Immer wenn es regnet - Jessica Braun - E-Book

Immer wenn es regnet E-Book

Jessica Braun

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Beschreibung

Anna ist tot. Esthers Aufgabe besteht darin, herauszufinden was geschehen ist. Und Sunny wollte heute eigentlich nur eine Runde joggen gehen, wird aber unwillkürlich zu einer der Hauptpersonen in der Geschichte um Annas Leben, ihren Tod und dessen Aufklärung. Wie ist es möglich, dass jemand, der durch einen Sturz aus einem Fenster ums Leben kam, tot auf dem eigenen Bett liegt? Was ist der Unterschied zwischen stoßen, werfen und schmeißen? Und wie ist es möglich, dass Sunny die unfreundliche, sture Polizistin Esther, die den Tod ihrer Jugendfreundin Anna untersucht, am Ende auch noch sympathisch findet? Auch elf Semester Psychologie gekrönt mit einem Diplom helfen Sunny nicht immer weiter, wenn es darum geht, die Welt zu verstehen. Und auch nach Jahren im Polizeidienst muss Esther sich schwer über sich selbst wundern, als sie sich plötzlich dabei erwischt, wie sie die bockige Psychologin als ebenbürtige Partnerin betrachtet.

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Seitenzahl: 291

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Das Buch

Kriminaloberkommissarin Esther Marquart wird mit den Ermittlungen in einem rätselhaften Todesfall betraut. Schnell wird sie auf die Psychologin Sandra Decker aufmerksam, eine Jugendfreundin der Toten.

Sandra, die eigentlich genug Probleme mit sich, mit der Welt und mit sich in der Welt hat, als dass sie sonderlich wild darauf wäre, sich mit Annas Tod auseinanderzusetzen, ahnt ihrerseits von Anfang an, dass dessen Aufklärung von großer Bedeutung für ihren eigenen Seelenfrieden ist.

Gemeinsam begeben sich die beiden Frauen daher auf die Suche nach der Wahrheit.

Die Autorin

Jessica Braun, Jahrgang 1978, lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe von Landau an der südlichen Weinstraße. Nach dem Abitur begann sie ihr Studium der Psychologie und absolvierte dort ihren Abschluss als Diplompsychologin. Ihre fachlichen Kenntnisse aus ihrem Berufsleben als Psychotherapeutin finden sich in ihrem Debütroman wieder.

JESSICA BRAUN

IMMER WENNES REGNET

BADEN KRIMI

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen und Sachverhalten sind rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Impressum

© 2020 Lauinger Verlag, Karlsruhe, 2. überarbeitete Auflage

Originalausgabe 2019 Lauinger | Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe

Projektmanagement, Umschlaggestaltung: Sonia Lauinger

Projektassistenz: Claudia Düppe, Miriam Bengert

Satz & Layout: Sonia Lauinger, Stephanie Achstetter

Lektorat: Eva Hogrefe, Miriam Bengert, Mara Wolf

Korrektorat: Hannah Kesenheimer, Claudia Düppe, Charlotte Alexander

Umschlagfoto: Rain1234522 audioboom.com,

Regenschirm Innenteil: Font: Mister K Dingbats OT

Druck: ARKA, Polen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

ISBN: 978-3-7650-9138-4

Dieser Titel erscheint auch als E-Book:

ISBN: 978-3-7650-9139-1

http://www.lauinger-verlag.de

http://www.facebook.com/DerKleineBuchVerlag

https://twitter.com/DKBVerlag

https://www.instagram.com/lauingerverlag/

„Öch weuß nöcht, was soll ös bödeutön,dass öch so traurög bön …“Seele Fant nach Heinrich Heine

Inhalt

Das Buch

Die Autorin

Karlsruhe, 10. September 2013

Sonntag, 08. Mai 2016, 4:15 Uhr Wohnung von Anna Henkes Karlsruhe, Hirschstraße

Sonntag, 08. Mai 2016, 9:10 Uhr Karlsruhe, Hirschstraße

Sonntag, 08. Mai 2016, 11:50 Uhr Waldstück in der Nähe von Landau/Pfalz

Sonntag, 08. Mai 2016, 17:00 Uhr Kripo Karlsruhe, Hertzstraße

Karlsruhe, 16. September 2013

Montag, 09. Mai 2016, 8:00 Uhr Kripo Karlsruhe, Hertzstraße

Karlsruhe, 27. Dezember 2013

Montag, 09. Mai 2016, 9:00 Uhr Dienstwagen von Esther Marquart, A 65, Fahrtrichtung Karlsruhe

Montag, 09. Mai 2016, 10:00 Uhr Untersuchungsgefängnis Karlsruhe, Riefstahlstraße

Montag, 09. Mai 2016, 11:30 Uhr Kripo Karlsruhe, Hertzstraße

Karlsruhe, 01. April 2014

Montag, 09. Mai 2016, 11:45 Uhr Kripo Karlsruhe, Hertzstraße

Karlsruhe, 14. Juli 2014

Montag, 09. Mai 2016, 12:00 Uhr Wohnhaus der Familie Decker Offenbach, Schillerstraße

Montag, 09. Mai 2016, 21:00 Uhr Wohnhaus der Familie Decker Offenbach, Schillerstraße

Karlsruhe, 23. November 2014

Montag, 09. Mai 2016, kurz vor 0:00 Uhr Wohnhaus der Familie Decker Offenbach, Schillerstraße

Dienstag, 10. Mai 2016, 8:00 Uhr Schreinerei Lang Karlsruhe/Neureut, Gewerbering

Dienstag, 10. Mai 2016, 10:00 Uhr Wohnhaus der Familie Liebig Karlsruhe/Palmbach, Ostpreußenstraße

Dienstag, 10. Mai 2016, 13:00 Uhr Wohnung von Jan Liebig Karlsruhe, Werderstraße

Karlsruhe, den 05. Juni 2015

Dienstag, 10. Mai 2016, 15:00 Uhr Bistro Barock Karlsruhe, Werderplatz

Dienstag, 10. Mai 2016, 17:00 Uhr Kripo Karlsruhe Hertzstraße

Dienstag, 10. Mai 2016, 20:00 Uhr Wohnung von Susanne und Martin Lomberg Karlsruhe, Gerwigstraße

Dienstag, 10. Mai 2016, 22:30 Uhr Karlsruhe, Schützenstraße

Karlsruhe, den 07. Juni 2015

Dienstag, 10. Mai 2016, 23:00 Uhr Kneipe Beer Corner Karlsruhe, Wilhelmstraße

Mittwoch, 11. Mai 2016, 8:30 Uhr Kripo Karlsruhe Hertzstraße

Karlsruhe, den 21. November 2015

Mittwoch, 11. Mai 2016, 10;00 Uhr Wohnung von Anna Henkes Karlsruhe, Hirschstraße

Mittwoch, 11. Mai 2016, 17:30 Uhr Karlsruhe, Hirschstraße

Mittwoch, 11. Mai 2016, 21:00 Uhr Untersuchungsgefängnis Karlsruhe, Riefstahlstraße

Karlsruhe, den 24. März 2016

Mittwoch, 11. Mai 2016, 22:00 Uhr Bar Giuseppe Karlsruhe, Schützenstraße

Karlsruhe, den 07. April 2016

Donnerstag, 11. Mai 2016, 8:00 Uhr Untersuchungsgefängnis Karlsruhe, Riefstahlstraße

Karlsruhe, den 07. Mai 2016

Zehn Tage später Hauptfriedhof Karlsruhe, Haid-und-Neu-Straße

Danksagung

„Ich lernte Anna in der fünften Klasse kennen. Wir besuchten das gleiche Gymnasium. Ich habe nicht allzu viele konkrete Erinnerungen aus dieser Zeit an sie. In meinem Kopf spuken nur ein paar verschwommene Episoden herum. Ich war damals schon total versessen darauf, erwachsen zu werden. Anna hingegen schien damit zufrieden zu sein, noch eine Weile Kind zu bleiben. Wir haben uns, vielleicht auch darum, nicht sofort angefreundet.“

Karlsruhe, 10. September 2013

Sunny!

Obwohl es mir leid tut, tut es mir nicht im Geringsten leid.

Es tut mir nicht im Geringsten leid, was ich zu Dir gesagt habe, denn ich hatte recht und habe es noch.

Du hast keine Ahnung, wie es mir ging und geht.

Natürlich waren Martin und ich glücklich miteinander!

Natürlich tut er mir gut!

Er hat mir immer gut getan!

Und darum ist er auch zu mir zurückgekehrt, reumütig, weil ich die bin, die er immer wollte und auch heute noch will.

Aber jetzt sitze ich hier ohne Dich. Und obwohl ich bis an mein Lebensende wütend auf Dich sein werde, spüre ich die Einsamkeit wie ein großes, klaffendes Loch an der Stelle, die zuvor Dein Platz in meinem Herzen war.

A.

Sonntag, 08. Mai 2016, 4:15 UhrWohnung von Anna HenkesKarlsruhe, Hirschstraße

Es ging Esther um das erste Gefühl, das ein Ort in ihr auslöste — darum, was der Ort mit ihr machte, wohin er sie mitnahm. Sie wusste, dass sich das total seltsam anhörte, aber es war ja eben so: Sie studierte den Negativabdruck einer Person und zog daraus ihre Schlüsse. Auf ihrer persönlichen Ordentlichkeitsskala erhielten die Räume eine mittlere Punktzahl: nicht wirklich ordentlich, aber auch nicht wirklich unordentlich. Die Besitzerin hatte es geschafft, mit offensichtlich wenigen Mitteln eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen.

Irgendwie, fand zumindest Esther.

So eine Mischung aus abgedreht-stylish und liebenswert-schrullig mit einem Quäntchen Glitzertrash. Auf jeden Fall interessant.

Die Einrichtung bildete eine wilde Mischung aus schwedischem Möbelhaus, Trödel, Sperrmüll und Einfallsreichtum. Die offenen Regale im Wohnzimmer waren voller Nippes. Esther erkannte unter anderem eine faustgroße bunte Murano-Glaskugel, eine kleine lasierte Tonschale voller Murmeln und eine Schneekugel, in der ein Foto zweier lachender junger Mädchen steckte. Als Tisch diente ein altes auf die Seite gedrehtes Aquarium, auf dem sich neben einer roten Friedhofskerze, einem überquellenden Aschenbecher und einer halbvollen Schachtel Zigaretten auch ein Tischfeuerzeug in Form einer auf einem Felsen sitzenden Meerjungfrau befand. Esther musste unwillkürlich grinsen. Sie warf einen kurzen Blick in die angrenzende Küche, einen gemütlichen Raum von vielleicht fünfzehn Quadratmetern Größe. Obwohl auch diese nicht aussah, als würde ihre Besitzerin übermäßig großen Wert auf Ordnung legen, bemerkte die Ermittlerin auf den ersten Blick, dass sich hier etwas Ungewöhnliches zugetragen haben musste. Zwei der drei Stühle waren umgekippt und lagen inmitten einer Wasserlache voller Scherben und Zigarettenkippen auf dem steinernen Fußboden. Eine leere Weinflasche war zwar unversehrt geblieben, befand sich aber ebenfalls zu ihren Füßen in einer teilweise bereits angetrockneten roten Pfütze. Als sie glaubte, genug gesehen zu haben, begab sie sich langsam in Richtung des Schlafzimmers, in dem sich, wie sie bereits wusste, die Tote befand. Der Raum war der einzige unbeleuchtete in der Wohnung und lediglich der spärliche Schein einer Straßenlaterne, der durch ein kleines Fenster fiel, ermöglichte es Esther, sich hier zu orientieren. Gerade dieses Detail aber machte einen Großteil der Atmosphäre des Tatortes aus. Auf der Schwelle atmete Esther noch einmal tief durch, um sich zu sammeln. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, machte sie einen beherzten Schritt vorwärts, hielt aber sofort wieder inne. Sie hatte von ihren Kollegen von der Streife erfahren, dass die Tote auf dem Bett lag. Die beiden hatten die Vermutung geäußert, dass die Leiche von jemand anderem so arrangiert worden war, doch hatten sie dies nicht begründet.

Jetzt wusste Esther, was sie zu dieser Einschätzung gebracht hatte: Anna Henkes war regelrecht aufgebahrt worden. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Kopf ruhte auf einem Kissen, über das sich ihr langes schwarzes Haar in einem perfekten Fächer ergoss. Die Hände lagen auf ihrem Bauch, und jemand hatte versucht diese zu falten, was ihm aber nur leidlich gelungen war. Sie trug ein leichtes fliederfarbenes Sommerkleid, und ihre nackten Füße steckten in offenen hochhackigen Schuhen - beides nicht unbedingt die ideale Kleidung für diesen momentan noch recht kühlen Mai. Auf ihrem Hals lagen mehrere bunte Ketten aus Glasperlen.

Vielleicht war es zu schwierig, ihr die post mortem anzulegen.

Sowohl auf dem Bett als auch auf dem Fußboden waren ungefähr ein dutzend Rosen verstreut worden.

Schneewittchen, schoss es Esther durch den Kopf.

Sie trat näher an das Bett heran und beugte sich über das Gesicht der Toten.

„Ach du Scheiße!“, entfuhr es ihr unwillkürlich. Hastig wich sie zurück.

Warum hat mir das keiner gesagt?

„Matthias“, rief sie mit fester Stimme nach dem einen ihrer beiden uniformierten Kollegen, „bitte geh so schnell wie möglich runter auf die Straße und schau, ob du da unten eine größere Blutlache findest! Ich glaube nicht, dass die Frau noch einen einzigen heilen Knochen im Leib hat. Ihr Körper ist völlig verschoben, und ihr Gesicht sieht aus, als hätte sie einen ICE geknutscht.“

Sonntag, 08. Mai 2016, 9:10 UhrKarlsruhe, Hirschstraße

Erst als sie registrierte, dass die Mundwinkel ihres Chefs belustigt auf und ab hüpften, erwachte Esther Marquart aus ihrer Starre. Schnell schnappte sie nach dem Schlüssel, den Manfred Gartner ihr entgegenstreckte und stieg hinter das Steuer des Dienstwagens. Er selbst nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

„Hör zu Esther, ich bin bisher wirklich zufrieden mit deiner Arbeit. Du hast dich bei der ersten Teambesprechung heute Morgen gut geschlagen. Das ist der Grund, warum ich deinem Wunsch nachgebe, und du diese Aufgabe übernehmen darfst. Das ist jetzt also deine Spur und somit auch deine Befragung. Ich bin nur als stummer Zuhörer dabei, weil ich genau wie du glaube, dass diese Frau eine wichtige Zeugin sein könnte, und ich mir das nicht entgehen lassen will. Wenn es gut läuft, lasse ich dich danach allein weitermachen.“

Esther verstand und nickte stumm.

Jetzt also bloß nicht verkacken.

Sie bewunderte Manfred wirklich. Er war der beste Ermittler, der ihr jemals begegnet war, und sie und ihre Kollegen knobelten regelmäßig darum, wer seinen Verhören beiwohnen durfte. Manfred war Esthers direkter Vorgesetzter, und obwohl er offiziell nur der Leiter des Unterabschnittes Ermittlungen der Karlsruher Mordkommission war, galt dem Kriminalhauptkommissar der Respekt der gesamten Abteilung. Es war weithin bekannt, dass er das Amt des Kommissionsleiters nicht erst einmal abgelehnt hatte. So kam es, dass er regelmäßig die Rolle desjenigen übernahm, bei dem sämtliche Informationen zu einem Fall zusammenliefen und der die Ergebnisse der Arbeit der Kollegen der anderen Unterabschnitte sammelte und koordinierte, wobei er es sich jedoch nie nehmen ließ, selbst aktiv an der Ermittlungsarbeit teilzunehmen. Er war eine Größe, an der man in Karlsruhe nicht vorbeikam. Trotzdem fand Esther ihn bislang zu vorsichtig, was ihre Person anging. Zwar predigte Manfred ihnen andauernd, dass man im Voraus nie wissen konnte, welche Spur sich als entscheidend erweisen würde, doch sie hatte den Verdacht, dass er das nach über 35 Jahren im Polizeidienst eben doch konnte und sie ganz bewusst immer wieder in der Peripherie eines Falles abstellte.

Heute aber sah es endlich so aus, als würde sich das Blatt für sie wenden.

Es waren gerade einmal fünf Stunden vergangen, seit sie mit der Mitteilung, in der Südweststadt sei eine weibliche Leiche gefunden worden, und es bestehe der dringende Verdacht auf Fremdverschulden, zu der Wohnung von Anna Henkes gerufen worden war. Auf der kurzen Fahrt dorthin hatte sie versucht, Ruhe zu bewahren, was ihr aber nur schwer gelungen war. Natürlich wurde sie nicht das erste Mal zu einem Leichenfund gerufen, und natürlich hatte sie schon etliche Tatorte inspiziert. Es war auch schon vorgekommen, dass sie als diensthabende Beamtin der Mordkommission als erste vor Ort gewesen war. Allerdings war das schon verhältnismäßig lange her. Und da Esther es in der letzten Zeit das ein oder andere Mal geschafft hatte, richtiggehend zu glänzen – Manfred hatte sie mehrmals vor versammelter Mannschaft gelobt, was schon einiges hieß – machte sie sich nun Hoffnungen, dass sie, vorausgesetzt sie würde heute einen guten Job machen, bei dieser Ermittlung eine zentralere Rolle würde einnehmen können. Die Frage, ob sie womöglich geisteskrank war, weil sie sich darüber freute, dass hier ein ungeklärter Todesfall vorlag, dass eine junge Frau zu Tode gekommen war, schob sie dabei gekonnt beiseite. Sie freute sich ja schließlich nicht darüber, dass Anna Henkes gestorben war, sondern darüber, dass sie gerade Bereitschaftsdienst gehabt hatte, als das passiert war. Sie war eben gerne Polizistin.

Sonntag, 08. Mai 2016, 11:50 UhrWaldstück in der Nähe von Landau/Pfalz

Sunny war mittlerweile recht gut trainiert und lief die 10 km in deutlich weniger als einer Stunde. Darum – und weil sie die Übelkeit eigentlich schon zuhause in sich hatte aufsteigen spüren – erhöhte sie ihr Tempo weiter. Sie lief gegen die Übelkeit und den Brechreiz an, die sie seit beinahe anderthalb Stunden quälten.

Ich werde nicht auf meine Laufrunde kotzen,

dachte sie verbissen. Doch in ihrem Kopf dröhnte es.

Po-ly-trau-ma, Po-ly-trau-ma, Po-ly-trau-ma.

Sie kannte das schon. Ab einem gewissen Grad der Anstrengung schaffte sie es nicht mehr, ihre Gedanken willentlich zu steuern. Ihr Gehirn nahm sie dann mit auf eine Reise durch ihre eigenen Assoziationen. Trotzdem startete sie einen Versuch.

Hör auf, hör auf, hör auf. Na bitte.

Es funktionierte. Aber Sunny wusste, dass sie all ihre Konzentration darauf würde verwenden müssen, dass ihre Gedanken nicht wieder dahin abglitten, wo es dunkel und fürchterlich war. Sie durfte sich jetzt noch keinen Triumph gönnen. Das schlechte Gefühl ließ zwar langsam nach, war aber noch immer da und lauerte aufs Neue hinter jedem Stein und jeder Unebenheit. Ihr brauner Pferdeschwanz wippte im Takt ihrer Schritte auf und ab, sodass ihre Haarspitzen im immer gleichen Rhythmus auf ihren verschwitzten Nacken tippten, was sie normalerweise ganz wahnsinnig machte, ihr heute aber, genau wie ihre Atmung und ihre Schritte, half, ihre Gedanken unter Kontrolle zu halten. Obwohl sie wusste, dass der direkte Heimweg von hier aus noch über zwei Kilometer betrug, bog sie nach links ab und verlängerte ihre gewohnte Runde so um dieselbe Strecke. Sie lief und lief und lief vor den Bildern davon, die sie verfolgten, um sich in ihr Gehirn einzubrennen, seit die beiden Polizisten am Morgen bei ihr gewesen waren.

Kurz nach 9 Uhr hatte das Telefon geklingelt, und eine Frau, die sich ihr als Kriminaloberkommissarin Esther Marquart vorstellte, hatte ihr erklärt, dass sie sich zusammen mit einem Kollegen auf dem Weg zu ihr befände und einige Fragen an sie habe. Soweit Sunny sich erinnern konnte, hatte die Frau sie nicht gefragt, ob sie Zeit habe oder zu einem Gespräch bereit sei. Sie hatte sie lediglich auf polternd-autoritäre Art darüber informiert, dass ein solches in weniger als einer halben Stunde stattfinden würde, ohne dabei Anstalten zu machen, ihr den Grund hierfür zu nennen. Wenn sie ihre kleine Tochter Felicitas, die in genau diesem Moment bereits im Auto ihrer Mutter saß, nicht noch durch das Fenster hätte sehen können, wäre sie wahrscheinlich auf der Stelle vor Schreck und Sorge um ihr Kind tot umgefallen. Aber was kümmerte das Kriminaloberkommissarin Esther Marquart, deren Beamtengehalt jeden Monat pünktlich überwiesen wurde? Sunny hatte den Telefonapparat beiseite gelegt und verächtlich das Gesicht verzogen.

Es braucht die Bullen nicht zu wundern, dass keiner sie mag.

Weil ihr ja aber nun nichts anderes übrig geblieben war, als ihren geplanten Waldlauf zu verschieben, hatte sie sich eine Tasse Kaffee genommen und sich an den Küchentisch gesetzt, um zu warten. Sie wäre in diesem Moment wirklich gerne gelaufen, denn ihr Schädel hatte noch vom vielen Rotwein gebrummt.

Unweigerlich waren ihre Gedanken zu Thomas gewandert, der ihr gestern Abend mal wieder über den Weg gelaufen war. Seit sie vor etwas über einem halben Jahr mit Fee zurück zu ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Bianca gezogen war, baggerte er sie ständig an. Immer vorausgesetzt natürlich, seine Alte war nicht in der Nähe. Vor Jahren hatte er sie wegen der Tussi sitzen lassen und jetzt dachte er wohl, sie hätte die ganze Zeit nur darauf gewartet, als Zweitfrau wieder in seine Arme sinken zu dürfen. Gut, sie war tatsächlich wieder mit ihm ins Bett gegangen, aber nur zweimal und nur aufgrund einer gefährlichen Mischung aus Alkohol und Rachlust. Zwischenzeitlich bereute sie das wirklich, denn das Gefühl, ihn jederzeit haben zu können, das sie anfangs genossen hatte, hatte sich heimlich und schleichend in das genaue Gegenteil verkehrt: in die Gewissheit, dass er sie hatte haben können.

Gestern auf der Geburtstagsfeier hatte er sie mit verstohlenem Blick in Richtung der Tür, durch die seine Tussi gerade entschwebt war, gefragt ob sie mit dem Auto da sei und dabei dreckig gegrinst. Was er damit gemeint hatte, hatte Sunny nur zu genau gewusst. Sie war innerhalb einer Sekunde rasend wütend geworden und hatte ihm zugezischt, er solle verschwinden. Er aber hatte sich mit diesem verständnislos-beleidigten Blick getrollt, den sie noch von früher kannte, und der ihr, zumindest im Nachhinein, deutlich machte, dass ihre Wut auf ihn nach so langer Zeit vielleicht doch etwas unverhältnismäßig war. „Verdammte Ausbildung“, murmelte Sunny vor sich hin und nahm einen weiteren großen Schluck Kaffee, den sie kurz im Mund behielt, um seinen Geschmack voll auszukosten. Sie hatte sich im Zuge der Psychotherapeutenausbildung, die sie nach ihrem Psychologiestudium absolviert hatte, stundenlang eingehend mit sich selbst beschäftigen müssen:

Sunny als Kind und als Heranwachsende, Sunnys zu dicker Hintern, Sunny von oben, von unten und von der Seite, Sunny mit und ohne Kirschen und blablabla.

Sie hatte ihre Ausbildung nicht gemocht und letztlich nur aufgrund äußerer Zwänge absolviert. Noch immer konnte sie die beschwörende Stimme ihrer Mutter hören: „Kind, ohne Approbation, um Himmels Willen, Kind da bist du doch gar nicht konkurrenzfähig!“

Die Langeweile, die sie in jedem einzelnen der Seminare, die sie hatte besuchen müssen, verspürt hatte, hatte ihr recht gegeben. Das Ende vom Lied war nun aber jedenfalls, dass sie sich selbst viel besser kannte, als sie es jemals gewollt hatte. Sie konnte es meist recht schnell und zuverlässig erkennen, wenn ihre eigenen Reaktionen mehr mit ihr selbst als mit der aktuellen Situation zu tun hatten. Aber die Freiheitsgrade, die ihr dieses Wissen hätte verschaffen sollen, blieben reine Theorie, denn es war nun einmal nicht Sunnys größtes Talent nachzudenken, bevor sie handelte. Und so musste sie sich meist damit abfinden, dass sie den gleichen Mist machte wie alle anderen und hinterher noch nicht einmal die Verantwortung auf die äußeren Umstände schieben konnte, sondern sie zähneknirschend selbst übernehmen musste.

Wenigstens kann ich mich verstehen,

versuchte sie sich manchmal zu trösten. Was Thomas betraf, war die Lektion relativ einfach. Sunny wusste genau, warum sie ihn hasste. Doch noch ehe es ihren Gedanken möglich war, zum tausendsten Mal in Richtung dieses Themas zu wandern, was ihr den Morgen mit Sicherheit endgültig vermiest hätte, nahm sie schnell einen weiteren Schluck Kaffee und zwang sich, an etwas anderes zu denken.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass Frau Kriminaloberkommissarin Esther Marquart bereits zehn Minuten überfällig war, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Ihre Laune war dank Thomas ohnehin schon im Keller.

Was also soll jetzt noch kommen, das es noch schlimmer machen könnte?

Doch noch im selben Moment klingelte die Antwort auf diese Frage an der Tür mit dem selbst gemachten, hölzernen „Herzlich willkommen bei Familie Decker“- Schild, das von einem hart erarbeiteten Idyll zeugte, welches eben jetzt wieder einmal auf eine ernste Probe gestellt werden sollte.

Sunny bat die Marquart und ihren Kollegen in die Küche, wo sie sich an den massiven Tisch setzten, an dem sich ein Großteil ihres Familienlebens abspielte. Sie schenkte Kaffee ein und ließ sich den Beamten gegenüber nieder, die sie ebenso forschend musterten, wie sie die beiden. In Situationen wie dieser, wenn sie weder wusste, wie ihr Gegenüber zu ihr stand, noch was auf sie zukam, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, heimlich psychopathologische Befunde ihrer Gesprächspartner zu erstellen, wie sie es zu Beginn jeder Therapie routinemäßig bei ihren Patienten tat. Vordergründig machte ihr das Spaß und verlieh ihr eine gewisse Befriedigung und Macht. Aber eigentlich, so wusste sie, half es ihr vor allem dabei, nicht vor lauter Verunsicherung schreiend davonzulaufen.

Frau mit gepflegtem, jugendlich-sportlichem Äußeren,

begann es in Sunnys Kopf zu arbeiten.

Freundlich und kooperativ, dabei aber etwas burschikos und dominant. Spricht laut. Wach und orientiert. Kein Anhalt auf Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Antrieb und Psychomotorik weitestgehend unauffällig, leichte Tendenz zur Ungeduld, leichte Agitiertheit. Affekt weitestgehend unauffällig, stellenweise etwas gereizt. Punktuell umständliches Denken und Vorbeireden. Kein Anhalt auf Wahn, Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen, jedoch thematische Einengung auf das Thema Verbrechen. Kein Anhalt auf Eigen- oder Fremdgefährdung.

Sunny musste zugeben, dass sie streng sein musste, um überhaupt etwas zu finden, das sie in den Befund der Marquart packen konnte. Die Frau machte leider einen geistig völlig gesunden Eindruck. Irgendwie war ihr die Polizistin sogar fast sympathisch. Sie war in ihrem Alter und hatte eine schlanke Figur. Ihr langes dunkles Haar fiel glatt über die Schultern und den Rücken. Sie trug wenig, gezielt angebrachtes Make-Up. Tatsächlich fand Sunny, dass die Marquart mit ihrem hübschen runden Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit mit der Gitarristin der Muppet-Show hatte. Dabei war sie etwas größer als Sunny selbst, die ihrerseits immerhin 1,73 m maß. Sie trug eine zerknitterte Jeanshose, wie man sie auch in Sunnys Schrank hätte finden können, und eine speckige schwarze Lederjacke, die ihre besten Tage vermutlich irgendwann in den frühen Achtzigern gefeiert hatte. Sie hatte eine für eine Frau ungewöhnlich tiefe, rauchige Stimme. Außerdem erinnerten ihre kantigen Bewegungen sie angenehm an ihre Schwester Bianca. Sunny glaubte deutlich zu erkennen, wie sehr die andere um ein sicheres, Vertrauen erzeugendes Auftreten bemüht war und vermutete, dass hinter diesem Verhalten eine gehörige Portion Unsicherheit steckte.

Warum eigentlich?,

fragte sie sich, doch dann kam ihr der Gedanke, dass der Kollege wahrscheinlich kein echter Kollege, sondern ein Vorgesetzter war. Diese Vermutung lag nahe, denn obwohl Sunny sich nicht mehr an den Dienstgrad erinnern konnte, den er ihr genannt hatte, war er doch mindestens zwanzig Jahre älter als sie und die Marquart. Außerdem strahlte er im Gegensatz zu dieser echte Sicherheit und Ruhe aus. Die Marquart wollte wahrscheinlich nicht nur vor ihr, sondern vor allem vor ihm eine gute Figur machen. Gerade als Sunny ansetzen wollte, um seinen Befund zu erheben, ergriff die Marquart das Wort.

„Okay, Ihr Name ist also Sandra Decker, wohnhaft hier in der Schillerstraße 14 in Offenbach. Ihr Geburtsdatum ist der 20.07.1981. Sie sind 34 Jahre alt, und Sie sind verheiratet mit Herrn Sven Kugler.“ Die Polizistin sah sie forschend an.

„Mhm“, Sunny presste die Lippen aufeinander, „nett, dass Sie mich an einem Sonntagmorgen daran erinnern.“

Im gleichen Moment bereute sie ihre Bemerkung.

Was, wenn Sven etwas zugestoßen ist? Was, wenn die Polizisten wegen ihm hier sind? Sven ist zwar unbestritten ein Arschloch, aber das müssen die ja nicht unbedingt von mir erfahren.

Zu ihrer Erleichterung sah Sunny dann aber, dass die Polizistin breit grinste.

„Sie haben eine gemeinsame Tochter: Felicitas, zwei Jahre alt. Von Beruf sind Sie Psychotherapeutin. Stimmt das soweit?“

Während Sunny nickte, fröstelte es sie leicht. Es war unglaublich, was diese Polizisten scheinbar mühelos über sie in Erfahrung hatten bringen können. Gut, nichts von alledem war geheim, und als sie darüber nachdachte, wurde ihr schnell klar, dass fast all diese Informationen in irgendwelchen offiziellen Datenbanken hinterlegt waren.

Aber trotzdem.

Sunny fand das gruselig. Sie war froh, als Esther Marquart sie anlächelte.

„Keine Sorge, Frau Decker, wir sind die Guten.“

Sunny musste unwillkürlich ebenfalls lächeln.

„Okay. Nachdem die Formalitäten geklärt sind, kommen wir nun zu dem eigentlichen Grund unseres Besuches.“

Die Polizistin hielt kurz inne und sah Sunny ernst an.

„Es geht um eine junge Frau namens Anna Henkes, die Ihnen nach unserem Wissen gut bekannt ist?“

Die Frage musste, ebenso wie alle zuvor, rhetorischer Natur gewesen sein, denn allein dass Sunnys Mimik bei der Erwähnung von Annas Namen sofort einfror, genügte offenbar als Antwort. Esther Marquart berichtete ihr in groben Zügen, was vorgefallen war. Anna war am frühen Morgen tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Die Situation vor Ort und die Leichenschau hatten aber deutliche Hinweise darauf ergeben, dass es sich bei der Todesursache um ein Polytrauma handelte, also eine Kombination schwerster, gleichzeitig entstandener Verletzungen, verursacht durch einen Sturz aus großer Höhe, vermutlich aus einem Fenster ihrer eigenen Wohnung im dritten Obergeschoss eines Karlsruher Altbaus. Diese widersprüchliche Sachlage warf natürlich viele Fragen auf.

Sunny war es, als würden die Worte der Polizistin sie ohne Vorwarnung unsanft irgendwohin katapultiert, wo sie ganz allein inmitten eines dichten Nebels zurückblieb. Sie fühlte sich augenblicklich völlig verwirrt und hilflos. Verwirrung und Hilflosigkeit umhüllten sie. Sie war Verwirrung und Hilflosigkeit. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie sogar, sich selbst inmitten dieses Nebels umherirren zu sehen, zu sehen wie sie sich hektisch immer wieder nach rechts und links drehte und doch nichts erkennen konnte, als eben diesen weißen undurchdringlichen Nebel. Sie meinte spüren zu können, wie die Räder, die ihren Verstand hätten antreiben sollen, immer wieder ins Leere griffen oder an etwas abglitten oder wie von unsichtbaren Fäden gehalten wurden oder was auch immer. Es war eigentlich vollkommen egal. Ihr Verstand arbeitete zu langsam, als dass sie vernünftige Fragen hätte stellen können, die ihr geholfen hätten, die Schwaden, die ihr die Sicht nahmen, zu vertreiben. Immer noch keines klaren Gedankens fähig, gelang es Sunny endlich, abwehrend die Hände zu heben. Diese Geste wiederum schien einigen Worten den Weg zu bahnen, die wie von selbst aus ihrem Mund kamen.

„Was? Halt. Langsam. Ich … langsam, bitte“, stotterte sie.

Sie kam nun Wort für Wort wieder zu sich, als könnte sie sich entlang eines Seils aus Silben in die Realität zurück hangeln. Esther Marquart war in der Zwischenzeit hektisch aufgestanden und hatte ein Glas Wasser vor sie auf den Tisch gestellt, während sie irgendetwas von „Schock“ und „gut tun“ murmelte. Sunny, die mittlerweile nur noch von einigen wenigen Nebelschwaden umgeben war, sich aber noch unangenehm benommen fühlte, wurde jetzt mit einem Schlag hellwach.

„Ich hab keinen Schock, aber wenn ich einen hätte, dann wäre das mit Sicherheit Ihre Schuld. Wissen Sie überhaupt, was das ist, ein Schock?“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe.

„Aber ich hab keinen Schock. Ich will einfach nur, dass Sie mir das Ganze in einem normalen Tempo erzählen und mich nicht so überrollen. Und wenn ich dann einen Moment brauche, dann wird mir gleich ein Schock angehängt. Am besten, ich nehme noch irgendwas zur Beruhigung, damit ich nicht merke, wie scheiße das hier alles ist.“

Sie klang ungewohnt schrill, und Sunny erschrak ein wenig über sich selbst. Normalerweise hatte sie sich besser im Griff. Es war nicht ihre Art, ausfallend zu werden und eigentlich war sie darauf bisher auch stolz gewesen.

„‘Tschuldigung“, murmelte sie daher nun etwas kleinlaut. „Ich bin auf einmal echt müde. Was ist also passiert? Anna ist tot. Und was … warum … ich meine, wie kann ich Ihnen denn jetzt helfen? Wir hatten nämlich wirklich schon lange keinen Kontakt mehr. Ich habe Anna kurz vor meiner Hochzeit das letzte Mal gesehen, und das war quasi in einem anderen Leben.“

Je mehr sie sprach, desto mehr fand Sunny zu ihrer gewohnten Form zurück. Die Müdigkeit verflogen langsam.

„Frau Decker, es tut uns sehr leid, dass die Nachricht von Frau Henkes‘ Tod Sie so hart trifft. Wenn Sie möchten, können wir dieses Gespräch gerne zu einem anderen Zeitpunkt …“, die Polizistin hielt mitten im Satz inne, als sie sah, dass Sunny heftig den Kopf schüttelte.

„Nein, nein. Ich weiß zwar jetzt, warum es üblich ist, dass man die Leute, denen man so eine Nachricht überbringt, immer erst bittet, sich zu setzen, aber es geht schon wieder. Ich möchte schon wissen, warum Sie hier sind, sonst plagen mich nur den ganzen Tag die schlimmsten Horrorvisionen … Entschuldigung, meine Ausdrucksweise … Ich meine …“, nun war es Sunny, die mitten im Satz abbrach, weil sie die andere verständnisvoll lächeln sah. Die beiden Frauen sahen sich kurz in die Augen, die Polizistin nickte langsam und fuhr dann fort.

Sie berichtete Sunny, dass man in einem Schuhkarton in Annas Wohnung dutzende Fotos und Briefe von ihr gefunden habe, die sie der Freundin zwischen 1991 und 2013 geschrieben hatte. Sunny stiegen bei den Worten der Polizistin Tränen in die Augen. Anna hatte all diese Briefe tatsächlich aufbewahrt: Briefe auf rosafarbenem Briefpapier in passenden Umschlägen, die von der langsam näher rückenden Pubertät zeugten, Briefe auf herausgerissenen Matheheftseiten, die ihre Freundschaft in flammenden Reden beschworen, zwischen zwei Vorlesungen geschriebene Briefe, die um Orientierung und Sinn flehten und zuletzt ihre und Svens Hochzeitseinladung. So ernüchternd konnte Romantik sein.

Sunny kannte diese Schachtel und sah sie vor sich: ein großer Schuhkarton, in dem sich ursprünglich Annas erstes Paar Doc Marten‘s, damals ihr wertvollster Besitz, befunden hatte, beklebt mit den Seiten eines 90er-Jahre-Oilily-Katalogs, von dessen Inhalt die Mädchen nur hatten träumen können, verziert mit Glitzersteinchen, die Anna in ihrem gemeinsamen Urlaub nach dem Abitur in Spanien auf einem Markt erstanden hatte. Dieser Karton enthielt Zeugnisse all dessen, was ihre Freundschaft je gewesen war. Denn außer den Fotografien und Briefen, das wusste Sunny, beherbergte er auch heimlich im Schulunterricht geschriebene Zettelchen, kleine Geschenke, alte Fahrkarten, die Konzertkarten für das Freundeskreis-Konzert, das Anna und sie heimlich besucht hatten, und ein Queen-Tape in miserabler Qualität, das die Mädchen damals Annas älterer Schwester geklaut hatten. Ein bitteres Lächeln umspielte Sunnys Lippen, als sie sich daran erinnerte, wie sie mit klopfendem Herzen auf dem Flur Schmiere gestanden hatte, während Anna die Schubladen ihrer Schwester auf der Suche nach Schätzen durchwühlte. Mit einem triumphierenden Grinsen war die kleine Anna damals mit der Kassette, einer Packung Fritt mit Kirschgeschmack und zwei Gauloises wieder aus dem Raum geschlüpft, und sie hatten einen wunderbar glücklichen Nachmittag in Annas Baumhaus verbracht, an dessen Ende es ihnen beiden allerdings leider fürchterlich übel gewesen war.

Friends will be friends,

When you’re in need of love, they give you care and attention,

Friends will be friends,

When you’re through with life and all hope is lost,

Hold out your hands ‘cause right till the end, friends will be friends.

Gerade die verbotenen Dinge waren es auch Jahre später noch gewesen, die Anna und Sunny am meisten gereizt hatten.

Sunnys Gedanken wanderten unwillkürlich zum April 1997.

Mit fünfzehn Jahren war es der sehnlichste Wunsch der Mädchen gewesen, ein Konzert ihrer Lieblingsgruppe Freundeskreis zu besuchen. Dass sie hierbei keinerlei Wert auf irgendwelche Aufpasser gelegt hatten, verstand sich natürlich von selbst. Man stelle sich nur vor, es hätte sich eine Gelegenheit ergeben, dem Leadsänger Max näher zu kommen. Ihren Eltern hatten sie daher beide erzählt, sie würden bei der jeweils anderen übernachten. In Wirklichkeit waren sie aber bereits am Nachmittag mit dem Zug nach Karlsruhe gefahren und hatten sich stundenlang in der Stadt herumgetrieben. Sie hatten sich in einer Umkleidekabine im Woolworth umgezogen und sich richtig aufgedonnert. Dann waren sie noch einmal mehrere Stunden auf einer Parkbank vor dem Subway gesessen (damals war die Welt, was das betraf, noch in Ordnung gewesen) und hatten sich eine Flasche Sekt geteilt, bis sie endlich eingelassen worden waren. Während die Band gespielt hatte, waren sie sich in den Armen gelegen und als die ersten Töne ihres Liedes erklangen, hätte die Welt nicht vollkommener sein können.

„Immer, wenn es regnet, muss ich an dich denken,

Wie wir uns begegnen, kann mich nicht ablenken …“

Nachdem sie weit nach 1 Uhr wieder hoch in die Welt gekommen waren, waren sie zum Schloss spaziert und hatten sich eng umschlungen auf eine Parkbank gesetzt.

… Die Kleidung ganz durchnässt, klebte an ihr fest

Die Tasche in der Hand stand sie an der Wand

Die dunkeln Augen funkelten wie ’ne Nacht in Asien

Strähnen im Gesicht nehmen ihr die Sicht …

Dort hatten sie immerhin bis etwa 3 Uhr morgens ausgeharrt. Dann war es ihnen aber doch ein wenig kalt geworden. Sie hatten sich schlichtweg keinen sonderlich guten Plan dahingehend zurechtgelegt gehabt, wie das Ende ihres kleinen Abenteuers aussehen sollte. Ihre Eltern hatten sie erst am Nachmittag zurück erwartet, und in ihrer Naivität hatten sie geglaubt, sie könnten einfach so lange umherstromern. In der wirklichen, echten Welt war es aber im April noch etwas zu frisch gewesen, um eine Nacht im Freien zu verbringen. Also hatten sie ihr letztes Kleingeld zusammengekratzt, waren zum Europaplatz gelaufen und hatten Bianca angerufen, die sie im Morgengrauen mit ihrem alten Golf aufgesammelt und in ihrem Zimmer versteckt hatte, bis ihre Mutter um 7 Uhr zur Arbeit gegangen war.

… Manchmal lach‘ ich drüber, doch dann merk ich wieder wie‘s mich trifft,

Komik ist Tragik in Spiegelschrift …

Sunny konnte nicht verhindern, dass ihr in Gegenwart der Polizisten Ströme von Tränen über die Wangen liefen. Sie wollte später weinen, hysterisch schluchzend, schreiend, Haare raufend, aber vor allem alleine und in Ruhe. Und wenn sie genug geweint hatte, wollte sie sich von Bianca trösten lassen. Komischerweise war der erste klarere Gedanke, zu dem Sunny schließlich wieder fähig war der, dass es doch eigentlich etwas seltsam war, dass sie in jener Nacht nicht von der Polizei aufgegriffen worden waren.

Zwei minderjährige Herumtreiberinnen, fünfzig Meter entfernt vom Bundesverfassungsgericht.

Esther Marquart fuhr fort und riss Sunny so aus ihren Gedanken. Kurz ging dieser durch den Kopf, wie gut die andere doch ihre Arbeit machte. Sie ließ ihr genug Raum für die Gedanken, die nötig waren, holte sie dann aber rechtzeitig in die Gegenwart zurück, bevor das Gewesene, das Nichtgewesene und der Schmerz über beides vollständig Besitz von ihr ergreifen konnten. Außerdem, so sagte sie nun, gäbe es auf Annas Rechner eine Datei mit dem Titel ‚Briefe an S.‘, die ebenfalls mehrere Dutzend Dokumente enthalte, die offensichtlich an Sunny gerichtet seien. Der älteste Text, den Anna hier abgelegt habe, sei von 2013, der jüngste von der vergangenen Woche. Augenblicklich spürte Sunny ein unangenehmes Kribbeln im Bauch, und ihr Herz schien plötzlich schneller zu schlagen. Anna hatte ihr geschrieben, immer geschrieben. Sie konnte sich die Inhalte dieser Briefe vorstellen. Ihre Freundschaft war zu Ende gegangen.

Was gab es da wohl zu sagen?

Anna hatte ihre Wahrnehmungen und Gefühle formuliert. Sunny war froh darüber, diese Briefe nie erhalten zu haben. So viel Kritik, berechtigte und unberechtigte, spiegelvorhaltende und realitätsverzerrende, mit Sicherheit messerscharfe, pfeilspitze, schmerzende Kritik, die sie jetzt mit der Wucht der Endgültigkeit mitten ins Herz treffen würde. Allein ihre Vorstellung der Inhalte schmerzte Sunny und machte ihr Angst vor einer möglichen Konfrontation, die jetzt keine Konfrontation mehr mit Anna selbst, die eine Aussöhnung zumindest theoretisch möglich gemacht hätte, wohl aber eine mit ihren eigenen Fehlern gewesen wäre. Fehlern, die sie in Annas Augen gemacht hatte, und ganz anderen Fehlern, die sie ihrer eigenen Meinung nach begangen hatte, die sie gelebt hatte, die sie gewesen war. Doch wenn sie sich auch sicher war, dass das, was Anna ihr vorzuwerfen gehabt hatte, andere Dinge gewesen waren als die, die sie sich selbst vorwarf, so war sie sich doch auch sicher, dass das keine große Rolle spielte. Ein Vernichtungsschlag war ein Vernichtungsschlag. Vernichtend. So war