Imagine - Dr. Klaus-Dieter Kieslinger - E-Book

Beschreibung

Innere Bilder erlauben es uns, mit der verborgenen Kraft des Unbewussten in Kontakt zu treten. Wir alle besitzen die Fähigkeit, in diese Welt einzutauchen, aus der bereits die alten Mythen und Märchen schöpften. Auch die Religionen nutzen sie seit Anbeginn der Zeiten. Der Mensch des 21. Jahrhunderts aber entdeckt diese alten Techniken der Vision und Imagination wieder neu. Dr. Kieslinger erläutert in seinem Buch nicht nur die neurologische Betrachtungsweise der Vorstellungskraft, sondern erläutert, dass diese Vorstellungskraft eine normale Funktion und Fähigkeit des Gehirns ist. Er geht den eigenen inneren Bildern auf den Grund, die nicht nur im (Leistungs-)Sport, im Kreativbereich oder der Meditationspraxis genutzt werden können, sondern inzwischen in der breiten Gesellschaft zur Manifestierung der eigenen Wünsche und Träume genutzt werden. So kann die (Wieder-) Entdeckung der eigenen Vision jedem Einzelnen zur Hilfe auf dem Weg im Heilungsprozess zur starken, selbstbestimmten Persönlichkeit werden.

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Dr. Klaus-Dieter Kieslinger

Imagine

Mit inneren Bildern die Kraft des Unbewussten freisetzen

Dr. Klaus-Dieter Kieslinger

Imagine

Mit inneren Bildern die Kraft des Unbewussten freisetzen

© Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2023

[email protected] | www.kamphausen.media

ISBN Printausgabe: 978-3-95883-556-6

ISBN E-Book: 978-3-95883-557-3

1. Auflage 2023

Lektorat: Ina Kleinod

Umschlaggestaltung: Gesine Beran, Turin

Umschlagmotiv: © shutterstock | marukopum

Innenteil, Layout/Satz: Carine Wiebe

Druck: Aumayer Druck GmbH, Munderfing

Printed in the European Union

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Inhalt

Vision

Vorwort

Was Sie in diesem Buch erwartet

I. Die Welt der inneren Bilder

Reisen in innere Welten

II. Visionen – Erbe der Menschheit

Frühgeschichte: Zwischen Tag und Traum

Der Ursprung der Geschichten

Der Weg des Schamanen

Gott – Die größte aller Imaginationen

Ein brennender Dornbusch

Die imaginative Wende

Spontane religiöse Symbole

Verdienst der Religionen

Heilende Träume bei den alten Griechen

Visionssuche bei den Indianern Nordamerikas

III. Die Wissenschaft der Imagination

Die Welt in meinem Kopf

Neurobiologie der Imagination

Neurophilosophie der Imagination

Die Natur der Wirklichkeit

Die Kunst des Träumens

Spontane innere Bilder

IV. Psychologie – die Wiederentdeckung der Seele

Der Psychonaut – C. G. Jung

Psychotherapie – Gesegnet seien die Seltsamen!

Urvater der Seelenlehre – Sigmund Freud

Entdeckung der inneren Welten – Aktive Imagination

Trance als heilende Kraft – Hypnose

Auf dem Weg zur Wissenschaft – KiP

Die Kunst der Entspannung – Autogenes Training

Neurobiologie als Grundlage – Verhaltenstherapie

Werte als Lebensschule

V. Der Weg der inneren Bilder

Kino im Kopf – Sexuelle Fantasien

Die Erinnerung neu schreiben

Imaginäre Freunde

Negativen Bildern entkommen

Aphantasie

Bedingungen beim Einsatz von Imagination

Voraussetzungen

Nebenwirkungen und Komplikationen

Kontraindikationen

VI. Anwendungen der Imagination

Imagination in der Wissenschaft

Imagination in der Kunst

Imaginäre Berater

Die härtesten Soldaten der Welt

Sport: Mentales Training

Die Energie kreisen lassen

Yoga und Imagination

Manipulierte Bilder

VII. Kleine Anleitung zur Imagination

Mit inneren Bildern zum Erfolg – so geht’s

Praxis der Imagination

Die grüne Wiese

Boot auf dem Wasser

Baum des Lebens

Der sichere Ort der Geborgenheit

Die Kunst des Liebens

Der himmlische Kreislauf

Imagination im Yoga

Reine Gegenwart

Lebensziele

Die 5 Säulen der Identität

Das Ziel ist der Weg

Nachwort

Dank

Weiterführende Literatur

Über den Autor

Widmung

Meinen eigenen und den Kindern dieser Welt.

Ihr seid die Zukunft!

Meinem Mentor Prof. Uwe Böschemeyer,

der mich in die unendlichen Weiten der Seele geführt hat.

Meiner Muse. Danke für Deine Geduld und Dein Verständnis,

wenn der Weg sich wieder einmal holprig anfühlte.

Du magst sagen, ich sei ein Träumer,

aber ich bin nicht der einzige.1

John Lennon

Wir sind nur gekommen, ein Traumbild zu sehen,

wir sind nur gekommen, zu träumen;

nicht wirklich, nicht wirklich sind wir gekommen,

auf der Erde zu leben.2

Aztekisches Gedicht (um 1419)

Folgst du deinem Stern,

kannst du den ruhmreichen Hafen nicht verfehlen,

wenn ich im schönen Leben richtig sah.3

Dante Alighieri

1 Lennon, John. Imagine. (Song) Remastered 2010.

2 Verändert, nach Castaneda, Carlos. Die Kunst des Träumens. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1998.

Das gesamte Gedicht lässt sich finden in Damrosch, David. What is World Literature? Cantares Mexicanos 18, Strophe 39. Princeton University Press 2003.

(Orig. We come here only to sleep, we come here only to dream; it is not true, it is not true that we come to live on earth). Diese Lieder wurden ursprünglich gesungen, begleitet vom Klang der traditionellen Trommeln, Hörner und Gongs der Azteken.

3 Alighieri, Dante. Die göttliche Komödie (Übers. v. Kurt Flasch). Canto 15; 43. S. Fischer, Frankfurt am Main 2015.

Vision

Ich habe eine Bestie,

einen Engel und einen Wahnsinnigen in mir.4

Dylan Thomas

Der alte Weise fordert mich auf, die Augen zu schließen. Ich folge seinen Anweisungen. Lasse die Gedanken des vergangenen Tages abfließen und meine Augäpfel noch etwas tiefer in ihre Höhlen sinken. Die Muskeln entspannen sich nach und nach. Wärme durchflutet das Fleisch. Meine Gliedmaßen fallen schwerer und schwerer in das weiße Leder des Sofas.

Wie von selbst richtet sich mein innerer Blick gen Himmel: Weit oben, ganz hinten, zur rechten Seite erstrahlt hell ein Leuchten. Mir scheint, als möchte es mich zu sich emporziehen. Rundum nur schwarzes Nichts, einem Tunnel gleich, der mich hinauf ins Licht leiten will. An seinem Ende, da, wo das Dunkel in die goldene Scheibe übergeht, erblicke ich Gestalten. Sie muten vertraut an: Engel, Freunde, Verwandte?

Die Szene erinnert mich an Hieronymus Boschs Darstellung der Seele, die im Zwischenreich von Leben und Tod aufsteigt in Richtung ihres hellen Zieles. Könnte das einfach nur ein Abbild der Sonne sein, welches meine Seele zu sich lockt, vorbei an der Schwärze des ewigen Nachthimmels?

Dort, am Rande von Licht und Schatten, warten schon zwei Wesen auf mich. Ich vermeine, in ihnen die beiden Vorausschauenden zu erkennen: einen Mann und eine Frau. Sie scheinen nicht eigentlich zu existieren, sondern aus reiner Energie zu bestehen. Dazu Strahlen aus allen Farben des Spektrums – violett, blau, grün, gelb, orange, rot –, welche die Zeiten durchdringen. Sie kommen aus unendlichen Vergangenheiten, leuchten durch meine beiden Gefährten und auch durch mich hindurch, bis in eine unvorstellbare, ferne Zukunft. Dorthin, nach der Ferne, projiziert sich mein Abbild, der Kopf, der Stamm, die Arme und Beine, als leuchtender Schatten. Jede meiner Bewegungen verändert die Tausenden Fäden, wirft wieder und wieder andere, neue Silhouetten.

Mein inneres Auge sieht mir selbst dabei zu, wie sich der eine Arm hebt, der andere senkt. Selbst die allerkleinste meiner Bewegungen verwandelt den Lauf der Zeiten, ruft wiederum völlig verschiedene Ereignisse hervor aus der ungeahnten Zahl an Möglichkeiten. Jetzt offenbart sich mir die große Choreographie des Lebens. Ich selbst verwandle mich in eine Inkarnation des tanzenden Shiva. Fühle die Endlosigkeit, die Weite der Räume, grenzenlose Freiheit. Jeder Gedanke, jede Handlung, ja jede Bewegung wirkt über diese farbigen Strahlen bis in die Ferne der Ewigkeit, verändert meine eigenen Aussichten und zugleich die der ganzen Welt. Mein innerstes Wesen gewahrt, wie noch die kleinste meiner Entscheidungen das Morgen zu prägen vermag. Karma – sichtbar gemacht als leuchtende Linien sonder Zahl. Meine unendliche Macht, das Spiel von Ursache und Wirkung in mir gewogene Richtungen zu lenken.

Nur langsam, ganz langsam, kehre ich schließlich wieder zurück in meinen weißen Fauteuil, in dieses Zimmer, welches seit Jahrhunderten mitten in der Altstadt Salzburgs ruht und seinen Bewohnern ein sicheres Zuhause schenkt. Jetzt fühle ich mich erfüllt von Kraft und Energie wie selten zuvor. Verändert. Gereift. Machtvoll.

4 Thomas, Dylan, zitiert nach Lesley-Ann Jones. John Lennon: Genie und Rebell. Piper, München 2020.

Vorwort

Man muss noch Chaos in sich haben,

um einen tanzenden Stern gebären zu können.5

Friedrich Nietzsche

Die Geschichte eines solchen Buches beginnt – wie könnte es auch anders sein – in einer persönlichen Krise. Bekanntlich stammt die Wurzel des Wortes „krisis“ aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie einen Wendepunkt oder die entscheidende Zuspitzung einer Krankheit, damit aber zugleich auch: Chance. Doch so mittendrin fühlt sich das wirklich überhaupt nicht nach einer positiven Möglichkeit an, eher im Gegenteil!

Ich finde mich völlig unerwartet im Bett eines Krankenhauses, zwei Autostunden von meiner Heimatstadt entfernt. Blut füllt den Spalt zwischen zwei großen Muskeln in meinem linken Unterschenkel, spannt die darüberliegende Haut prall an, wie einen mit Wasser gefüllten Ballon. Der diensthabende Unfallchirurg erwägt, zwei lange Schnitte in mein Bein zu setzen – einen außen und einen innen –, um das Blut zu entfernen und das Gewebe vom Druck zu entlasten. Der Arzt in mir weiß, was für Komplikationen folgen könnten: Wenn die Spannung im Gewebe noch mehr steigt, dann drohen die Muskelzellen aufgrund des daraus resultierenden Sauerstoffmangels zugrunde zu gehen. Die dabei in großer Zahl freigesetzten Eiweißkörperchen könnten dann über den Blutweg bis in die Nieren gelangen, ihre filigranen Kanälchen verstopfen, die dort den Harn filtern, und über ein akutes Nierenversagen mein Leben bedrohen. Um das zu verhindern, hilft dann vielleicht nur noch eine Amputation der betroffenen Extremität. Weitere Möglichkeiten eines schlimmen Ausgangs drehen sich in meinem Kopf wie in einem albtraumhaften Karussell: Eine Lungenembolie, bei der sich ein Blutgerinnsel aus den Venen des Beines löst, das in die Lungenarterien verschleppt wird und dort steckenbleibt, was über ein akutes Rechtsherzversagen mein Leben beenden könnte. Oder eine Lungenentzündung als Folge der langen Dauer des Liegens.

Keine Schmerzen. Nur leichter Schwindel. Über 24 Stunden lang stehe ich nicht auf, esse nicht, trinke nur ganz wenig. Von einer Minute auf die andere hinauskatapultiert aus meinem erfolgreichen Leben. Mein schönes Einkommen als Facharzt macht ab sofort mal ein paar Wochen Pause. Dankbare Patienten, gut laufende Praxis, ein adrettes Zuhause in der Mozartstadt. All das scheint in diesem Moment weit entfernt. Eine schlimme Trennung liegt gerade erst ein paar Wochen zurück. Das hübsche Häuschen mit Garten am Stadtrand: Geschichte. Meine geliebten Kinder: fern von mir. Der berühmte Kammerchor, in dem ich singe: Pause. Überhaupt kann ich nicht ohne Krücken stehen, wohl noch für längere Zeit. Meine Familie und all meine Freunde – weit weg in einer anderen Stadt.

Immer war es mein Vorsatz gewesen, mich nicht abhängig zu machen von äußeren Dingen, Geld, Erfolg, Freunden, Besitz. In diesem Augenblick bin ich wirklich ganz bei mir. Liege in diesem Bett. Klar, die Angst um mein Bein. Wann werde ich mein Training wieder aufnehmen können? Zugleich überrascht es mich, wie dieses völlige Aufgehen in der Gegenwart mir ein gewisses Gefühl von Befreiung verleiht. Ein Ankommen, ganz im Hier und Jetzt. Ich bewege mich kaum. Versuche, mein Bein schwer auf das erhöhte Kissen aufzulegen, um eine Zunahme der Blutung in den Unterschenkel zu vermeiden.

Im Nachhinein bedeutet all das Wochen im Krankenstand. Eine Operation meines Schenkels unter Vollnarkose: Entfernung des koagulierten Blutes, anschließende Naht des eingerissenen Gewebes. Medikamente zur Entzündungshemmung und Schmerzlinderung sowie zur rascheren Resorption des Blutes, tägliche Injektionen von Heparin als Prophylaxe einer Thrombose. Gehen nur mithilfe von zwei Krücken.

Viel Zeit, um nachzudenken. Klar, ich habe mir das nicht ausgesucht. Was möchte ich in meinem Leben noch anfangen, was ist bisher zu kurz gekommen? Zwei Dinge, die ich mir schon seit Jahren gewünscht habe, kommen mir in den Sinn: Strukturelle Integration, auch Rolfing genannt. Das bedeutet, die Statik meines Körpers mithilfe einer Therapeutin zu optimieren, wobei sich auch seelische Themen lösen, welche sich bekanntlich häufig als Anspannung von Muskeln äußern. Als Zweites möchte ich endlich einen lange gehegten Wunsch wahr machen und Herrn Prof. Uwe Böschemeyer kennenlernen, um mich unter seiner Anleitung, mehr als bisher, mit meinem eigenen Unbewussten zu beschäftigen. Ich kenne ihn aus seinen Büchern6. Seine tiefe Menschenkenntnis beeindruckt mich schon seit geraumer Zeit. Bereits am nächsten Tag rufe ich ihn an, um einen Termin zu vereinbaren.

In der Akademie für Wertorientierte Persönlichkeitsbildung: Der Professor begrüßt mich. Längeres weißes Haar, weißer Vollbart. Sein Blick ist erfüllt von Menschenliebe. So warmherzig und gütig, dass ich ihn nur schwer aushalten kann. Wie oft im Leben blickt man in Augen, welche einem so voller Verständnis und Wohlwollen in den Grund der Seele zu blicken scheinen?

Durch die darauffolgenden Begegnungen und Imaginationen gewinnt meine Welt eine neue Dimension der Tiefe. Die Rationalität meiner Kindheit, meiner Ausbildung am Gymnasium und an der Universität haben ihr zu enge Grenzen gesetzt. An einem Zuviel an Vernunft und einem Mangel an Mystik scheitern derzeit wohl auch die christlichen Kirchen, die das Nicht-Rationale mit ihrer Logik durchschauen wollen. Doch dabei folgen ihr die Menschen nicht mehr.

Mit einem Mal liegt die Welt der Mythen und Märchen offen vor mir. Der Urquell aller Religionen. Ich beschließe, mich auf die Suche zu begeben, um mehr darüber zu erfahren. Daraus entsteht später dieses Buch.

Innere Bilder erlauben es uns, mit der verborgenen Kraft des Unbewussten in Kontakt zu treten. Wir alle besitzen die Fähigkeit, in diese Welt einzutauchen, aus der die großen Erzählungen der Menschheit schöpfen. Religionen nutzen sie seit Anbeginn der Zeiten. Der Mensch des 21. Jahrhunderts entdeckt die alten Techniken der Vision und Imagination neu. Die Wissenschaft erforscht mit modernster Technologie die Prozesse, welche dabei im Gehirn ablaufen.7 Die Imagination zählt heute zu den etablierten Methoden der Psychotherapie8 und findet weltweite Anerkennung.

Was Sie in diesem Buch erwartet

KAPITEL I – DIE WELTDER INNEREN BILDER

Im ersten Teil möchte ich Ihre Neugierde für die unendlichen Weiten der Seele wecken und dabei die Bedeutung der inneren Bilder in der Geschichte der Menschheit und aus Sicht der Moderne vorstellen. So soll ein erster Einblick in ihre zahlreichen Möglichkeiten und Einsatzgebiete entstehen.

KAPITEL II – VISIONEN: ERBEDER MENSCHHEIT

Über die Anfänge der Imagination können wir nur spekulieren. Vermutlich saßen die frühen Menschen über Jahrtausende abends unter dem Sternenhimmel viele Stunden lang am gemeinsamen Lagerfeuer. Wenn alle Geschichten erzählt und alle Lieder gesungen waren, blickte man ermattet von den Strapazen des Tages ins Feuer und ließ den Wachträumen ihren freien Lauf. Schamanen nutzten diese Fähigkeit und reisten gezielt in andere Wirklichkeiten, um sich dort Kraft und Inspiration für Heilungen zu holen. Ihre modernen Nachfolger tun dies noch heute.

Die frühen Religionen schöpften ebenso aus diesen Quellen. Doch vermischten sich damals wohl Geschichten mit Imaginationen und Wissen. Sie wurden mündlich überliefert, von Generation zu Generation, und veränderten sich mit jedem Erzählen – bis zum Einsetzen der Achsenzeit9, als diese – inzwischen – „großen Erzählungen“10 durch die Erfindung der Schrift und des Buches weite Verbreitung fanden. Wir können davon ausgehen, dass die Visionäre der Vergangenheit ihre inneren Bilder und die Gestalten, welche darin häufig vorkamen, als Botschaften ihrer Götter interpretierten. Bereits in der Frühgeschichte der Medizin, insbesondere im Griechenland der Antike, fanden „gelenkte Träume“ breite Anwendung.

KAPITEL III – DIE WISSENSCHAFTDER IMAGINATION

Dank moderner bildgebender Verfahren, mit deren Hilfe sich das Gehirn in Aktion beobachten lässt, verstehen wir im Prinzip die Vorgänge, die beim Sehen im Zusammenspiel von Auge und Nervensystem ablaufen; sie überschneiden sich weitgehend mit dem Akt der Imagination. Wir wissen heute, dass die Vorstellungen im Geiste mit realen Veränderungen im Gehirn einhergehen und wie sich dabei die Verdrahtungen der neuronalen Netzwerke verändern. Zudem besteht ein fließender Übergang zwischen inneren Bildern im Wachzustand und unseren Gesichten im Traum.

Nach einem kurzen Abriss über Imagination im Lichte der Philosophie werden wir diskutieren, was das alles für unsere Anschauungen von einer der ältesten Fragen des Denkens bedeutet: Was ist die Natur der Wirklichkeit?

KAPITEL IV – PSYCHOLOGIE – DIE WIEDERENTDECKUNG DER SEELE

Mit C. G. Jung fanden die uralten Methoden dieser Psychotechnik Eingang in die moderne Therapie. In seinen „Nachtmeerfahrten“ erkundete der Schweizer Psychiater die geheimnisvollen Welten seines eigenen Unbewussten. Dabei entdeckte er die sogenannten Archetypen – Bilder unserer Seele, die wir alle teilen: den alten Weisen, die große Mutter, das männliche und das weibliche Prinzip, den Schatten usw.

Im Laufe des 21. Jahrhunderts entwickelte sich die Imagination zu einer ausgereiften Methode in der Behandlung seelischen Leidens, aber auch zu einem hochwirksamen Werkzeug der Persönlichkeitsbildung. Kaum eine psychotherapeutische Weiterbildung kommt ohne ein paar Einheiten Imagination aus. Sei es die Aktive Imagination nach C. G. Jung, die Katathym Imaginative Psychotherapie (eine eigene Psychotherapierichtung, die vorwiegend mit inneren Bildern arbeitet) oder die Verhaltenstherapie, die inzwischen wissenschaftlich am besten abgesicherte Therapieform.

KAPITEL V – DER WEGDERINNEREN BILDER

Wir beginnen im fünften Kapitel mit den heißesten der menschlichen Vorstellungen – sexuellen Fantasien –, beschäftigen uns anschließend mit imaginären Freunden, dem Umgang mit negativen Emotionen und dem Phänomen der Aphantasie, dem Fehlen innerer Bilder. Schließlich wird von möglichen Nebenwirkungen und Komplikationen sowie von Gegenanzeigen die Rede sein. Wir werden uns damit beschäftigen, was mit inneren Bildern schiefgehen kann – und warum: Welche unfreiwilligen inneren Bilder treten auf und wie entstehen sie? Wir widmen uns Halluzinationen, Flashbacks, kreisenden Vorstellungen, Zwangsgedanken und spontanen Traumbildern, die unter dem Entzug von äußeren Reizen auftauchen.

KAPITEL VI – ANWENDUNGENDER IMAGINATION

Nicht zuletzt große Wissenschaftler kennen die Welt der inneren Bilder als Ressource und als Ort der Inspiration. Man denke zum Beispiel an Albert Einstein, wie er sich vorstellte, dass er in einem fahrenden Zug sitzt, während neben den Gleisen ein Lichtstrahl abgefeuert wird. Dieses und ähnliche Gedankenexperimente trugen dazu bei, die Lichtgeschwindigkeit als nach oben begrenzt und die Relativität der Zeit zu entdecken.

Im Leistungssport zählt das mentale Training inzwischen zum Alltag. Sei es zur Verbesserung der Motivation, zur Optimierung von Bewegungsabläufen, zur Wettkampfvorbereitung, Entspannung, Rehabilitation, Verbesserung des Muskelwachstums oder zur Steigerung des Selbstvertrauens.

Innere Bilder bedeuten für Künstler eine Quelle nahezu unerschöpflicher Kreativität. Wir werden sehen, wie Schriftstellerinnen, Schauspieler, Maler, Musiker die Macht der Imagination einsetzten, um einige ihrer größten Werke zu schaffen.

Allerdings existiert hier eine nicht zu unterschätzende schwarze Seite: Wohl seit Menschengedenken gibt es Bestrebungen, innere Bilder zur Manipulation einzusetzen. Sei es, um Einfluss im Namen einer bestimmten Religion zu gewinnen, sei es, um mithilfe politischer Propaganda Macht in großem Stil zu erlangen. Nicht zuletzt unsere Gegenwart verfängt uns in einer (digitalen) Bilderwelt ohnegleichen und manipuliert unsere Gedanken und Gefühle in einem Ausmaß, das jeden Diktator vor Neid erblassen lassen muss. Denker, wie der Philosoph Byung-Chul Han11, vermeinen gar, unsere Werbe- und Konsum-Industrie umspinne uns mit einer solchen Vehemenz, dass wir alle längst zu deren Sklaven mutiert sind, schlimmer noch, es nicht einmal bemerken, weil uns diese Matrix als Freiheit vorgegaukelt wird.

Diese Gedanken führen uns schließlich zu der Aufforderung, wieder die Verantwortung für unsere inneren Bilder zu übernehmen. Wir selbst dürfen mit deren Auswahl ganz bewusst umgehen. Nicht unkritisch, aber so, dass sie uns unserem wahren Selbst und unseren eigentlichen Zielen näherbringen.

KAPITEL VII – KLEINE ANLEITUNGZUR IMAGINATION

Schließlich werden Sie einige praktische Übungen kennenlernen, mit deren Hilfe Sie selbst vielleicht erste Einblicke in Ihre ganz eigenen inneren Welten an der Grenze zwischen Wachen und Träumen gewinnen. Zu diesem Zweck stelle ich Ihnen einige bewährte Imaginationen aus dem schier unerschöpflichen Fundus an Möglichkeiten vor, die Sie selbst in Ihren eigenen vier Wänden ausprobieren können.

Es folgen ein paar Gedanken darüber, wie wir uns unseren großen Zielen im Leben mithilfe der „5 Säulen der Identität“ annähern können.

Schließlich möchte dieses Buch nicht mehr und nicht weniger, als Sie in die Lage zu versetzen, Ihre eigenen inneren Bilder als Quelle der Kraft für sich und Ihr Leben zu nutzen und damit Zugang zu neuen Dimensionen des Seins zu finden. Es findet seinen krönenden Abschluss und seine Zusammenfassung in den „12 Grundsätzen der Imagination“.

Am Ende dieser Seiten werden Sie innere Bilder als reale Erfahrung kennengelernt haben. Sie werden sich dessen bewusst sein, wie sich gelenkte Visionen durch die Geschichte der Menschheit ziehen und wie wir sie heute als Instrument in der Persönlichkeitsentwicklung, im Coaching, im Leistungssport, aber auch im spirituellen Bereich erleben dürfen. Wir werden gemeinsam die Möglichkeiten, aber auch die Gefahren und Risiken der Imaginationen erkunden.

5 Nietzsche, Friedrich. Also sprach Zarathustra: Ein Buch für Alle und Keinen. dtv, München 1999.

6 Kieslinger, Klaus-Dieter. In: Böschemeyer, Uwe. Von den hellen Farben der Seele: Wie wir lernen, aus uns selbst heraus zu leben. Ecowin, Salzburg 2018.

7 Hüther, Gerald. Die Macht der inneren Bilder: Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Vandenhoek und Ruprecht, Göttingen 2015.

8 Bengler, Simin. Praxisbuch Imaginative Techniken in der Psychotherapie: Grundlagen, Techniken und Anwendung. Springer, Berlin 2021.

9 Assmann, Jan. Achsenzeit: Eine Archäologie der Moderne. C. H. Beck, Berlin 2020.

10 Lyotard, Jean-François. Das postmoderne Wissen: Ein Bericht. Passagen, Wien 1986.

11 Han, Byung-Chul. Psychopolitik: Neoliberalismus und die modernen Machttechniken. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014.

I.

Die Welt der inneren Bilder

Du musst dein Leben ändern.12

Rainer Maria Rilke

Peter Sloterdijk

Innere Bilder begleiten uns seit Anbeginn der Menschheit. Es gibt Hinweise dafür, dass auch höher entwickelte Tiere über visuelle Vorstellungskraft verfügen. Bewusst eingesetzte bildliche Vorstellungen finden sich schon in der Frühgeschichte – im Schamanismus. Belege dafür zeigen unter anderem die in der Altsteinzeit entstandenen Höhlenmalereien der Grotte des Trois-Frères sowie heute noch aktive Schamanismen. In der Moderne erlebt dieses Phänomen der inneren Bilder eine Renaissance. Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung hat die inneren Bilderwelten des Menschen auf eigene Faust an sich selbst erforscht und als Werkzeug in die Psychotherapie eingeführt. In der Sportwissenschaft gehört mentales Training längst zum Alltag. Selbst die Religionswissenschaft entdeckt innere Bilder neu als Weg zu einer authentischen religiösen Erfahrung: Es ist sogar die Rede von einer „imaginativen Wende“.13

Worin besteht der Unterschied zwischen Vision und Imagination? Imaginationen setzen bewusst auf innere Bilder, während eine Vision unkontrolliert über uns hereinbricht. Eine Vision kann darüber hinaus eine zielgerichtete große Vorstellung eines einzelnen Menschen oder einer ganzen Gesellschaft bedeuten.

Was zu Beginn des 21. Jahrhunderts neu ist: Wir können heute mit ziemlicher Genauigkeit feststellen, was dabei im Gehirn passiert. Die moderne Neurobiologie sieht sich inzwischen in der Lage zu erklären, warum die Arbeit mit inneren Bildern ein so kraftvolles Instrument darstellt: Mindestens ein Drittel des gesamten menschlichen Gehirns beschäftigt sich mit der Verarbeitung von visuellen Eindrücken. Zählt man die übrigen Sinne dazu – Tasten oder Körperwahrnehmung, Hören, Riechen, Schmecken –, dann kommen große Teile unseres Denkorganes zum Einsatz.

Kurz zusammengefasst aktivieren bildliche Vorstellungen große Teile des Gehirns, insbesondere Zentren für sinnliche Wahrnehmung, aber auch Bereiche für Erinnerung und Emotion: das limbische System (es beinhaltet die beiden Mandelkerne – „Amygdala“, den limbischen Teil der Großhirnrinde – „limbischer Kortex“ und die beiden Seepferdchen – „Hippocampi“). All diese Systeme sind phylogenetisch, also in der Stammesgeschichte des Menschen, wesentlich älter als jene Systeme, die sich mit der Erzeugung von Sprache beschäftigen. Das Sprechen ist die jüngste evolutionäre Errungenschaft und nur beim Menschen voll ausgeprägt. Die Sprachzentren nehmen vergleichsweise wenig Raum im Gehirn ein. Aus diesem Grund ist der Einsatz unserer Fähigkeit zur Imagination so wirkmächtig; sie nutzt weite Areale im Gehirn und steht in direkter Verbindung zu unseren Emotionen. Die Psychologie und die Neurobiologie haben inzwischen gelernt, dass es sich bei unseren Vorstellungen nicht um Fantastereien oder Hirngespinste handelt. Sie beruhen vielmehr auf realen Prozessen im Gehirn. Dazu kommt: Unser Nervensystem verfügt über einen hohen Grad an Plastizität; die Verbindungen zwischen den Nervenzellen verhalten sich das ganze Leben lang plastisch, also formbar. Inzwischen hat die Wissenschaft sogar herausgefunden, dass sich in einem bestimmten Bereich des Gehirns (Hippocampus) lebenslang neue Nervenzellen bilden können, und mehr noch, was wir selbst dazu tun können, um uns sozusagen mehr „Nervenzellen“ wachsen zu lassen. Bis ins höchste Lebensalter ist der Mensch damit also fähig, Neues zu erfahren und zu lernen.

Es gibt viele Bücher zum Thema Imagination und ständig erscheinen neue. Die meisten kratzen nur an der Oberfläche dieses Phänomens: „Setz dich hin, stell dir vor, was du in deinem Leben erreichen willst, dann wirst du es schaffen.“ Eine Visualisierung bildet zwar tatsächlich die Grundlage für Veränderung, greift allein aber zu kurz: Wir müssen ins Handeln kommen! Vorstellungen und Visionen weisen den Weg.

Sobald wir beginnen, uns auf diese inneren Bilder einzulassen, werden wir eine Entdeckung machen, die schon C. G. Jung faszinierte: Die inneren Bilder entwickeln eine Eigendynamik; sie beginnen sich von selbst zu verändern und ermöglichen auf diese Weise, direkt mit dem eigenen Unbewussten zu kommunizieren. Richtig angewendet kann daraus die Kraft entstehen, mit deren Hilfe wir über uns selbst hinauswachsen.

Die folgenden Seiten sollen die moderne Arbeit mit inneren Bildern in den verschiedensten Bereichen beleuchten, in einen größeren Kontext stellen und ihre Geschichte und ihre biologischen Grundlagen sowie Methoden für den Alltag vorstellen. Wer sich auf seine inneren Bilder bewusst einlassen kann, wird in seinem ganzen Dasein berührt und verändert – wird weiter gehen, als sie oder er es jemals für möglich gehalten hat.

Der Mensch befindet sich in ständiger Entwicklung, wie es der große Dichter Rainer Maria Rilke so treffend formuliert – der Philosoph Peter Sloterdijk hat zu diesem Imperativ ein ganzes Buch verfasst: „Du musst dein Leben ändern.“

Reisen in innere Welten

Der Mensch ist ein „Homo imaginans“.14

Colin McGinn

Was ist Imagination? Bilder, die wir vor unserem geistigen Auge sehen – Erinnerungen an die Kindheit, Tagträume über unsere Zukunft, Sehnsüchte, Wünsche –, begleiten uns das ganze Leben. Leider macht Schwarzmalerei einen nicht unerheblichen Teil unserer geistigen Welt aus. Im Guten wie im Schlechten: Das Erleben von Vorstellungsbildern gehört zum Alltag des Menschen.

Im 21. Jahrhundert lehrt uns die Wissenschaft von Seele, Geist und Gehirn, wie wir unsere inneren Bilder gezielter einsetzen können. Sie zeigt uns auf, dass es sich dabei nicht um schiere Phantasmagorien handelt, sondern dass sie realen Vorgängen im Gehirn entsprechen. Jede Änderung unserer Vorstellungen beruht auf der Aktivität von Neuronen und beeinflusst zugleich ihre Verknüpfungen untereinander. Somit verfügen wir über die Möglichkeit, bewusst gewählte innere Bilder für uns arbeiten zu lassen, sie weiterzuentwickeln, zu verändern und damit die Verbindungen in unserem Nervensystem zu steuern. Wir alle können die Fähigkeit entwickeln, mit dieser Methode gezielter das vegetative Nervensystem, unsere Emotionen und unser Denken zu beeinflussen, als das in den vergangenen Jahrtausenden überhaupt möglich schien. In den letzten 200 Jahren schärfte die Wissenschaft unsere Vorstellungen von der Arbeitsweise des Gehirns und geistigen Vorgängen erheblich. Wir haben unterscheiden gelernt, worauf unsere Visionen beruhen und was dabei im Organ des Denkens passiert.

Der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade war der Erste, der die „schamanische Reise“ wissenschaftlich untersuchte. In seinem noch heute wegweisenden Werk „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“15 beschrieb er Methoden zur Reise in spirituelle Welten und ihre Gemeinsamkeiten in verschiedenen Kulturen unseres Planeten. Noch heute vermögen Schamanen scheinbar in andere Dimensionen einzutreten, um dort Unterstützung durch ihr jeweiliges Krafttier zu suchen, mit dessen Hilfe sie ihre seelischen Energien mobilisieren, um Kranke zu heilen. Aus heutiger wissenschaftlicher Sicht handelt es sich dabei um hoch entwickelte Methoden der Imagination.

C. G. Jung gilt als einer der bedeutendsten Mitstreiter Sigmund Freuds. Er entdeckte diese Art von Reisen in die eigene Innenwelt für die moderne Psychologie neu und stieß dabei auf universell gültige Mechanismen der menschlichen Seele. Damit legte er den Grundstein für die moderne Psychotherapie. Wissenschaftlich ausgebildete Psychotherapeuten setzen regelmäßig derartige Methoden ein, um ihre Klienten in der Erfahrung ihres Selbst und ihres Unbewussten zu begleiten, um seelische Krankheiten zu behandeln oder sogar, um Patienten mit schweren psychischen Traumata zu unterstützen.

Neurologen wie der legendäre Oliver Sacks untersuchten Eingebungen von berühmten Visionären der Geschichte. So konnte Sacks zum Beispiel die Lichterscheinungen, welche die Heilige Hildegard von Bingen regelmäßig heimsuchten, als typische Aura einer Migräne16 einstufen. In früheren Zeiten hätte man derartige Erscheinungen als göttliche Eingebungen interpretiert. Heutzutage sehen Hirnforscher das etwas nüchterner.

So ist es uns heute erstmals möglich, diese Phänomene wissenschaftlich einzustufen und damit noch gezielter einzusetzen. Inzwischen entwickelt sich die Arbeit mit inneren Bildern zu einem Megatrend in der modernen Psychologie.

WASGENAUMEINT IMAGINATION?

Im modernen Sprachgebrauch meinen wir mit dem Ausdruck „Imagination“ zunächst einmal Bilder, die wir bewusst vor unserem geistigen Auge entstehen lassen. Das Wort Imagination steht für „Vorstellung“; diese kann jede unserer Sinnesmodalitäten betreffen. Allerdings stehen der Sehsinn und die visuelle Vorstellung meist im Vordergrund, sind diese doch bei Primaten vergleichsweise hoch entwickelt. Wenn wir uns etwas intensiv vorstellen, werden in der Regel zugleich auch körperliche Reaktionen und Emotionen ausgelöst.

Ein Beispiel dafür: Versuchen Sie sich jetzt möglichst genau zu vergegenwärtigen, wie Sie in eine Zwiebel beißen. Spüren Sie, wie Ihre Zähne die Textur der Fasern durchdringen, hören Sie das knackende Geräusch, das in Ihrem Mund entsteht, fühlen Sie, wie der Saft, der aus den Zellen der Knolle austritt, Ihre Zunge benetzt. Vermutlich werden Sie sofort etwas von dem charakteristisch scharfen Geschmack spüren und den typisch stechenden Geruch wahrnehmen. Sicherlich wird auch gleich ein leichter Speichelfluss einsetzen, der die Schleimhäute in Ihrem Mund befeuchtet. Wahrscheinlich werden Sie sogar ein leicht ziehendes Gefühl auf den Bindehäuten Ihrer Augen fühlen, in Verbindung mit einem leichten Tränenfluss. So stark vermag die Vorstellungskraft auf unser vegetatives Nervensystem einzuwirken!

IMAGINATION – EIN WORT, MEHRERE BEDEUTUNGEN

Die Bezeichnung „Imagination“ leitet sich ursprünglich vom lateinischen Wort „imago“ ab. Die Sprache der alten Römer meinte damit ein Bild, aber auch ein Vorstellungsbild. Laut dem „kleinen Stowasser“, dem Latein-Lexikon der österreichischen Gymnasien, bedeutet der Ausdruck „imago“ so viel wie Bild, Abbild, aber auch Trugbild, Traumbild oder bildhafte Vorstellung. Davon leitet sich „imaginatio“ ab, was für Einbildung, Traum oder Vorstellung steht.

Im Englischen steht „imagination“ für die Vorstellungskraft oder Fantasie ganz allgemein. In Großbritannien und den USA heißt der bewusste Einsatz von Vorstellungen in unserem Sinne „mental imagery“.17

IMAGINATION – ETWAS AUBERGEWÖHNLICHES?

Imagination ist Alltag! Als Kind stellen wir uns vor, wir könnten fliegen oder wir besäßen Kräfte wie Superman. Wir malen uns aus, wie es wäre, wenn uns die Spielgefährtin im Kindergarten auch gern mögen würde, stellen uns vor, wie ein Zitronensorbet schmeckt oder imaginieren eine Fahrt mit der Geisterbahn auf dem Jahrmarkt und genießen das damit entstehende Gruseln. Wir imaginieren unsere Zukunft und stellen uns vor, wir würden einmal ein Buch schreiben, ein Handwerk erlernen oder ein Musikinstrument spielen und Konzerte geben.

Innere Bilder begegnen uns ständig – in unseren bildhaften Erinnerungen an Vergangenes oder in der Vorstellung, wie unsere Zukunft verlaufen könnte. Sie helfen bei unserer Berufswahl, indem sie uns verschiedene Szenarien erschauen lassen. Eine Grundlage, auf der wir uns für eine bestimmte Richtung entscheiden; meist eine bessere Hilfe als reines Nachdenken.

Nicht zuletzt ist Sexualität ohne Imagination nicht vorstellbar. Sexuelle Fantasien begleiten uns das ganze Leben, sehr explizit sogar. Ohne Tabus. Auch die persönliche Religion eines jeden Menschen kommt ohne bildhafte Vorstellungen nicht aus.

WASISTALSONEUAN IMAGINATION?

Neu ist, dass wir die Imagination heute mit den Methoden der Neurobiologie gezielt erforschen. Wir wissen inzwischen relativ genau, was im Gehirn passiert, wenn wir eine Vorstellung vor unserem geistigen Auge entstehen lassen. Heute sehen wir uns in der Lage, diese inneren Bilder gezielt zu steuern und sie für unser Leben nutzbar zu machen. Nicht nur, um unser Wohlbefinden zu erhöhen. Es gibt inzwischen zahllose Belege dafür, dass der gezielte Einsatz von inneren Vorstellungen dabei helfen kann, seelische Traumata aufzulösen, die Seele weiterzuentwickeln, die Kreativität in ungeahnte Höhen zu steigern, außergewöhnliche Kunstwerke zu schaffen, die Leistungsfähigkeit im Sport drastisch zu verbessern, die Motivation zu erhöhen, um auf jeglichem Gebiet Höchstleistungen zu vollbringen, wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren, Zugang zur eigenen Spiritualität zu finden und nicht zuletzt, um das Unbewusste bewusst zu machen und damit zu mehr Ganzheit als Mensch zu finden. Einer der Grundsätze des großen Pioniers der Psychotherapie, Sigmund Freud, lautete: „Was Es war, soll Ich werden.“ Damit meinte er, dass die Bewusstwerdung unbewusster Anteile, wie Triebe, Ängste, Sehnsüchte oder Wünsche, seelische Störungen heilen oder unsere Entwicklung als Mensch fördern könne.

EINSATZGEBIETE

Dieses Buch thematisiert die ganze Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten der Imagination als Methode. Selbst außergewöhnliche Bereiche wie etwa der Leistungssport oder die Kunst können uns dabei für unseren Alltag inspirieren. Sollten Sie selbst nach Höchstleistung in Ihrem Beruf streben oder etwas Bestimmtes in Ihrem Leben zur Spitze entwickeln wollen, dann lassen sich die vorgestellten Methoden ohne Schwierigkeiten in jeden Bereich transferieren und nutzbar machen.

ÜBERUNSSELBSTHINAUSWACHSEN

Dieses Buch möchte Sie auf eine spannende Reise in das Innere Ihrer Seele einladen. Das Auge des Geistes18 ermöglicht Ihnen den Blick auf Ihr Unbewusstes und zugleich auf den großen Plan Ihres Lebens.

Wir werden im weiteren Verlauf feststellen, dass innere Bilder, Vorstellungen, Imaginationen, Fantasien und Tagträume ganz alltägliche Begleiter darstellen. Mithilfe der Erfahrungen, die wir aus der Geschichte der Menschheit schöpfen, können wir lernen, diese inneren Bilder gezielter und effizienter zu nutzen. Wir werden uns mit den philosophischen und psychologischen Grundlagen der Imagination vertraut machen und uns nicht zuletzt mit ihrer Neurophysiologie beschäftigen. Denn jeder Gedanke ist zugleich eine Aktivität von Milliarden Nervenzellen mit ihren Abermilliarden Synapsen. Wir wissen heute, dass es sich dabei keineswegs um Hirngespinste handelt, sondern dass jeder Gedanke unser Gehirn verändert, die Netzwerke von Synapsen stärkt oder schwächt und nicht nur die elektrische Aktivität, sondern sogar die Struktur unseres Gehirns verändert.

Zahlreiche Beispiele zeigen die Möglichkeiten, als Quelle der Inspiration zu dienen und eine Vision für das eigene Leben zu finden. Mit ihrer Hilfe konnten viele Menschen Großes erreichen. Wenn wir lernen, unsere Fantasien, Vorstellungen, inneren Bilder bewusst für uns arbeiten zu lassen, dann helfen sie dabei, über uns selbst hinauszuwachsen.

GEFAHRENUND RISIKEN

Eine kleine Warnung muss an diesem Orte stehen: Innere Bilder stellen ein sehr starkes Werkzeug dar. Da wir alle ständig innere Bilder verwenden, ist es hilfreich, sich ihre Wirkung bewusst zu machen, um sie gezielter einsetzen zu können. Doch: Wenn Sie an den Folgen eines seelischen Traumas oder an einer ernsthaften psychischen Krankheit leiden, empfiehlt es sich unbedingt, einen in dieser Methode Erfahrenen als Reiseführer ins Boot zu holen: einen Therapeuten, der Sie auf dem Weg in Ihr Unbewusstes begleitet. Denn auf diesem Weg lauern – wie auf jeder Reise – auch Gefahren. Mehr dazu finden Sie in dem Abschnitt über die Kontraindikationen (Gegenanzeigen) im Kapitel V.

Richtig angewendet wartet jedoch eine nie versiegende Quelle von Erkenntnissen und Inspirationen auf Sie, wenn Sie den Mut aufbringen, sich auf die geheimnisvollen Bilderwelten der Seele einzulassen. Sie könnten Territorien in Ihrem Innern kennenlernen, welche weit über Ihre bisher gesteckten Grenzen hinausreichen.

12 Rilke, Rainer Maria. Archaischer Torso Apollos (Gedicht). // Sloterdijk, Peter. Du musst dein Leben ändern: Über Anthropotechnik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009.

13 Traut, Lucia; Wilke, Annette. Religion – Imagination – Ästhetik: Vorstellungs- und Sinneswelten in Religion und Kultur. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015.

14 McGinn, Colin. Das geistige Auge: Von der Macht der Vorstellungskraft. Primus, Darmstadt 2007.

15 Eliade, Mircea. Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. suhrkamp tb wissenschaft, Frankfurt am Main 1975.

16 Sacks, Oliver, Migräne. Rowohlt Tb, Hamburg 2019.

17 Kosslyn, Steven M.; et al. The Case for Mental Imagery. Oxford Psychology, Band 39. Oxford University Press, Oxford 2009.

18 Robertson, Ian. The Mind’s Eye: The essential guide to boosting your mental, emotional and physical powers. Bantam, London 2011.

II.

Visionen – Erbe der Menschheit

Frühgeschichte: zwischen Tag und Traum

Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.19

Rainer Maria Rilke

Ostafrika, ca. 70.000 Jahre vor unserer Zeit. Eine Gruppe von Menschen lässt sich um ihr gemeinsames Lagerfeuer nieder. Die Milchstraße zieht sich über den unendlichen Sternenhimmel, wo sich langsam der Gebieter der Nacht erhebt, der Mond. Zweige knistern im Feuer, Rauch steigt auf in die Luft, ein rötlicher Schein beleuchtet abgespannte Gesichter. Müdigkeit und Erschöpfung herrschen vor, nach einem langen Tage. Irgendwann ist der letzte Bissen des Nachtmahls verschlungen, die letzte Geschichte zu Ende erzählt, der letzte Gesang verstummt. Den Blick ganz bei den immer kleiner werdenden Flammen, verselbstständigen sich nach und nach die Gedanken; jetzt gewinnen die inneren Bilder Oberhand, in einem Land an der Grenze zwischen Wachen und Träumen. Jetzt ist die Zeit, da weniger und weniger Reize aus der Umgebung ins Bewusstsein dringen und wo sich die Erlebnisse des Tages vermischen mit dem Nachhall vom Singsang des Schamanen oder von Erzählungen und Mythen, die von den Älteren immer wieder heraufbeschworen werden.

ANFÄNGE

Die Anfänge der inneren Bilder verlieren sich im Dunkel der Frühgeschichte. Menschen, die so aussahen wie wir, traten vor etwa 150.000 Jahren im Osten Afrikas auf den Plan. Doch erst vor etwa 70.000 Jahren begann eine Entwicklung, in deren Zuge sie Kulturen bildeten, Artefakte wie Kleidung, Nadeln, scharfe Klingen, Öllampen oder Boote erfanden und schließlich die großen Wanderungen unternahmen, in deren Verlauf sie sich in wenigen Zehntausend Jahren auf der ganzen Welt ausbreiteten.20 Mit sich auf die Reise nahmen sie im Gepäck ihr Wissen, ihre Kulturen, Visionen und Mythen. Reste davon lassen sich in unserem modernen Denken nach wie vor aufspüren. Mehr noch: Wir alle tragen die Fähigkeit, in Bildern zu denken, als Erbe unserer menschlichen Vorfahren in uns.

Der Philosoph und Religionswissenschaftler Stephen T. Asma vom Columbia College Chicago meint, die Fähigkeit der Imagination lasse sich in der Evolution bis weit in vorgeschichtliche Zeiten zurückverfolgen. In Wahrheit sei sie deutlich älter als unsere Fähigkeit zur Sprache. Damit besitzen

„[…] unsere bildlichen Vorstellungswelten Zugang zu dem vorsprachlichen, altertümlichen Geist in uns, welcher reich ist an Bildern, Emotionen und Assoziationen. Imagination gehört untrennbar zu unserem Innenleben. Man könnte sogar sagen, sie bilde ein ‚zweites Universum‘ in unseren Köpfen. Wir erfinden Tiere und Ereignisse, die nicht existieren, wir wiederholen Tatsachen aus der Geschichte mit anderem Ausgang, wir entwerfen soziale und moralische Utopien, wir schwelgen in Fantasie und sind in der Lage, uns vorzustellen, sowohl wie wir in der Vergangenheit gewesen sein könnten, als auch, was aus uns in der Zukunft noch werden könnte. Animationskünstler wie Hayao Miyazaki, Walt Disney und die Leute von den Pixar Studios sind Meister der Vorstellungskraft, aber sie kreieren nur eine öffentliche Version von unser aller Innenleben. Wenn man das fantastische Durcheinander im Geiste eines durchschnittlichen fünfjährigen Kindes sehen könnte, dann sähen Star Wars und Harry Potter nüchtern und langweilig daneben aus. Also stellt sich die Frage: Warum gibt es so wenig Untersuchungen unseres Vorstellungsvermögens durch Philosophen, Psychologen und die Wissenschaft?“21 (Übers. v. Autor)

DENKENSCHON TIEREIN BILDERN?

Hier stellt sich gleich eine große Frage: Verfügen bereits Tiere über so etwas wie eine visuelle Vorstellungskraft? Diese Frage lässt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch ein klares Ja beantworten. Ein Indiz dafür ist der Gebrauch von Werkzeugen. Zum Beispiel berichtet die Primatenforscherin Jane Goodall über Schimpansen, die Steine verwenden, um Nüsse zu knacken.

Wenn ein Löwe durch die Savanne streunt, dann benutzt er Erinnerungsbilder, um sich in dieser kargen Landschaft zu orientieren. Um erfolgreich zu jagen, ist seine starke visuelle Vorstellungskraft überlebensnotwendig. Seine Erinnerung ermöglicht es ihm, vorauszuahnen, wo sich Beutetiere vermutlich aufhalten. Aufgrund seiner Erfahrung weiß er im Voraus, wie sie reagieren, wenn sie gejagt werden.

Wer die Anatomie des Sehsystems und die Verarbeitung der visuellen Wahrnehmung in den Nervenbahnen des Gehirns studiert, findet schnell heraus, dass sie bei allen höheren Säugetieren auf dem gleichen Bauplan beruhen. Der wesentliche Unterschied zum Gehirn des Menschen besteht darin, dass uns mehr Rechenleistung zur Verfügung steht. Mithilfe der sogenannten Assoziationsareale der Hirnrinde vermögen wir noch komplexere Vorstellungen zu bewältigen als unsere tierischen Verwandten.

Nicht nur das. Bei allen höheren Säugetieren lässt sich der sogenannte REM-Schlaf nachweisen. In dieser Schlafphase zeigen sich schnelle Augenbewegungen, welche in Verbindung mit einer bestimmten Nervenaktivität stehen. Diese lässt sich durch die Messung der Hirnströme im EEG (Elektroenzephalogramm) nachweisen. Das bedeutet nichts weniger, als dass auch unsere näheren Verwandten im Tierreich träumen. Die Fähigkeit zu träumen ist ein deutlicher Hinweis dafür, dass auch Tiere über ein visuelles Vorstellungsvermögen verfügen.

Auch aus der Verhaltensbiologie gibt es deutliche Indizien, dass Tiere über eine gute visuelle Vorstellungskraft verfügen. Klar, denn warum sollte in der Stammesgeschichte plötzlich ein solcher Sprung auftreten? Aus neurologischer Sicht können wir davon ausgehen, dass die visuelle Wahrnehmung und damit das visuelle Bewusstsein eines Säugetieres eins zu eins dem menschlichen Sehsinn entsprechen. Auch wenn die Tiefe des Verstehens der Welt beim Menschen wohl höher entwickelt sein dürfte.

FRÜHZEITDES MENSCHEN