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Die Welten von Mick, einem 14-jährigen Nachwuchstalent im alpinen Skirennsport und dem gleichaltrigen Mark, könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Mick fleißig an seiner Karriere als Skirennfahrer feilt, ist Mark einzig darauf fixiert, den Stoff für seinen nächsten Schuss zu beschaffen. Dazu gesellt sich Korbinian Krug, ein Landwirt aus Zirl, der vor allem seiner markigen Sprüche wegen, weit über die Grenzen seines Heimatortes hinaus, bekannt ist. Als Mark zufällig Zeuge eines kaltblütigen Mordes wird, überschlagen sich plötzlich die Ereignisse. Eine verhängnisvolle Beobachtung, die nicht ohne Folgen bleibt und schließlich sogar auch Mick in das Visier eines skrupellosen Verbrechers geraten lässt.
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Seitenzahl: 243
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für
Jasminka und Eva
»Es gibt auf dieser Welt einen einzigen Weg, den nur du allein gehen kannst. Wohin er führt? Frag nicht, geh ihn«
(Friedrich Nietzsche)
Prolog – April 2023
Eine grüne Piaggio Ape
Ein einsamer Lagerraum (Sommer 2015)
Nur noch dieses eine Mal
Das Schicksal kennt keine Gnade
Max
Ein kleines, dreibeiniges Kätzchen
Unter mannshohen Brennnesseln
Eine schwarze Mercedeslimousine
»Nägel mit Köpf«
Unter Beobachtung
Der Auftrag
Der Journalist
Im »Brunntl«
»Schattenzwillinge«
Die Hütte in den Bergen
Die Fährte
Das »Gnaumpenloch«
Endlich Gewissheit
Epilog – April 2023
Anhang: Korbinian Krug’s Sprüche – in deutscher Sprache
Über den Autor
Über den Illustrator
Danksagung
Mick ließ seinen Blick langsam vom Galzig, dem Hausberg von St. Anton, hinunter ins Tal wandern. Ein dünner Schneestreifen schlängelte sich wie eine Riesenschlange die Hänge hinab, bis vor die Tore des weltbekannten Skiortes am Arlberg.
Rechts und links davon begann auf den Wiesen bereits zart das erste Frühlingsgras zu sprießen und hüllte das Gelände bis zur Baumgrenze in helles Grün. Die vielen Sportlerinnen und Sportler, die an diesem Samstag, Ende April in Scharen nach St. Anton gekommen waren, zeigten sich davon unbeeindruckt.
Sie waren an diesem letzten Betriebstag der Bergbahnen auf etwas Anderes fokussiert. In wenigen Stunden ging eines der spektakulärsten Skirennen weltweit über die Bühne, »Der Weisse Rausch«. Das erklärte auch, warum die Meisten von ihnen in einen engen Rennanzug gezwängt waren.
555 Wagemutige hatten es am Ende geschafft, eine der begehrten Startnummern für das Rennen zu ergattern. Am späten Nachmittag versammelten sie sich oben am Vallugagrat auf fast 2.700 Meter Seehöhe und harrten dem Betriebsschluss der Lifte entgegen. Wenn dann um Punkt 17 Uhr endlich der erlösende Startschuss für die erste Gruppe erfolgte, gab es kein Halten mehr. In einem Massenstart stürzten sich die Furchtlosen gleichzeitig in die Tiefe. Für sie galt nur eine Devise. Die rund 1.350 Höhenmeter der neun Kilometer langen Rennstrecke so schnell wie möglich zu bewältigen.
Diese Challenge war wirklich nur etwas für Hartgesottene. Eine Herausforderung, an der sich oft sogar perfekt trainierte Athletinnen und Athleten die Zähne ausbissen. Denn der Berg forderte einem alles ab. Schon beim geringsten Fehler lief man Gefahr, dass er einen gnadenlos abwarf. So manche, die dies unterschätzten, fanden sich am selben Tag, anstatt auf der Siegertreppe, im Krankenhaus wieder.
Mick verfolgte aufmerksam, wie die vielen kleinen Punkte, einige schneller, andere langsamer, die Piste entlang nach unten strebten. Mit dem weißen Rausch als finalem Höhepunkt neigte sich an diesem Samstag bei strahlendem Sonnenschein auch eine lange Wintersaison dem Ende zu. Für den jungen Mann erfüllte sich mit dem Rennen ein Traum. Nach alldem was hinter ihm lag, grenzte es an ein Wunder, dass sein Körper und vor allem sein Geist schon für diese Strapazen bereit waren.
Obwohl Mick gerade in Gedanken schwelgte, blieben seine Augen kurz an einer der Schneekanonen hängen, die über das ganze Gelände verteilt standen. Wie bei einem Hochdruckreiniger zischte das Gemisch aus Wasser und Luft hauchfein aus den vielen Düsen der vorderen Öffnung des Geräts. Dieser technisch erzeugte Schnee zog sich dann wie eine Nebelwolke in einem weiten Bogen über die Piste, um punktgenau in dem vorgesehenen Abschnitt vom Himmel zu rieseln. So blieben die Hänge selbst in Zeiten des Klimawandels sogar im Frühjahr bis ins Tal befahrbar.
Wie das Triebwerk eines Jets stand das Gerät in gelber Signalfarbe deutlich sichtbar am Pistenrand und beschneite in einer Tour den Hang. Unbeeindruckt von all dem Trubel, der heute hier am Berg herrschte. Doch die Zeit nahte in Riesenschritten, in der diese Maschinen ihre verdiente Pause einlegten.
Etwas unterhalb davon sah Mick mit freiem Auge die zahlreichen Buckel, die sich über die gesamte Piste verteilten. Kleine Hügel aus nassem, pappigem Frühjahrsschnee, aufgehäuft von den scharfen Kanten der Skier und Snowboards. Wie Pickel im Gesicht von pubertierenden Jugendlichen zogen sie sich bis hinunter ins Tal. Dadurch wurde die Abfahrt für alle zusätzlich erschwert.
Der junge Mann hielt sich schützend die rechte Hand vor Augen. Der Schnee reflektierte im hellen Licht der Frühlingssonne, wie Partyglitter.
Micks Blick blieb an einer der drei imposanten Barrieren aus Schnee hängen, die gerade im Schlussteil aufgebaut wurden. Eine Pistenraupe brachte das Hindernis mit ihrer breiten Frontschaufel in die finale Form. Diese künstlichen Hürden am Ende einer kräfteraubenden und nicht präparierten Rennstrecke verlangten von den Teilnehmenden noch einmal alles ab. Hier galt es, die letzten Kräfte zu mobilisieren, um ein Scheitern, so kurz vor dem Finale, zu verhindern. Die restlichen Meter bis ins Ziel kämpften sich die Athletinnen und Athleten, mit Ski oder Snowboard in der Hand, zu Fuß durch den aufgeweichten Schnee.
»Voll krass, dieser letzte Teil. Der Rest der Strecke sieht sicher nicht besser aus. Da geht heute ordentlich die Post ab. Hoffentlich reicht meine Kondition dafür aus«, sagte Mick leise, bevor er seinen Kopf zu Mirjam drehte, die neben ihm am Beifahrersitz saß.
»Niemand zwingt dich dazu, Schatz. Das hier geschieht alles freiwillig«, antwortete sie und warf ihm dabei einen prüfenden Blick zu.
»Ja, aber mein Entschluss steht fest. Ich ziehe das heute durch und bezwinge dieses Biest«, grinste er und zog seine Freundin näher zu sich heran.
»Es ist deine Entscheidung. Ich wünsche mir bloß, dass du auf dich aufpasst! Wenn nur die Hälfte von den Geschichten stimmt, die ich über dieses verrückte Rennen gehört habe, laufen mir schon kalte Schauer den Rücken hinunter. Ich hätte dich gerne in einem Stück wieder zurück«, antwortete sie, bevor sie ihm einen Kuss auf den Mund drückte.
Mick lächelte sie zuversichtlich an. »Keine Sorge, mein Schatz. Ich bringe das über die Bühne«, sagte er, dabei bemühte er sich, so gechillt wie möglich zu klingen.
Doch der Blick des jungen Mannes sprach Bände. Er sah tief in Mirjams gletscherblaue Augen. Sein Gesicht spiegelte sich darin wider, wie in einem klaren Bergsee. Micks Herz begann zu pochen. Was hätte er dafür gegeben, mit dieser Frau jetzt an einem einsamen Ort zu sein, wo die Zeit nur für sie beide schlug.
»Du brauchst mir nichts zu beweisen, das weißt du. Ich liebe dich ohne dieses verrückte Rennen genauso«, holte ihn Mirjam zurück aus seinen Gedanken.
»Klar, aber du kennst den Grund dafür selbst am besten. Allein, dass ich mir diese Challenge nach alldem, was war, überhaupt zutraue«, Mick schüttelte den Kopf, dabei streichelte er ihr sanft über ihre Wange, »ich glaube es selbst kaum. Das alles verdanke ich nur dir, meine starke Löwin. Ich liebe dich. Mach dir deshalb keine Sorgen, ich komme in einem Stück zurück«, grinste er.
Mick öffnete langsam die Autotür, dabei checkte er gleichzeitig mit einem raschen Blick den weitläufigen Parkplatz vor dem Bahnhof ab. Über die Hälfte der Plätze war frei. Er setzte seine Füße auf den Asphalt und schlüpft aus seinen Sneakers, an denen wie immer die Schuhbänder fehlten. Zudem war ein Schuh in roter, der andere in oranger Farbe, ein Markenzeichen von ihm.
Im Schutz der offenen Fahrertür seines dunkelroten Alfa Romeo streifte sich Mick die schwarzrot gestreiften Jeans von den Beinen. Er sah sich kurz um, bevor er sich in den engen Rennoverall zwängte, den ihm Mirjam aus dem Wagen reichte.
»Shit, ist der eng! Entweder zu heiß gewaschen, oder ich habe in den letzten Monaten an Gewicht zugelegt«, wunderte sich Mick.
Er hielt mitten in seiner Bewegung inne. Klobige Schritte waren zu hören. Es klang wie das Klappern von Skischuhen auf Asphalt. Mick drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der sich das Geräusch rasch näherte.
Sekunden später tauchte ein junger Mann mit schulterlangen, blonden Haaren und einem rötlich angehauchten Dreitagebart, in seinem Blickfeld auf. Den Reißverschluss des engen Rennanzugs im Ski Austria Design hatte er bis zum Bauch geöffnet.
Beim Vorbeigehen hob der junge Mann die Hand zum Gruß, dann steuerte er auf einen schwarzen Audi Kombi zu. Bevor er die Heckklappe öffnete, drehte er sich zu Mick um.
»Sauschnell, heute. Das wird echt eine Challenge. Da musst echt aufpassen, dass dich der Berg nicht abwirft«, sagte er.
Mick hob die Hand. »Danke für den Tipp und alles Gute für das Rennen.«
Nahezu im selben Moment wurde die Luft vom Heulen eines überdrehten Zweitaktmotors erfüllt. Mick sah in die Richtung, aus der das schrille Geräusch kam. Sekunden später tauchte ein in grün lackiertes Piaggio Ape Dreirad mit gelben Rauten auf beiden Türen auf. Auf der Rückseite der Fahrerkabine war ein zusammengeschweißter Skiträger aus Metall montiert. In der Mitte dieser Halterung leuchtete ein Paar knallgelbe Atomic ARC Rennskier aus den 80’er Jahren heraus, die mit Lederriemen an der Konstruktion festgezurrt waren. Die gelben Bretter ragten fast einen Meter über das Dach der Ape hinaus. Ein Paar rote Skischuhe, die ihrem Design nach locker mit dem Alter der Skier mithalten konnten, lagen daneben auf der Ladefläche.
Hinter dem Steuer des Dreirades saß ein breitschultriger Mann mit einem buschigen, braunen Schnurrbart. Die Ärmel seines rotweiß karierten Flanellhemdes hatte er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Auf dem Kopf trug der Lenker des Gefährts eine abgewetzte, schwarze Fliegerhaube aus Leder mit einem Innenfutter aus Kunstpelz. Die dazugehörige Schutzbrille, die auf seiner Stirn saß, erinnerte eher an einen Alpinisten aus längst vergangenen Zeiten, als an einen Skiläufer. Mit einem Ruck öffnete sich die linke Tür und der Mann setzte einen Fuß auf den Asphalt. Beim Versuch auszusteigen, geriet die Ape gefährlich in Schräglage. Ein Hinterrad hing schon bedenklich in der Luft. Laut vor sich hinfluchend, versuchte der Mann seinen Körper aus der engen Kabine zu wuchten.
»Fixsacklzement! Sauglump bledes! I häng fest. Zefix no amol, wenn i da einikemmen bin, muass i decht a wieder aussi’kemmen!«, maulte er lauthals, während er sich aus dem Gefährt befreite.
Mick hielt mit einem breiten Grinsen im Gesicht die Fahrertür auf. »Servus Korbi. Auch schon da? Wie war die Anreise mit deiner Dreiradrakete?«, grinste er.
Der Angesprochene versuchte sich noch immer aus dem Vehikel zu schälen. Der Mann schüttelte verärgert den Kopf.
»Lass das blöde G’red, du Depp du. Im Flirschertunnel ham mi die Buz aussig’fischt. Dös hat vielleicht an Auflauf geb’m. Mit Blauliacht ham’s mi aus dem Tunnel eskortiert. Was kunn i denn dafür, wenn mei Ape mit der roten Nummerntafel nit für a Schnellstraß’n zuag’lassn isch. So a depperte Vorschrift muass oan erst a’mal einfallen! Des versteht ja koa Mensch, aber de Sesselfurzer, de so eppes aus’hecken, ham ja alle an Schofför«, schimpfte der Mann, »des beste kimmt erscht no. An Fuffz’ger wollt’n die Weisskappler von mir. Nacha hun i g’scheid auf ’drahnt, des kunnsch mir glab’m«, der Lenker fuhr sich nachdenklich mit der rechten Hand durch den Schnurrbart, »das hätt’ i besser nit g’macht. Am End’ hun i dann sogar an Hunderter peckt. Der Buz hat g’moant, i kunn von Glück red’n, dass er mir nit mei Ape abstellt und mi wegen Beamtenbeleidigung bei der Bezirkshauptmannschaft unzoagt. A so a Sauerei, a so a blede!«, ärgerte sich der Mann.
»Jetzt komm doch erst einmal runter vom Gas, Korbi«, sagte Mick.
»G’schaftl nit so deppert. Mit dem Hunderter wollt’ ich’s heut nach dem Rennen ordentlich krachen lassen. Außerdem, wenn du no amol Korbi zu mir sagscht, dann kriagsch a Fotzn, dass dir vierzehn Tag die Wange nachbrennt! Und jetzt hear auf so g’scheid daherredn, sondern hilf mir lieber aus dem depperten Gratten aussi, bevor i mir no mein Kreuz verreiß«, beschwerte sich der Mann und gestikulierte heftig mit der linken Hand vor Micks Gesicht herum.
Der leicht reizbare Herr hieß mit vollem Namen Korbinian Krug. Er war Landwirt und kam aus der Marktgemeinde Zirl, etwa 13 Kilometer westlich der Tiroler Landeshauptstadt Innsbruck gelegen. Seiner markigen Sprüche wegen war Krug weit über die Ortsgrenzen seiner Heimatgemeinde hinaus bestens bekannt. Zudem war er ein glühender Fan des am 1. Mai 1994 beim Großen Preis von San Marino in Imola tödlich verunglückten dreimaligen Formel 1 Weltmeisters Ayrton Senna. Dem Rennfahrer zu Ehren hatte er seine Piaggio Ape, in den brasilianischen Nationalfarben, eine gelbe Raute auf grünem Grunde, lackiert. Mit diesem Gefährt war er von Zirl nach Sankt Anton am Arlberg gefahren, um dort am legendären weissen Rausch teilzunehmen.
»Jetzt krieg dich erst einmal wieder ein, Korbi. Aber was heißt nach dem Rennen? Sag bloß, dass du noch eine Startnummer ergattert hast?«, schüttelte Mick den Kopf, während er Korbinian Krug aus der Ape half.
Der Landwirt bewegte seine Beine. »Sakra war des eng. Da muass der Kreislauf erst no in Schwung kemmen. Griaß di, Mirjam. Endlich a Lichtblick heut«, begrüßte er Micks Freundin, die jetzt ebenfalls dazugekommen war, dann sah er den jungen Mann fragend an, »wia hasch des iatzt mit der Nummer g’moant? Des war hoffentlich lei a Hetz, weil des weart decht epper koa Problem sein, dass i da heit mit’fahr! I kauf mir bei der Liftkassa a Karten für a anfache Fahrt auffi auf die Valluga und nacha lass ich’s bei der Abfahrt g’scheid tusch’n. Oder glabsch, i hun heut meine Rennlatten umsonst dabei?«, antwortete der Landwirt zuversichtlich.
»Korbi, du bist und bleibst unverbesserlich. Das Starterfeld für den weissen Rausch steht doch schon seit Monaten fest. Die 555 Tickets sind längst ausverkauft«, schüttelte Mick den Kopf.
»Ach so, dös wär ja no schianer! Ja glab’sch i hun den weiten Weg umsonscht g’macht. Des werarn mir no segn. Und wia i da mit’fahr. I klär des jetzt gleich drüben bei der Liftkassa. Was moanen denn de Saubeitl, wer sie sein. Denen hoaz i iatzt aber glei g’scheid ein!«, entgegnete Korbinian Krug empört.
Mit verbissenem Gesicht zwängte er sich wieder zurück in die enge Kabine seiner Ape und schlug die Fahrertür zu. Während er wütend den Motor anwarf, sah er Mick entschlossen an. »Des zoag i dir no, wie mir de a Startnummer geb’n. I hoff lei, das i dort nit z’viel Zeit verplemper, weil es kimmt no wer zuaschaug’n. Aber des isch a Überraschung. Da wearsch Aug’n mach’n«, rief er, dann drehte er heftig am Gas der Ape.
Mick schüttelte den Kopf, dabei legte er Mirjam seinen Arm um die Schulter. »Korbinian Krug, wie er leibt und lebt. Was wäre die Welt ohne dieses Original?«, grinste er.
Inzwischen hatte der junge Mann mit dem Dreitagebart die Heckklappe seines Audi geöffnet. Mick zählte drei Paar Skier im Wagen. »Respekt, alles vom Feinsten. Das sieht man von hier aus«, sagte er bewundernd, dann dehnte er die Arme weit nach hinten, um die Muskeln aufzuwärmen.
»Deine Ausrüstung hält hier locker mit«, holte ihn Mirjam aus seinen Gedanken und deutete auf seinen Rennski im Inneren des Alfa Romeo.
»Passt ja. Obwohl ein zweites Paar wäre nicht schlecht gewesen«, schüttelte Mick den Kopf, dann bückte er sich und zwängte seine Füße mühsam in die orangen Skischuhe.
Mirjam sah ihm eine Weile schweigend dabei zu. »Du bist perfekt ausgestattet. Ich besorge inzwischen das Parkticket. Weißt du, wo der Automat ist?«, fragte sie, während sie langsam die Beifahrertür schloss und den Blick suchend über den Parkplatz schweifen ließ.
»Dort drüben steht einer«, grinste Mick und deutete in die Richtung. »Aber hast du vorher nicht etwas vergessen?« Der junge Mann richtete sich auf und warf seiner Freundin einen vielsagenden Blick zu.
»Was denn?«, lacht Mirjam und kam lachend auf ihn zu.
Sie schlang die Arme um Micks Hals. »Ich liebe dich. Du hast ja gehört, was er gesagt hat«, sie deutete mit dem Kopf hinüber zu dem jungen Mann vor dem schwarzen Audi Kombi, »pass bitte auf.«
Mick nickte zuversichtlich. »Versprochen. Bevor es zu schnell wird, bremse ich ab«, sagte er.
Doch Mirjams Blick sprach Bände. »Ich sage das nicht bloß zum Spaß«, antwortete sie.
Mick sah ihr nach, wie sie mit federnden Schritten auf den Parkscheinautomaten zusteuerte. »Alter, was habe ich bloß für ein Glück mit dieser Frau«, strahlte er glücklich, bevor er sich wieder mit seinen Skischuhen abmühte.
Mirjam war der wichtigste Mensch in Micks Leben. Die beiden besuchten dieselbe Schule. Seit knapp drei Jahren waren sie ein Paar. Sie war für ihn wie ein Fels in der Brandung, der selbst den widrigsten Gezeiten trotzte.
Versunken in seine Gedanken wurde Mick von zwei Raben abgelenkt. Laut krächzend flogen sie über den jungen Mann hinweg. Einer der Vögel hielt etwas im Schnabel. »Die beiden streiten sich sicher um Futter. Bei den Tieren verhält es sich gleich, wie bei uns Menschen. Einer ist immer genau auf das scharf, was jemand anderer besitzt«, schüttelte er den Kopf.
Inzwischen war Mirjam wieder beim Auto angelangt. Sie legte das Parkticket hinter die Windschutzscheibe. »Jetzt aber nichts wie los und ab auf die Piste. Nicht, dass ich am Ende den Weg nicht herunter finde«, mahnte sich Mick zur Eile.
Knapp zwanzig Minuten später stieg er in eine Gondel der Galzigbahn. Mit ihm waren noch drei weitere Sportler auf dem Weg nach oben. Als sie über der Talstation schwebten, sah er unter sich die grün lackierte Piaggio Ape mit den gelben Rauten an den Türen am Busterminal stehen. Vor dem Dreirad diskutierte Korbinian Krug aufgeregt mit zwei Männern. Mit beiden Händen wild gestikulierend hüpfte er vor ihnen herum wie ein Tanzbär, der nicht das bekommen hatte, was er wollte.
Kopfschüttelnd sah Mick dem Treiben zu. »Ich habe dir ja gesagt, dass es keine Startnummern mehr gibt«, grinste er.
Ohne Vorwarnung tauchten sie dann plötzlich wieder in seinem Kopf auf. Mick hasste diese Bilder, die ihn damals für lange Zeit fast an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten, doch er konnte sich nicht dagegen wehren. Wie ein Film lief das Geschehene, wie schon hunderte Male zuvor, vor seinem geistigen Auge ab.
Der Verfolger war dicht hinter ihm. Er konnte förmlich den Atem des Mannes im Nacken spüren. Dann wie aus dem Nichts dieser schwarze Schatten. Die Augen seines Verfolgers starren ihn fassungslos an, so als ob sie nicht verstehen konnten, was gerade passiert war. Im nächsten Augenblick war der Mann verschwunden. Doch der Anblick dieser Augen brannte sich tief in sein Gedächtnis ein.
Dank Mirjam war es schon eine Weile her, seit ihn diese Bilder das letzte Mal heimgesucht hatten. Er dachte, er hätte all das überwunden. Umso heftiger war seine heutige Reaktion darauf.
Als Mick eine knappe Viertelstunde später oben am Galzig in die Gondel der Valluga-Bahn I umstieg, war er schweißüberströmt. Die vollbesetzte Seilbahn nahm er nur am Rande wahr. Die Augen des Mannes verfolgten ihn schon, seit sie die Talstation verlassen hatten.
Mick atmete mehrmals hintereinander tief durch und versuchte, sich auf sein Umfeld zu konzentrieren. Langsam ließ er seinen Blick durch die Runde schweifen. Die 45 Personen fassende Kabine war bis auf den letzten Platz besetzt. Wagemutige, die, so wie er, zur Bergstation auf fast 2.700 Meter Seehöhe strebten. Eine Mitarbeiterin der Bergbahnen wartete geduldig ab, bis alle die Kabine bestiegen hatten, dann schloss sie die Tür.
Es gab einen leichten Ruck, als sich die Gondel in Bewegung setzte. Während sie nach oben schwebten, hielt Mick seine Rennskier mit dem rechten Ellenbogen dicht an den Körper gepresst. Langsam gelang es ihm, seine Gedanken wieder halbwegs unter Kontrolle zu bringen und auf das Rennen zu fokussieren. Sein Blick blieb kurz an seinen beiden, in Leuchtrot lackierten, Skistöcken hängen.
Der junge Mann schloss für einen Moment die Augen. Der Geruch des Wachses, mit dem er heute in der Früh den Belag seiner Skier sorgfältig bearbeitet hatte, stieg ihm dabei in die Nase. Das brachte ihn auf andere Gedanken. Bevor er das Gleitmittel mit dem Wachsbügeleisen auftrug, hatte er die Laufflächen mit einer Bürste aus Kupferdraht gereinigt. Nach dem Auftragen des Wachses präparierte er den Belag zusätzlich mit unterschiedlichen Strukturbürsten. Am Ende wurde alles fein säuberlich mit einem Mikrofasertuch poliert. Der Wachsgeruch schien zu helfen, seine Aufregung ein wenig zu verdrängen. Ein wohlig vertrautes Gefühl durchströmte ihn. Micks erhöhte Pulsfrequenz sank langsam etwas nach unten.
Er öffnete die Augen wieder und ließ den Blick weiter durch die Gondel schweifen. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Mundwinkel. Gleich wie er selbst waren die meisten in einen engen Rennanzug gezwängt. Deutlich sichtbar zeichneten sich die Konturen der Rückenprotektoren unter dem elastischen Material der Anzüge ab. Die Gesichter der anderen, die mit ihm dem Berg entgegen schwebten, wirkten ebenfalls angespannt. »Die sehen alle auch nicht besser aus, als ich«, fuhr ihm kurz durch den Kopf, dabei langte er nach einer der Halteschlaufen, die von der Decke der Gondel baumelten.
Wie durch Watte gefiltert drangen vereinzelte Gesprächsfetzen an sein Ohr. Gleich wie bei ihm selbst stand allen anderen die Nervosität und die Anspannung über das bevorstehende Rennen deutlich in die Gesichter geschrieben. Oben an der Bergstation kam plötzlich Bewegung in die Gruppe. Unter den Rennläufern machte sich Hektik breit, als alle gleichzeitig dem Ausgang entgegenströmten.
Im Gegensatz zu den anderen blieb Mick noch kurz in der Gondel zurück. Er atmete tief durch, bevor er sich nach draußen begab. Langsam sah er sich um. Er erschrak über das hektische Treiben, das hier bereits abging. Obwohl der Start erst in drei Stunden war, herrschte im Startbereich, wenige Meter von der Ausstiegsstelle entfernt, schon reger Betrieb. Ein junger ORF-Reporter mit einem Mikrofon in der Hand und einem Kameramann im Schlepptau, bemühte sich, Interviews von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu bekommen.
Mit so einem Auflauf hatte Mick nicht gerechnet. Er wich dem ganzen Trubel aus und hielt sich abseits. Damit versuchte er, einen klaren Kopf für das Rennen zu behalten. Mit gezielten Dehnübungen begann er die Muskeln seines durchtrainierten Körpers aufzuwärmen. Es dauerte nicht lange, und er war wieder im Tunnel, der seine Gedanken nur noch auf das Eine fokussierte. Mick war jetzt so auf das bevorstehende Rennen konzentriert, dass er sogar die Bilder von diesen Augen, die ihn fragend anstarrten, vergaß. Die Erinnerung daran, wie die ganze Geschichte damals vor knapp zehn Jahren ihren Anfang genommen hatte, blendete er im Moment ebenfalls völlig aus.
Es war Ende Juni, die Sonne brannte schon seit Wochen ununterbrochen vom Himmel. Eine brütende Hitze überzog das ganze Land. Wie ein glühend heißer Atem schlich sich die aufgeheizte Luft bis in die entlegensten Winkel der Häuser und Wohnungen. Alles stöhnte in diesem Frühsommer 2015 unter den hohen Temperaturen. Schon die kleinste Bewegung wurde für Mensch und Tier zur Qual. In den letzten Tagen kletterte das Quecksilber sogar am frühen Vormittag auf 30 Grad und mehr.
Jetzt, kurz vor Mittag, war es draußen in Zirl kaum auszuhalten. Die heiße Luft war zum Schneiden. Der Asphalt flimmerte in der Hitze und strahlte die Wärme ungefiltert an die Umgebung ab. Dies heizte alles zusätzlich auf.
Nur vereinzelt traf man auf den Straßen Menschen an. Ihre Bewegungen wirkten träge und wie in Zeitlupe. Verzweifelt ließen sie ihre Blicke nach einer schattigen Zuflucht umherirren, doch weit und breit war nichts zu finden, was zumindest ein klein wenig für Abhilfe gesorgt hätte.
In den Zirler Parks waren die Plätze unter den schattenspendenden Bäumen längst belegt. Alle suchten nach einem Schutz, der sie von der Sonne abschirmte. Wer auf die ersehnte Abkühlung im Schwimmbad hoffte, wurde enttäuscht. Wie schon in den Tagen und Wochen zuvor war hier längst die Hölle los.
Wie die Ölsardinen lagen die Menschen, dicht gedrängt unter ihren aufgespannten Sonnenschirmen und rührten sich nicht von der Stelle. In der Luft lag dieser für Schwimmbäder typische Geruch nach Sonnencremes und Sonnenölen.
Erholung suchte man hier heute vergebens. Aus Bluetooth Lautsprechern, Handys oder Radios tönte überall laute Musik. Von Klassik über Schlager, Pop, bis hin zu Hard Rock war alles vertreten. Dazu gesellten sich Kindergeschrei und zwischendurch immer wieder mahnende Zurufe von Erwachsenen, die ihre Ruhe suchten. Doch an Tagen wie diesen fehlte den Menschen die Kraft, um sich darüber zu ärgern. Bei der Hitze nahmen sie nicht einmal das monotone Brummen der Fahrzeuge wahr, die sich in einer langen Blechkolonne die steile Straße über den Zirler Berg quälten.
Immer wieder warfen die Freibadbesucher sehnsüchtige Blicke hinauf zum Himmel, doch keine Wolke weit und breit. Wie sehnten sich die hitzegeplagten Menschen jetzt nach dem, ansonsten so ungeliebten, Föhn. Den warmen und trockenen Fallwind aus dem Süden, der hauptsächlich im Frühjahr und im Herbst von Italien, über die Alpen bis hoch hinauf in den Norden fegte. Speziell im Wipptal und im Großraum Innsbruck war dieser Wind immer extrem präsent. Zumindest würde der Föhn für einen Luftzug sorgen und damit zugleich einen kleinen Funken Hoffnung aufkeimen lassen, dass sich bald ein Wetterumschwung ankündigte. Doch nicht der geringste Lufthauch regte sich. Bei diesen Temperaturen schien sich selbst der Föhn eine Pause zu gönnen.
Laut Wetterprognose blieb es die nächsten Tage und Wochen so. Das Hochdruckgebiet saß wie einzementiert fest. Fast bekam man den Eindruck, es wolle den ganzen Sommer hier verbringen. Die Hitze hielt sich wie in einem Kochtopf, der knapp vor dem Siedepunkt stand.
Mark zeigte sich von alldem unbeeindruckt. Das Wetter bereitete ihm die geringste Sorge. Mit angewinkelten Beinen saß der 14-Jährige auf dem staubigen Boden eines nicht mehr benutzten Lagerraumes. Vor ihm stand eine brennende Kerze auf dem schmutzverkrusteten Untergrund, der einmal ein glatter Estrich war. Nur gedämpft fanden die Strahlen der untergehenden Abendsonne ihren Weg bis in das Innere des Raumes. Die Fenster der beiden Flügeltüren aus Metall waren mit Pin-Up Postern von halbnackten Frauen blickdicht abgeklebt. Trotz dieser armseligen Umgebung, die ihn hier umgab, fand der Junge hier genau das, was er brauchte. Vor allem aber hatte er hier seine Ruhe.
Das Lager war im Erdgeschoss eines einstöckigen Industriebaus in einem Gewerbepark an der Salzstraße im Süden der Marktgemeinde. In der Nachbarschaft gab es hauptsächlich Werkstätten für Autos und Motorräder. Die störten Mark aber nicht. Zudem war der Bahnhof Zirl nicht weit weg, was für die Lage sprach.
Der containerähnliche Bau stand im Nordosten des Geländes. Über eine schmale Metallstiege gelangte man hinauf in den oberen Stock. Hier waren vier größere Räume, die von verschiedenen Bands aus der Umgebung zum Proben genutzt wurden.
Mark kam fast jeden Tag hierher. In dem Lager, dessen Platz hauptsächlich von einem alten BMW ohne Kennzeichen ausgefüllt wurde, war er für sich. Hier störte es niemanden, wenn er seinen Körper mit dem versorgte, wonach dieser so verzweifelt schrie. Bisher hatte er nie jemanden in der Abgeschiedenheit des Abteils, in dem es erbärmlich feucht und modrig war, gesehen. Ihn hingegen zog es immer wieder zurück an diesen Ort, den er kurz nach dem Tod seines besten Freundes Max, vor knapp einem Jahr entdeckt hatte.
Er war beim Herumstreunen in der Gegend zufällig darauf gestoßen. Die Tür stand offen und der Schlüssel steckte im Schloss. Nachdem er im Lager nichts Verwertbares fand, hatte er die Tür wieder abgeschlossen. Den Schlüssel hatte er behalten. Seither diente dieser Raum als sein Zufluchtsort. Wie gerne hätte er Max seine Entdeckung präsentiert. Wenn sein bester Freund doch bloß noch am Leben wäre.
Beim Gedanken an Max traten Mark Tränen in die Augen. Wut über die eigene Hilflosigkeit stieg in ihm hoch. Dazu kam die Verzweiflung, dass er ihm nicht helfen hatte können. Aber das nützte jetzt im Nachhinein alles nichts mehr. Max war tot. Schwer gezeichnet von den Drogen hatte sein bester Freund in seinen Armen die Reise in eine andere Welt angetreten. Mit seinen Gedanken bei Max ließ Mark den Blick durch die vertraute Umgebung schweifen.
Er hatte längst vergessen, wie oft er seinen Körper hier in dem ausgedienten Lager mit Gift versorgt hatte. Hinter den dünnen Mauern war das ungestört möglich. Er empfand hier sogar jene Geborgenheit, die ihm anderorts fehlte. Vor allem dann, wenn aus dem ersten Stock der Sound der Bands bis zu ihm herunter dröhnte und ihn auf seinen Reisen begleitete. Bevor er in seine Welt abglitt, kam es ihm jedes Mal vor, sein Herz glich sich dem Rhythmus an und begann, im Takt der Musik zu schlagen. Fast immer schweiften seine Gedanken dabei zurück zu Max. Ja, hier in diesem muffigen Loch lebte all die Erinnerung an seinen Freund weiter. Zugleich hatte er hier das Gefühl, Schutz vor all dem verruchten Mist zu finden, der draußen auf der Straße auf ihn lauerte.
Mark lehnte mit dem Rücken an einer mit Schimmel durchzogenen Wand am hinteren Ende des Lagers. Bisher hatte sich zwar noch nie jemand hier herein verirrt, trotzdem hatte er den Raum von innen versperrt. Er traute niemandem mehr. Die Augen des Jungen starrten apathisch ins Leere. Gedämpft drangen die Geräusche der nahen Autobahn bis zu ihm durch. Mark atmete flach, dabei rang er förmlich nach Luft. Er zitterte am ganzen Körper. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er schaffte es kaum, den ausgeleierten alten Gummiring über den nackten, linken Oberarm zu streifen.
Marks fahler Blick blieb kurz an der brennenden Kerze hängen, die rechts neben ihm auf dem Boden brannte. Dann konzentrierte er sich auf die Spritze und den Löffel. Fein säuberlich hatte er alles auf einem frischen Papiertaschentuch, vorbereitet.
Draußen war inzwischen die Dämmerung hereingebrochen. Die Kerze flackerte leicht im Luftstrom, der durch offene Ritzen hinein in den Raum zog. Schatten tanzten wie kleine Kobolde zuckend an den Wänden auf und ab. Mark sah kurz hin. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte sogar ein flüchtiges Lächeln über das blasse Gesicht des Jungen, bevor er sich wieder konzentrierte.