Im Zweifel für den Angeklagten - Bonnie MacDougal - E-Book
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Im Zweifel für den Angeklagten E-Book

Bonnie MacDougal

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Beschreibung

Ein gefährliches Spiel: Der Gerichtsthriller »Im Zweifel für den Angeklagten« von Bonnie MacDougal jetzt als eBook bei dotbooks. Jung, ehrgeizig und zu allem entschlossen: Die Karriere der Anwaltsgehilfin Jennifer befindet sich im Steilflug, als sie den Ex-Anwalt Scott Sterling kennenlernt, der beschuldigt wird, einen hochrangigen Klienten betrogen zu haben. Fest überzeugt von Scotts Unschuld, beschließt Jennifer, ihn zu verteidigen – und kann es kaum fassen, als sie erfährt, wer die Anklage führen wird: Dan Kinsella, einer der erfolgreichsten Anwälte Philadelphias, der dafür bekannt ist, alles zu tun, um seine Fälle zu gewinnen – und ausgerechnet der Mann, den sie mehr als alles andere verachtet. Während sie Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um den Fall zu gewinnen, kann sie die dunkle Anziehung, die Dan auf sie ausübt, nicht verleugnen. Doch dann wird der Fall plötzlich zur tödlichen Gefahr, als ein wichtiger Zeuge ermordet wird – und Scott spurlos verschwindet … »Die raffinierten Handlungsfäden verweben sich zu einem Strang, dessen Spannung nie nachlässt.« Der Spiegel Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Thriller »Im Zweifel für den Angeklagten« von Bonnie MacDougal wird alle Fans von John Grisham und der TV-Serie »The Good Wife« begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 697

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Über dieses Buch:

Jung, ehrgeizig und zu allem entschlossen: Die Karriere der Anwaltsgehilfin Jennifer befindet sich im Steilflug, als sie den Ex-Anwalt Scott Sterling kennenlernt, der beschuldigt wird, einen hochrangigen Klienten betrogen zu haben. Fest überzeugt von Scotts Unschuld, beschließt Jennifer, ihn zu verteidigen – und kann es kaum fassen, als sie erfährt, wer die Anklage führen wird: Dan Kinsella, einer der erfolgreichsten Anwälte Philadelphias, der dafür bekannt ist, alles zu tun, um seine Fälle zu gewinnen – und ausgerechnet der Mann, den sie mehr als alles andere verachtet. Während sie Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um den Fall zu gewinnen, kann sie die dunkle Anziehung, die Dan auf sie ausübt, nicht verleugnen. Doch dann wird der Fall plötzlich zur tödlichen Gefahr, als ein wichtiger Zeuge ermordet wird – und Scott spurlos verschwindet …

»Die raffinierten Handlungsfäden verweben sich zu einem Strang, dessen Spannung nie nachlässt.« Der Spiegel

Über die Autorin:

Bonnie MacDougal wurde in den USA geboren und studierte englische Literatur und Jura in Pennsylvania. Ihre langjährige Erfahrung als Anwältin in Philadelphia inspirierte sie zu ihren beeindruckend realitätsnahen Gerichtsthrillern, wegen welcher sie auch als »weiblicher John Grisham« bezeichnet wird. Bonnie MacDougal, mittlerweile Bonnie Kistler, lebt heute mit ihrem Mann in Florida.

Bonnie MacDougal veröffentlichte bei dotbooks bereits »Wer seine Schuld verschweigt«.

Die Website der Autorin: bonniekistler.com/

***

eBook-Neuausgabe Februar 2023

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1996 unter dem Originaltitel »Breach of Trust« bei Pocket Books, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1996 unter dem Titel »Vertrauen ist ein ungedeckter Scheck« im Paul List Verlag, München.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1996 Bonnie MacDougal Kistler

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1996 Paul List Verlag in der Südwest Verlag GmbH & Co KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98690-467-8

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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***

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Bonnie MacDougal

Im Zweifel für den Angeklagten

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Charlotte Breuer

dotbooks.

Nichts ist leichter als Selbstbetrug.

Denn jeder hält das für wahr,

was seinen Wunschvorstellungen entspricht.

Demosthenes

TEIL EINSDie Aussage

Kapitel 1

Köpfe fuhren herum, und der Weg wurde freigemacht, wenn Dan Casella einen Raum betrat. Jenny war schon häufiger in Gerichtssälen und Konferenzräumen Zeugin dieses Phänomens geworden, aber das Ballettstudio, in dem sie trainierte, war ein ungewöhnlicher Schauplatz. Der Pianist geriet ins Stocken, und ein letzter dissonanter Akkord hallte in der plötzlich eingetretenen Stille nach. Monsieur duBret drehte auf seinen sechzigjährigen Beinen noch eine perfekte Pirouette, dann starrte er den Eindringling mit wütend zusammengezogenen Brauen an. Jenny erstarrte, von Dans unerwartetem Auftauchen regelrecht in Bann geschlagen, während die übrigen Tänzerinnen und Tänzer mit geschmeidigen Bewegungen beiseite traten. Die Reihe vor dem Spiegel stob auseinander wie ein vom Wind aufgewehter Vorhang.

Dan schritt an ihnen vorbei, als habe er nichts weiter als eine läppische Beweisaufnahme gestört, und steuerte auf Jenny zu, die im Spagat mit vorgebeugtem Oberkörper am Boden klebte. Ungraziös wie ein Fohlen, das seine ersten Stehversuche macht, erhob sie sich. Sie war plötzlich peinlich berührt bei dem Gedanken an die Schweißringe an ihrem Gymnastikanzug und den Zopf, der ihr über den Rücken baumelte.

Im Spiegel vor Jenny tauchte das Gesicht von Leslie auf, die aufgeregt grimassierte und mit den Lippen die Frage »Ist er das?« formte.

Obwohl Leslie richtig geraten hatte, schüttelte Jenny den Kopf.

»Jennifer, ich brauche Sie«, sagte Dan in seinem gedämpften, vertrauenerweckenden Anwaltston.

Es stand ihr nicht zu, sich nach dem Grund zu erkundigen; Dan war ihr Vorgesetzter. »Ich werde mich rasch umziehen«, sagte sie.

»Keine Zeit. Ziehen Sie sich einfach etwas über, wir treffen uns am Ausgang.«

Jenny nickte und machte sich sofort auf den Weg in den Umkleideraum.

»Was ’at das zu bedeuten?« bellte der Ballettmeister.

»Es tut mir leid, Monsieur«, sagte Jenny, während sie an ihm vorbeieilte. »Ich werde dringend im Büro gebraucht.«

»Sie arbeiten nischt genug an der Stange!«

»Weil ihre Arbeitgeber zusehen, daß sie sie bei der Stange halten!« johlte Leslie aus dem Hintergrund.

Monsieur fuhr wütend herum, und Jenny nutzte die Gelegenheit zur Flucht.

»Bis später, Frau Anwältin!« rief Leslie ihr nach.

Jenny hastete in ihre Umkleidekabine, befreite sich von Ballettschuhen und Wadenwärmern und zog ihren grauen Faltenrock und ihren grauen Blazer über. Keine Zeit zum Umziehen, hatte Dan gesagt, und sie nahm ihn beim Wort. Eilig stopfte sie die Ballettschuhe in ihre Tasche, schlüpfte in die Pumps, klemmte sich ihre Aktentasche unter den Arm und war bereits nach nicht ganz fünf Minuten auf dem Weg die Treppe hinunter.

Dan erwartete sie in der Eingangshalle. Die Hände in den Manteltaschen vergraben, wirkte er in dem düsteren Vestibül der Kunstakademie ebenso selbstbewußt und gelassen wie überall. Die Tänzerinnen und Musikstudentinnen, die in Scharen durch die Vorhalle eilten, zogen bei seinem Anblick die Brauen hoch oder warfen ihm ein wollüstiges Lächeln zu, allesamt hingerissen von diesem gutaussehenden, an seiner perfekten Kleidung als gestandener Anwalt erkennbaren Mann, der nicht in das Ambiente zu passen schien.

»Um was handelt es sich?« fragte Jenny, während sie sich ihren Mantel überzog und durch die Tür eilte, die er für sie offenhielt.

»Ein neuer Fall«, sagte er. »Eine Katastrophe.«

Es war kalt draußen und dämmerte bereits. Die Januartage wurden langsam und kaum merklich länger. Jenny bemühte sich atemlos, ihr Tempo Dans energischen Schritten anzupassen, als sie die Broad Street hinaufgingen.

»Wer ist der Mandant?« erkundigte sie sich. Obwohl sie erst vor knapp zwei Jahren ihr Juraexamen bestanden hatte, wußte sie bereits, wonach man als erstes fragen mußte. Die Fakten nützten einem wenig, bevor man sich über die Sachlage Klarheit verschafft hatte.

»Harding & McMann.«

Harding & McMann war kein Klient, sondern die Konkurrenz, eine große Anwaltskanzlei in Philadelphia und noch renommierter als Foster, Bell & McNeil, die Kanzlei, für die sie und Dan arbeiteten. Wenn Harding & McMann einen Anwalt brauchte, konnten sie auf einen ihrer eigenen zweihundert Mitarbeiter zurückgreifen. Wieso wollten sie Dan?

»Und die Krise?« fragte sie.

»Sie haben einen ihrer Anwälte beim Griff in die Kasse erwischt.«

»Er hat Geld von der Kanzlei unterschlagen?«

»Noch schlimmer.« Die Ampel an der Ecke Chestnut Street sprang auf Rot, und Dan blieb an der Bordsteinkante stehen. »Er hat sich am Geld eines Mandanten vergriffen.«

Die Ampel wechselte auf Grün, und Dan überquerte mit Riesenschritten die Straße.

»Und jetzt?« fragte Jenny, hinter ihm herhastend.

»Jetzt will er sein Herz ausschütten.« Er wandte sich um und schenkte ihr das erste und letzte Lächeln an diesem Abend. »Und wir müssen rechtzeitig da sein, um den Inhalt aufzufangen.«

Harding & McMann, die hauptsächlich Mandanten aus Managerkreisen und dem Geldadel vertraten, hatten ihre Kanzlei in den oberen Etagen eines alten Bürogebäudes, das zu einem ehemals vornehmen Häuserblock auf der Broad Street gehörte. Die anderen großen Kanzleien waren in die neuen Bürotürme auf der Market Street umgezogen, während H & M der Broad Street die Treue gehalten hatte. Die Firma war seit über hundert Jahren in diesem Gebäude ansässig und somit einer Tradition verpflichtet, die es nach Meinung der Firmeninhaber zu pflegen galt, ganz zu schweigen von den Kapitalerträgen, welche die Kanzlei als Miteigentümerin des Gebäudes erwirtschaftete. Einen Block weit entfernt thronte der in Stein gehauene William Penn, ein asketischer englischer Quäker, mit unglücklicher Miene hoch oben auf dem Rathaus, einem ornamentreichen Bau im französischen Empire-Stil.

Sie fanden den Eingang des Gebäudes verschlossen vor, doch der Wachmann war über ihre Ankunft in Kenntnis gesetzt worden. Nachdem Dan ihm über die Gegensprechanlage seinen Namen genannt hatte, summte der Türöffner, und die beiden bestiegen den Aufzug, der sie in den zwanzigsten Stock brachte. Jenny beobachtete von der Seite, wie Dan mit den Fingern durch sein schwarzes, kurzgeschnittenes Haar fuhr und seine Hornbrille zurechtrückte. Dan wechselte die Brillen wie andere ihre Krawatten, was zur Folge hatte, daß sie nie zu einem Teil von ihm wurden. Auch ohne Brille war er unverkennbar er selbst.

In den hochpolierten Messingplatten auf den Aufzugtüren betrachtete Jenny ihr eigenes Gesicht. So gänzlich ungeschminkt war auch dieses Gesicht unverkennbar ihr eigenes, schmal und länglich, die Augen zu hell und zu tief in ihren Höhlen, ihre hohe Stirn kein bißchen kaschiert, da sie ihr langes, braunes Haar immer noch im Nacken zusammengebunden trug. Sie senkte den Blick und starrte auf den Boden, jedoch nicht ohne daß ihr das Spiegelbild ihrer Beine entgangen wäre, die noch immer in der fleckigen, pinkfarbenen Gymnastikhose steckten.

Als die Aufzugtüren sich öffneten, sprang ein großer, blonder Mann mit Halbglatze von seinem Stuhl in der Empfangshalle auf.

»Dan«, rief er hörbar erleichtert aus.

»Charlie«, sagte Dan und schüttelte ihm ohne zu lächeln die Hand. »Ist er noch da?«

»Er hält immer noch Hof im Konferenzsaal.«

Das muß Charles Duncan sein, dachte Jenny, der geschäftsführende Gesellschafter von Harding & McMann. Er war in Hemdsärmeln, hatte seine Krawatte gelockert, und auf seiner Stirn zeichnete sich eine tiefe Falte ab.

»Charlie, das ist meine Assistentin, Jennifer Lodge. Charlie Duncan.«

Duncan nickte ihr abwesend zu, bevor er sich umwandte und ihnen voraus den Korridor entlangging. Alle Büros waren leer und dunkel, nur am Ende des Flurs blinkte eine Lampe auf wie eine Sturmwarnung. Eine Tür öffnete sich, und Licht fiel in den Korridor, als eine Frau in einer verschwitzten Bluse, die kaum noch in ihrem zerknitterten Rock steckte, mit einer leeren Kaffeekanne in der Hand hinaustrat. »Mäntel«, sagte sie tonlos, vor Erschöpfung nicht einmal mehr in der Lage, es wie eine Frage klingen zu lassen.

Während die Frau mit den Mänteln der beiden um die Ecke verschwand, wurden sie von Duncan in den Konferenzsaal gebeten.

Jede Anwaltskanzlei in Philadelphia, die ihre Honorare wert war, besaß einen großen Konferenzsaal für wichtige Zeremonien und andere Gelegenheiten, bei denen es darauf ankam, Eindruck zu schinden. Dies war derjenige der Kanzlei Harding & McMann. Der Raum verfügte über eine Höhe von etwa vier Metern und eine hölzerne Kassettendecke; die Wände waren mit stark gemasertem Edelholz aus dem Regenwald getäfelt und mit Porträts der Firmengründer geschmückt, deren Kleidung und Barttracht sie als Bürger des neunzehnten Jahrhunderts auswiesen; und der zehn Meter lange Konferenztisch aus massivem, hochpoliertem Holz mußte an Ort und Stelle angefertigt worden sein.

Um diesen Tisch herum saßen Männer in Hemdsärmeln, die Jenny wie das Empfangskomitee in einem vornehmen Anwaltsclub in Philadelphia vorkamen. Jenny vermutete, daß es sich bei diesen Herren um die Geschäftsführung von Harding & McMann handelte. Der Begriff Quotenregelung war in dieser Firma offenbar ein Fremdwort; die anwesenden Männer waren ausnahmslos weiß und über fünfundvierzig. In Hemdsärmeln und grauen Rändern an ihren Krägen gaben sie allerdings kein sehr distinguiertes Bild ab.

Dan dagegen wirkte frisch und schneidig, und die Kollegen lebten bei seinem Eintreten auf, als sei er der Überbringer völlig neuer Fakten.

»Dan, schön, Sie zu sehen.«

»Vielen Dank, daß Sie so kurzfristig gekommen sind.«

Am Ende des Konferenztisches saß ein weißhaariger Mann mit gebeugten Schultern und gesenktem Kopf, als laste eine schwere Schuld auf ihm. Die Herren von der Geschäftsführung schienen nicht zu wagen, ihren Blick auf ihm ruhen zu lassen.

Am anderen Ende des Raums stand ein junger Mann mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Er war schlank, blond und feingliedrig, und obschon auch er in Hemdsärmeln war und müde Augen hatte, wirkte er um zwanzig Jahre jünger als seine Kollegen. Seine Haltung verriet eine Nervosität, die Jenny nur zu vertraut war. Er war extrem wachsam, die Muskeln unter seinem weißen Hemd angespannt, jederzeit bereit, auf den leisesten Wink eines der Anwesenden hin zu springen. Also ein frischgebackener junger Anwalt, umgeben von lauter Vorgesetzten, die vielleicht offiziell nicht einmal seine Bosse waren, die jedoch stimmberechtigt sein würden, wenn irgendwann einmal darüber abgestimmt wurde, ob er zum Teilhaber der Firma aufrücken konnte. Er sah an Dan vorbei zu Jenny hinüber, und einen Augenblick lang leuchtete sein Gesicht auf, als er ein Grinsen über ihre Aufmachung unterdrückte. Und in diesem kurzen Moment wirkten seine blauen Augen äußerst sympathisch.

Auch so ein kleiner Assistent wie ich, ging es Jenny durch den Kopf, und der Funken des Erkennens zwischen zwei Gleichen machte ihr verlegenes Erröten fast wieder wett.

»Dan, das ist Tucker Podsworth, der Vorsitzende unserer Immobilienabteilung«, sagte Duncan.

Der Weißhaarige erhob sich, und Dan schüttelte ihm die Hand mit größerer Verbindlichkeit, als ein Betrüger verdiente, dachte Jenny. Sie selbst nickte ihm knapp zu.

Die Frau, die ihnen ihre Mäntel abgenommen hatte, kehrte mit einer vollen Kaffeekanne zurück. Sie stellte sie auf den Büffettisch und nahm an einem Ende des Konferenztischs Platz. Vor ihr lag ein mit wilden schwarzen Kritzeleien übersäter Stenoblock. Jenny setzte sich ebenfalls an den Tisch und nahm aus ihrer Aktenmappe den Notizblock, den sie stets bei sich trug.

»Also«, wandte Duncan sich an Dan. »Wo möchten Sie beginnen?«

Dan zog sein Jackett aus und hängte es vorsichtig über seine Stuhllehne, bevor er am Kopf des Konferenztischs Platz nahm. Jenny hatte ihn noch nie sitzen sehen. Einmal hatte sie erlebt, wie er mit einer entwaffnenden Bemerkung an das Kopfende eines Tisches getreten war – »Ich möchte lediglich sicher gehen, daß ich jeden von Ihnen sehen kann« –, um dann den Vorsitz über die Versammlung an sich zu reißen, ohne daß es seinen verblüfften Zuhörern auffiel. Er war erst siebenunddreißig, relativ jung für einen Anwalt, und außer dem wachsamen Assistenten der jüngste Mann im Raum. Aber selbst hier gab es, trotz der Anwesenheit eines ehemaligen Bundesrichters, keinen Zweifel daran, wer das Sagen hatte.

»Ich möchte, daß Scott als erster berichtet«, sagte Dan und richtete seinen Blick auf den jungen Mann an der Wand. »Und zwar von Anfang an.«

Jenny wurde plötzlich klar, daß der Assistent der Betrüger war, nicht der Alte, der so schuldbewußt auf sie gewirkt hatte. Als sie zu ihm hinübersah, lief er hochrot an; es war der Fluch der Hellhäutigen, daß sie ihre Scham nie verbergen konnten. Jenny senkte ihren Blick und starrte auf ihren Notizblock. Nur Dan sah Scott unverwandt an; alle anderen zogen es vor, Dan zu beobachten. Eigentlich war es verständlich, daß ihr Interesse eher dem Mann galt, der sie vielleicht retten würde, als dem, der sie womöglich ruiniert hatte.

Der Delinquent nahm Haltung an. »Ich habe einen Mandanten«, begann er, unterbrach sich jedoch dann, um sich zu räuspern. »Oder sollte ich besser sagen ›Ich hatte einen Mandanten‹?«

Während des verächtlichen Schweigens, mit dem seine Bemerkung quittiert wurde, schielte Jenny kurz zu ihm hinüber. Als ihre Blicke sich trafen, meinte sie in seinen Augen etwas aufflackern zu sehen, vielleicht den dringenden Wunsch, etwas anderes ansehen zu dürfen als die Rücken seiner Chefs und das Gesicht seines Inquisitors.

»Fahren Sie fort«, sagte Dan.

»Ich war als juristischer Berater für die Verwaltung des Nachlasses der kürzlich verstorbenen Elizabeth Mason Chapman tätig.«

Die Namen waren Jenny ein Begriff. Sowohl die Masons als auch die Chapmans gehörten zu den ältesten und blaublütigsten Familien Philadelphias. Beide Familien waren im frühen neunzehnten Jahrhundert mit irgendeinem Industrieprodukt zu Reichtum gelangt und hatten sich später auf das Bankgeschäft verlegt; heute konzentrierte sich ihr Interesse hauptsächlich auf Pferde und wohltätige Einrichtungen.

»Wer ist der Begünstigte dieses Nachlasses?«

»Der Witwer, Reese Chapman, erhält eine lebenslange Rente. Die gemeinsame Tochter Catherine erhält Zuwendungen nach dem Ermessen des Treuhänders. Wenn Reese stirbt, geht das Gesamtvermögen an Catherine.«

»Wer ist der Treuhänder?«

»Curtis Mason, der Bruder von Mrs. Chapman. Onkel Curt war es, der mich als juristischen Berater hinzugezogen hat.«

»Onkel?« fragte Dan.

»Nein, wir sind nicht verwandt«, erwiderte Scott und sah zu Jenny hinüber. »Er und mein Vater sind alte Freunde. Sie sind zusammen in Lawrenceville zur Schule gegangen.«

Die um den Konferenztisch versammelten Zuhörer zogen die Augenbrauen zusammen. Das war die Sorte Mitarbeiter, mit deren Hilfe eine Kanzlei wie Harding & McMann florierte – jemand, dessen Vater zusammen mit einem Mason die Schulbank gedrückt hatte, der sich in den richtigen Kreisen bewegte und dementsprechend die richtigen Aufträge akquirierte und der, wenn er vielleicht auch kein begnadeter Anwalt wurde, doch vertrauenswürdig und verläßlich war. Anscheinend. Die Stirnfalten vertieften sich.

»Nachdem Onkel Curt sich letztes Jahr zur Ruhe gesetzt hat und den Winter in Palm Beach und den Sommer in Bar Harbour verbringt, brauchte er jemanden, der sich tagtäglich um die Nachlaßverwaltung kümmerte. Ich habe also nicht nur Urkunden ausgestellt. Ich fing an, Investitionen zu tätigen, und ich habe die Auszahlungen vorgenommen.«

»Haben Sie eine notarielle Vollmacht?«

Scott sagte nur: »Er hat mir das Scheckheft gegeben.«

Jenny sah schnell zu Dan hinüber, doch der zeigte keine Reaktion. »Fahren Sie fort«, sagte er.

»Ich habe die Schecks ausgestellt. Zwanzigtausend pro Monat an Reese Chapman, gemäß den Testamentsbestimmungen. Unterschiedliche Summen an Catherine, entsprechend den jeweiligen Anweisungen. Bei Bedarf habe ich Geld an das Finanzamt überwiesen sowie das Honorar für den Steuerberater. Übrigens auch unsere Honorare.«

Charlie Duncan erbleichte und senkte den Kopf, um es sich nicht anmerken zu lassen.

»Wie haben Sie diese Schecks unterschrieben?«

»Mit Curtis B. Mason, Treuhänder.«

»Wußte Mason, was Sie taten?«

»Das wußte er jedenfalls.«

»Und was wußte er nicht?«

Scott holte tief Luft. »Er wußte nicht, daß ich Barschecks ausstellte und das Bargeld auf mein Konto einzahlte.«

Jenny starrte Dan entgeistert an, aber der zuckte mit keiner Wimper. »Seit wann und wieviel?« fragte er.

»Ich habe vor ungefähr vier Monaten angefangen. Rund zwei Millionen Dollar.«

Das war die Größenordnung, in der Leute wie die Masons und die Chapmans Geschäfte machten; niemand würde auf die Idee kommen, sie lediglich um ein paar tausend Dollar zu erleichtern. Aber wozu brauchte Scott soviel Geld? fragte sich Jenny. Die monatlichen Abzahlungsraten für ein Studentendarlehen oder einen BMW, selbst regelmäßiger Drogenkonsum würden nicht einmal einen Bruchteil einer solchen Summe verschlingen.

Aber Dan interessierte sich nicht dafür, wozu, sondern wie Scott das Geld entwendet hatte. »Auf welche Bank haben Sie die Schecks ausgestellt?«

»Keine Bank, eine Brokerfirma. Connolly & Company. Der Treuhandfonds war bei dieser Firma angelegt, und zwar auf einem Konto mit Scheckvollmacht.«

»Wer erhielt die Kontoauszüge? Und die stornierten Schecks?«

»Curtis G. Mason, zu meinen Händen.«

Dan ließ sich Zeit mit seiner nächsten Frage, und er stellte sie ganz beiläufig, so als sei er lediglich neugierig. »Wie sind Sie denn erwischt worden?«

Scott hob den Kopf und sah zu Tucker Podsworth, dem Weißhaarigen, hinüber, der tief Luft holte und sich räusperte.

»Ich fürchte, es war reiner Zufall«, sagte dieser mit einer Stimme, die ebenso selbstbewußt aristokratisch klang wie sein Name. »Ich habe in Scotts Büro nach einer Akte gesucht. Er hatte das Scheckbuch offen auf seinem Schreibtisch liegen lassen, und ein Scheck war bereits ausgestellt und mit Curtis Mason unterschrieben.«

»Woher wußten Sie, daß die Unterschrift gefälscht war?«

»Die Tinte war noch naß, und Curt hatte mich heute vormittag noch aus Palm Beach angerufen.«

Dan wandte sich wieder Scott zu und sah ihn lange prüfend an.

»Sie haben recht«, gab Scott zu. »Ich war zu unachtsam. Es geschah mir recht, erwischt zu werden.«

»Oder Sie wollten erwischt werden.«

Scott konnte seine Anspannung nicht mehr beherrschen, und er trat erregt einen Schritt vor. »Nein! Nein – sehen Sie, ich wollte alles zurückzahlen. Wenn ich Zeit gehabt hätte, die Sache zu Ende zu bringen –«

»Was zu Ende zu bringen?«

»Onkel Curts Kapitalanlagen.«

»Sie meinen die Kapitalanlagen des Treuhandfonds.«

»Nein. Onkel Curts persönliche Kapitalanlagen. Dafür brauchte ich die zwei Millionen. Als Grundstock für Onkel Curts Spekulationsgeschäft.«

Dan sah zuerst Jenny an und dann alle anderen, und Jenny spürte, wie sein Blick die Anwesenden elektrisierte, wie sie eine Möglichkeit witterten, eine Verteidigungsstrategie aufzubauen.

»Gehen wir noch einmal zurück«, sagte Dan. »Sie haben das Geld auf Ihr eigenes Konto eingezahlt.«

»Zunächst einmal. Aber dann habe ich von diesem Konto Schecks ausgestellt. Verrechnungsschecks, damit mein Name nicht daraufstand. Ich habe sie mit einer Unterschrift versehen, die niemand entziffern konnte. Und dann habe ich sie auf Onkel Curts Konto bei der Brokerfirma eingezahlt.«

»Warum?«

Scott verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen, das Jenny unter anderen Umständen als charmant empfunden hätte. »Es macht mir Spaß, mit Geld zu spekulieren. Und ich bin verdammt gut, glauben Sie mir. Aber ich hatte noch nie über ausreichend Kapital verfügt. Das werde ich erst, wenn ich fünfunddreißig bin und der Nachlaß meiner Großmutter auf mich übergeht. Also habe ich Phantasieportfolios zusammengestellt, sehen Sie? Und dann habe ich genau verfolgt, wie die Sache gelaufen wäre, wenn ich die Optionen tatsächlich gekauft hätte. Auf dem Papier war ich schließlich mehrfacher Millionär.

Onkel Curt hat sich immer darüber beschwert, daß seine Broker keine Gewinne erzielten. Da habe ich ihm meine Zahlen gezeigt, und er war verdammt beeindruckt. Er sagte zu mir, wie wär’s wenn du das für mich machtest? Übernimm meine Geschäfte, setze dich mit meinem Broker auseinander und sieh zu, was für Ergebnisse du erzielst. Er sagte, der Broker kriegt die Provision, aber ich mache dir einen Vorschlag, ich bezahle dich so, wie wenn du als Anwalt für mich tätig wärst, und wenn du Gewinne erzielst, kriegst du eine hübsche Unterprovision.

Ich sagte, okay, aber, um ehrlich zu sein, ich hätte es nicht umsonst gemacht. Das war meine Chance, echte Geschäfte zu machen, und auch wenn die Gewinne an Onkel Curt gingen – immerhin hat Onkel Curt mich stets mit Aufträgen versorgt, hat mich für meine Arbeit gelobt. Ich fand also, daß ich ganz gut dabei wegkam.

Er hat hunderttausend Dollar auf sein Konto bei der Brokerfirma eingezahlt, hat mir Handlungsvollmacht erteilt und mich aufgefordert, mein Glück zu versuchen.«

»Wer ist der Broker?« fragte Dan.

»Brian Kearney. Von Connolly & Company.«

»Derselbe, der das Treuhandvermögen verwaltet?«

Scott nickte, er konnte es anscheinend kaum erwarten, den Rest der Geschichte zu erzählen. »Ich habe also eine neue Akte angelegt unter dem Namen ›Mason Investment Advice‹ und meine ganze Zeit in die Sache gesteckt. Ich habe mich hauptsächlich auf Optionen gestürzt, denn ich brauchte einen schnellen Gewinn, um Onkel Curt möglichst bald Resultate vorlegen zu können. Der Broker war der Meinung, ich sei zu risikofreudig, aber in diesem Geschäft muß man aggressiv sein.«

»Sie haben alles verspekuliert«, sagte Dan.

»Nein«, erwiderte Scott. »Nach einem Monat war der Kontostand bei zweihunderttausend. Ich hatte seinen Einsatz verdoppelt.

Aber dann ist der Markt umgekippt. Alle Positionen gingen Richtung Baisse, und ich kam gar nicht schnell genug hinterher. Onkel Curt rief immer wieder an. Wie läuft’s denn heute? Ich hatte nicht den Mut, ihm die Wahrheit zu sagen. Er brauchte ja nichts davon zu wissen, es würde schon wieder werden. Also sagte ich, alles wunderbar, gestern hast du mit diesen IBM-Optionen einen Profit von fünfzigtausend erzielt.

Es war die reinste Lawine. Nach drei Monaten war das Konto leer, und Onkel Curt glaubte, er hätte zwei Millionen Dollar.«

Dan warf Jenny einen Blick zu, der ihr sagte, das ist wichtig, notieren Sie das. »Er glaubte, er hätte in drei Monaten einen zweitausendprozentigen Gewinn auf seine Investition gemacht?«

Scott nickte ernst. »Das habe ich ihm gesagt. Und er vertraute mir.«

»Also haben Sie Geld aus dem Treuhandfonds abgezweigt, um das Konto in Ordnung zu bringen.«

»Das Geld lag einfach da herum«, sagte Scott. »Ein Vermögen von zehn Millionen Dollar. Reese Chapman kriegt nicht mehr als zwanzigtausend im Monat, und Catherine entnimmt keine große Summen. Das Gesamtvermögen wird erst ausgezahlt, wenn Chapman stirbt, und er ist erst Anfang fünfzig. Keiner würde das Geld vermissen. Also habe ich Catherine bestohlen, um Curt zu bezahlen, ja.«

»Und Mason hatte keine Ahnung.«

»Natürlich nicht.«

»Was glaubte er denn, woher die Einzahlungen kamen?«

»Ich habe ihm erklärt, es seien Gewinne aus Spekulationsgeschäften.«

»Führen Sie noch immer seine Geschäfte?«

»Ja. Und ich mache Gewinne.«

»Wie hoch ist Masons Kontostand zur Zeit?«

»Etwa eins Komma sieben Millionen. Seit letzten Monat habe ich einen Gewinn von fünfzigtausend gemacht.«

»Gewinn?« sagte Dan in einem scharfen Tonfall, den er sich für solche Gelegenheiten vorbehielt. »Mal sehen – es fehlen Ihnen zwei Millionen aus dem Treuhandfonds, Sie haben Masons zweihunderttausend verspekuliert, und sein Kontostand liegt zweihundertfünfzigtausend unter dem, was Sie ihm angegeben haben. Für mich sieht das so aus, daß Sie zwei Komma drei fünf in den Miesen sind.«

Treffer. Scott wich die Farbe aus dem Gesicht, und er lehnte sich erschöpft wieder gegen die Wand. »Yeah«, murmelte er.

Kapitel 2

Draußen herrschte inzwischen pechschwarze Nacht, und die lange Lichterkette des Berufsverkehrs auf dem Schuylkill Expressway hatte sich in einzelne Punkte aufgelöst. Jennys Armbanduhr steckte in einem ihrer Ballettschuhe in ihrer Sporttasche, aber sie schätzte, daß es bereits nach zehn war. Der vom langen Warmhalten bittere Kaffee wurde von allen verschmäht, nur sein aufsteigender Duft hielt sie noch wach. Die Frau, die den Kaffee auf den Büffettisch gestellt hatte, war an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, wo sie nun dabei war, Jennys Aufzeichnungen abzutippen. Allerdings war noch nicht klar, ob Dan Scott gestatten würde, die Aussage zu unterschreiben.

Nachdem die Sachlage in groben Umrissen klargestellt war, ging es Dan um die Details. Welche Schecks waren wann ausgestellt worden? Welche Einzahlungen waren zu welchem Zeitpunkt vorgenommen worden? Welche Geschäfte waren in Auftrag gegeben worden? Was für Gespräche waren mit dem Broker geführt worden? Und mit Mason? Aus Scotts ein Stockwerk tiefer liegendem Büro wurden Akten geholt und auf dem Konferenztisch ausgebreitet. Dan brütete über den Papieren, versuchte, den Verlauf der Transaktionen zu rekonstruieren, und stellte Scott zwischendurch kurze Fragen, wenn die Abfolge nicht klar ersichtlich war.

Scott war sehr darum bemüht, hilfreich zu sein. »Nein, das war zuerst«, sagte er und ordnete die Unterlagen neu. »Sehen Sie diesen Eintrag? Zu diesem Zeitpunkt habe ich die Buchung vorgenommen.« Dan wiederholte Fragen, die er eine Stunde zuvor schon einmal gestellt hatte, und achtete darauf, ob er dieselben Antworten erhielt. Scott, dem die Taktik nicht entgangen war, beantwortete die Fragen trotzdem. Kein Problem, Sie machen nur Ihren Job, das verstehe ich.

Jenny zerbrach sich den Kopf über das Warum. Was brachte einen jungen Anwalt, der, wie sie, erst am Beginn seiner beruflichen Laufbahn stand, dazu, seine Karriere zu ruinieren, noch bevor sie begonnen hatte? Wie sie hatte er sein Jurastudium durchgestanden und zweifellos ebenso die nagenden Selbstzweifel, die damit einhergingen. Er hatte ähnlich schwere Lehrjahre mitgemacht wie Jenny, und das in einer Anwaltskanzlei, wo Assistenten als nützliche Unpersonen betrachtet wurden, für deren Leistung man den Mandanten zweitausend Arbeitsstunden in Rechnung stellen konnte und die sich immer im Schatten von Vorgesetzten bewegten, die wenig Interesse daran hatten, ihnen auch nur einen Funken des Rampenlichts zuzugestehen, in dem sie selbst standen. Und da Jenny inzwischen erfahren hatte, daß Scott zweiunddreißig Jahre alt war, wußte sie, daß er seine Lehrjahre beinahe durchlaufen hatte und kurz davor stand, zum Sozius aufzusteigen, ein Ziel, das für Jenny noch in unerreichbarer Ferne lag. Es war ihr unbegreiflich, wie jemand es fertigbrachte, sich all das zu verscherzen.

Alle anderen jedoch betrachteten das Rätsel als gelöst. Die Mitglieder der Geschäftsführung hatten den Konferenzsaal verlassen, und von den Korridoren war das gedämpfte Raunen ihrer Gespräche zu hören. Jennys Magen knurrte vernehmlich, und sie erinnerte sich schwach an ihre letzte Mahlzeit, einen Salat, den sie zu Mittag gegessen hatte.

Nachdem das Summen des Druckers verstummt war, erschien die Sekretärin mit einer Handvoll Papiere im Konferenzraum. Ohne einen Blick darauf zu werfen, reichte Dan sie an Jenny weiter, die endlich Gelegenheit bekam, sich ihr Honorar zu verdienen. Konzentrieren Sie sich auf die Aktivitäten der Firma, darauf, wer was gewußt hat oder nicht, hatte Dan sie angewiesen, also enthielt die Aussage Formulierungen wie »Kein Mitarbeiter bei Harding & McMann war an meinen Handlungen beteiligt«, »Ich habe allein und ohne das Wissen anderer gehandelt«, »Ich habe folgende Schritte unternommen, um meine Aktivitäten vor den Mitarbeitern der Kanzlei geheimzuhalten.«

Unterhalb der gepunkteten Linie, auf der er unterschreiben sollte, stand sein Name gedruckt: Scott Bartlett Sterling.

Mit vor Verblüffung offenem Mund sah Jenny sich im Raum nach ihm um, bis sie ihn vor einem Fenster entdeckte, wo er sein Spiegelbild anstarrte. Scott, der Betrüger, war Scott Sterling? Jenny kannte diesen Namen. Seit fast einem Jahr versuchte Leslie, sie mit einem Studienfreund ihres Verlobten, einem Anwalt namens Scott Sterling, zu verkuppeln. Bruce und Leslie waren davon überzeugt, daß Scott und Jenny das perfekte Paar abgeben würden, aber sie hatte sich nicht darauf eingelassen, und es war nie zu einer Begegnung gekommen. Trotzdem reichte das, was sie über ihn gehört hatte, aus, um eine kleine Akte zu füllen. Er entstammte einer alteingesessenen Familie Philadelphias, und sein Vater war irgendein hohes Tier in der Geschäftswelt. Er war mit einer kapriziösen Erbin verheiratet gewesen, die ihn wegen eines Polospielers hatte sitzenlassen. Dann gab es da noch irgendwo ein Kind, das er selten zu Gesicht bekam.

Er entdeckte sie im Spiegelbild und bemerkte, daß sie ihn anstarrte. Verlegen wandte Jenny ihren Blick ab, während sie sich gleichzeitig fragte, ob ihr Name ihm ebenfalls bekannt war, ob sein Freund Bruce ihm ihretwegen ebenso in den Ohren gelegen hatte. Sie sammelte ihre Papiere ein und flüchtete in den Korridor.

Als der Drucker zwanzig Minuten später die überarbeitete Fassung der Aussage ausspuckte, schlurften die Männer zurück in den Konferenzsaal. Sie wirkten inzwischen unrasiert, und unter ihren Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet.

Dan legte Scott die Seiten vor. »Lesen Sie sich das durch«, sagt er, »und lassen Sie mich wissen, ob alles seine Richtigkeit hat.«

Alle schwiegen, während Scott die Aussage überprüfte. Einer der Anwesenden trug eine altmodische Armbanduhr, deren leises Ticken in der Stille zu hören war. Mit jeder Minute, die verging, schien das Ticken lauter zu werden.

Als Scott schließlich aufblickte, war sein Gesichtsausdruck deutlich ernster als zuvor. »Ja, es ist alles richtig«, sagte er, doch in seiner Stimme hatte etwas mitgeklungen, etwas, das vielleicht nur für Jenny hörbar gewesen war und das sagte, nein, es kann unmöglich wahr sein.

»Scott.«

Die Veränderung in Dans Stimme war wohl für andere kaum wahrnehmbar, aber Jenny war sie nicht entgangen, und sie wußte, was sie zu bedeuten hatte. Das Verhör war beendet. Jetzt ging es ihm um Kooperation.

»Ich denke, ich spreche für alle, die hier am Tisch sitzen, wenn ich sage, daß Sie heute großes Entgegenkommen gezeigt haben«, sagte Dan. »Ein anderer hätte womöglich dichtgemacht und die Anwälte der Kanzlei im Dunkeln tappen lassen. Sie haben mir meine Arbeit erheblich erleichtert, und Sie haben Ihre Kanzlei in eine wesentlich bessere Position versetzt, als anfangs zu befürchten war. Ich weiß Ihr Verhalten zu schätzen, und ich bin sicher, daß alle anderen in diesem Raum in diesem Punkt mit mir übereinstimmen.«

Nicht einer der Anwesenden wirkte im entferntesten dankbar, und wenn Scott sich ihre Gesichter angesehen hätte, hätte er die Lüge erkannt. Doch er wandte seinen Blick nicht von Dan ab.

»Ich möchte das Richtige tun«, sagte er, »und den Schlamassel wieder in Ordnung bringen, den ich angerichtet habe.«

Dan erhob sich, nahm einen Stift aus der Brusttasche seines Jacketts, das noch immer über der Stuhllehne hing, und reichte ihn Scott.

Die um den Tisch versammelten Kollegen, die es während der vergangenen Stunden vermieden hatten, Scott direkt anzusehen, vergaßen ihren Abscheu und fixierten ihn mit erwartungsvollen Blicken. Augenblicklich änderte sich Scotts Haltung. Hatte er eben noch äußerst wachsam gewirkt, so schien er sich nun auf seltsame Weise wichtig zu fühlen. Jetzt habe ich eure Aufmerksamkeit, was? schien er zu sagen.

Dan beugte sich über ihn und wies auf die gepunktete Linie auf der letzten Seite. Scotts Augen wanderten zum unteren Rand des Blattes, und seine Finger umschlossen Dans Stift.

Doch dann hob er plötzlich den Kopf und sah zu Jenny hinüber. Es war keine Spur von Wichtigtuerei mehr an ihm zu entdecken, Jenny sah nur Angst in seinem Gesichtsausdruck. Und noch etwas – ein Flehen um Hilfe.

Nein, dachte sie entsetzt. Erwarte keinen Beistand von mir. Ist dir nicht klar, daß ich auf der anderen Seite stehe? Doch seine Augen fragten sie verzweifelt: Was soll ich tun? Das hier ist eine Nummer zu groß für mich.

Dan folgte Scotts Blick. Er richtete sich auf und sah sie ebenso unverwandt an wie dieser. Aber in Dans Blick lag keine Frage, sondern ein Befehl.

Jenny brachte ein schwaches ermutigendes Lächeln zustande und nickte Scott kaum merklich zu.

Das war es, worauf er gewartet hatte. Entschlossen unterzeichnete er das Dokument.

Alle anderen atmeten hörbar erleichtert auf.

»Auch die erste Seite?« fragte Scott mit dem Tonfall eines Anwalts, der Hunderte von Testamenten beurkundet hatte. Ohne eine Antwort abzuwarten, kritzelte er seine Initialen auf jede einzelne Seite.

»Wir wollen Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen«, sagte Dan. »Ich werde Sie zum Aufzug begleiten.«

Als er sich erhob, ließ Scott seinen Blick noch einmal kurz über den Tisch schweifen, ohne jedoch abzuwarten, ob man ihn zum Abschied grüßte.

Erschöpft ließen sich alle in ihre Stühle sinken, die unter dem Gewicht leise ächzten. Wie ein langer Seufzer wich die Spannung aus dem Raum.

»Sie hatten recht, Charlie«, sagte einer der Männer und rieb sich seine Bartstoppeln. »Casella ist gut. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß er das fertigbringt.«

»Wir haben verdammt Glück gehabt, daß wir ihn bekommen konnten«, sagte ein anderer.

»Aber selbst ein Dan Casella kann unseren Arsch diesmal nicht retten.«

Die letzte Bemerkung war von Richter Moore gekommen, und Jenny beschlich die Befürchtung, daß er recht hatte.

Als Dan zurückkehrte, schlug er beim Eintreten seine Hände gegeneinander, als habe er gerade den Müll hinausgetragen. Er reckte sein Kinn in Richtung Charlie Duncan, und Duncan räusperte sich. »Maggie?«

Die Sekretärin blickte erschöpft auf.

»Wir brauchen Sie heute abend nicht mehr. Nehmen Sie sich ein Taxi.«

Sie erhob sich mühsam von ihrem Stuhl, und nachdem Dan die Tür hinter ihr geschlossen hatte, wandte er sich wieder an die Männer am Tisch.

»Und nun?« fragte Duncan.

»Feuern Sie ihn.«

Jenny zuckte zusammen, obwohl ihr klar war, daß es sein mußte.

»Sind alle dafür?« Alle hoben ihre Hand auf Duncans Frage.

Dan war immer noch stehen geblieben. »Ich werde das Kündigungsschreiben für Sie aufsetzen, Charlie. Lassen Sie es ihm morgen früh durch einen Boten an seine Privatadresse überbringen.«

»Was ist, wenn er morgen zur Arbeit kommt?« wollte Tucker Podsworth wissen.

Niemand schien Scott diese Dreistigkeit zuzutrauen. »Dann geben Sie ihm das Schreiben«, sagte Dan. »Wenn er sein Büro ausräumen will, dann lassen Sie ihn, aber sehen Sie zu, daß jemand dabei ist und überprüft, was er alles einpackt. Sollte er Ihnen irgendwelche Schwierigkeiten machen, rufen Sie mich an.«

»Tucker, dafür sind Sie zuständig«, sagte Duncan, und Podsworth seufzte.

»Stellen Sie jemanden vor seinem Büro auf«, sagte Dan. »Lassen Sie niemanden hinein, bis wir alles in dem Büro untersucht haben. Gehen Sie in seinen Computer und sichern Sie sämtliche Daten, die er eingegeben hat.

Charlie, morgen früh telefonieren Sie und ich mit Curtis Mason. Tucker, wie sieht die Rechtslage in bezug auf Begünstigte aus? Sind wir verpflichtet, Reese Chapman und seine Tochter in Kenntnis zu setzen? Oder haben wir das Recht dazu?«

Podsworth ließ sich so viel Zeit mit seiner Antwort, daß Jenny dachte, er hätte die Frage nicht verstanden. »In einer Situation wie dieser«, sagte er schließlich, »wo ein ziemlich eindeutiger Beweis für eine Verletzung der Treuepflichten vorliegt, würde ich sagen, ja, wir haben das Recht und die Pflicht, Chapman über das zu informieren, was vorgefallen ist.«

»Was ist mit seiner Tochter?«

Nach einer weiteren ausgedehnten Pause schüttelte Podsworth den Kopf. »Es dürfte reichen, wenn wir den Vater benachrichtigen.«

»Okay. Morgen rufen wir Mason und Chapman an, erklären ihnen, was passiert ist, und bitten sie herzukommen – und zwar einzeln – um die Sache mit uns zu besprechen. Richter Moore, können Sie an den Gesprächen teilnehmen?«

Der Richter nickte. Ältere Kollegen, die als Galionsfiguren fungierten, kannten ihre Pflichten.

Dan stützte sich mit den Händen auf seine Stuhllehne. »Als nächstes informieren wir den Bezirksstaatsanwalt.«

Ein erschrockenes Raunen ging um den Tisch. »Das ist doch sicher nicht erforderlich«, sagte John Warrington.

Dan wandte sich ihm zu. »Hegt irgend jemand hier einen Zweifel daran, daß ein Verbrechen begangen wurde?« Er wartete ab, doch niemand wagte, seine Frage zu bejahen. »Möchte einer von Ihnen sich der Verdunklung eines Verbrechens oder der Begünstigung nach Begehung der Tat schuldig machen?«

Warrington schüttelte den Kopf.

»Wenn es Ihnen hilft«, schlug Dan vor, »werde ich den Anruf machen.« Der Vorschlag wurde schweigend angenommen.

»Letzter Punkt für heute abend. Eine Presseerklärung. Sie geben bekannt, was Sie aufgedeckt haben und welche Schritte Sie unternehmen werden, um das Problem aus der Welt zu schaffen.«

»Nein«, protestierten mehrere laut, während andere lediglich den Kopf schüttelten.

»Wollen Sie, daß Mason Ihnen zuvorkommt und der Presse seine eigene Version auftischt?«

»Das wird er nicht tun«, sagte Podsworth. »Er ist einer von uns.«

Dan nahm seine Hände von der Stuhllehne und vergrub sie in seinen Hosentaschen. »Einer von Ihnen, die zufällig zwei Millionen Dollar ausgerechnet auf sein privates Konto sickern ließen? Er hat gar keine andere Wahl, als zu versuchen, als erster an die Presse zu gehen.«

»Dan, wir können es uns nicht leisten, mit dieser Sache an die Öffentlichkeit zu gehen«, sagte Duncan. »Die Hälfte unserer Mandanten, deren Vermögen wir verwalten, würde innerhalb einer Woche zur Konkurrenz überlaufen.«

»Auch andere Mandanten werden die Kanzlei wechseln, wenn sie das Gefühl haben, daß sie ihren eigenen Anwälten nicht mehr vertrauen können.«

»Und was werden Ihre Mandanten denken, wenn sie Masons Version lesen?«

Duncan zuckte die Achseln. »Wir können nur hoffen, daß sie ihn für einen Spinner halten und daß es darauf hinausläuft, daß sein Wort gegen unseres steht.«

Dan, unzufrieden mit der Entscheidung, blickte schweigend in die Runde und wägte seine Chancen für einen Einspruch ab. »Sie sind der Mandant«, sagte er schließlich.

Man wünschte sich erschöpft gegenseitig eine gute Nacht, während Dan in sein Jackett schlüpfte und dann, von Jenny gefolgt, den Konferenzsaal verließ.

Kapitel 3

Dan schwieg während der langen Abwärtsfahrt im Aufzug. Jenny hatte ihn schon mehrmals so erlebt, in Gedanken mit seinen gerichtlichen Schlachten, mit der Ausarbeitung einer Strategie beschäftigt, unzugänglich für alles andere. Er war seit einem halben Jahr, seit sie bei der Kanzlei angestellt war, ihr direkter Vorgesetzter, aber sie fühlte sich in seiner Gegenwart immer noch genauso verunsichert wie am ersten Tag. Sie wagte kaum, ihn in seinen Grübeleien zu stören, noch nicht einmal, um sich zu erkundigen, was sie als nächstes für ihn tun sollte.

Als sie jedoch in die kühle Nachtluft hinaustraten, wurde er wieder gesprächig. »Wo steht Ihr Auto, Jennifer?« fragte er. »Ich werde Sie dorthin begleiten.«

Seine galante Art irritierte sie immer wieder. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin mit der Bahn gekommen«, sagte sie. »Ich werde einfach an der nächsten Station einsteigen.«

»Es ist ein Uhr früh. Die Bahn fährt nur bis Mitternacht.«

»Oh.« Wie schnell die Zeit doch vergeht, wäre eine geistreichere Bemerkung gewesen, dachte sie.

»Kommen Sie. Ich fahre Sie nach Hause«, sagte er.

»Nein«, widersprach sie, »das geht nicht. Ich meine – ich wohne draußen in Radnor.«

»Kommen Sie«, wiederholte er nur im Weitergehen.

Jenny zögerte, besorgt, sich seinen Unmut zuzuziehen, wenn sie ihm weiterhin widersprach, und gleichzeitig befürchtend, sich seinen Unmut bereits dadurch verdient zu haben, daß er sich genötigt fühlte, sie mitten in der Nacht bis hinaus an den Stadtrand zu fahren, obwohl er selbst ganz in der Nähe wohnte. Dann beeilte sie sich jedoch, ihn einzuholen, und ging schweigend neben ihm her. Die menschenleeren Straßen waren in fahles, gelbes Licht getaucht, das von nachtschwarzen Schatten unterbrochen wurde, und die eiskalte Luft schlug ihnen ins Gesicht.

Dans Auto war das einzige, das noch auf der Etage der Kanzlei in der Tiefgarage stand. Schwarz und schnittig, wie zum Sprung geduckt, wirkte der Wagen wie ein Abbild der Raubkatze, nach der er benannt war. Jenny rutschte auf den Beifahrersitz. Mit ihrer Handtasche, ihrer Sporttasche und ihrer Aktenmappe auf dem Schoß kam sie sich vor wie die Yuppieausgabe einer Stadtstreicherin. Im Wagen war es noch kälter als draußen, und Jenny zog ihren Mantel noch fester zu.

»Ich wußte, daß ich Sie heute abend brauchen würde«, sagte Dan. »Aber ich hätte nie gedacht, wie dringend.« Er ließ den Motor an, aber Jenny konnte im Schein der Armaturenbrettbeleuchtung kein Anzeichen in seinem Gesicht erkennen, das ihr sagte, wie er das gemeint haben könnte.

»Ich habe doch nur die Aussage aufgesetzt«, sagte sie.

»Wenn Sie nicht gewesen wären, hätten wir jetzt keine Aussage.« Er setzte rückwärts aus der Parktasche und fuhr auf die Ausfahrt zu. »Haben Sie nicht bemerkt, was da oben passiert ist? Er wollte nicht unterschreiben. Ihm war plötzlich wieder eingefallen, daß er schließlich Anwalt ist, verdammt noch mal. Aber dann hat er Sie angesehen. Und Sie haben ihn ermuntert.«

»Ich dachte, Sie hätten mich dazu aufgefordert«, erwiderte Jenny, als könne das sie von Schuld freisprechen.

»Das habe ich auch.« Sie hatten die Straßenebene erreicht, und Dan bog in die Market Street ein. »Nachdem mir die Verbindung aufgefallen war, habe ich das Beste daraus gemacht.«

Verbindung, dachte Jenny, und überlegte, ob sie ihm von Leslies Verkuppelungsversuchen erzählen sollte und davon, daß sie Scott Sterling um ein Haar schon früher begegnet wäre. Aber im Vergleich mit den Ungeheuerlichkeiten, die im Verlauf des Abends ans Tageslicht gekommen waren, und mit den Problemen, die vor ihnen lagen, erschien ihr eine solche Bemerkung zu trivial. Nur ein Tölpel würde in einem Augenblick wie diesem so ein Thema ansprechen, und Jenny würde es nicht ertragen, Dan gegenüber tölpelhaft zu erscheinen.

»Was werden Sie mit der Aussage machen?« fragte sie. »Werden Sie sie dem Staatsanwalt übergeben?«

Dan schüttelte den Kopf. »Sie dient ausschließlich dem Schutz der Kanzlei H & M.«

Dem Schutz wovor? Jenny mußte irgend etwas entgangen sein.

Während des Einführungsgesprächs der Kanzlei im letzten Herbst hatte einer ihrer Chefs etwas gesagt, was er als den »besten Rat, den Sie je erhalten werden« bezeichnet hatte: »Keine Frage kann je dümmer sein, als überhaupt nicht zu fragen. Fragen Sie.«

Es war jedoch wesentlich leichter, auf diesen Rat hin zustimmend zu nicken, als ihn zu befolgen. Jenny versuchte, die Worte »Das verstehe ich nicht« zu formulieren, aber alles, was sie herausbrachte, war: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Gefahr richtig einschätze.« Sie verdrehte innerlich die Augen über sich selbst. Sie war nicht nur eine Idiotin, sie war auch noch eine zaghafte Idiotin. »Ich meine, das Geld wurde veruntreut, aber es ist nicht verloren. Es befindet sich fast alles auf Masons eigenem Konto.«

»Und Sie glauben, er wird es einfach dorthin zurücktun, wo es hergekommen ist?«

»Das muß er doch. Es gehört ihm nicht.«

»Wirklich nicht? Wenn sein sogenannter Investitionsberater die versprochenen Profite erzielt hätte, dann hätte Mason jetzt zwei Millionen Dollar. Sterling hat das Geld aus dem Treuhandfonds nicht zum Spaß abgezweigt. Er hat es getan, um seine Verluste bei der Spekulation mit Optionen zu vertuschen.«

»Sie meinen, die Kanzlei kann nicht nur für die zwei Millionen haftbar gemacht werden, die aus dem Treuhandfonds unterschlagen wurden, sondern auch für die zwei Millionen Profite aus dem Spekulationsgeschäft, die nie existiert haben?«

»Einmal das.«

»Aber Sterling ist doch kein Broker. Wieso sollte die Kanzlei H & M für seine privaten Händel mit Mason haften?«

»Da haben Sie recht«, sagte Dan, erfreut darüber, daß Jenny seiner Logik folgte. »Aber Mason war clever. Er hat Sterling eine neue Akte anlegen lassen. ›Investment Advice‹. Eine gute Absicherung für seine Behauptung, daß alles im Rahmen des anwaltlichen Mandats gelaufen ist.«

»Sie glauben doch nicht etwa, daß Mason das alles eingefädelt hat?«

»Wer, außer ihm, hat denn von der Sache profitiert?«

»H & M durch ihre Honorare«, gab Jenny zurück.

Als Dan die Brauen hochzog, stotterte sie: »Ich meine, vielleicht –«

»Nein«, unterbrach er sie. »Sie haben recht. Sie haben davon profitiert, und sie hätten seine Arbeit überwachen müssen.«

Während er sich wieder auf den Verkehr konzentrierte, fielen Jenny zwei Dinge ein, die sie während der kurzen Zeit, die sie Dan kannte, mit ihm erlebt hatte. Das eine war ein beiläufiger Kommentar, den er vor ein paar Monaten gemacht und wahrscheinlich im selben Augenblick wieder vergessen hatte: »Wissen Sie, Sie wären eine verdammt gute Anwältin, wenn Sie etwas mehr gesundes Selbstvertrauen entwickeln würden.«

Das andere hatte sich ereignet, als sie zum erstenmal mit ihm zusammenarbeitete. Er hatte einen wichtigen Kartellprozeß gewonnen, es war Berufung eingelegt worden, und Jenny, die gerade frisch vom Berufungsgericht kam, wo sie als Gerichtssekretärin gearbeitet hatte, war ihm als Assistentin zugeteilt worden.

»Ich möchte, daß Sie sich die Prozeßakten ansehen«, hatte er ihr befohlen, während sie sich eifrig Notizen machte. »Stellen Sie fest, auf welche entscheidenden Punkte die Berufungsklage sich stützen wird. Machen Sie die Recherchen. Und dann machen Sie mir ein gutes Konzept –«

Jenny konnte sich denken, was er von ihr wollte, und nickte bereits zustimmend.

»– für den Schriftsatz der Gegenseite.«

Sie war entgeistert hochgefahren.

»Erst wenn ich weiß, was in ihrem Schriftsatz stehen wird, kann ich meinen eigenen Schriftsatz formulieren«, erklärte er. »Ach, und Jennifer«, fügte er hinzu, als sie sich zum Gehen wandte, »schreiben Sie das, was Sie denken.«

Beides waren gute Lektionen gewesen. Ein frischgebackener Anwalt konnte viel von Dan Casella lernen, und Jenny wurde von vielen ihrer jungen Kollegen beneidet.

Dan verließ die Autobahn und bog dann zweimal links ab. Dichter Nebel legte sich über die Straßen in den Vororten. »In welcher Straße wohnen Sie?« fragte er.

»Coventry Road. Biegen Sie an der nächsten Ecke ab, dann sind es noch ungefähr zwei Meilen.«

Sie fuhren an gut gepflegten Reihenhäusern vorbei und dann durch offene Landschaft. Auf der rechten Seite tauchte eine fast mannshohe Feldsteinmauer entlang der Straße auf. »Dort oben auf dem Hügel rechts, bitte«, sagte Jenny.

Dan bremste, bog ab und fuhr zwischen zwei steinernen Säulen hindurch, die einmal ein eisernes Tor gehalten hatten. Nichts als dunkler Wald war im Nebel vor ihnen zu erkennen.

»Wo sind wir hier?« fragte er schließlich.

»Das ist der alte Dundee-Landsitz. Ich wohne in der ehemaligen Remise.«

»Dundee? Die Leute, denen Heritage Cereal gehört?«

»Ja. An der Weggabelung links, bitte.«

Wie Lichtkegel von Suchscheinwerfern glitten die Strahlen von Dans Abblendlicht über unkrautüberwucherte Felder und dichte Baumgruppen, bis schließlich ein altes Gebäude aus dem Dunkel auftauchte. Es war aus Holz konstruiert und umschloß hufeisenförmig einen Innenhof, und es glich eher einer Scheune als einem Wohnhaus. Der Wagen geriet ins Schaukeln, als Dan über das Kopfsteinpflaster des Innenhofs fuhr. Die beiden Seitenflügel enthielten jeweils zwei Garagen, während im mittleren Gebäudeteil der Wohntrakt untergebracht war, mit Dachgauben und einem massiven Kamin in der Mitte.

»Beeindruckend«, sagte Dan.

»Es ist ziemlich zugig, und das Dach ist undicht, aber ich mag es.«

»Wohnen Sie allein hier?«

Die Frage hatte nichts zu bedeuten. Junge Anwälte, die für Kanzleien in der City arbeiteten, wohnten gewöhnlich nicht in einsamen Remisen auf dem Land, das war alles.

»Nein.« Doch dann fügte Jenny schnell hinzu: »Ich wohne mit meiner Freundin Leslie zusammen –« Da ihr jedoch selbst das noch zu mißverständlich erschien, erläuterte sie: »Das ist eine Freundin vom Ballett.«

»Und ein paar Haustiere haben Sie auch«, bemerkte Dan.

Der große, hellbraune Hund, den Jenny seit einem Monat regelmäßig fütterte, stand neben der Tür und wedelte in freudiger Erwartung vorsichtig mit dem Schwanz, während die beiden Katzen um seine Beine strichen.

»Nein, die sind nur zugelaufen.« Jenny packte ihre Handtasche, ihre Aktenmappe und ihre Sporttasche und öffnete die Beifahrertür. »Vielen Dank fürs Fahren.«

Als sie an der Haustür angekommen war, drehte Dan sein Fenster herunter und rief: »Hey, Jennifer.«

»Ja?« Sie wandte sich um. Vom Licht der Scheinwerfer geblendet, lauschte sie angestrengt in Erwartung eines weiteren Arbeitsauftrags.

»Ich wußte gar nicht, daß Sie eine Tänzerin sind.«

Das Fenster wurde wieder hochgekurbelt, der Wagen wendete im Hof und war auch schon verschwunden.

Kapitel 4

Dan zog die Gänge hoch und trat aufs Gaspedal, bis sein Jaguar über hundert fuhr. Die Straße war schmal und kurvenreich, aber zu dieser späten Stunde hatte er sie ganz für sich. Graue Nebelschwaden wirbelten vor ihm auf und tauchten die vorbeihuschende, nachtschwarze Landschaft in ein unheimliches Licht. Er bewegte die Schultern und versuchte, seinen steifen Nacken etwas zu lockern. Himmel, was war das für ein Abend gewesen. H & M saß bis zum Hals in der Tinte, aber alle in diesem Konferenzsaal erwarteten von ihm, daß er irgend etwas aus dem Hut zauberte und ihren gemeinsamen Arsch rettete. Wie sah also sein nächster Schritt aus? Sollte er verzweifelt seinen Hut durchsuchen, oder sollte er seine Mandanten darüber aufklären, daß er keinen Hut besaß?

Dan trat heftig auf die Bremse, als plötzlich ein dunkler Schatten in seinem Scheinwerferlicht auftauchte. Die Reifen quietschten, und der Wagen blieb mit abgewürgtem Motor stehen. Zwei Meter vor ihm stand ein zitternder Hirsch wie gebannt vor ihm.

Dan hielt den Atem an. Gespenstisch schimmernde Nebelwolken umwaberten den Hirsch. Als Dan hupte, begann das Tier noch heftiger zu zittern, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Dann fiel ihm ein, daß helles Licht Tiere erstarren ließ, und er schaltete seine Scheinwerfer aus. Als er sie wieder einschaltete, lag die Straße leer vor ihm.

Plötzlich überkam ihn ein beunruhigendes Gefühl von Desorientierung. Er kannte sich auf diesen Straßen nicht aus, aber es war mehr als das. Die Gegend hatte etwas Unwirkliches – der Nebel, der Hirsch, das seltsame Haus, in dem Jennifer wohnte. Einen Augenblick lang glaubte er, er hätte sich verirrt. Doch dann ließ er den Motor an, und das Dröhnen brachte ihn wieder zu sich. Er machte sich auf den Heimweg.

Der Apartmentturm, in dem Dan wohnte, lag zwei Blocks entfernt von dem Gerichtsgebäude, in dem er seine Karriere begonnen hatte. Als junger Staatsanwalt hatte er dort Drogenhändler und Politiker vor Gericht gebracht. Seit er nicht mehr für die Regierung arbeitete, war seine Karriere steil angestiegen, aber anstatt aus dem Gebäude auszuziehen, war er ein paar Etagen höher gezogen. Jetzt gehörte ihm eine kleine Penthauswohnung – ein Penthaus, weil das die besten Wohnungen waren, und klein, weil er bislang nicht mehr als ein Bad und ein Bett brauchte.

Die kühle, weiße Beleuchtung in seiner Wohnung paßte zu der minimalistischen Einrichtung, für die sein Innenarchitekt ihm einen maximalen Preis in Rechnung gestellt hatte. Dan betätigte den Schalter, und helles Licht überflutete seine zinngrauen Möbel. Die Putzfrau mußte heute dagewesen sein – die ganze Wohnung roch nach Reinigungsmitteln.

Das rote Lämpchen am Telefon im Flur blinkte. Dan hängte seinen Mantel auf und zog Jackett und Krawatte aus. Auch die Brille legte er ab. Er brauchte sie eigentlich nicht – die Gläser waren extrem schwach –, aber er hatte die Erfahrung gemacht, daß die Leute einen Mann mit einem italienischen Nachnamen und leicht mediterran anmutenden Zügen nicht automatisch für intelligent hielten. Mit Brille sah das schon anders aus.

Er drückte die Abspieltaste des Anrufbeantworters und drehte die Lautstärke auf, so daß er das Band von der Küche aus abhören konnte. Als er den Kühlschrank öffnete, starrten ihm ein Sechserpack Bier und eine Schachtel mit einem Rest Käse entgegen.

»Dan«, schnurrte eine Stimme vom Band, als er eine Dose Bier öffnete. »Ich muß die ganze Zeit an dich denken. Wir haben uns schon so lange nicht gesehen. Komm doch noch mal rüber, ja? Tschüß.«

Dan trank einen Schluck und fluchte leise über alle Frauen, die sich weigerten, ihren Namen auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Er ging in den Flur, um die Wiederholungstaste zu drücken, als die zweite Nachricht begann.

»Danny, hier spricht Teresa«, sagte seine Schwester, eine Stimme, die er jederzeit erkennen würde, auch wenn sie angstvoll klang. »Hast du was von Tony gehört? Es ist schon nach Mitternacht, und er ist noch nicht zu Hause. Wir hatten Streß mit ihm, bevor er wegging, und Mom ängstigt sich zu Tode. Ruf doch bitte mal zurück.«

Dan griff nach dem Hörer und wählte die Nummer, noch bevor die Nachricht zu Ende war. Teresa ging nach dem ersten Läuten an den Apparat. »Tony?«

»Mein Gott.« Dan sah auf seine Armbanduhr. Es war fast zwei. »Ist er immer noch nicht zu Hause?«

»Es ist Danny.« Er hörte seine Mutter im Hintergrund schluchzen. »Was sollen wir machen, Dan? Sollen wir die Polizei anrufen?«

»Nein.« Sein Bruder war erst vierzehn, aber er hatte bereits so viele Beinahezusammenstöße mit der Polizei gehabt, daß es für ein Leben reichte. »Unternehmt nichts. Ich bin gleich da.«

Zwischen dem Apartmenthaus, in dem Dan wohnte, und den überfüllten Reihenhäusern in der Gasker Avenue lagen nicht nur zwanzig Blocks, sondern Welten. Auf halbem Weg fiel Dan ein, daß er besser ein Taxi genommen hätte, denn er würde niemals einen Parkplatz finden. In dieser Gegend saßen alte Männer den ganzen Tag lang in Liegestühlen vor dem Haus, um für ihre Söhne einen Parkplatz freizuhalten, wenn diese von der Arbeit kamen. Niemand hielt einen Platz für Dan frei.

Das Haus seiner Mutter war hell erleuchtet, aber Dan mußte eine Runde um den Block drehen und dann ein Stück in die Broad Street zurückfahren, bis er fünf Meter freie Bordsteinkante fand. Er trug kein Jackett über seinem Hemd, dessen Ärmel noch hochgekrempelt waren, und die Kälte stach ihm in die Arme, als er die paar Blocks bis zum Haus und die weißen Marmorstufen hinauflief, die seine Mutter stets blank polierte. Teresa lugte durch die Gardinen am Fenster. Als sie Dan erkannte, öffnete sie die Tür. Sie hatte ihren Mantel an.

»Hat er sich gemeldet?«

Sie schüttelte den Kopf. Mary, ihre Mutter, saß in einer Ecke des Sofas. In ihrem geblümten Morgenrock hob sie sich kaum von dem Blumenmuster der Schonbezüge ab.

»Was ist passiert?« fragte Dan. Auf den scharfen Ton in seiner Stimme hin beugte Mary sich vor und hielt sich den Leib mit beiden Armen. Tony war zu spät in ihr Leben getreten; seit seiner Geburt hatte sie sich immer von ihm überfordert gefühlt.

Teresa ließ sich auf das Sofa fallen, ihren Mantel immer noch zugeknöpft. »Er ist ausgeflippt. Ich hab ihm gesagt, er soll heute abend zur Abwechslung mal zu Hause bleiben. Wir wissen nie, wo er sich herumtreibt oder mit wem er unterwegs ist. Mom ist inzwischen das reinste Nervenbündel. Und da ist er ausgeflippt.«

Sie schob sich mit der Hand eine dunkle Strähne aus der Stirn. Auf ihrem Wangenknochen war ein blauer Fleck zu sehen, das Ergebnis eines Faustschlags.

Dan schnürte es vor Wut die Kehle zu. »Ich bringe ihn um«, sagte er mit erstickter Stimme.

Er drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Haus. »Danny, nicht«, rief Mary hinter ihm her, aber Teresa sagte nichts, und Danny rannte weiter, über die Marmorstufen und die Straße entlang bis zum Ende des Blocks. An der Ecke blieb er stehen und rieb sich den feuchten Schleier der Wut aus den Augen.

Dies war sein altes Revier, die Gegend, die er früher wie seine Westentasche gekannt hatte. Doch jetzt kam sie ihm vor wie feindliches Gebiet. Nur in jedem zweiten Haus brannte noch Licht, und die Straßenlaternen warfen unheimliche Schatten. Als er vor Jahren durch diese Straßen gestreift war, hatte er sich unbesiegbar gefühlt, war sich, wie alle Jugendlichen, unsterblich vorgekommen, aber jetzt schien überall Gefahr zu lauern.

Ein Lieferwagen bog von der Broad Street ein und fuhr im Schrittempo die Straße hinunter. Der Wagen hatte eine dunkle Farbe, und die Seiten- und Heckfenster waren von innen schwarz angemalt. Er fuhr am Haus seiner Mutter vorbei und kam am anderen Ende des Blocks langsam zum Stehen. Dan machte sich auf den Rückweg, darauf achtend, daß er sich im Schatten der Häuser hielt. Als die Innenbeleuchtung des Lieferwagens eingeschaltet wurde, waren hinter der Windschutzscheibe drei Männer zu sehen. Sie unterhielten sich leise; Dan konnte ihre dunklen, kehligen Stimmen hören. Dann schwang die Hecktür des Wagens auf, und eine dunkle Gestalt sprang auf die Straße. Das Gesicht, das im Schein der Straßenlaterne zu sehen war, gehörte Tony.

»Hey!« rief Dan.

Sofort wurde die Hecktür von innen zugeschlagen. Der Lieferwagen bog um die Ecke und war verschwunden.

Tony blieb wie angewurzelt auf dem Gehweg stehen. Er war kräftig gebaut, und in seiner Motorradjacke und seinen Springerstiefeln wirkte er aus der Entfernung wesentlich älter, als er war. Aber von nahem betrachtet war er immer noch der milchgesichtige Junge mit weichen, dunklen Locken und großen braunen Augen. Die Augen blickten nach rechts und links, auf der Suche nach einem Fluchtweg oder einem Alibi, aber Dan war bei ihm, ehe er Zeit hatte zu reagieren. Er packte seinen Bruder mit beiden Fäusten am Kragen.

»Was geht hier vor? Wer waren diese Typen? Weißt du überhaupt, wie spät es ist?«

»Niemand«, erwiderte Tony, nur eine Frage beantwortend. »Sie haben mich nach Hause gefahren, das ist alles.«

»Von wo haben sie dich nach Hause gebracht? Wo zum Teufel bist du gewesen?«

»Laß mich los.« Tony riß seine Arme hoch, um sich aus Dans Griff zu befreien, aber Dan packte ihn von neuem. In Tonys Jacke fühlte er einen harten, metallenen Gegenstand.

»Was ist das?« fragte Dan und versuchte, danach zu greifen.

»Nimm deine verdammten Hände weg!«

Dan drehte Tony einen Arm auf den Rücken, langte in seine Jackentasche und brachte einen Revolver zum Vorschein.

»Mein Gott«, stieß er hervor.

»Nein! Gib ihn mir, der gehört mir nicht!«

Es war ein echtes Schießeisen, ein achtunddreißiger Revolver, schwer, kalt und tödlich. Dan überprüfte den Zylinder und das Magazin, war jedoch kaum erleichtert, als er feststellte, daß es leer war. Er schob den Revolver in seinen Gürtel. Als Tony versuchte, ihm die Waffe wieder zu entreißen, verpaßte er ihm einen Kinnhaken. Der Junge schrie auf.

In diesem Augenblick wurde die Haustür aufgerissen, und Mary stand auf der Schwelle. Wenn es eines gab, was sie ihnen als Kinder eingebleut hatte, dann war es der Grundsatz, daß anständige Leute ihre Streitigkeiten nicht auf der Straße austrugen. Dan packte Tony am Kragen und zerrte ihn ins Haus.

»Danny, jetzt ist er ja wieder zu Hause, jetzt wird alles gut«, sagte Mary und klammerte sich an seinen Arm.

Teresa stand schweigend im Wohnzimmer, der blaue Fleck in ihrem Gesicht ein stiller Vorwurf.

Tony riß sich los und stürmte die Treppe hinauf. Dan schüttelte die Hand seiner Mutter ab und rannte ihm nach, zwei Stufen auf einmal nehmend. Als er atemlos die zweite Etage erreichte, sah er nur noch, wie Tony seine Zimmertür hinter sich zumachte, und einen Augenblick später wurde der Schlüssel im Schloß gedreht. Aber Dan erinnerte sich an diese Schlösser. Er hob einen Fuß und trat die Tür mit lautem Krachen ein.

Tony versuchte gerade, aus dem Fenster zu klettern. Dan erinnerte sich ebenfalls an diese Schiebefenster. Er wußte, daß Tony es niemals schaffen würde, das schwergängige Fenster schnell genug zu öffnen, um zu entkommen.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte er. »Ich habe dir gesagt, wenn noch einmal so etwas passiert, dann schlag ich dich grün und blau.«

Tony ließ von dem Fenster ab und machte sich kampfbereit. »Hat sie dich angerufen?« brüllte er. »Diese Schlampe –«

Dan löste seinen Gürtel und zog ihn mit einem Ruck aus den Schlaufen. Tony versuchte, ihm auszuweichen, aber Dan nahm ihn in den Schwitzkasten und zog ihm ein halbes Dutzend Hiebe über den Hintern, bevor er ihn losließ.

Der feuchte Wutschleier war verschwunden, aber Dans heiße Wut war noch immer im Raum spürbar. Tony warf sich auf sein Bett und kauerte sich in eine Ecke. Dan schob seinen Gürtel wieder in die Schlaufen, ließ ihn jedoch als unausgesprochene Warnung offen. Als er seine Mutter und seine Schwester im Flur murmeln hörte, riß er die Tür auf. Mary trat in das Zimmer, warf zuerst einen Blick auf Dan und stürzte dann zu Tony hinüber, der sich weinend in ihre Arme warf. »Schsch, mein Schatz«, sagte sie, während sie seinen Kopf an sich drückte und ihn sanft wiegte.