark (eine Mark hatte 100 Pfennig). Ein Mark entspricht ungefähr 50 Cent unseres heutigen €. Ein Brot kostete damals ca. 2,84 DM, ein Arbeiter verdiente ungefähr 969 DM monatlich.
Deutschland war geteilt. Für uns Kinder war Ost-Deutschland so weit und fremd wie Japan. Wir konnten uns nicht erklären, dass es ein Land gab, in welchem man unsere Sprache sprach, das aber dennoch zu einem andern Staat gehörte. Außerdem wussten wir, dass man aus der DDR nicht ausreisen durfte, und wir fanden die Vorstellung sehr gruselig.
Ebenso schlimm war die Tatsache, dass eine neue Krankheit die Welt bedrohte. Sie hieß „Aids“, und die Zeitungen waren „voll davon“. Trotzdem wollte niemand der Erwachsenen uns erklären, wie sie übertragen wurde. Darum spekulierten wir wild und spielten ein Fangspiel. Wenn man dabei jemanden antippte, dann schrie man: »Du bist „veraidst“! Wer „veraidst“ war, durfte nicht mehr mitspielen - bis er erneut berührt wurde.
Das beliebteste Wort unter uns Kindern war „geil!“, das kam daher, dass wir es bei Strafe nicht sagen durften, weil es angeblich etwas ganz Übles bedeutete. Sobald die Erwachsenen nicht dabei waren, wurde alles mit „geil!“ betitelt, was nicht niet- und nagelfest war. Ich habe selten so gelacht.
Das Leben im Ort war beschaulich, es war noch stark von kirchlichen Einflüssen geprägt.
Viele Väter arbeiteten immer noch im Bergbau, aber der war bereits auf einem absteigenden Ast.
Kleidungs- und frisurenmäßig war wirklich alles erlaubt: hochgestellte Haare, Dauerwelle. Vorne kurz -hinten lang oder aber kurze Haare und ein geflochtenes Schwänzchen, wie es viele Jungs trugen. Dabei galt: je bunter desto besser! Damals kaufte ich mir neue Hosen, und wenn die nicht schon Löcher hatten, schnitt ich welche hinein und sprühte noch einen coolen Spruch darauf.
Seite →: konvertiert - die Religion wechseln
Seite →: Motorik - Bewegungsentwicklung
Seite →: Nimue - auch bekannt als Vivianne ist die Herrin des Sees, die in der Artus-Sage das Schwert Excalibur übergibt.
Seite →: Lerchesflur - Männergefängnis in Saarbrücken
Seite →: Numerus clausus - Notendurchschnitt, der einen berechtigt eine bestimmte Fachrichtung zu studieren
Seite →: Mireille Matthieu - französische Sängerin
Viel Spaß beim Lesen wünscht eure Tina Krauss!
Vorwort
Nini
Im Wald, da sind die Schweine, ’s gibt große und ’s gibt kleine,
Lutz
’s gibt dicke und ’s gibt dünne. Sie gründeln in der Rinne ...
Nini
Sie grunzen und sie schaben. Sie wälzen sich im Graben.
Lutz
Ist so ein Schwein noch klein, dann darf es glücklich sein.
Lutz
Doch ist ein Schweinchen groß, ist nicht mehr so viel los. Es fragt sich: Was geschieht warum und wieso mach ich mich so krumm?
Lutz
Im Wald, da sind die Schweine, sie bleiben gern alleine.
Nini
Sie mögen nicht die Leute, denn sie sind ihre Beute.
Lutz
Sie woll‘n die Schweine jagen und wollen sie erschlagen.
Lutz
So müssen sie sich ducken, sie dürfen sich nicht mucken.
Lutz
Im Wald, da sind die Schweine, ’s gibt große und ’s gibt kleine,
Lutz
’S gibt starke und ’s gibt schwache, die haben nix zu lache.
Nini
Selbst wenn die Tiere schlafen, die bösen und die braven.
Lutz
Wenn sie dabei träumen, von Blumen und von Bäumen,
Nini
von Sträuchern und von Wäldern und unbewachten Feldern,
Lutz
von Eicheln und von Eckern, vom Schlemmen und vom Schleckern.
Nini
Im Wald, da sind die Schweine, nicht meine und nicht deine,
Lutz
kein Mensch kommt in den Wald hinein, nie kann ein Schweinchen freier sein.
Nini
Ein Schwein hat seine Triebe und kennt vielleicht die Liebe.
Nini
Wenn nachts die Ferkel zittern, dass Raubtiere sie wittern,
Lutz
erzählen auch die Alten von manchen Spukgestalten.
Nini
Kommt dann der Tag am Morgen, hält sich die Wutz verborgen.
Lutz
Nur in der Nacht, der kühlen, beginnt die Wutz zu wühlen.
Nini
Die Dunkelheit und Ruh deckt alle Wahrheit zu.
Lutz
Im Wald , da sind die Schweine, sie tragen keine Leine.
Nini
Und in der Abendstunde, da ziehn sie ihre Runde.
Lutz
Und kommt eine Gefahr, dann sind sie nicht mehr da.
Nini
Im Wald, da sind die Schweine, 's gibt dreckige, 's gibt reine.
Lutz
Wie viele Menschen auch, denken sie gerne mit dem Bauch.
Nini
Im Wald gibt es auch Elfen, die woll ´n den Menschen helfen.
Nini
Die Menschen müssten glauben, nicht nur an ihre Augen.
Lutz
Es ist im Wald recht dunkel, drum hört man viel Gemunkel.
Nini
Musst nur den Stimmen lauschen, die durch die Wipfel rauschen.
Lutz
Berichten sie dir Sachen, zum Weinen und zum Lachen.
Nini
Hast ein Gefühl im Nacken, ein Wispern und ein Knacken.
Lutz
Im Wald, da ist es nass, das macht den Schweinen Spaß.
Nini
Doch lauert auch der Tod im zarten Abendrot. Er kommt auf leisen Sohlen, die Schweinchen sich zu holen.
Lutz
Im Wald, das ist schon klar, sind viele Dinge wahr. Doch and ´re sind gelogen, dass sich die Bäume bogen.
Nini
Im Wald, da sitzt die Trauer, auf einer kleinen Mauer.
Lutz
Sie baumelt mit den Füßen, ich soll dich von ihr grüßen.
Nini
Im Wald schläft die Erinnerung, die kam vorbei auf einen Sprung, dann hat sie sich verkrochen, sie hat es so versprochen.
Lutz
Doch Schwüre kann man brechen wie Erlen, Eichen, Eschen und jemand sagte keck, ich kenn da ein Versteck.
Nini
Im Walde, ei der daus, da steht ein kleines Haus. Das Häuschen ist verborgen, drum mach dir keine Sorgen.
Lutz
Bei Eschen, Eiben, Buchen, da sollst du mich nicht suchen!
Nini
Bei Erlen, Tannen, Linden, da wirst du mich nicht finden!
Lutz
Hier hab´ ich ihn verborgen, zur allerletzten Ruh,
Nini
vor Kummer und vor Sorgen. Mach nur die Augen zu.
Lutz
Dort, wo das Farnkraut wedelt, da kannst du mich nicht sehen. Wo Hallimasche sprießen, da musst du weiter gehen.
Nini
Ein wunderschöner Tag, dass jeder baden mag. Nur in der kühlen Flut, fühl'n sich nicht alle gut.
Lutz
So kam die Nacht recht bald, mit einer Zwiegestalt.
Nini
Im Wald, da ist ein Mann, der viel erklären kann. Zum Beispiel stellt er klar, was früher einmal war.
Lutz
Im Wald , da ist ein Wächterschwein, kommt man zu nah, wird es gemein.
Nini
Es starrt dir in den Nacken, du hörst es manchmal knacken. Denkst du, es ist allein? Ich rieche noch ein Schwein!
Lutz
An diesem seltnen Ort, ist längst nicht alles fort. Denn Vieles ist noch hier: ein Schatz, ein Mensch, ein Tier.
Nini
Wer suchet, der wird finden.
Lutz
Nun musst du schnell verschwinden!
Nini
Im Wald, da sind die Schweine und Ängste ha ´m se keine.
Lutz
Kannst du schon nicht mehr stehen? Im Wald, da muss man gehen.
Nini
Wer unbehelligt reisen will, der hält bei der Verkleidung still.
Lutz
Bist du echt auf Draht? Im Häuschen steht ein Rad.
Nini
Drum bist du wirklich klug, nimm gleich den nächsten Zug.
Lutz
Im Wald, da ist ein Traum, der hängt an einem Baum.
Nini
Nun wird es Wirklichkeit. Bist du dazu bereit?
Lutz
Im Wald, da sind die Schweine. ’S gibt schluddrige, ’s gibt feine.
Nini
Wann ist ein Schwein denn fein? Es tritt für andre ein.
Im Wald, da sind die Schweine im hellen Mondenscheine. Bei Pilzen und bei Nüssen, das müsst ihr leider wissen, ist vieles noch geheim und wird es immer sein.
- Epilog -
Als wir 1984 in das große, alte Haus mit den hohen Decken zogen, war ich schon eine ganze Weile elf. Eigentlich war ich also schon halb zwölf. Ich war eine ganze Menge halb, wenn ich mir´s recht überlegte. Also war ich in dem Sinn eine ganze Menge Halbes und noch nichts Ganzes. Zum Beispiel war ich halb Türkin, halb Deutsche.
Das war die Schuld meines Vaters, der ganz Türke war. Gut, genaugenommen war es auch die Schuld meiner Mutter, die ihres Zeichens ganz Deutsche war. Aber das fiel nicht so stark ins Gewicht, da ich die deutsche Hälfte an mir lieber mochte, weil sie nicht so laut, gefühlvoll und einfach weniger auffällig war. Meinen Bruder mochte ich nicht so.
Manchmal dachte ich, das wäre, weil er auch das Vorrecht hatte, ein richtiger Deutscher zu sein. Er hieß Thomas, war schlaksig, dreizehn und blond wie ein Engel und mein Papa war nicht seiner. Meine Mutter sagte, ich solle nicht traurig sein darüber, dass ich türkisches Blut habe, denn auf so einen Papa, wie Thomas ihn hat oder eigentlich niemals hatte, müsse man nicht neidisch sein. Das Einzige, was er gut könne, sei sich vom Acker machen, wenn es brenzlig würde. So einen könne sie echt nicht mehr gebrauchen, da kriege sie Plaque, meinte sie immer, während sie mir einen Kuss auf die Stirn gab. Ich dachte, meine Mutter wüsste, dass ich dann und wann unter meinem Halb-Sein litt und ab und zu unter meinem Halb-Bruder ganz besonders. »Na, wie geht´s denn unserem kleinen Äffchen heute?«, fragte er oft am Frühstückstisch und zog mich an meinen schwarzen Haaren. Nicht so doll zwar, aber fest genug, dass ich mich ärgerte und meine Mutter ihm einen abschätzigen Blick zuwarf, der ihn verstummen ließ. Trotzdem sah er mich dann immer so seltsam an. Meine Mutter jedenfalls machte außer mir normalerweise keine halben Sachen. So hatte sie meinen Vater Kerim geheiratet und war bei dieser Gelegenheit gleich zum Islam übergetreten, was man daran erkennen konnte, dass sie seitdem tatsächlich ein Kopftuch trug. Ich sagte es bereits, sie machte keine halben Sachen.
Draußen auf dem großen Platz spielten ein paar Kinder. Zwei Mädchen schlugen ein Seil und eines mit langen blonden Zöpfen sprang darüber. Das machte sie gar nicht so übel. Jedenfalls war sie bisher nicht hängengeblieben. Die Fensterscheibe war etwas blind vor Dreck, man konnte darauf schreiben. Mein Finger zogen ein N, I, N, I,V, schließlich ein E. Als meine Mutter mit einem Umzugskarton ins Zimmer schneite, wischte ich schnell mit dem Handrücken über die Buchstaben.
»Ach, die muss ich bald mal putzen! Aber nicht heute und so wie es aussieht auch nicht morgen«, sagte sie, während sie einen Karton auf die alten Holzdielen knallte.
»Würden wir nicht so oft umziehen, hättest du mehr Zeit zum Putzen!«
»Mir ist klar, dass es für dich nicht leicht ist. Aber denk doch mal, hier hat Papa einen guten Job. Und du weißt, seit dieser dummen Geschichte mit dem Führerschein, ist es wichtig, dass er mit dem Bus dorthin kommt!«
»Ja, ja schon klar, es ist ja alles wichtig, nur ich nicht!«
»Ach, Nini!«, sagte sie nur und sie hatte dabei einen so traurigen Klang in der Stimme und fuhr sich so müde über die Stirn, dass mir das Gesagte gleich leidtat. Dennoch drehte ich mich einfach um und hörte nur, wie sie die Tür zuzog.
Da saßen wir nun in der Herbstsonne und alles brummte und summte. Alle wuselten um mich rum, nur ich, ich konnte nicht und ich mochte nicht, denn mir tat auf Deutsch gesagt der Arsch weh. Aber das war ja nix Neues. Neulich hatte die Frau Hantel mich nach der Stunde gefragt: »Sag mal Lutz, wo holst Du dir denn immer diese blauen Flecke?« Da hatte ich gesagt: »Ach Frau Hantel. Das kommt vom Ringen, da geh‘ ich doch immer mit meinem Cousin hin. Das macht Spaß!« Und ich hatte dabei so toll gegrinst, wie es nur ging, mit meiner geschwollenen Backe.
»Na sieht aber so aus, als ob du noch üben musst«, hatte sie gemeint und mir liebevoll über den Kopf gestreichelt.
»Versprochen!«
In diesem Moment hätte ich ihr am liebsten alles gesagt. Es tat so gut, wie sie mir die Hand auflegte. Doch, was hätte sie getan? Und was, wenn sie mich dann von Leon trennen würden? Nein, dann ertrag ich das lieber weiter. Ich musste auch an Mama denken.
Sehnsüchtig beobachtete ich Leon. Ich war etwas neidisch auf ihn. Wie er immer wieder den roten Eimer mit Sand füllte und auskippte, als ob es nichts um ihn gäbe. Als sei dies sein Sandkastenuniversum und selbst ich käme dort nicht mehr hinein. Niemand täte das, der älter als fünf ist. Es sei denn er stellte Asyl und Grund genug hätte ich ja. Es war ihm gelungen, eine beachtliche Sandburg aufzutürmen.
»Toll gemacht!«, lobte ich ihn, und er strahlte über sein pausbäckiges Kindergesicht. Leon bedeutet 'Löwe' und natürlich sind Löwen auch gute Kämpfer. Mein Bruder machte seinem Namen alle Ehre. Er kämpfte für sein Sandreich und strich mit Eifer die Seitenwände seiner Burg glatt. Ich half ihm dabei, wie ein großer Bruder hilft, was Leon nicht wusste: Am liebsten wäre ich in seine Sandburg eingezogen, hätte eine Sandprinzessin geheiratet und alles wäre gut. Leider wäre mein Asyl sicherlich abgelehnt worden. Es gab keines für Kinder über fünf, denn dann fängt es an. Oder konnte man sich dann nur daran erinnern. Versonnen spielte ich das Spiel, das ich immer spielte: » Ich mache mich unsichtbar - Ich bin die Strahlen der Sonne - Fass mich nicht an».
Ich bin der Wind, den niemand fangen kann. Ich bin das Rascheln der Blätter, hab die Augen zu, flieg durch die Welt und wer dagegen bist du?« Immer wieder sagte ich mir diesen Zauberspruch, ich versuchte mich zu lösen aus meinem Körper und rief: »Bitte lieber Gott, schicke mir jemanden, der mich versteht!« Aber ich war schlecht in meinem Spiel. Niemand beachtete mich, niemand sah mich, außer mein Vater! »Aber ich übe weiter Frau Hantel! Versprochen!«
Mittlerweile hatte ich ein Loch in den Staub der Scheibe gekratzt. Es fühlte sich besonders angenehm an, die Außenwelt zu beobachten und selbst absolut geschützt zu sein, selbst wenn es nur von Staub war. Müßig spähte ich zu den Hüpfern hinaus, die sich endlich abgewechselt hatten. Ein Mädchen von etwa acht Jahren im mausgrauen Sommerkleid sprang. Nicht nur der Wind machte ihr Unterfangen fast unmöglich, er blies das unpassende Kleidungsstück, wohin es ihm gefiel. Auch ihre Beine schienen ihr nicht wirklich zu gehorchen.
Da sah ich ihn unter der großen Eiche, deren Blätter schon begannen sich herbstlich zu färben, obgleich die Sonne unbeeindruckt brüllend heiß vom Himmel schien. Unscheinbar war er, dunkelblondes, zipfeliges Haar auf denen die Sonne schimmerte und der Wind spielte. Die Haare harmonierten gut mit seiner gebräunten Haut und dem hellen, ärmellosen Hemd. Ich sah den Jungen, der etwas älter als ich zu sein schien, nur von hinten. Und doch; etwas in sagte mir, dass sich unser beider Schicksale verflechten würden. Sei es für einen Sommer oder für ein ganzes Leben. Wer wusste das schon? In dem Moment, als ich mich näher an die Scheibe drückte, beugte er sich vor und steckte ein Zweiglein sehr sorgfältig in eine Sandburg. Das Kleinkind in meinem Augenwinkel war nur schemenhaft zu erkennen, und ich beschloss, meinen Beobachtungsposten zu verlassen.
Ein lauer Wind wehte durch die Allee. Er blies einige Blätter vor sich her, die sich entschlossen hatten, vorzeitig vom Baum zu fallen. Ich wusste, meine Zeit hier in diesem Paradies, war begrenzt. Ich würde in die Vorhölle zurückkehren müssen und alles würde umso schlimmer werden. Die Sonne stand schon so tief, dass ich gegen sie anblinzeln musste, als sich eine Gestalt näherte.
Sie hatte einen ausgefransten Jeansrock, der knapp überm Knie endete und ein schulterfreies Top mit großen grauen Streifen. Außerdem war das Oberhaar zu einem frechen Pinsel gebunden. Das restliche Haar glitzerte schwarz auf ihre Schultern. Ihre Bewegungen waren anmutig, obwohl sie Clogs trug, die diesen, wie auch schon letzten Sommer, total angesagt waren. Dann kam allerdings das Beste: ihr Lächeln. Es war mir, als ob alle meine Gebete erhört würden, als ob alle meine Gebrechen mit einem Mal heilten und sich mit ihrem Mund auch das Himmelstor öffnete. Einen Moment dachte ich darüber nach, als sie so im Gegenlicht stand, ob Gott mir endlich einen Engel gesandt hatte.
»Das wurde auch Zeit!«
Dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen hatte, wurde mir erst bewusst, als sie ihre sommerbesprosste Stirn in Falten zog. Sie setzte sich auf den Rand des Sandkastens und sagte: »Ich bin Nini!«
»Setz dich doch!«, sagte ich verspätet. »Mir gehört dieser Sandkasten hier!«
Nini lachte schallend. »Und alles, was darin ist?« Sie sah auf meinen Bruder.
»Darf ich dir vorstellen, das ist mein Bruder Leon.« Er war gerade mit seiner kleinen Gießkanne zurückgekehrt und bewässerte sein kleines Reich. Das Wasser aus dem Straßengraben versickerte fast augenblicklich im Sand. Aber in manchen Kuhlen hielt es sich doch lange genug, dass Leon darin herumpatschen konnte. Glück glitt über sein kugeliges Kindergesicht, als die Matschtropfen spritzten.
»Süüüß!«, meinte Nini.
Und ich wusste, dass sie recht hatte. »Ja, nur für ihn bin ich noch hier!«
»Hmm! Wie meinst du das?« Sie sah sehr betroffen aus.
»Ach, ich meine, nur weil es schon spät ist. Aber er liebt den Sandkasten.«
»Ja, das kann ich verstehen.« Das Mädchen sah nachdenklich aus.
Irgendwie hatte ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl, dass sie die Trauer über das verlorene Sandkastenreich auch spürte.
»Wie heißt du eigentlich?« Fest sah sie mich mit ihren dunklen Augen an und mir wurde heiß und kalt.
»L-l-lutz!«, stotterte ich.
»Lustiger Name!«, kicherte Nini.
»Ja, ich weiß. Der is´n bisschen doof. Ich hab das Gefühl meine Eltern konnten mich noch nie besonders gut leiden.« Absichtlich machte ich eine besonders gekränkte Miene.
Nini fasste meine Hand.
»Ach Quatsch, nur lustig! Mein Vater kommt aus der Türkei. Du glaubst nicht, was es dort für seltsame Namen gibt. Die wären hier glatt verboten. Eigentlich heiße ich Ninive.«
»Echt!«, stieß ich ungläubig hervor. Unwillkürlich näherte ich mich ihrem Gesicht, und es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden unbedingt küssen wollte. Es interessierte mich nicht, dass die Hüpferinnen uns erst angestarrt hatten und dann samt Seil verschwunden waren. Es interessierte mich nicht, dass die Glocken in der Ferne läuteten und dass mein Vater mit seinem Gürtel wartete. Nur sie war wichtig. Dieser sommersprossige Engel und dass ich irgendwie mit meinen Lippen zu ihm kam. Noch ein paar Zentimeter. Schon konnte ich ihren Atem schmecken, nahm ihren Geruch von Erdbeeren wahr. Ich liebe Erdbeeren. Da traf mich mitten in diesen verzauberten Moment ein Matschklos, den mein Bruder mir auf die Wange warf. Erschrocken taumelte ich zurück, ich konnte überhaupt nicht verstehen, was da gerade passiert war. Eigentlich dachte ich schon Nini hätte mich geohrfeigt. Und auf gewisse Weise hätte ich das sogar verstanden.
Ungläubig griff ich in die Reste der tropfenden Masse, die noch an meiner Wange hafteten. »Oh, Leon!« Auch der kleine Übeltäter selbst wirkte überrascht, dass sein Geschoss sein Ziel gefunden hatte. Dann gluckste er fröhlich.
Und wir drei bogen uns vor Lachen. Leon hatte mir ganz schön die Tour vermasselt. Ich hoffte sehr, dass das nicht für die Zukunft zur Gewohnheit würde.
»Ich wohn jetzt im Dritten«, sagte Nini.
»Ich im Zweiten. Ich habe heute Morgen den Möbelwagen gesehen.«
»Am Montag geht die Schule wieder los. In welche gehst du denn?«, wollte Nini wissen.
»Ich gehe in die Edith–Stein 6b. Ist zwanzig Minuten von hier. Ich bin mal hängen geblieben. Ich hab´s nicht so mit Schule.« Beschämt senkte ich den Kopf. Beinahe erwartete ich Schläge. Stattdessen griff sie behutsam nach meinem Kinn und hob es an.
»Cool! Ich soll auch in die 6b. Ich wurde mal zurückgestellt, aber jetzt läuft´s ganz gut!«
»Bei mir ist noch ein Sitzplatz frei!« Das war knallhart gelogen. Aber bis Montag würde es wahr werden und wenn ich den schielenden Sebastian eigenhändig von meinem Nebenplatz prügeln müsste. Nini zwinkerte mir zu.
»Wollen wir uns dann treffen?«
»Na klar! Ich freue mich!«
Das war nicht gelogen.
Ich betete zu Gott und Gott hatte ein Einsehen. Er ließ mich vor meinem Vater die Tür öffnen. Ich setzte meinen Bruder in seinen Hochstuhl und streichelte ihm die Locken. Sogleich ergriff er das bereitgelegte Plastikbesteck, um damit auf die Fläche vor sich einzutrommeln. Meine Mutter kam leicht verschwitzt aus der Küche, stellte eine Schüssel auf den Tisch, um sich die Hände an der gestreiften Schürze abzuwischen. Noch immer hatte ich dieses warme Gefühl, als hätte ich sie tatsächlich geküsst. Ich dachte: »Dieses Gefühl kann mir niemand nehmen. Es ist nur meins.« Nie zuvor wollte ich etwas nur für mich besitzen. Nicht den He–man und auch als die Carrerabahn ihren Geist aufgegeben hatte, war ich ungerührt. Doch ich merkte, dass dieses Gefühl anders war, es war nicht sichtbar, man konnte es nicht kaufen und es war höchstwahrscheinlich nicht einmal verboten. Doch das machte es nicht minder interessant. So war ich mir ziemlich sicher - es wäre nur meins! Das zauberte mir unwillkürlich ein Lächeln ins Gesicht.
Doch ich sollte mich täuschen, denn als meine Mutter mit den Fingerspitzen meine Haare berührte schienen feinste Antennen die Veränderung anzuzeigen. Sie erstarrte, schaute in mein Gesicht und lächelte unwillkürlich auch. Doch ihre Stirn zog sich in Falten, als wollte sie sagen: »Hier gibt es doch nix zu lachen!« Noch bevor sie das in Worte fassen konnte, ging die Tür auf. Sie zuckte richtig zusammen, und es tat mir weh, das zu sehen. Mein Vater stapfte in den Raum, und seine Gegenwart wollte das warme Gefühl vertreiben. Meine Haare stellten sich für einen kurzen Moment am ganzen Körper, vor allem, aber im Nacken. Schon hatte er seinen massigen Körper auf den Stuhl sacken lassen, der ächzte kurz, gab die Beschwerde aber schließlich auf.
Alle, sogar mein kleiner Bruder, sahen plötzlich zu Boden, und ich hatte das Gefühl, dass die Welt in unserem kleinen Wohnzimmer den Atem anhielt. Ich überlegte, was man wohl alles bei einem Atemzug der Welt tun könnte, man sie vielleicht sogar retten? Könnte ich mich retten, bevor das Jüngste Gericht losbräche? Dann kam mir in den Sinn, dass er es doch merken musste. Alle waren so stocksteif und vor Angst erstarrt. Konnte er das wollen? Machte es ihm nichts aus, dass niemand ihn ansah? Ächtung war früher eine weitverbreitete Strafe und sehr machtvoll, wie ich ´mal in der Bücherei gelesen hatte.
»Was soll das? Wieso starrst du mich so an?«, herrschte er mich mit seiner schneidenden Stimme an.
»Ach Papa, ich hab nur geträumt!«
»Sollst du nicht nachts träumen? Ich hab´ mir einen Sohn gewünscht, der weniger träumt und mehr tut!«
»Nicht alle Träume werden erfüllt,« gab ich zurück. »Aber vielleicht hast du ja bei Leon mehr Glück.«
Jetzt starrte er mich erbost an, aber die Schimpfworte steckten in seinem Hals und verursachten ein rotes Gesicht. Seine Hände jedoch lagen ruhig neben seinem Teller.
Ich hatte wieder dieses schöne warme Gefühl. »Eins zu null!«, dachte ich. »Eins zu null!« Meine Mutter stellte die restlichen Schüsseln auf den Tisch und lächelte unsicher. Er schaute sie an und auch, wenn ich nicht annahm, dass er sie liebte, glaubte ich zu merken, wie sich in seiner Hose etwas regte, und das lenkte ihn von meiner Bemerkung ab. Nein, ich war schon lange kein Kind mehr.
Nach dem Abendessen räumte Mama den Tisch ab. Wir stellten das Geschirr in die Spüle und sie ging ins Bad, denn sie würde, wie jeden Samstag in die Kirche gehen. Ich fragte mich, ob das noch helfen könne. Sie nahm Leon mit. Er hopste ihr um die Füße, als sie ihr Tuch band.
»Mama du, ich hab noch Hausaufgaben. Und für mein Seelenheil ist´s glaub ich eh schon zu spät.
«Hoffentlich bereust du das nicht irgendwann.« Sie lachte ein bisschen und das war selten. Doch ich ahnte nicht, wie recht sie behalten sollte.
Endlich war ich allein. Vater war gleich nach dem Abendessen in die Kneipe aufgebrochen und nicht vor Mitternacht zurück zu erwarten. Es gab eben für jeden einen Ort, wo er sich am liebsten aufhielt. Bei meinem Vater war es die Kneipe. Der positive Nebeneffekt war, dass es uns dann auch besser ging, wenn er dort war. Ich freute mich darauf, wieder in diesem warmen Gefühl zu baden. Aber zuvor badete ich meine Hände in Spülwasser. Denn ich hatte beschlossen, meiner Mutter einen Gefallen zu tun. Immer wenn Papa nicht in der Nähe war, fühlte ich mich frei.
Doch ich war traurig. Denn leider hatte ich nicht das Glück wie andere ständig frei zu sein. Nein, über mir hing andauernd dieses Damoklesschwert mit Namen Wolfgang. Wenn ich nur wüsste, was er wirklich wollte, warum er so brutal war und uns schlug. Ich würde ihm seinen Wunsch erfüllen. Aber ich kannte ihn nicht. Und wenn, hätte ich ihm geben können, was ihn glücklich macht?
Nun hatte ich schon den letzten Teller in der Hand und spülte mit dem Lappen Soßenreste weg. Draußen lag alles so friedlich und still. Nebel war aufgezogen, und man sah von den Eichen und Kastanien nur noch die Silhouetten. Die Schwaden zogen über den Hinterhof die Straße entlang, gerade so, als seien sie Besucher aus der Schattenwelt oder Spione, die nur darauf warten jemanden zu verraten, gruppierten sie sich im Lichtkegel der alten Laterne. Ich hängte das Handtuch zur Seite und ging durch die düstere, etwas muffige Wohnung. Weißer Rauputz im Flur, alte ausgetretene Dielen am Boden, die knarrten, wenn man darüber ging. Hinten im schummrigen Wohnzimmer blähten sich die Gardinen mit den riesigen Blumen hinter dem gekippten Fenster. Schließlich öffnete ich die grün lackierte Tür, ging zu dem Bett, auf dem die selbst gemachte Steppdecke lag. Der Mond schien schon in mein Fenster und leckte mit seinen Strahlen auch an meinem Kissen. Hinter der altmodischen Schlafstätte, die zumindest entfernt an eine Koje erinnerte, war die Wand mit Holz vertäfelt. Verstohlen zog ich die eine Latte, die lose war, zur Seite und das abgewetzte Tagebuch hervor. Unter dem Bett stand die Kiste mit dem Bleistift, den ich brauchte. Ich schlug das Buch auf und malte große Buchstaben auf die nächste freie Seite N-i-n-i-v-e, was für ein Name, was für ein Mädchen. Sie hatte so schöne Augen, und ich begann, sie zu malen. Besser ich mache meine Augen kurz zu, um ihre ganz deutlich zu sehen. So döste ich im Mondlicht und Nini war bei mir und das warme Gefühl, das nur mir gehörte. Nini lachte. Das Lachen drang bis zu den Augen vor und dann drehte sie sich um. »Was ist? Willst du Nachlauf spielen?« Ich streckte meine Hände aus. »Bitte bleib doch! Du darfst auch neben mir sitzen!«
Bumm, bumm, bumm drang es an mein Ohr. Konnten Ninis Schritte so schwer sein? Bumm, bumm, bumm. Ich riss die Augen auf. Das kam von der Tür. »Oh, bitte lass es nicht Vater sein!« Hatte er seinen Schlüssel vergessen? Blitzschnell checkte ich die Schlüssel am Bord. Seiner war nicht da. Ich machte schnell die Kette vor und öffnete einen Spalt: »Ja?«
Die alte Plenschke vom Vierten stand mit einem Wäschekorb vor der Tür, den sie jetzt geräuschvoll auf den Boden knallte. Ich fuhr zusammen und machte schnell die Kette weg.
»Ja, Frau Plenschke. Kann ich was für sie tun?«
»Wo is'n dein Vater?«
»Es ist niemand da Frau Plenschke. Kommen sie doch bitte morgen wieder. Am besten gegen Mittag.« Wenn ich an den Kater meines Vaters dachte, war das das Beste, was ich ihr raten konnte.
»Ja, ich verstehe schon!« Sie schaute unter ihren Lockenwicklern auch sehr verständnisvoll aus, »Aber so geht es nicht, Junge! Mittlerweile habe ich deinem Vater mindestens schon fünf Mal gesagt, dass mit dieser Gemeinschaftswaschmaschine etwas nicht stimmt. Nun hat sie aber meine Lieblingsbluse gefressen. Sieh!«
Unwirsch wühlte sie in dem Korb herum.
»Dieser Ärmel ist das Einzige, was noch übrig geblieben ist.« Entsetzt starrte ich auf den gelben Fetzen aus Seide.
Ich schluckte. »Leider kann ich ihnen wirklich nicht helfen. Mein Vater hat Termine – wichtige Termine!«
»Schatzi!« Ohne Vorwarnung nahm sie mein Kinn zwischen ihre langen rotlackierten Fingernägel. »Den einzigen Termin, den dein Vater hat, ist der mit Captain Morgan. Ich verlange Entschädigung, Aufklärung und meine rote Pyjamahose, die hat das Ding sich nämlich ebenfalls einverleibt. Habe ich die bis morgen nicht, bin ich beim Chef der Siedlung und das wird deinem Herrn Vater gar nicht gefallen. Das glaub mir mal! Also hol ihn lieber ganz schnell.« Sie sprachs, drehte sich um und nahm ihren Korb. »So eine Frechheit! 50 Pfennig weg! Bluse weg...«, murmelte sie beim Gehen.
»Wer ist Captain Morgan?«, rief ich. Aber sie winkte nur ab.
Meine Eltern sahen mich vielsagend an. »He, Nini, ich weiß, es ist schwer für dich, aber glaub mir, es tut mir leid, wenn es dir schlecht geht!« Mein Vater griff mir beschwichtigend an die Schulter. »Es geht mir nicht schlecht!«, hörte ich mich selbst sagen. Ja, eigentlich hatte die Begegnung mit diesem Lutz alles verbessert, vor allem meine Laune und die Angst vor der neuen Schule. Aber er war schon seltsam, so in sich gekehrt, anders als die Jungs in meiner alten Klasse. Jetzt wusste ich, warum ich ihn mochte - endlich mal ein Junge, der anders war.
»Bist du eigentlich noch wach?« Mein Bruder hielt mir die Schüssel mit dem Karottensalat direkt unter die Nase: »Jetzt ess ich ihn selber!«
»Tschuldigung!« Dieses Wort hatte ich lang nicht mehr zu Thomas gesagt und nun schaute er verdattert. Als sich seine Verwunderung wieder gelegt hatte, versuchte er in einer vermessenen Geste, meine Stirn mit seiner hellen Hand zu berühren, gerade als müsse er meine Temperatur messen. So weggetreten war ich allerdings auch wieder nicht. Sofort schlug ich seine Hand weg und stand so resolut auf, dass beinahe mein Stuhl umfiel.
»Bin eh fertig!« Ich rauschte schnell ab, noch bevor meine Eltern ihre Münder leer bekamen, um etwas zu sagen. Außerdem war es offensichtlich, dass es vermeiden wollten aufzustehen, da ihre Knochen wegen des anstrengenden Umzuges sicherlich noch schmerzten. So konnte ich ein paar Minuten später unbehelligt mit Vanessa telefonieren, meiner Freundin, die ich am anderen Ende der Stadt zurücklassen musste. Um dies zu bewerkstelligen, musste ich die Schnur des Telefons bis zum Äußersten dehnen, sodass ich mich auf die Badewanne setzen konnte.
»Das nächste Mal ruf ich dich aus der Telefonzelle an, dann kann wenigstens nicht jeder mithören.«
»Wie, jeder?« wollte Vanessa wissen.
»Ach meine Leute, die nerven mich!«
»Verstehe! Und sonst so?«
»Ach das Haus ist verlottert und es ist nicht viel los. Aber das, was los ist, gefällt mir.«
»Also sind die Aussichten heiter?«, vermutete meine Freundin.
»Wolkig mit Aufheiterungen«, bestätigte ich.
»Verstehe!« sagte sie wieder und ich wusste, sie verstand tatsächlich.
»Ich ruf dich am Montag an«, versprach ich.
»Wir wollen nächste Woche ´mal ins Kino. 'Eis am Stiel' läuft - kommst du dann auch?«
»Und wenn wir da nicht reinkommen? Ich muss immerhin zweimal umsteigen« gab ich zu bedenken.
»Ach ich hab Schminke!« versicherte sie. »Na, dann - bis nächste Woche!«
Was sollte ich jetzt tun? Was nur, was? Meine Mutter war nicht da und das würde erfahrungsgemäß noch eine Weile so bleiben. Und Vater? Wenn er etwas hasste, dann eines: Wenn er aus seiner Kneipe gerissen wurde. Dort war der einzige Ort, wo er ein richtig guter Mensch war und kein Tyrann.
Ich hatte es vor Jahren, als ich gerade in die Schule gekommen war, beobachtet, wie nett er zu der Bedienung gewesen ist. Silke hieß die damals.
»Silke kauf dir was Schönes!«, hatte er gesagt und gelächelt. Da sah er aus wie ein anderer. Die Silke war sehr schön und hatte auch gelächelt. Ich stand in der Tür. Aber als er mich sah, da war er wieder ganz anders.
Wütend schnaubte er: »Was willst du denn hier, du Rotznase?« Ich zog selbige hoch und sagte: »Die Mama hat gesagt, ich soll um Geld fragen. Sie will einkaufen und es is nix mehr in der Dose, Papa.«
Seine Stirn zog sich kraus und er schaute sich nach der Silke um, die bei der Musikbox mit einem Gast sprach. Er winkte mich zu sich und kramte in seiner Hemdtasche. Ich lehnte noch einen Moment im Türrahmen, denn die Knie waren mir weich bei dem Gedanken, dass auf mich zuhause der Gürtel wartete und dort war Silke nicht. Nein, dort hinten stand sie, lächelte, wie die Frauen auf den Zeitungen und schüttelte den Kopf mit dem weizenblonden, welligen Haar.
»Kommst du heute noch?«, er winkte mich zu sich mit einem grünen Schein.
»2,0«, las ich. Später erfuhr ich, dass die Zahl zwanzig hieß. Zögernd trat ich näher, wollte nach dem Schein greifen. Mit einem flüchtigen Blick zurück auf Silke, schnappte er mich am Handgelenk und zischte in mein Ohr: »Ihr saugt einen aus wie die Schmeißfliegen.«
Ich atmete den süßlichen Biergeruch ein, den er ausatmete, und begann wie Espenlaub an meinem schmächtigen Körper zu zittern. Das musste er mitkriegen. Und das war das Schlimmste für mich. Der Schweiß brach mir aus und ich befürchtete, mir in die Latzhose zu pieseln, denn ich verspürte mit einem Mal einen extremen Drang.
»Wag dich nicht, noch einmal hier aufzutauchen, Rotznase. Richte das deiner Mutter aus!«
Gerne hätte ich etwas gesagt, aber mein Hals war trocken wie die Wüste. Wenn er mich nur losließe. Nie, nie wieder würde ich kommen, nicht mal in die Straße, am liebsten nicht mal in die Stadt. Wenn er nur seine Pranken von mir nähme. Ich merkte, wie mir das Wasser in die Augen und auch gleich sonst wohin trat. Kreidebleich nickte ich wie ein Wackeldackel. Langsam öffnete er seine Faust, die sich wie eine Schraubzwinge um mich gelegt hatte. Bevor sie noch ganz offen war, gab er mir einen Rand, dass ich rücklings auf den Holzboden plumpste.
Schnell berappelte ich mich und sah zu, dass ich Land gewann. Aus dem Augenwinkel glaubte ich, ein Grinsen bei meinem Vater zu erkennen. Es schien beinah, als machten ihm die Situationen, in denen ein anderer vor ihm zitterte, den meisten Spaß. Nur mit dieser Erkenntnis konnte ich mich nicht lange beschäftigen.
Wie ein Wahnsinniger rannte ich mit dem Schein in der Hand über die Straße. Und als ich am ersten großen Baum der Allee war, ging ich dahinter und pinkelte. Fest stand, in die 'Krumm Stubb' würde ich nie wieder gehen, denn das konnte meinem Hintern nur schaden.
Nun war es an der Zeit, dass ich das mir selbst gegebene Versprechen brach. Schnell schnappte ich meine Jacke vom Haken. Auch sie hätte eine Wäsche vertragen. Wie im Schlaf war ich die Treppe hinunter und spürte die Luft, die um so viel milder war als heute Nachmittag. Die Schaukel baumelte vom großen Ast, das Sandkastenreich lag still und schlief im trüben Licht. War da nicht ein zarter Erdbeerduft?
Leider musste ich diesen magischen Ort verlassen. Zögernd trabte ich die Allee hinunter und schlurfte trübselig, als sei ich auf dem Weg zu meiner eigenen Beerdigung. Vielleicht war es auch so etwas Ähnliches. Verzweifelt versuchte ich, mir Ninis Lächeln in Erinnerung zu rufen. Als es mir gelang, fühlte sich mein Bauch ganz warm und kribbelig an und ich klammerte mich an dieses Gefühl, denn ich hatte keine Wahl. Würde ich Vater von der Plenschke erzählen, würde er mich hassen, erzählte ich es nicht, beschwerte sie sich bei seinem Chef und das konnte er sich mit Sicherheit nicht leisten. Wenn Vater seinen Job verlöre, würde das bedeuten, dass er noch öfter zuhause wäre. Das konnte ich mir nun wiederum nicht leisten. Auch wegen Leon.
Fast hatte ich schon die Hälfte der Allee hinter mir gelassen, die von mittlerweile abgeernteten Feldern eingerahmt war. Im Sonnenlicht war es ein schöner Ort. Jetzt krochen graue Schleier über die Straße und ich merkte, wie sich in meinem schweißnassen Nacken die Haare aufrichteten.
Dann kam ich an die Stelle, an der der Wald bis zur Straße reichte. Etwas weiter hinten sah ich den Parkplatz zum Friedhof, und ich starrte auf die mit Moos bewachsene, von Unkraut zerfurchte Mauer. Gerade so, als könnte ich sie durchdringen und das Unfassbare, was vermutlich dahinter lag, bannen, fixierte ich sie.
Sollte ich es doch lieber lassen? Ich hatte meiner Mutter noch nicht mal einen Zettel geschrieben. Krampfhaft überlegte ich, wie ich ins Dorf gelangen könnte, ohne hier mutterseelenallein am Kirchhof vorbeizugehen. Über diesen Gedanken war ich stehen geblieben. Langsam setzte ich einen Turnschuh vor den anderen. Sah auf den Boden und kickte einen Stein. »So ein Mist! Nicht einmal Rouven und Bolle können mich sehen, mich, wenn ich mich überwinde!«, dachte ich bei mir. »Und das hätte richtig doll Punkte gegeben auf mein Heldenkonto.« Missmutig kam ich am Friedhof an und versuchte instinktiv mittig auf der Straße zu bleiben. Eigentlich war es gar keine Straße. In jedem Fall war sie nicht geteert, sondern mit rotem, mittlerweile festgefahrenem Schotter bestreut. Plötzlich setzte es ein - das starke Gefühl beobachtet zu werden. Ich begann schneller zu gehen und stellte meinen Kragen auf. Das eiserne Tor war fest geschlossen. Ein Käuzchen rief. Da knackte es. Ich zuckte so zusammen, dass es mir durch Mark und Bein ging. Selbst als ich merkte, dass ich nur auf einen Ast getreten war, zitterte ich noch. Erschöpft fasste ich mit den Händen auf meine Knie und atmete tief aus, atmete die ganze Angst aus.
Eben wollte ich mich aufrichten, da legte sich eine knochige Hand auf meine Schulter. Schreiend wie ein Mädchen streifte ich die eklige Hand ab, sprang wie ein Sprinter drei Schritte aus der gebückten Stellung vor und wollte wegrennen. Da vernahm ich eine wohlbekannte Stimme.
»He Junge, was is n mit dir? Sag bloß, du erkennst den alten Jupp nicht mehr.«
»Jupp!« Ich drehte mich um, um wieder einige Schritte auf den alten Mann zuzugehen. Er war Gärtner in unserem Wohnhaus und es war uns Kindern nicht entgangen, dass er irgendwie einen an der Waffel hatte, wie man so schön sagte. Aber das war nicht schlimm, denn wir Kinder mochten ihn. Im Gegensatz zu den meisten anderen Erwachsenen war er nett zu uns. Als seine Frau im letzten Sommer noch lebte, hatte sie für uns Waffeln gebacken. Die waren super - die Waffeln und die Frau. Nun vermissten wir beide.
»Hallo Jupp. Entschuldige bitte! Ich habe mich ziemlich erschreckt.«
»Seh ich denn schon so furchtbar aus?«, fragte er.
Beschämt sah ich in sein faltiges, eingefallenes Gesicht, in dem kleine Äuglein funkelten. Seine Haare waren grau, schütter und zu lang. Insgesamt wirkte Jupp wie jemand, der schon lang kein Wasser mehr gesehen hatte.
»Nein, natürlich nicht!«, log ich.
»Hat es mit den Schweinen zu tun?«, fragte er. Mit einem Mal hatten seine Augen einen irren Glanz.
»Nein, Jupp, hat es nicht.«
»Sie sind im Wald! Weißt du Junge?«
»Ja, ich weiß es doch. Ich hab´ es schon gehört, dass es dort im Wald Schweine geben soll.«
»Bald ist Vollmond. Dann kommen sie auch raus. Und sie zerstören die Gärten. Sie sind sehr gefährlich.«
Das seltsame Verhalten des Alten war mir unheimlich, und ich wusste nicht, ob ich es nur dem Alkohol zuschreiben konnte, den ich noch deutlich an ihm roch. Eins wusste ich jedoch, ich musste ihn dringend loswerden, denn er hatte mich am Kragen gepackt, als wolle er mich wachrütteln.
»Das ist wirklich grauenvoll mit den Schweinen. Aber ich muss los. Ich suche meinen Vater. Stimmt es, dass er sich des Öfteren mit irgend so einem Captain rumtreibt?«
»Deinen Vater habe ich gesehen, aber ich glaube, er ist allein. Wer soll denn dieser Seemann sein?«
»Captain Morgan. Wahrscheinlich ein Saufkumpane. Kennst du ihn Jupp?«
Der alte Gärtner sah beschämt auf seine Jackentasche, aus der eine Flasche ragte.
»Ja ...« stotterte er: »Ich kenne ihn nur zu gut. Ich hatte ihn auch dabei. Aber er ist weg.«
»Hat er mit euch getrunken?«
»Sozusagen!«
»Ist er gefährlich?« Jupp nickte.
»Ja, sehr. Aber mach dir keine Sorgen. Er ist mit mir gegangen.« Abrupt ließ er mich los und schwankte in Richtung Allee.
»Er geht immer mit mir«, murmelte der Alte.
»Muss ja ´n toller Freund sein«, gab ich zurück.
»Der Beste, glaub mir.« Jupp winkte mit erhobenem Arm, ohne sich umzudrehen, rief er: »Pass mit den Schweinen auf.«
Bild: Denita Seferovic (Gemeinschaftsschule Dudweiler, Kl. 7)
Eigentlich war ich ganz schön froh, dass ich den Alten los war. Wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hätte, wäre er wohl wieder so normal – so wie ich ihn halt kannte. Im seichten Mondlicht bog ich um die Ecke, an der nächsten konnte ich das angeschmutzte Schild sehen: 'Krumm Stubb'. Unmerklich zog sich mein Hals zu, während mein Herz zu stampfen begann, wie ein Presslufthammer. Als ich die schwere Tür aufzog, kam mir ein Schwall Rauch entgegen. Zögernd stand ich noch eine Weile in der Tür und suchte mit den Augen den verqualmten Schankraum ab. Dort hinten in der Ecke saß er an einem Sechsertisch vor einem großen Pils. Es sah so aus, als sei es nicht sein Erstes. Ich schluckte schwer und ging quer durch den Raum. Auf dem Weg sagte ich alle Gebete auf, die mir einfielen. Der Weg war kurz, es waren nicht viele. Unvermittelt trat ich neben ihn.
»Hallo Papa!«, sagte ich mit belegter Stimme.
Müde sah er auf. »Du bist s?«
»Ja, die Plenschke war da. Sie will sich bei deinem Chef beschweren. Ich weiß, ich sollte nicht ... aber ich hatte keine Wahl!«
Um Verständnis bettelnd legte ich meine Hand auf seinen Arm. Ich war doch sein Sohn, er musste es doch verstehen. Aber er sah meine Hand an, wie einen Fremdkörper, den es abzuschütteln galt.
»Die Plenschke, was? Konntest du die nicht abwimmeln?«
Heftig schüttelte ich den Kopf.
»Hatte ich dir nicht gesagt, du solltest nie wieder kommen?«
Nun nickte ich ebenso heftig. Wie könnte ich das vergessen. Da kam Silke auf uns zu.
»He, ist das nicht dein Sohnemann?« Sie wuschelte mir durch die Haare.
»Soll ich dir was zu trinken bringen?«
»Hmm, nee! Ich muss gleich wieder los.« Zwar klebte mir die Zunge am Gaumen wie Tapete an der Wand, aber der Blick meines Vaters sagte, dass er mich trotz der Menschen im Raum eines schrecklichen Todes sterben ließe, wenn ich hier etwas zu mir nähme. Mein Vater schaute Silke hinterher, wie sie ihr Haar schüttelte und lachte. Wie damals war das, und ich fühlte mich wieder wie sechs. Diese Frau war so anders als Mutter. Sie strahlte Lebensfreude aus, und er starrte ihr hinterher, als suche er nach dem Grund, warum das so war. Allein ich kannte ihn: Sie war nicht mit ihm zusammen. Also würde er niemals so eine Frau haben. Vater saß da und nahm einen kräftigen Schluck.
»He, Wolfgang ist das nicht dein Sohn,« fragte ein Zecher, der sich hinten am Tisch unterhalten hatte. Ich glaubte, es wäre der Metzgereigehilfe aus dem Ort.
»Doch Frank, das ist mein Großer«, sagte er und mimte Stolz. Manchmal meinte ich echt, mein Vater habe eine Schauspielschule besucht.
»Ein Prachtkerl!« Er erhob sein Glas. Sie tranken und der bärtige Mann unterhielt sich weiter. In gespielter Vertrautheit legte er seinen Arm um meine Schulter und zog mich dann so nah an sich, dass ich seine Worte förmlich inhalierte.
»Weißt du, was du jetzt machst?«
Es war eine rhetorische Frage, das wusste ich, dennoch schüttelte ich unmerklich den Kopf.
»Du gehst nach Hause!«, sprach er weiter, »und du machst erst mal das Flusensieb sauber. Ich komme dann nach.«
»Meinst du, das bringt was?«
»Ich bin dein Vater, du hast meine Anweisungen nicht anzuzweifeln!«
»Ist gut!« ich ließ den Kopf hängen.
Diesmal war es weniger der Friedhof, als mehr das Flusensieb, vor dem ich mich fürchtete. Daher kam ich auch relativ gelassen an Ersterem vorbei. Das Problem, was sich vor mir auftat, war durchaus massiv. Ich wusste weder was so ein Flusensieb war, noch wo es war. Zwar vermutete ich es an einer Waschmaschine, doch hätte es ebenso gut an einem Fernseher sein können. Natürlich hatte ich nicht vergessen, meinen Vater zu fragen. Er wäre sofort ausgerastet -in seinem Zustand. Allerdings würde er genauso ausrasten, wenn er sähe, dass ich dieses räuberische Flusensieb, das mutwillig Frau Plenschkes Bluse gefressen hatte, weder gefunden, noch zur Strecke gebracht hätte.
So mit Grübeln beschäftigt merkte ich gar nicht, dass ich irgendwann vor der Haustür stand. Die Nachtluft war kälter geworden und pustete übermütig einige Blätter über die Schwelle. Ich atmete tief ein und steckte meinen Schlüssel ins Schloss. Die Tür öffnete sich quietschend und gab den Weg frei in den Flur des Altbaus. Der Geruch von Bohnerwachs lag in der Luft, und das Licht des Mondes spiegelte sich in den polierten Fliesen.