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Seit dem 13 jährigen Karl im Traum sein toter Opa erschienen ist, hat er nur einen Plan: Er möchte YouTube-Star werden. Schade nur, dass ihm und seiner Karriere immer was dazwischenkommt. Erst sind es die Umzugspläne seiner Oma in das Mehrgenerationenhaus, dann die Trennung seiner Eltern – von Karls eigenen Annäherungsversuchen an Irina mal ganz zu schweigen. Mensch, ist das Leben kompliziert!
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Für meinen Patensohn Jakob
Heute Nacht ist mir im Traum mein toter Opa erschienen. Er sah quietschlebendig und gesund aus. Gar nicht wie einer, der von einem Moment auf den anderen von einem Herzinfarkt dahingerafft wurde. Aber genau das ist vor einem Jahr während der Sportschau passiert.
Im Traum hat mir Opa empfohlen, die Schule zu schmeißen. Er gab mir den Rat, Youtube-Star zu werden, unglaublich viel Kohle zu scheffeln und die eingebildeten Mädels aus meiner Klasse links liegen zu lassen.
Danach bin ich mit einem fetten Grinsen im Gesicht aufgewacht. Das war die erste spirituelle Berufsberatung in meinem Leben!
Mama hat nicht sehr begeistert auf meine übersinnliche Begegnung mit Opa reagiert. Man muss dazu wissen, dass sie Neurowissenschaftlerin ist. Sie pult in den Gehirnen von Menschen herum und versucht herauszufinden, warum sie sich so oder so verhalten und nicht vollkommen anders. Gehirnströme sollen erklären, warum Menschen im Internet shoppen, obwohl sie kein Geld auf dem Konto haben. Warum sich ein Mädchen in einen Vollpfosten wie Sven Klimphammer verliebt und nicht in den wirklich sympathischen Nachbarjungen von gegenüber. Warum Restaurantbesucher ihr Abendessen fotografieren und auf Instagram stellen. Und warum sie anschließend nicht ihren Nachwuchs zum Nachtisch verspeisen wie zum Beispiel der europäische Braunbär.
Mama hat mir erklärt, dass mir Opa vermutlich während der REM-Phase erschienen ist. Dann fährt die Skelett-Muskulatur runter, der Puls steigt an und das Gehirn vermischt alle möglichen Themen. Mama hat mir also sehr vorsichtig verklickert, dass es nur eine Erinnerung an Opa war. Auf keinen Fall er selber. Folgende dürftige Beweiskette brachte sie vor:
1. Opa hatte nicht mal eine E-Mail-Adresse und bezeichnete Smartphones als schnurlose Telefone. Er wusste also vermutlich überhaupt nicht, was ein Youtube-Star ist. Er wusste wahrscheinlich nicht mal, was Youtube ist! Aber hey, er ist tot. Vielleicht ist er inzwischen allwissend!
2. Opa war immer sehr praktisch veranlagt. Er wollte, dass ich später mal Schreiner oder Elektriker oder Fliesenleger werde. Ganz sicher wollte er nicht, dass ich die Schule nach der siebten Klasse beende.
3. Mama behauptet, wäre es wirklich Opa gewesen, hätte er mir bestimmt keine Berufstipps gegeben. Er hätte als Erstes gefragt, wie es Oma geht. Und mit diesem Punkt liegt sie absolut richtig!
Mein Vater teilt leider immer die Meinung meiner Mutter. Vor Gericht heißt das, er ist befangen. Mit einem befangenen Vater kann man unmöglich über eine zukünftige Karriere als Youtuber sprechen. Das ist mir heute ein für alle Mal klar geworden.
»Du solltest alles daran setzen, das Abitur zu machen!«, erklärte mir Papa, während er sich einen Avocado-Shake mixte. Avocado ist laut Mama gut fürs Gehirn. Auch die Ernährung meines Vaters ist befangen. Seine Kleidung und seine Hobbys übrigens auch. »Mit Abitur kannst du studieren«, erklärte er. »Und später kannst du arbeiten, was immer du willst. Abitur, das bedeutet Freiheit!«
Mein Papa hat studiert und arbeitet sieben Tage die Woche als Professor für Biologie. Es ist, nebenbei erwähnt, ziemlich hart, das durchschnittlich begabte Kind von zwei überdurchschnittlich klugen Wissenschaftlern zu sein.
»Einmal angenommen, es ist wirklich Opa gewesen«, sagte mein Vater und füllte den eklig grünen Shake in ein riesiges Glas. »In welchem Bereich würdest du Youtube-Star werden wollen?«
So weit hatte ich noch gar nicht gedacht. Es war schöner gewesen, mir nur das Resultat vorzustellen. Aber natürlich hatte Papa recht.
»Ich könnte verrückte Stunts machen!«, schlug ich vor. »Ich könnte vor laufender Kamera witzige Comics zeichnen. Oder ins Fitness-Studio gehen und meinen jugendlichen Körper an der Hantelbank präsentieren.«
»Du kannst doch überhaupt keine Comics malen«, erinnerte mich mein Vater. »Und du bist 13. Wenn du deinen jugendlichen Körper im Internet präsentierst, steht morgen das Jugendamt vor der Tür und du kommst in eine Pflegefamilie. Willst du nicht lieber vor laufender Kamera kochen?«
Kochen? Hatte mein Vater nicht mitbekommen, dass all meine Ideen supermännlich, superlässig und superabenteuerlich waren? Wie bitte passte Kochen in mein Berufskonzept?
»Wir könnten uns am Wochenende gemeinsam im Zoo einschließen lassen«, schlug ich ihm stattdessen vor. »Wir drehen ein paar gefährliche Szenen im Bärengehege.«
»Ende der Diskussion«, sagte Papa und setzte sich wie jeden Vormittag vor die Doktorarbeiten seiner Studenten.
»Können wir dann zumindest über ein Tattoo sprechen?«, fragte ich ziemlich betrübt.
»Wir können über den Abwasch sprechen!«, sagte mein Vater.
Meine Eltern haben mir alles über Trauer erklärt. Wozu hat man zwei Experten zu Hause? Wenn Elefanten trauern, halten sie Totenwache. Sie laufen viele Kilometer, nur um gemeinsam um den leblosen Körper ihres Kumpels herumzustehen. Keine Ahnung, was ihnen dabei durch den Kopf geht. Wahrscheinlich denken sie an all die coolen elefantenmäßigen Dinge, die sie zusammen erlebt haben. Affen hingegen tragen ihre Toten tagelang durch die Gegend. Manchmal so lange, bis der tote Körper von selbst zerfällt. Im Gehirn findet die Trauer im sogenannten Insellappen statt. Es ist natürlich keine richtige Insel. Wäre die Insel echt, wäre ihr Boden wahrscheinlich schwarz und es würde nicht eine einzige Pflanze dort wachsen. Es gäbe dort keinen Sauerstoff, man bräuchte Atemmasken, um nicht selber zu sterben. Die Insel würde sich aus einem Meer aus Erinnerungen und Tränen erheben. Und ich fürchte, man wäre darauf völlig allein.
Während der Trauer schüttet das Gehirn jede Menge Stresshormone aus. Das gilt für uns Menschen genauso wie für Hamster und Affen.
Das alles erklärt aber nicht, warum ich nach der Beerdigung meines Opas tagelang wie besessen Minecraft spielte. Und es erklärt auch nicht, warum mir immer die Luft wegblieb, sobald ich an Opas Tod dachte.
Am Sonntag schaffte ich es nicht aus dem Bett. Ich schlief, als meine Eltern mich zum Frühstück riefen. Ich schlief, während sie im archäologischen Museum waren. Und ich schlief, als Papa sich gegen Mittag ein Avocado-Sandwich machte.
Als ich endlich aus den Federn kroch, saßen meine Eltern im Wohnzimmer auf der Couch.
Meine Mutter las ein Buch über Gehirn und Moral. Mein Vater las ein Buch über das Paarungsverhalten von Bisamratten.
Sie sahen hoch, als ich im Schneckentempo in meinem zerknitterten Pyjama an der geöffneten Wohnzimmertür vorbeischlurfte.
»Ich hatte eben eine Halluzination, Schatz«, hörte ich meine Mutter sagen. »Hast du diese seltsame Kreatur auch gesehen?«
»Genetisch stammt Karl von uns beiden ab«, sagte mein Vater. »Also hör auf, mich so vorwurfsvoll anzustarren!« Sie lachten leise.
Als ich später in Jeans und Sweatshirt am Wohnzimmertisch saß und frühstückte, zeigte meine Mutter mit ihrem Buch auf mich.
»Dir ist hoffentlich klar, dass während der Pubertät dein Gehirn komplett umprogrammiert wird, Karl?«, sagte sie. »Es ist wie bei einem Computer. Alles wird heruntergefahren. Das erklärt das seltsame Verhalten von Teenagern. In Wahrheit sind sie gar nicht ungewaschen, rüpelhaft, respektlos und ständig schlecht gelaunt. In Wahrheit werden sie nur gerade neu gestartet.«
Mein Vater runzelte die Stirn. »Mir gefiel die alte Version von Karl eigentlich ganz gut«, sagte er. »Warum nur ist das Leben steter Wandel? Manchmal wünschte ich mir, alles würde einfach für immer so bleiben.«
»Manchmal wünschte ich mir durchaus mehr Aufregung und Spannung in unserem Alltag«, seufzte meine Mutter. Sie legte ihr Buch zur Seite und starrte zum Fenster hinaus.
Am Abend kam Oma vorbei. Seit Opas Tod kommt sie jeden Sonntagabend zu uns. Erst isst sie mit uns, dann schaut sie mit meinen Eltern Tatort. Sagen wir so, ich hätte durchaus Verständnis, wenn Menschen während des Tatortschauens plötzlich versterben. Die Langeweile könnte zu einem spontanen Herzstillstand führen. Aber während der Sportschau tot umzufallen, ist einfach nicht fair.
Sterben ist sowieso nicht fair. Aber das ist nur meine persönliche Meinung.
Nach dem Tatort am Sonntag sitzen meine Eltern immer noch mit Oma zusammen und trinken Eierlikör. Mama hasst Eierlikör. Papa hasst Eierlikör. Sie trinken ihn einfach nur Oma zuliebe.
»Morgen schaue ich mir so ein Wohnprojekt an«, sagte Oma ganz beiläufig.
»Ein Altenheim?«, fragte ich interessiert.
Meine Oma zog die Augenbrauen nach oben. »Ich bitte dich, Karl. Ich bin erst sechsundsechzig Jahre alt. Mach aus mir keine alte Schabracke!«
Sechsundsechzig ist alt. Aber ich schluckte meine Bemerkung höflich hinunter.
»Von welchem Wohnprojekt sprichst du?« Mein Vater sah seine Schwiegermutter unsicher an. »Ich dachte, du willst eure Wohnung behalten?«
Oma und Opa haben die letzten zwanzig Jahre in einer Wohnung in der Südstadt gewohnt. Noch am Tag von Opas Beerdigung hat Oma gesagt, sie würde auf jeden Fall dort bleiben.
»Ich liebe meine Wohnung«, beteuerte Oma. »Aber es erinnert mich einfach alles an Franz. Achtzig Quadratmeter sind außerdem zu groß für mich. Und ich habe das Gefühl, ich muss unter Leute.«
Mama hatte bis zu diesem Punkt noch gar nichts gesagt. Sie starrte ihre Mutter ungläubig an. Dann wechselte sie einen sonderbaren Blick mit meinem Vater.
»Fühlst du dich etwa einsam, Mutti?«, fragte sie sanft. »Sollen wir uns unter der Woche noch öfter treffen?«
Meine Oma winkte ab. »Ach, Quatsch, Claudia. Wir sehen uns oft genug. Aber ich dachte mir, jetzt wo dein Vater nicht mehr ist, kann ich doch noch mal was ganz Neues probieren.«
Sie fing ein klitzekleines bisschen an zu weinen, hörte aber schnell wieder auf.
»Du sprichst aber nicht von dem Wohnprojekt?«, sagte mein Vater plötzlich misstrauisch.
In unserer Stadt hatte vor einem halben Jahr ein Wohnprojekt aufgemacht. Es hieß Mehrgenerationenhaus Fidibus. In einer umgebauten Weberei lebten zwanzig Leute zusammen. Sie wohnten in WG-Zimmern und teilten sich Gemeinschaftsräume. Es gab auch einen riesigen Garten für alle.
Als mein Papa in der Zeitung davon gelesen hatte, hatte er gesagt: »Na prima, in die alte Weberei ziehen bald Hippies! Die teilen sich eine Küche und ein Wohnzimmer und einen Hobbyraum. Und wahrscheinlich teilen sie sich nachts auch ihre Betten.«
»Zwanzig Leute in WG-Zimmern? Wer zieht denn in so was?«, hatte meine Mutter damals gefragt. »Das klingt wie eine Einrichtung für völlig gescheiterte Menschen.«
»Du überlegst dir das doch nicht ernsthaft, Mutti?«, sagte meine Mutter jetzt.
Meine Oma schnäuzte sich und nippte dann an ihrem Likör.
»Anschauen kann ich mir das Fidibus doch mal!«, nuschelte sie dann. »Es ist Tag der offenen Tür, und sie suchen dringend nach neuen Mietern.«
»Klar suchen sie neue Mieter!«, höhnte mein Vater. »Weil alle bisherigen Mieter schon nach sechs Monaten völlig zerstritten sind! Welcher erwachsene Mensch, der noch ganz bei Sinnen ist, zieht in eine WG als wäre er wieder zwanzig? Ich hoffe wirklich, du willst uns veräppeln.«
»Ich schau doch nur mal!«, sagte Oma ein wenig kleinlaut.
»Du kannst bei uns einziehen!«, schlug meine Mutter vor. Mein Vater fing erschrocken an, mit seinem Likörglas zu spielen.
Aber zu seiner Erleichterung schüttelte Oma den Kopf. »Darum geht es doch gar nicht«, sagte sie. »Ich bin kein altes Hutzelweibchen, das umsorgt werden muss. Ich will einfach ein bisschen was Neues erleben. So eine Wohngemeinschaft erweitert den Horizont. Ich kenne doch nichts außer Ehe und Familienleben.«
»Stimmt es, dass die sich nachts ihre Betten teilen?«, fragte ich vorsichtig. Wer würde bitte neben meiner sechsundsechzigjährigen Oma schlafen wollen?
»Es ist spät und heute war ein langer Tag!«, sagte meine Mutter schnell. »Mutti, ich denke, ich bring dich nach Hause.«
»Man hat natürlich sein eigenes Bett!«, erklärte meine Oma. »Es gibt einen Werbeprospekt, den kann ich euch demnächst mal zeigen. Man teilt sich einfach nur ein paar Räume und hat miteinander Kontakt. Die nennen es gelebter Alltag.«
»Gibt es auch Drogen?« Hippies nahmen Drogen, das wusste ich. Würde meine Oma bald abhängig von Cannabis werden? Entgeistert sah meine Oma mich an. »Ich dachte nur ...«, murmelte ich. »Wegen der ganzen Hippies und allem!«
»Eine interessante philosophische Frage, Karl!«, sagte Herr Schmaus. »Man merkt einfach, dass du aus einer sehr gebildeten Familie kommst.« Herr Schmaus ist mein Ethiklehrer. Meine Eltern haben mich nicht taufen lassen, weil sie gegen Religion und maximal ungläubig sind. Meine Mutter sagt, sie glaubt an Gehirnströme und nicht an irgendwelche uralten Märchen. Mein Vater glaubt an Evolution. Er glaubt außerdem an die Macht von Avocados und Aminosäuren.
Ich hatte Herrn Schmaus nach dem Unterricht abgepasst, um mit ihm über die Begegnung mit meinem toten Opa zu reden.
Ich wollte von ihm wissen, ob er es für realistisch hielt, dass mein Großvater durch den Schock seines plötzlichen Todes in eine Art Geist verwandelt wurde. Was, wenn nur sein Körper akzeptiert hat, dass er tot ist, nicht aber sein Verstand? Dann blieb ihm gar nichts anderes übrig, als weiterhin auf der Erde zu sein und ab und zu durch meinen REM-Schlaf zu wandern.
Mein Opa starb völlig unerwartet während der Zeitlupe eines Elfmeters. An welches Paradies man auch immer glaubt: Mein Opa war definitiv nicht auf seinen Tod vorbereitet gewesen.
»Die Religionen haben ja recht unterschiedliche Theorien, was nach dem Tod passiert!«, sagte Herr Schmaus, während wir gemeinsam Richtung Lehrerzimmer gingen. »War dein Großvater vielleicht Buddhist?«
»Nein, er war Klempner«, sagte ich. »Er hat an Rohrzangen und Weißbier geglaubt. Aber nicht an Gott, Allah, Buddha oder Jehova.«
»Du hast die ganzen indischen Gottheiten vergessen«, sagte Herr Schmaus schmunzelnd. »Außerdem gibt es noch die römischen und griechischen Götter. Nur weil sie abgeschafft wurden, heißt es nicht, dass sie nicht irgendwo weiterhin existieren.«
»Sie meinen so wie Take That?«
»Woher kennst du Take That? Das war lange vor deiner Zeit!«
Ich zog die Schultern nach oben. »Meine Mutter ist Take-That-Fan. Sie behauptet, heimlich würden die Jungs immer noch mit Robbie Williams proben.«
Mitleidig sah mein Ethiklehrer mich an. »Ich kann deine Mutter verstehen. Ich war auch lange davon überzeugt, dass John Lennon nur untergetaucht ist.«
»Wer ist John Lennon?«
Verstört sah Herr Schmaus mich an. Er fasste sich mit einer übertriebenen Grimasse an die Brust, als würde meine Frage einen Herzinfarkt bei ihm auslösen. Aber dann fiel ihm wohl ein, dass mein Opa genau daran gestorben war. Verlegen ließ er die Hand wieder sinken.
»Ist es eigentlich ethisch vertretbar, dass meine verwitwete Oma in eine WG ziehen will?«, fragte ich zum Abschluss unseres Gesprächs. Ich liebe Gespräche mit Herrn Schmaus. Man fühlt sich danach irgendwie reif und erwachsen.
»Eine Kommune?«, fragte mein Lehrer kritisch.
Ich wusste nicht, was eine Kommune war. »Keine Ahnung«, sagte ich deshalb. »Mein Papa behauptet, dass sich dort alle Bewohner die Betten teilen. Ich weiß aber nicht, ob er das sexuell oder platonisch meint.«
Mit Sex kannte ich mich lediglich theoretisch aus. Und das Wort platonisch kannte ich nur, weil wir in der letzten Ethikstunde darüber gesprochen hatten. Es bedeutet eine unkörperliche, rein geistige Liebe. Also etwas für alte Leute wie meine Eltern!
»Das klingt in der Tat sehr ungewöhnlich«, gab Herr Schmaus zu. »Ich kann mir eigentlich gar nicht vorstellen, dass deine Oma an so einen Ort ziehen will. Sprichst du etwa vom Wohnprojekt Fidibus? Es gibt ja reichlich Gerüchte darüber. Aber ich fürchte, in Wahrheit ist es ganz harmlos.«
»Harmlos, schön und gut«, sagte ich. »Aber meine Oma ist alt! Welcher normale alte Mensch zieht denn bitteschön in eine Wohngemeinschaft?«
Ich hörte mich exakt wie mein Vater an. Vermutlich würde ich jeden Augenblick an einer Avocado herumkauen und Sätze mit sonderbaren Fremdwörtern sagen.
»Wie alt ist deine Oma?«
Wir standen jetzt vor dem Lehrerzimmer. Manchmal fantasierte ich davon, wie es sein musste, dort hineinzugehen. Wir Schüler hatten striktes Schwellenverbot. Es gab Gerüchte, dass es im Lehrerzimmer eine Hängematte und einen Massagestuhl gab. Außerdem einen Kühlschrank mit Eiswürfelspender. Das Lehrerzimmer war sozusagen ein winziges Paradies an einem zutiefst höllischen Ort. Aber es war ein Paradies ohne Zugang für Schüler.
»Sie ist sechsundsechzig Jahre alt«, sagte ich seufzend. »Offenbar will sie in den wenigen Jahren, die ihr noch bleiben, etwas erleben.«
Herr Schmaus lächelte. »Deine Oma ist gerade mal sechs Jahre älter als ich«, sagte er. »Danke, dass du mich kurz nach Schulschluss an meine Endlichkeit erinnerst!«
Auf dem Heimweg traf ich Irina Palowski an der Bushaltestelle. Sagen wir so, was Irina Palowski betrifft, bin ich ziemlich befangen. Sie ist unglaublich schön, verdammt witzig und hat schon einen richtigen Busen. Nicht, dass es darauf ankommt. Als mein Papa mich vor einigen Jahren aufgeklärt hat, hat er gesagt: »Wir Säugetiere reagieren übertrieben stark auf sekundäre Geschlechtsmerkmale. Deswegen wird uns bei jeder Werbung ein Busen entgegengestreckt. Aber merke dir eines Sohn, Körbchengrößen sind bei Weitem nicht alles!«
Trotzdem ist es genial, dass Irina schon eine Körbchengröße hat.
»Hi Karl«, sagte sie und starrte weiter auf ihr Handy.
»Hi Irina«, sagte ich und starrte auf ihre Körbchengröße.
Sie sah hoch und ich wurde rot.
»Starrst du mir etwa auf den Busen?«, herrschte Irina mich an. Sie zog wütend die Augenbrauen zusammen.
»Nein!«, stotterte ich und zwang mich, ihr ins Gesicht zu schauen.
Irina wohnt im Haus gegenüber und geht mit Sven Klimphammer aus der 7b. Logistisch gesehen eine absolute Fehlentscheidung: Sven wohnt am anderen Ende der Stadt. Um ihn zu sehen, braucht Irina über dreißig Minuten.
Ich hingegen bin gleich nebenan. Wenn sie schnell laufen würde, wäre sie in einer Minute und zwanzig Sekunden bei mir. Aber offenbar zählen solche praktischen Überlegungen bei der Partnerwahl nicht. Es zählt wohl nur, dass Sven fast aussieht wie Justin Bieber.
Um ehrlich zu sein, hätte ich in tausend Jahren keine Chancen gegen ihn. Er ist einer, der super gut aussieht und dem alles gelingt. Jedes Mädchen würde sich in Sven Klimphammer verlieben.
»Was hältst du davon, dass ich Youtube-Star werde?«, fragte ich Irina. Der Bus kam und wir stiegen ein. Wir setzten uns nebeneinander. Irina und ich kennen uns, seit sie in den Wohnblock gegenüber gezogen ist. Uns verbindet also eine platonische Freundschaft.
Wir fuhren an einer Werbung für eine Fluglinie vorbei. Man sah einen Mann und eine Frau, die händchenhaltend über einen unglaublich schönen Strand hüpften und grinsten.
Ich stellte mir vor, wie Irina mich küsste. Ich hatte bislang schon 2,7 Mädchen geküsst. Aber das waren alles Freundinnen aus Kinderzeiten gewesen. Das zählte also nicht wirklich.
Es wäre etwas ganz anderes, jemanden zu küssen, den ich erst nach der Neuprogrammierung meines Gehirns kennengelernt hatte. Irina war zu Beginn der sechsten Klasse nebenan eingezogen. Also kurz nachdem meine Persönlichkeit heruntergefahren worden war. Wie würde es sein, als der neue Karl mit Irina zu knutschen?
»Youtuber kann ich mir sehr gut bei dir vorstellen«, sagte Irina. »Aber du musst dir einen anderen Namen suchen. Karl Schmitz klingt einfach nicht nach einem Star. Und du solltest frühzeitig an das Marketing denken.«
Ich fand auch, dass Karl Schmitz nicht nach jemandem klang, der gefährliche Stunts machte, coole Comics zeichnete oder sich in ein Bärengehege sperren ließ. Es klang eher nach jemandem, der vor einer laufenden Kamera kochte.
Kein Mensch würde ein T-Shirt anziehen, auf dem Karl Schmitz – forever! stand oder sich den Namen Karl auf den Oberarm tätowieren lassen.
Ich verstand nicht, warum meine Eltern mir nicht irgendeinen ausgefallenen Namen gegeben hatten. Es wurden doch ständig Eltern verklagt, weil sie ihre Kinder Darth Vader, Angry Bird oder Bilbo Beutlin nannten! Warum nur waren meine Eltern so angepasst? Sie hätten bei meiner Namensgebung ruhig mal an meine Zukunft denken können!
»Du musst irgendwas mit K heißen«, überlegte Irina. »Wegen der Alliteration!«
Wir hatten im Deutschunterricht über Alliterationen gesprochen. Es bedeutet, dass Wörter die gleichen Anfangsbuchstaben haben. Alliterationen klingen irgendwie gut, und Leute können sich die Begriffe dann viel besser merken.
»Kardashian ...«, überlegte ich laut. »Ich könnte mich Karl Kardashian nennen!«
Begeistert sah Irina mich an. »Karl Kardashian? Das klingt als wärst du mit den Kardashians verwandt! Wir könnten dich als einen entfernten Cousin aus Deutschland ausgeben!«
Der Grundstein für meine Internet-Karriere war gelegt. Jetzt brauchte ich nur noch ein gutes Thema.
»Also, ihr beide müsst jetzt sehr stark sein.«
Meine Eltern sahen verwirrt von ihren Büchern auf. Es passierte nicht so oft, dass ich im Wohnzimmer offizielle Ansagen machte.
»Seid ihr bereit?«, fragte ich. »Meine Ankündigung könnte euch ein wenig schockieren.«