Im Zeichen des Wolfsmondes - Johann Kapferer - E-Book

Im Zeichen des Wolfsmondes E-Book

Johann Kapferer

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Beschreibung

So hatte sich Jakob seine Sommerferien nicht vorgestellt: Mutterseelenallein sitzt er mitten in der Nacht in einem Baumhaus fest. Dann taucht auch noch dieses geheimnisvolle Wesen auf, das aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Dabei ist dies erst der harmlose Anfang einer Geschichte, die ihn vollends in ihren Bann zieht. Als er Bernd Kastner über den Weg läuft, verändert sich sein Leben schlagartig. Dem zwölfjährigen Jungen stehen Erlebnisse bevor, die ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen und ihn bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit und noch weit darüber hinaus führen. Nur gut, dass er zu dem Zeitpunkt, als er alleine oben im Baumhaus ausharrt, noch nichts von alldem ahnt.

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Seitenzahl: 138

Veröffentlichungsjahr: 2023

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In lieber Erinnerung an einen freiheitsliebenden Gefährten

Für Eva

Inhalt

Prolog

Besuch aus einer anderen Welt

»Sven Monokolo«

Zirler Berg

Besuch im Morgengrauen

Schock in der Tankstelle

Auf der Flucht

Der Traum von den »Cliffs of Moher«

Ein hinterhältiger Plan

Dauerhaftes Schweigen

Man trifft sich im Leben immer zwei Mal

Déjà-vu

Die Verschwörung

Martinsumzug

Im Zeichen des Wolfsmondes

Epilog: Mythos Wolf

Zum Autor

Zum Illustrator

Danksagung

6. Jänner

Prolog

Tok, ... tok, … tok, tönte es monoton, wie der regelmäßige Taktschlag eines Metronoms, im Gleichklang weithin hörbar durch die Nacht.

Die Böen eines heftigen Wintersturmes, der nahezu in Orkanstärke über das Land fegte, zerrten mit aller Kraft an den beiden hölzernen Flügeln des grüngestrichenen Fensterrahmens. Dem unbändigen Spiel der Kräfte ausgesetzt, schlugen sie nahezu im Sekundentakt gegen den Rahmen von Jakobs Zimmerfenster, im ersten Stock seines Elternhauses. Die Natur bot in dieser sturmgebeutelten Nacht wahrhaftig die ganze Kraft auf, um ihre Stärke zu demonstrieren.

Während der milchige Schein des fast vollen Mondes, schemenhaft wie in Zeitlupe durch den wolkenverhangenen Himmel drang, steigerte sich das Pfeifen des Windes wellenartig, bis hin zu einem ohrenbetäubenden Brausen. Nahezu in derselben Sekunde ebbte es in seiner Intensität ab. Ein Wechselspiel an Tönen, die einen in den Ohren schmerzten. Es klang, als ob sich sämtliche Wölfe des Landes, gleichzeitig am selben Ort versammelten, um dort ihr Geheul anzustimmen.

Noch am Vortag tauchten die wärmenden Strahlen der Wintersonne die ganze Umgebung in ein goldenes Licht. Jetzt wogen die starken Äste des riesigen Ahornbaumes, im Garten vor dem Haus, gespenstisch im Sturmwind. Zuckend zeichneten sie im Rhythmus des Windes bizarre Figuren in die Nacht. Das verstärkte dieses sonderbare Stimmungsbild, das ohnehin längst über dem ganzen Land lag, noch zusätzlich.

Der Baum, der im Laufe der vielen Jahre zu einem mächtigen Riesen emporgewachsen war, erinnerte dabei im fahlen Licht des Mondes an einen riesigen Kraken. Die Äste sahen aus wie Tentakel, die empor in den Himmel ragten. Als wolle sich der gewaltige Ahorn, den die starken Wurzeln massiv mit dem Erdreich verbanden, mit aller Kraft gegen die Naturgewalten stemmen.

Jakob bemerkte nichts von alldem Treiben vor dem Fenster. Der Junge schlief. Gleichmäßig hob sich sein Brustkorb mit jedem neuen Atemzug, während draußen eine Sturmbö auf die andere folgte.

Der ansonsten so vertraute Klang der Oberhofer Kirchturmglocken drang verzerrt im Sturmwind durch die Nacht. Doch weder der Klang der Glocken, noch der peitschende Regen, der heftig gegen die Scheibe von Jakobs Zimmerfenster trommelte, unterbrachen den tiefen Schlaf des Jungen. Während die Regentropfen das Fenster mit einem dichten, nassen Schleier überzogen, träumte Jakob.

Es war ein packender Traum, der ihn komplett in seinen Bann zog. Dabei erlebte er haargenau dieselbe Situation, wie sie sich soeben in der Realität abspielte. Nervös zuckten die Augen unter den Lidern, so als ob sie einen spannenden Film verfolgten.

Jakob träumte wie er aufwachte und aus seinem Bett steigen wollte. Der Junge fuhr erschrocken zurück, als er mit seinen nackten Fußsohlen den kalten Boden berührte. Er hielt kurz die Luft an, bevor er, die Arme von sich gestreckt, durch den dunklen Raum, auf das Fenster zu steuerte. Dort verharrte Jakob einen Moment, ehe er die schweren Vorhänge, die das Zimmer abdunkelten, mit einem Ruck zurückzog. Endlich konnte er dieses klappernde Geräusch zuordnen. Es kam von den Fensterläden, die im Sturm gegen die Hauswand schlugen.

Der Junge wirkte wie in Trance, während er den Blick langsam durch den weitläufigen Garten schweifen ließ. Seine Augen blieben an dem großen Ahornbaum haften, der direkt vor dem Haus stand. Die wenigen welken Blätter, die ihn noch vor Kurzem im goldenen Licht der Wintersonne zierten, hingen kraftlos an seinen Ästen. Bis auf einige vereinzelte lösten sich in dieser Nacht die meisten von ihnen endgültig von ihrem bisherigen Wirt. Getrieben vom Sturmwind wirbelten sie, wie in einer mächtigen Zentrifuge, im Kreis. Die herumtanzenden Blätter erinnerten Jakob an Seepferdchen, die mit der Strömung im Meer trieben.

Der Junge sah kurz diesem Treiben zu, bevor sein Blick wieder suchend durch den Garten irrte. Er erwartete jemanden. Endlich stand der Moment kurz bevor, den er so lange sehnlich herbeigewünscht hatte. Jakob spürte intuitiv, der Zeitpunkt rückte näher, an dem sich die bange Zeit des Wartens ihrem Ende näherte. Jetzt, wo dies unmittelbar bevorstand, stieg die Nervosität des Jungen ins Unermessliche. Er atmete hektisch, während er auf den entscheidenden Augenblick wartete.

6. Jänner

Besuch aus einer anderen Welt

Die Augen des Jungen begannen zu strahlen, als wie aus dem Nichts dieses geheimnisvolle Wesen in seinem Blickfeld erschien. Zuerst umhüllte den Besucher ein fluoreszierendes Licht, das in allen Farben schimmerte. Die Konturen des Wesens traten letztendlich im fahlen Schein des nahenden Vollmondes, der sich nahezu gleichzeitig durch den wolkenverhangenen Himmel kämpfte, immer stärker hervor. Bedeutete der heutige Besuch die entscheidende Wende in seinem Leben, auf die er seit Monaten so sehnsüchtig wartete? Jakob fiel keine Antwort darauf ein. Er spürte nur im Vorhinein, es löste etwas in ihm aus, das ihm Hoffnung schenkte.

Der Junge fühlte, wie längst verloren geglaubte Energie langsam zu ihm zurückkehrte. Das gab ihm genau jenen Mut, den er notwendig brauchte, um der Realität ins Auge zu blicken. Er musste endlich diese schwere Last loswerden, die er die ganze Zeit über mit sich herumschleppte.

Mit angehaltenem Atem verfolgte er, wie das Wesen vorsichtig eine Pfote vor die andere setzte. Langsam steuerte es auf ihn zu. Regungslos verharrte der Junge hinter dem Fenster, während er wie gebannt, hinab in den Garten blickte. Jakobs Gegenüber hielt seinem Blick stand. Die graublauen Augen fixierten ihn, als ob sie ihn zu hypnotisieren versuchten. Die Blicke der beiden verschmolzen förmlich ineinander. Es schien, als ob sie sich dadurch miteinander verbinden wollten.

Dabei kannte der Junge dieses Augenpaar längst. Jakob dachte an ihre erste Zusammenkunft vor etwa viereinhalb Monaten zurück, als er ihnen erstmals begegnete. Nur wenige Tage später nahm Jakobs Leben eine entscheidende Wende. Ein Schaudern lief ihm über den Rücken, als er an all die bangen Momente damals zurückdachte. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, kam das Wesen näher, bis es schließlich direkt unter dem Fenster seines Zimmers stand. Mit einem alles durchdringenden Blick sah es zu ihm hinauf.

Jakobs Herz schlug vor Aufregung bis zum Hals. Freudentränen liefen ihm über beide Wangen, während er auf den nächtlichen Besucher blickte. Wie gerne wäre er jetzt hinunter in den Garten gegangen, um das Wesen kurz mit seinen Händen zu berühren. Doch dazu hatte er am Ende zu großen Respekt vor ihm. Obendrein befürchtete er, das geheimnisvolle Geschöpf verschwände sofort in die Welt zurück, aus der es gekommen war. Dort gab es für Menschen aus dem Lebensraum, wie ihn Jakob kannte, keinen Zutritt. Der Junge rührte sich nicht von der Stelle, er starrte wie gebannt auf den Besucher, der nur wenige Meter von ihm entfernt, direkt unter ihm, im Garten stand.

Bei dem Wesen, das Jakob so in seinen Bann gezogen hatte, handelte es sich um einen großgewachsenen, hellgrauen Wolf. Das dichte Fell des Tieres triefte vom strömenden Regen, doch das störte ihn nicht. Regungslos verharrte der Wolf auf der Stelle, während er zu dem Jungen hinaufstarrte. Es schien, als wolle er ihm Zeit geben, die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen.

Was für ein edles Wesen! Jakob konnte die Augen nicht von ihm lassen. Deutlich zeichneten sich die starken Muskeln unter dem dichten Fell ab. Während er auf das Tier starrte, erschien ein reales, klares Bild vor dem geistigen Auge des Jungen. Es glich nahezu haargenau jenem, wie er es vor knapp viereinhalb Monaten erlebt hatte. Kalte Schauer liefen über seinen Rücken. Ihn fröstelte leicht, als ihn jäh, haargenau dasselbe Gefühl ergriff, das er bei ihrem ersten Zusammentreffen verspürt hatte. Er spürte instinktiv, dieser nächtliche Besuch bedeutete etwas Besonderes für ihn.

Jakob konnte sich zwar noch immer nicht erklären, warum der Wolf ausgerechnet ihn ausgewählt hatte. Doch das spielte keine Rolle. Er freute sich einfach, ihn wiederzusehen, denn aus den Zusammenkünften mit ihm schöpfte der Junge all die Kraft, die er brauchte, all das durchzustehen, was ihm seither widerfahren war. Einzig das zählte, sonst nichts.

Eine schwere Zeit, voller Hürden, vor allem vieler Fragen lag hinter ihm, doch Jakob hegte keinen Groll. Der Junge akzeptierte dieses Schicksal, das längst vor seiner Geburt festgestanden war. Er, niemand anderer, musste diesen für ihn bestimmten Weg meistern. Während ihm die Gedanken durch den Kopf gingen, nahm das Heulen des Sturmes an Intensität zu. Doch Jakob schenkte dem keine Aufmerksamkeit. Er konzentrierte sich im Moment nur noch auf seinen Besucher.

Als ob er mit dem Sturmwind konkurrieren wollte, legte der hellgraue Wolf den Kopf in den Nacken, bevor er mit geschlossenen Augen ein lang gezogenes Heulen ausstieß. Dabei richtete er den Blick hinauf auf das Fenster von Jakobs Zimmer, wo der Junge noch immer regungslos hinter dem Vorhang stand.

Jakob hielt den Atem an, während er erwartungsvoll in die graublauen Augen des Wolfes blickte. Er zuckte unmerklich zusammen, als er deutlich eine bekannte Stimme wahrnahm.

»Ich überbringe heute eine wichtige Botschaft für dich«, der Wolf hielt kurz inne, bevor er fortfuhr, »der Zeitpunkt rückt näher, an dem du an einem Wendepunkt anlangst. Vertraue auch dieses Mal auf dein Gefühl, denn alles nimmt den für dich richtigen Lauf. Wenn du Angst verspüren solltest, fürchte dich nicht davor, sondern schöpfte daraus die Kraft, die du dafür brauchst.«

Der Wolf heulte nochmals auf, dabei veränderte sich das Bild. Das fluoreszierende Licht, das ihn umgab, wurde immer heller. Gleich darauf umhüllte eine gleißende Lichtglocke, die in allen Farben schimmerte, den Besucher. Gleichzeitig verschwammen seine Konturen langsam vor den Augen des Jungen. Nur einen Wimpernschlag später war der hellgraue Wolf verschwunden.

Jakob blickte in seinem Traum noch immer auf die Stelle, als ihn etwas unsanft aus dem Schlaf riss. Die beiden hölzernen Fensterflügel schlugen scheppernd gegen ihren Rahmen. Es folgte ein gleißender Blitz, der vom Himmel zuckte. Sekunden später hallte ohrenbetäubender Donner durch die stürmische Nacht.

Jakob fuhr erschrocken aus dem Schlaf. Er setzte sich im Bett auf, ängstlich schweifte der Blick des Jungen im Zimmer umher. Es dauerte eine Weile, bis er alles zuordnen konnte. Wie gerade in seinem Traum tobte draußen ein heftiger Sturm. Langsam ließ er seinen Kopf zurück auf das Kissen fallen. Dabei erschien das Bild von dem hellgrauen Wolf.

Was wollte er mir mit diesem Wendepunkt sagen? Der Junge blickte ratlos um sich, als ihn etwas jäh aus seinen Gedanken riss.

Ein greller Blitz zuckte durch die Nacht. Der Donnerschlag, der folgte, ließ Jakob endgültig in der Realität ankommen. Der Junge schob die Decke zur Seite. Langsam setzte er sich auf den Bettrand. Als seine nackten Füße den kalten Fußboden berührten, zuckte er kurz zurück. Jakob schüttelte den Kopf, während er nach den dicken Wollsocken langte, die neben dem Bett auf dem Boden lagen. Jakobs Mutter hatte sie extra für ihn gestrickt, damit seine Füße im Winter warm bleiben würden. Er schlüpfte rasch hinein, bevor er sich, die Hände vor seinen Körper gestreckt, langsam zum Fenster tastete.

Durch den zugezogenen Vorhang, der bis auf den Boden hinunterreichte, schimmerte kümmerlich der Schein der Laterne, die draußen die Straße, die an ihrem Grundstück vorbeiführte, ausleuchtete. Jakob steuerte vorsichtig auf die schwache Lichtquelle zu, bis er mit seinen ausgestreckten Armen den schweren Stoff des Vorhangs unter den Fingern spüren konnte. Langsam zog er ihn zur Seite.

Das fahle Licht der Laterne spiegelte sich in den Augen des Jungen wider, als er seinen Blick durch den Garten schweifen ließ.

Bis auf den Wolf sieht alles wie in meinem Traum aus. Jakob wirkte unsicher, während seine Gedanken zum hellgrauen Wolf wechselten.

Der Junge schloss dabei kurz die Augen, es schien, als konnte er noch die Aura dieses geheimnisvollen Besuchers spüren. Er ließ die Bilder vor seinem geistigen Auge ablaufen. Er nahm sich dafür bewusst Zeit, um jede einzelne Sequenz genau zu betrachten.

Der hellgraue Wolf bedeutete etwas Besonderes für ihn. Ein Beschützer, der ihn aus einer unbekannten Welt besuchte. Jakob glaubte felsenfest daran. Jedem Menschen stehen solche hilfreichen Verbündeten in Form eines Krafttieres, wie bei ihm der Wolf, aus einer anderen, normalerweise für das menschliche Auge nicht sichtbaren Ebene, zur Seite.

Obwohl erst zwölf Jahre alt, kannte der Junge längst die Bedeutsamkeit von Krafttieren. Eine tiefe Dankbarkeit erfüllte ihn, zu jenem kleinen Kreis von Auserwählten zu zählen, die ihr Krafttier mit eigenen Augen zu Gesicht bekamen. Das durften nur wenige erleben.

Jakobs Hände zitterten noch immer vor Aufregung. Doch das beachtete er nicht, sondern wandte seine Aufmerksamkeit dem stürmischen Treiben im Garten zu. Der Blick des Jungen blieb am riesigen Ahornbaum hängen. Die Regenschauer hatten sich inzwischen in leichtes Nieseln verwandelt. Einzig der Sturm zerrte noch immer unnachgiebig an den letzten Blättern, die einsam auf dem Baum baumelten. Jetzt stand endgültig der Zeitpunkt bevor, Abschied von ihrem bisherigen Zuhause zu nehmen, das sie einst so wunderbar schmückten.

Jakob fröstelte leicht. Der Junge langte nach der dicken Wolldecke, die neben ihm auf dem Stuhl lag. Während er sie um die Schultern wickelte, bemerkte er etwas, das ihm ein Lächeln in das Gesicht zauberte.

Es schneit, endlich! Er konnte es nicht erwarten, im frisch gefallenen Schnee herumzutollen.

Jakobs Augen begannen zu leuchten, während er weiter dem Sturm zuhörte, der draußen vor dem Fenster tobte. Der Junge ließ die Szenerie auf sich wirken. Begeistert beobachtete er, wie immer mehr Flocken aus der Dunkelheit auftauchten.

Das Heulen des Sturmes nahm jetzt einen eigentümlichen Ton an. Es klang, als ob ein Freund eine vertraute Melodie für ihn spielte. Zaghaft trug der Sturmwind die Töne durch die Nacht. Jakob kannte dieses Lied des Windes längst, doch es bedeutete immer wieder etwas Besonderes, ihm zu lauschen.

Während er regungslos vor dem Fenster verharrte, strich ein kalter Lufthauch über seinen Nacken. Gleich darauf konnte er die Aura eines Menschen spüren. Es war seine Mutter, sie stand dicht hinter ihm. Sanft legte sie ihre Hand auf die rechte Schulter.

»Jakob, mein Liebling. Du musst noch schlafen«, sagte sie, während sie ihm zärtlich durch das Haar streichelte.

Er zögerte kurz, bevor er nickte. Der Junge drehte leicht den Kopf und blickte seiner Mutter in die Augen. Sie hielt dem Blick nicht lange stand. Schmerzerfüllt wandte sie das Gesicht ab, während ihre Lippen zu beben begannen. Das schnürte Jakob die Luft ab. Als ob sich ein eiserner Ring um seinen Körper spannte, der ihn erdrücken wollte. Er ertrug es nicht, wenn sie seinetwegen weinte.

»Warum musst du das alles erdulden?«, presste seine Mutter mit tränenerstickter Stimme hervor, während sie ihn fest an sich drückte.

Jakob zuckte mit seinen Schultern, dabei öffnete er gleichzeitig den Mund und versuchte zu sprechen. Doch es gelangte kein Laut über seine Lippen. Er blieb stumm.

Ihr zerriss es das Herz, tatenlos zusehen zu müssen, wie er sich quälte. Das ging jetzt seit Ende August des vergangenen Jahres so.

»Komm, mein Junge«, schluchzte sie.

Seine Mutter nahm ihn bei der Hand. Als er gleich darauf im Bett lag, deckte sie ihn bis oben zu. Dabei bemühte sie sich zu lächeln, doch es wirkte gequält.

Jakob schloss die Augen, als sie ihm sanft über die Stirn streichelte. Das Lächeln seiner Mutter nahm er mit in einen tiefen, alles erlösenden Schlaf, der ihn zu jenem Zeitpunkt zurückführte, an dem seine Geschichte begann.

27. August

»Sven Monokolo«

Jakob verbrachte die heurigen Sommerferien mit seinem besten Freund Max nahezu die ganze Zeit über in luftigen Höhen. Die beiden Spaghetti-Jungs, wie man sie nannte, arbeiteten an einem Baumhaus. Der Vergleich mit den länglichen Nudeln stammte von ein paar Mitschülern aus der Klasse, ihrer langen, dünnen Beine wegen. Zuerst ärgerten sie sich noch darüber, doch inzwischen gefiel ihnen der Name sogar.

Das Projekt nahm die ganze Aufmerksamkeit der beiden Freunde in Anspruch. Doch das rückte an diesem Morgen für Jakob in den Hintergrund. Etwas anderes beschäftigte ihn im Moment so intensiv, dass er nur schwer einen klaren Gedanken fassen konnte.

Obwohl die Glocken der Oberhofer Pfarrkirche vorhin gerade erst zum täglichen Morgengebet um sechs Uhr in der Früh geläutet hatten, war Jakob bereits unterwegs. Vor wenigen Minuten kam er, völlig außer Atem, mit seinem Mountainbike zuhause an. Den Weg von Max bis zu ihm hatte er an diesem Morgen in einem Rekordtempo zurückgelegt. Er hatte in die Pedale getreten, als ob er um einen Etappensieg bei der Tour de France mitfahren würde. Die Bilder des soeben Erlebten, verfolgten ihn, als ob sie sich in das Gehirn des Jungen eingebrannt hätten.