Immortal Dark - Tigest Girma - E-Book

Immortal Dark E-Book

Tigest Girma

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Beschreibung

Ihr größter Feind ist ihre größte Versuchung!

Kidan wuchs weit entfernt von der Uxlay Universität auf. Einer Eliteuniversität, in der Menschen und Vampire Seite an Seite leben und an der altehrwürdige Häuser um die Vorherrschaft kämpfen. Intrigen und Machthunger regieren den Alltag – und genau deshalb wollte Kidan nie dorthin. Doch als ihre Schwester von niemand geringerem als dem berühmt-berüchtigten Vampir Susenyos entführt wird, bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihm genau an jene Universität zu folgen. Entschlossen ihre Schwester zu retten, kehrt Kidan zurück in die Welt, die sie für immer hinter sich lassen wollte. Sie wird Studentin an der Eliteuni und stellt sich Susyenos furchtlos entgegen. Trotz seiner Geheimnisse und der Gefahr, die von ihm ausgeht, ist es Kidan unmöglich, sich ihm zu entziehen. Ist er wirklich Schuld am Verschwinden ihrer Schwester? Und warum fühlt sie diese unbändige Versuchung, immer wenn sie in seiner Nähe ist? Je näher sie ihm kommt, desto näher tritt Kidan an den Abgrund … Doch wird Susenyos sie in die Tiefe stürzen lassen?

Die Vampir-Saga für alle Fans von The Cruel Prince und Das neunte Haus. Eine verloren geglaubte Erbin, die einen Geheimbund infiltrieren und mit einem geheimnisumwobenen Vampir zusammenleben muss.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Tigest Girma studierte Pädagogik, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Inzwischen teilt sie sich ihre Zeit zwischen dem Schreiben und Unterrichten auf. Mit dem ersten Band ihrer Immortal-Dark-Reihe schaffte sie es aus dem Stand heraus auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste. Sie beschäftigt sich leidenschaftlich gerne mit ostafrikanischen Mythen und verwebt in ihren Werken Schwarze Geschichten mit dem Fantastischen. In ihrer Freizeit schaut sie ihre Lieblingsserien, in denen der Bösewicht immer missverstanden wird und trotzdem das Mädchen für sich gewinnt. Ursprünglich aus Äthiopien, lebt sie nun in Melbourne, Australien.

www.penguin-verlag.de

TIGEST GIRMA

IMMORTAL DARK

Roman

Die Originalausgabe erschien 2024 

unter dem Titel Immortal Dark

bei Little, Brown Books for Young Readers.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 der Originalausgabe by Tigest Girma

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Michelle Stöger

Umschlaggestaltung: bürosüd

Umschlagabbildung[en]: mauritius images (AA World Travel Library / Alamy / Alamy Stock Photos); www.buerosued.de

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-32836-8V002

www.penguin-verlag.de

Für alle Schwarzen Girls, die die dunkle Schönheit der Vampire bewundern.

Hier sehen die Unsterblichen aus wie wir.

Für alle Habescha-Girls, die sich trauen, neue und wundersame Orte für sich zu erobern.

Geht erhobenen Hauptes, damit man euch sieht.

Liebe Leser*innen,

es könnte sein, dass einige Passagen des Buches euch persönlich nahegehen, wenn ihr ähnliche Erfahrungen macht oder gemacht habt. Aus diesem Grund findet ihr eine Triggerwarnung, die aufzeigt, um welche Inhalte es sich hierbei handelt.

Tigest Girma und der Penguin Verlag

Die Dunkelheit ist ein barmherziger Gast.

Sie nagt langsam an dir.

– Übersetzt aus alten amharischen Schriften.Ursprungsland: Äthiopien.

Prolog

Hinter einem von Kerzen erleuchteten Fenster der Universität Uxlay, ein Campus, so alt wie die Kreaturen, die er beherbergte, beratschlagten sich die Dekanin und ihr Vampir unter vier Augen.

Konzentriert blickten sie auf ein altes Pergament mit einem Stadtplan, vor allem auf den Blutstropfen, der in der Nähe der Kathedrale verblasste. Diese Karte war einer der wertvollsten Schätze der Dekanin, ein Familienerbstück aus einer vergangenen magischen Zeit. Der Verlust wäre unverzeihlich gewesen.

Bevor das Blut auf der vergilbten Seite ganz verschwand, erblühte es zu drei Buchstaben: Mot. Tod.

»Silia Adane ist tot«, sagte die Dekanin, genau eine Stunde, nachdem sie sich zusammengesetzt hatten.

Ihr Vampir verschränkte die Finger und antwortete auf Aarakisch. Für eine tote Sprache besaß sie eine unnatürliche Lebendigkeit, tanzte auf der Zunge wie eine aufgestachelte Schlange.

»Dann ist es wahr. Das Testament tritt in Kraft.«

Die Dekanin schob ihren Stuhl zurück und trat ans Fenster. Die Nacht drängte sich aus dem Wald und schlang ihre langen Finger um die drei Ost-Türme. Goldenes Licht strömte aus den Löwenstatuen, die mit aufgerissenen Mäulern auf den Steinmauern thronten. Ein Tier nach dem anderen erwachte, um Gänge und Korridore zu erhellen.

»Zwei Adanes sind noch übrig«, sagte sie.

»Du willst ihr Versprechen brechen? Ich dachte, sie wäre deine Freundin.«

Die dichten Augenbrauen der Dekanin zogen sich zusammen. Ihr Vampir würzte seine Ehrlichkeit gern großzügig mit Grausamkeit. Schon als sie jung war, hatte sie das am meisten an ihm gehasst.

Natürlich wollte sie Silias Versprechen nicht brechen. Seit Wochen war Silias Blut auf der Karte immer durchsichtiger geworden. Eine seltene Krankheit, die selbst Uxlay nicht heilen konnte, hatte sie dahingerafft. Die Dekanin hatte Silia gedrängt, ihre beiden Nichten aus ihrem Versteck zu holen und einer von ihnen das Erbe der Familie anzuvertrauen, bevor es zu spät war. Aber Dickköpfigkeit war die Geißel aller Adanes.

Silia Adanes egoistischer Befreiungsschlag hatte einen hohen Preis. Vor dreizehn Jahren, nach dem Tod ihres Bruders und seiner Frau, war Silia im Schutz der Nacht mit ihren jungen Zwillingsnichten verschwunden. Die Dekanin hatte ihr diesen Verrat an der Verantwortung nur aus einem Grund verziehen: Trauer.

Trauer schaffte es immer wieder, die Pflicht an der Wurzel zu packen. Deshalb hatte die Dekanin sie als Feind auserkoren, den es zu besiegen galt. Deshalb war sie hier anstatt an der Seite ihrer toten Freundin und plante, wie es weitergehen sollte. Es gab kein Vertun. Es war genau diese Selbstbeherrschung, die sie befähigte, einen Campus zu leiten, der den Frieden wahrte. Und dieser Friede würde nicht von Dauer sein, wenn das Testament der Adanes in Kraft trat.

Die Dekanin zog es vor, ihrem Vampir nicht zu gestehen, dass sie ihr Versprechen bereute. Damals schien es vernünftig. Was machte es schon, wenn die Mädchen im Exil waren? Die Dekanin war davon ausgegangen, dass Silia mit ihrem Geliebten ein Kind bekommen und die Linie des großen Hauses Adane fortsetzen würde. Wie sehr sie sich geirrt hatte. Der Tod hatte das Haus Adane heimgesucht, und ihr blieb keine andere Wahl, als ihm neues Leben einzuhauchen.

Sie blickte in die hereinbrechende Dunkelheit. »In einer Woche holen wir das Mädchen aus Green Heights zurück.«

»Und das andere?«

»Ich fürchte, ich weiß nicht, wo sie ist. Sie soll an ihrem 18. Geburtstag von ihrer Pflegefamilie weggelaufen sein.«

Sie sah ihn an. Um festzustellen, ob er etwas darüber wusste. Früher hatte es sie nervös gemacht, wie wenig sich seine Gesichtsmuskeln bewegten, dass seine kohlschwarzen Augen nie blinzelten.

»Vielleicht reicht eine.« Ihr Vampir blieb ungerührt. »Ihre Anwesenheit wird einige Unannehmlichkeiten verursachen.«

Die Dekanin wandte sich zum Fenster. »Wie alles Fremde.«

»Stimmt.« Er überlegte. »Ich hätte sie gern in meinem Kurs. Ihre Mutter war eine meiner begabtesten Schülerinnen.«

Die Geschichten über die Eltern der Mädchen waren legendär, doch Legenden endeten oft in Tragödien.

»Soll ich sie holen?«, fragte er.

»Nein, ich erledige das.«

Im Spiegelbild des Fensters verunzierte eine Falte seine mahagonifarbene Haut.

»Du verlässt Uxlay sonst nie.«

»Ich fürchte, es ist notwendig.«

»Warum?«

Die Dekanin setzte sich wieder und überbrachte in aller Ruhe die nächste Nachricht. »Weil Kidan Adane vor 24 Stunden wegen Mordes verhaftet wurde.«

Die schwarzen Augen des Vampirs blitzten auf. »Wen hat sie umgebracht?«

»Das weiß ich noch nicht. Es ist seltsam, aber Kidan Adane glaubt, dass ihre Schwester nie weggelaufen ist. Sie ist überzeugt, dass stattdessen ein Vampir ihre Schwester June Adane entführt hat. Dass sie gegen ihren Willen hierher an die Universität gebracht wurde.«

Wieder sah sie ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Diesmal kein Stirnrunzeln. Er fühlte sich wohl in seiner alten Haut, hübsch und gefühllos wie an dem Tag, an dem sie ihn kennengelernt hatte. Sie neunzehn. Er fünf Jahrhunderte alt. Sie rieb ihre faltige Hand. Zeit war beängstigend.

»Ich wüsste es, wenn June Adane hier wäre«, sagte er nur.

»Das dachte ich auch. Wenn ein solches Verbrechen geschehen wäre, hättest du es sicher angemessen bestraft.«

»Natürlich.« Er reagierte nicht gekränkt auf ihre Frage. Das schätzte sie an ihm. Er nahm selten etwas persönlich. Er log auch nie. Aber es waren seltsame Zeiten, und Loyalität war das erste Opfer des Wandels.

»Woher weißt du das alles?«, fragte er. »Es verstößt doch wohl gegen das Versprechen, die Mädchen beobachten zu lassen.«

Erleichtert, dass er ihr kleines Verhör bestanden hatte, deutete die Dekanin auf den Stapel Briefe, der neben einem geschnitzten Tier lag – eine kleine Impala mit prächtigen Hörnern.

»Kidan Adane schreibt regelmäßig Briefe und bittet Uxlay immer wieder, ihre Schwester freizugeben. Ich habe versucht, June zu finden, aber das Mädchen ist verschwunden. Zu Kidans Unglück hat ihre Tante Silia Uxlay zum Schauplatz all ihrer Albträume gemacht.«

Er bewegte sich mit der Schnelligkeit eines Schattens, der vom Licht erfasst wird, und achtete darauf, die Impala nicht zu berühren, als er die Briefe an sich nahm. Während er las, bildete sich eine Furche zwischen seinen Brauen.

»Du hast nie geantwortet?«, fragte er neugierig.

»Ich habe mein Wort gehalten.«

Seit fast vierzig Jahren war er an ihrer Seite und verstand ihre Versprechen und was sie bereit war, dafür zu tun, immer noch nicht.

»Was ist jetzt anders?«, fragte er.

Sie las einen der Briefe. Die Worte zwischen Wut und Flehen – Sonne und Mond eines schrecklichen Verlustes.

»Mot sewi yelkal«, antwortete sie auf Aarakisch.

Der Tod befreit uns von unserem alten Selbst.

Die Mundwinkel des Vampirs zuckten, ein seltener Moment. Es amüsierte ihn immer, wenn seine Schüler seine Lektionen zitierten. Vor allem, wenn sie lange genug lebten, um deren wahre Bedeutung zu begreifen.

1.

Kidan Adane gab sich acht Monate, um zu sterben.

Der Zeitplan war ziemlich großzügig, wenn sie ehrlich war. Zwei Monate hätten ausgereicht. Das Hinauszögern war einem verzweifelten Traum geschuldet. Ein Traum, den sie nicht zu träumen gewagt hätte, würde sie nicht dehydriert in ihrem Zimmer dahindämmern.

Sie wollte wieder mit ihrer Schwester in diesem seltsamen kleinen Haus leben. In einer Zeit, in der man nicht ständig seine Unschuld beweisen musste. Dieser letzte Gedanke riss sie aus ihrem Dämmerzustand, und sie lachte leise. Sie fühlte sich ungerecht behandelt und, wenn sie den Gedanken zuließ, als Opfer.

Ihr Lachen klang wie ein verstopfter Schornstein. Wie lange war es her, seit sie das letzte Mal gesprochen hatte? Die Vorhänge waren wegen der Fotografen zugezogen, eine Glühbirne ihre einzige Lichtquelle. Wie jede künstliche Sonne überhitzte und verbrannte sie die Luft um sich herum und zwang Kidan, halbnackt auf dem Boden zu arbeiten.

Schweiß sammelte sich auf ihrer dunklen Stirn und tropfte auf die Akte, die sie las, ihr angewinkeltes Bein unter Papieren vergraben. Sie konnte es sich nicht leisten, das Licht auszuschalten. Nicht, wenn es so viel zu tun gab. Nicht, wenn sie so nah dran war. In Kidans Vorstellung war sie in einer endlosen Nacht gefangen, der Hölle nicht unähnlich.

Bewegung, sie brauchte Bewegung. Sie stand zu schnell auf, stolperte, das Blut schoss in ihr angewinkeltes Bein und lähmte sie. Sie schüttelte die Taubheit ab und ging in die kleine Küche.

Mörderin.

Das Wort in dem Zeitungsartikel, der an ihrem Kühlschrank hing, sprang sie förmlich an. Darunter das Bild eines Schwarzen Mädchens.

Kidan Adane war eine Mörderin. Sie wartete auf das Kribbeln der Reue, das bei diesen Worten hätte aufkommen müssen. Sie kniff sogar den Mund zusammen und rümpfte die Nase, um die Emotionen aus sich herauszupressen. Sie wartete darauf, dass ein Körnchen Menschlichkeit durchbrach, doch sie war völlig ausgetrocknet. Eine aus Obsidian gemeißelte Statue.

Kidan schenkte sich etwas zu trinken ein. Der Auslöser einer Kamera klickte. Sie drehte sich so ruckartig zum Fenster, dass ihr fast das Glas entglitten wäre. Die Vorhänge waren zugezogen, aber sie krallten sich in die Lücken wie Möwen, die nach Brotkrumen scharrten.

Hab Geduld, dachte sie.

Bald würde sich alles klären. In acht Monaten, um genau zu sein. Dann stand ihr Prozess an. Kidan hatte nicht vor, daran teilzunehmen. Lange vorher würde man das Geständnis unter ihrem Bett finden.

Das Blitzlicht der Kamera ließ sie erneut zusammenzucken. Unwahrscheinlich, dass die Journalisten es schafften, sie abzulichten, aber vielleicht sollte sie sich vorsichtshalber etwas anziehen. Obwohl sie weder ihre vollen Brüste noch ihre runden Hüften verstecken musste. Ein schlüpfriges Foto konnte ihr sogar nutzen. Eine grobe Verletzung ihrer Privatsphäre, die sich rumsprechen würde. Klang gar nicht so schlecht. Sie schüttelte den Kopf. Wieso machte sie sich Gedanken darüber, wie sie Mitgefühl erregen könnte?

Sie begegnete ihrem Blick im Spiegelbild und hauchte mit dünner Stimme: »Du bist nicht wie sie. Du bist nicht wie sie.«

Sie.

Tante Silia nannte sie Dranaics. Vampire.

Trotz der Wärme in den Mauern fröstelte Kidan. Dranaics sahen nicht anders aus als Menschen. Und genau das war der Ursprung ihrer Angst. Das Böse sollte nicht in menschlicher Haut herumlaufen. Es war eine Entweihung.

Kidan hasste ihre Tante. Hasste ihre Untätigkeit. Sie hätte sie früher von Uxlay wegschicken sollen. Vielleicht wäre das Böse dann nicht in Kidans Seele eingedrungen. June war es besser ergangen, aber Kidan hatte sich daran gelabt. Ihre morbide Neugier auf den Tod, ihre kranke Faszination, ihre Filmsammlung, und nun der Akt selbst – all das kam von ihnen. Könnte sie sich jetzt in die Brust greifen und ihr verdorbenes Herz herausziehen, sie würde es tun.

Acht Monate.

Erleichterung durchströmte sie bei diesen zwei Worten. Nur acht Monate musste sie noch ausharren. Dafür sorgen, dass June gefunden wurde. Dieses erbärmliche Dasein ertragen.

Ein Foto von June strahlte sie von ihrem aufgeklappten Laptop an. Sie sahen sich überhaupt nicht ähnlich, obwohl sie nur wenige Minuten auseinander geboren waren. Es gab keine Berichte über Junes Verschwinden, nicht einmal ein Flüstern in der Nachbarschaft. Wo wäre Kidan, wenn diese Reporter so nach ihrer verschwundenen Schwester suchen würden, wie sie nach ihr? Nein, Schwarze Mädchen mussten erst schreckliche Dinge tun, damit sich jemand für sie interessierte.

Die Zeitungen auf ihrem Fußboden waren Zeugnis ihrer hektischen Spurensuche. Elf Monate und zwanzig Tage hatte Kidan gebraucht. Ihr Blick fiel auf die Aufnahme, die unter ihrem Bett lag, und die Temperatur im Raum sank. Es war das letzte quälende Gespräch zwischen Kidan und ihrem Opfer.

Mit der Aufnahme hatte sie den Namen des Menschen – nein, der Bestie herausgefunden, die für Junes Entführung verantwortlich war. Jetzt musste sie nur noch das verdammte Versteck finden. Und ihn.

Kidan hockte sich hin und studierte die Ergebnisse ihrer Spurensuche. Sie griff nach einem Kugelschreiber, riss die Kappe mit den Zähnen ab und begann einen neuen Brief an Tante Silia, die nie zurückschrieb.

Wenn es auch nur die geringste Chance gab, June zu finden, würde sie für den Rest ihres Lebens schreiben.

Ihre Finger verkrampften sich und bohrten sich in ihre Handflächen. Sie hinterließen dünne Bluthalbmonde in der Haut. Mit dem Zeigefinger zeichnete sie ein endloses Quadrat in ihre Handfläche. Die Nerven, sie erkannte das Gefühl. Noch war sie nicht ganz verloren. Der gesprungene Spiegel auf der anderen Seite des Zimmers schnitt eine hässliche Kerbe entlang ihres dunklen Halses. Ein kühles, unbeeindrucktes Gesicht starrte sie an. Wenn sie es nur schaffte, vor ihrem Prozess zu weinen, würde die Welt ihr vielleicht verzeihen. Und sie könnte länger leben.

Weine, zischte sie ihrem Spiegelbild zu.

Aber warum?, fragte es. Du würdest es wieder tun.

Eine Stunde später, nachdem die Reporter abgezogen waren, zog Kidan sich einen dicken Kapuzenpulli über, schnappte sich ihre Kopfhörer und schloss ihre kleine Wohnung ab. Sie war nur aus einem Grund hierhergezogen.

An der Ecke Longway und St. Albans Street war eine Paketstation. Ein Schlüssel gehörte Kidan, der andere Tante Silia, die in Uxlay wohnte. Nachdem Kidan ihren Brief eingeworfen hatte, versteckte sie sich und wartete. Manchmal wartete sie tagelang, schlief in einem nahe gelegenen Café oder in einer Gasse, aber immer kam jemand und nahm ihre Briefe mit. Jedes Mal entkam die vermummte Gestalt, indem sie entweder mit beängstigender Schnelligkeit über das Geländer kletterte oder im Verkehr verschwand.

Jede Woche spielte sie dieses Katz-und-Maus-Spiel. Tante Silia las ihre Briefe, ignorierte sie jedoch aus irgendeinem kranken Grund.

Nachdem sie den Brief in das leere Schließfach geworfen hatte, wartete Kidan diesmal an der Bushaltestelle, dass der Kurier auftauchte.

Während sie wartete, knisterte Junes sanfte Stimme durch ihre Kopfhörer. Mit einem Ruck war Kidans Welt im Gleichgewicht.

»Hi«, flüsterte ihre Schwester. »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, also erzähl ich einfach mal, wer ich bin.«

June hatte fünfzehn Videos gedreht, bevor sie verschwand. Dies war ihr erstes, und da war sie vierzehn. Kidan hörte sich die Videos jeden Tag an, bis auf das letzte. Das hatte sie sich nur ein einziges Mal angehört, bevor sie es löschte, damit es sie nicht bis in alle Ewigkeit verfolgte.

In ihren Taschen zeichnete sie die Form eines Dreiecks nach und genoss das kratzende Geräusch, das dabei entstand. Das Dreieck verwandelte sich in ein Quadrat, als June im Video Kidan erwähnte.

Kidan behielt den Paketkasten im Blick, doch im Augenwinkel nahm sie einen Schatten wahr, der sich nicht bewegte.

Eine Frau unter dem krummen Ast eines Baumes. Ihre Haut schimmerte bronzefarben im Licht der Straßenlaterne, sie trug einen dunkelgrünen Rock und einen straffen Dutt.

Die Frau stand auffallend still, wie ein Waldkauz auf einem Felsvorsprung, und starrte sie unverhohlen an.

Kidans Nacken kribbelte. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass diese Frau, wer auch immer sie war, auf sie gewartet hatte.

2.

Videoaufzeichnung

10. Mai 2017 

June, 14, auf Kidans geklautem Handy.

Ort: Mama Anoets Badezimmer.

»Hi«, flüsterte June und blinzelte in die Kamera. Ihre kurzen Zöpfe kräuselten sich um ihr verpickeltes Kinn. »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, also erzähle ich einfach mal, wer ich bin. Ich heiße June. Ich gehe auf die Green-Heights-Schule. Ich glaube, ich mache dieses Video wegen dem, was heute passiert ist. Ich habe Ärger gekriegt, weil ich wieder im Unterricht eingeschlafen bin.«

Eine Pause.

»Ich habe Parasomnie. Ein großes Wort, ich weiß. Es bedeutet, dass ich nicht nur schlafwandle, sondern auch schreie und trete. Meine Schwester passt auf mich auf, aber … Ich weiß, dass es sie nervt. Ich bin selbst von mir genervt.« Ein leises Lachen. »Ich versuche, so viel wie möglich wach zu bleiben, aber es rächt sich. So wie heute. Ich weiß, was ihr denkt, hol dir Hilfe. Glaubt mir, ich versuch’s.«

Der Kamerawinkel änderte sich und fing diverse Shampoos ein, vier verschiedene Sorten, einen Duschvorhang mit Schmetterlingen, Medikamente gegen Angststörung und Depression.

»Einen Psychologen können wir uns nicht leisten, aber unsere Vertrauenslehrerin ist ganz okay. Eigentlich mache ich das Video nur wegen ihr. Miss Tris hat gesagt, ich hab Angst vor etwas. Vor etwas, das ich niemandem erzählen möchte. Sie hat gesagt, ich soll alles aufschreiben.

Aber ich hasse schreiben. Deshalb meinte sie, ich soll mich stattdessen auf Video aufnehmen und es, falls ich mutig genug bin, teilen. Sie ist gut, oder?« Ein kleines Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. »Also, wovor habe ich Angst?«

June holte zögernd Luft und warf einen nervösen Blick zur Tür.

»Ich habe Angst vor … Vampiren.«

Das Bild wurde dunkel, die Kamera auf dem Waschbecken abgelegt. Man hörte Wasserplätschern, eine Minute verstrich. Junes Gesicht kam in den Fokus, jetzt leicht feucht, als sie sich in die Ecke der Wanne setzte.

»Vampire.« Ihre Stimme jetzt fester. »Die gute Nachricht ist, dass sie nicht mehr für jeden gefährlich sind. An alle, die das hier sehen, falls ihr mir überhaupt glaubt, ihr könnt beruhigt schlafen gehen, denn euer Blut schmeckt für sie wie Gift. Aber sie brauchen trotzdem Blut zum Überleben.« Das Telefon zitterte ein wenig. »Etwas, das man die Erste Fessel nennt, zwingt Vampire, sich nur von bestimmten Familien zu ernähren. Es gibt ungefähr achtzig Blutlinien, die seit Generationen in diesem Kreislauf gefangen sind. Ratet mal, wer zu einer dieser Familien gehört? Jepp.«

June blickte in die Ferne, und ihr Blick wurde glasig.

»Aber meine Schwester und ich sind geflohen. Unsere Tante hat uns nach dem Tod unserer Eltern gerettet und zu Mama Anoet gebracht. Hier sind wir in Sicherheit, aber ich sehe sie jede Nacht … in meinen Träumen … manchmal sogar im Flur. Es ist, als wüsste ich, dass sie uns eines Tages holen.«

Sie atmete tief durch. Spielte mit dem dünnen Silberarmband an ihrem Handgelenk.

»Kidan schärft mir jeden Abend die Drei Fesseln ein, die Vampiren auferlegt sind. Das hilft ein wenig. Es erinnert mich daran, dass sie nicht so leicht an mich rankommen. Die Zweite Fessel schränkt einen Teil ihrer Kräfte ein, und die dritte verlangt ein großes Opfer, wenn sie einen Menschen in einen von ihnen verwandeln. Kidan sagt immer, dass der mächtige Weise seine unglaubliche Macht nicht besonders klug eingesetzt hat – er hätte alle Vampire töten sollen, anstatt ihnen nur Beschränkungen aufzuerlegen. Ich glaube, sie hat Recht. Unser Leben wäre dann anders verlaufen.«

Ihre Finger lösten sich von ihrem Schmetterlingsarmband, und sie kniff die Augen zusammen.

»Also, warum mache ich dieses Video? Ich glaube, ich möchte, dass Miss Tris es erfährt. Vielleicht sogar meine Freundinnen. Vielleicht sogar alle. Ich möchte nicht, dass der Rest meines Lebens so aussieht. Ich will nicht jede Minute eines jeden Tages damit verbringen, darüber nachzudenken, wann sie uns holen kommen. Ich will mich sicher fühlen. Ich will …«

Es klopfte laut, und sie ließ das Handy fallen.

»June, ich bin’s.«

June sackte zusammen, der Türknauf drehte sich.

Kidan warf einen skeptischen Blick auf ihr tropfendes Telefon. »Beeil dich.«

Schnell gab June ihr Passwort für die privaten Videos ein. Ihr Passwort war immer eine fünfstellige Zahlenkombination, deren Summe 35 war.

35 war das Alter ihrer leiblichen Mutter, als sie starb, und es war auch die Zahl der Vampire, die zu ihrer Familie gehörten, Dranaics, die ihr Blut getrunken hätten, wenn sie nicht geflohen wären.

3.

Kidan griff nach dem Messer in ihrer Jacke. Es hatte Rillen, die sich unangenehm in ihre Handfläche drückten, und war zum Ende hin gebogen. Der Anblick des Messers jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Die Nacht wurde totenstill, als Kidan sich der Fremden näherte. Sie wünschte, die Frau würde sich bewegen. Regungslosigkeit war typisch für Raubtiere und Raubtiereigenschaften typisch für Dranaics.

»Wer sind Sie?« Kidans Stimme klang ungewöhnlich laut in der Stille.

Die Frau war von kräftiger Statur, mit dichten Augenbrauen und hellen, funkelnden Augen. Über der Brust trug sie eine goldene Anstecknadel, auf der ein schwarzer Vogel mit einem silbernen Auge abgebildet war.

»Ich bin Dekanin Faris von der Universität Uxlay. Es heißt, dass du mich suchst.«

Der Boden unter ihr schwankte, und Kidans Griff um das Messer lockerte sich. Sie war sprachlos, dass das, wonach sie in blinder Hoffnung verzweifelt und vergeblich gesucht hatte, plötzlich einfach so vom Himmel fiel.

»Ux … Uxlay?«, sagte sie, voller Angst, es könnte auch einfach so wieder verschwinden.

»Ja.«

Die Antwort lichtete den Nebel in Kidans Kopf. Was tat sie? Ihre Hand löste sich vom Messer in ihrer Tasche.

»Sie kommen mich also holen«, sagte sie hastig. »Um mich gegen June auszutauschen?«

Hoffnung schwoll in ihrer Brust. Wie viele Nächte hatte sie wach im Bett gelegen und sich alle möglichen Variationen dieser Szene ausgemalt? Es war das Einzige, was ihr Herz nach der Nacht des Feuers am Schlagen hielt.

Die Dekanin verschränkte die Hände. »Uxlay entführt keine Menschen. Unsere Gesetze verbieten das.«

»Gesetze?«, zischte Kidan und trat näher. »Wo waren eure Gesetze, als ein Dranaic meine Schwester entführt hat?«

Ihre Finger verkrampften sich in dem Bemühen, die Frau nicht zu erwürgen. Die dunklen Augen der Dekanin flackerten alarmiert. Gut so.

»Das ist eine schwerwiegende Anschuldigung. Hast du Beweise?«

Kidans Beweise warteten in ihrer kleinen Wohnung unterm Bett. Das Geständnis ihres Opfers nannte den verantwortlichen Vampir. Bewies aber auch, dass sie selbst gefoltert und getötet hatte.

Kidans Stimme wurde bedrohlich leise. »Ein Vampir hat meine Schwester entführt.«

Dekanin Faris neigte den Kopf zur Seite. »Ich spreche als Vertreterin von Uxlay zu dir, Kidan. Vielleicht weißt du nicht, was das bedeutet, weil du nicht mit unserer Erziehung aufgewachsen bist. Aber ich bin verantwortlich dafür, den Frieden zwischen Menschen und Dranaics zu erhalten, und das tue ich mithilfe von Gesetzen und Strafen. Du glaubst, dass man dir Unrecht getan hat, doch es gibt keine Beweise. Ich bitte dich, bei aller Trauer Vernunft anzunehmen. Ohne Beweise kann ich keinen meiner Dranaics anklagen.«

Dekanin Faris sprach wie eine ehrwürdige Politikerin, als herrschte auf ihrem Campus Recht und Ordnung. Das widersprach jeder Vorstellung, die Kidan sich für diesen abscheulichen Ort zurechtgelegt hatte.

Sie wollte gerade protestieren, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. »Das waren Sie, oder? Sie haben meine Kaution bezahlt.«

Nach Kidans Verhaftung war ein Wunder geschehen. Eine Frau, die wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung anonym bleiben wollte, hatte ihre horrende Kaution in voller Höhe beglichen.

»Du verdienst eine Chance, deine Unschuld zu beweisen«, sagte die Dekanin mit Nachdruck. »Wie jeder andere auch. Du bist doch unschuldig, oder?«

Kidan wich zurück. Diese Frau war nicht gekommen, um über June zu sprechen. Freundlichkeit, vor allem dieser Art, hatte immer ihren Preis. »Warum sind Sie hier?«

Dekanin Faris musterte sie noch eine Sekunde. »Ich fürchte, deine Tante Silia ist gestorben. Sie wurde unerwartet krank, und die Krankheit schritt schnell voran. Es tut mir sehr leid.«

Kidan warf einen überraschten Blick auf den Paketkasten. Tot. Ihre Augen blieben trocken, aber der Schock warf sie aus der Bahn. Ein weiteres Familienmitglied war tot. Steckte derselbe Vampir dahinter?

Tante Silia existierte hauptsächlich in ihrer Fantasie, in Geschichten, in der Welt des Davor, um dem Danach einen Sinn zu geben. Um zu beweisen, dass sie nicht aus dem Nichts vor Mama Anoets Tür gestanden hatten. Kidan fühlte sich schwerelos, ein weiterer Faden war gerissen. Sie dachte an Junes honigfarbene Augen, ihr liebes Lächeln, und spürte wieder festen Boden unter den Füßen.

Die Dekanin zog einen strahlend weißen Umschlag mit einem blutroten Wappen hervor. »Damit bist du die nächste Erbin des Hauses Adane. Das ist dein Zulassungsbescheid.«

Kidan zuckte vor dem Brief zurück. »Ich habe kein Interesse daran, eine Sklavin der Vampire zu sein.«

Die Gesichtszüge der Dekanin entglitten. »Benutze keine Worte, deren Konsequenzen du nicht kennst. Es wird das letzte Mal sein, dass du dieses Wort in meiner Gegenwart aussprichst.«

Kidan wollte lachen, brachte aber nur ein angestrengtes Schnauben hervor. »Ich bin nicht interessiert. Ich will nur June.«

»Nun gut. Ob du es glaubst oder nicht, Studierende zu überzeugen, die nicht auf meine Universität wollen, gehört nicht zu meinen Aufgaben. Die meisten von ihnen geben alles, um einen Platz in Uxlay zu bekommen.« Sie zog einen weiteren Brief aus der Tasche. »Unterschreib das, dann verabschiede ich mich.«

Kidan beäugte den Umschlag misstrauisch. »Was ist das?«

»Ein Testament, das erst von deinen Eltern und dann von deiner Tante unterschrieben wurde und alles eurem letzten verbliebenen Dranaic hinterlässt.«

Verblüfft nahm sie den Brief. Das meiste war unleserlich gemacht, andere Passagen waren hervorgehoben. Kidan las mit wachsendem Entsetzen und zerknüllte den Rand des Briefes in ihren Fingern.

»Seltsam, nicht wahr?« Dekanin Faris’ Augen funkelten. »Das ist das erste Mal in der Geschichte von Uxlay, dass eine Familie beschließt, ihr Haus einem Dranaic zu vermachen. Ausgerechnet dem Vampir, den du beschuldigst, deine Schwester entführt zu haben, vertraut deine Familie genug, um ihm dein Erbe zu überlassen.«

Kidan kam die Galle hoch. Waren denn alle blind? Das war doch nur ein weiterer Beweis. Das Motiv. Er hatte ihre Familie um ihr Erbe betrogen oder sie irgendwie genötigt. Hatte June heimlich entführt, um sie auszusaugen …

»Nein«, sagte die Dekanin.

»Was?«

»Du glaubst, er hat sie gezwungen, das zu unterschreiben. Das stimmt nicht. Sie haben es aus freien Stücken getan. Es gibt viele Dinge in unserer Welt, von denen du nichts weißt. Die Macht der Häuser, die Macht unserer Gesetze. Wissen, das man nur erlangt, wenn man sich entscheidet, sich uns anzuschließen. Niemand kann Uxlay ohne Einladung betreten.«

Kidan betrachtete die unleserlichen Stellen auf dem Papier. Was hatte sie zu verbergen?

Dekanin Faris warf einen Blick auf ihre schmale goldene Uhr. Dann zog sie einen Stift aus ihrer endlosen Tasche.

»Ich muss leider los. Bitte unterschreib, dass du das Testament nicht anfechten wirst, dann gehe ich.«

Kidan starrte den Stift an, als wäre er vergiftet. Nach einer Weile ließ Dekanin Faris ihn sinken.

»Vielleicht brauchst du Zeit, um darüber nachzudenken. Falls du interessiert bist, die Häuser von Uxlay werden durch Bildung vererbt. Du musst an der Universität das Zusammenleben von Menschen und Vampiren studieren. Ich warte drei Tage auf deine Antwort.«

Die Gemütsruhe der Frau war entwaffnend. Als sie ihr den Zulassungsbescheid erneut reichte, nahm Kidan ihn bedächtig entgegen. Das Papier war hart und fest, auf dem Siegel zwei Löwen mit Schwertern im Maul.

Warum? Kidan starrte auf das Siegel und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Warum hatte ihre Familie so etwas getan? Als sie den Kopf hob, war die Frau verschwunden.

4.

Kidan warf den Zulassungsbescheid auf den zugemüllten Boden und trat gegen die Pyramide aus Nudelbechern in der Ecke, die von der Wand gegen ihr Schienbein prallten. Langsam sank sie zu Boden und ließ den Kopf hängen, ihre Zöpfe wie ein Vorhang, bis sie sich ihres Körpers und ihrer mühsamen Atmung unangenehm bewusst wurde. In der Ecke blätterte die Farbe ab, die Toilette funktionierte nur, wenn die anderen Mieter sie nicht übermäßig benutzten, und auf dem Teppich war ein mysteriöser Fleck, der nach Bleichmittel roch. Mit der Hitze hier hätte man einen Skorpion braten können. Sie hielt es keinen Tag länger aus. Nicht ohne ihre Schwester. Gedankenverloren strich sie mit dem Finger über ihr Schmetterlingsarmband. Sie wollte nach Hause. Auch wenn es nur dieser Pappkarton von einem Zuhause war.

Häuser erinnerten Kidan an verwilderte Haustiere. Sie waren unsauber, oft von Ungeziefer befallen, und egal, wie viel Mühe man hineinsteckte, eigentlich wollten sie niemandem gehören. Nicht wirklich. Die Vorstellung, dass sie sich andere Menschen suchten, die sie fütterten, wenn man selbst weiterzog, empfand sie als Verrat. Ihre Pflegemutter, Mama Anoet, hatte nichts dagegen gehabt, dass June und Kidan schon sehr jung Geld für die Miete dazuverdienten. Kidan verkaufte die seltsamen Armbänder, die sie bastelte, seit sie zehn war, und June backte ihre süchtig machenden pfenniggroßen Donuts. Bei der Erinnerung daran lief ihr das Wasser im Mund zusammen, dann wurde er trocken.

Mit klammen Fingern griff sie nach dem Testament ihrer Eltern. Bei jedem verräterischen Wort schoss Feuer durch ihre Adern. Ihre Familie wusste, dass Vampire gefährlich waren. Warum sonst hätten sie June und Kidan von allem fortgerissen, was sie kannten, ihre Identität ausgelöscht, ihnen alles genommen? In ihren zärtlichsten Momenten hoffte Kidan, dass ihre Eltern vor Mama Anoets Tür auftauchten, um gemeinsam mit ihnen zu fliehen. Sie musste ihnen ihr Versagen verzeihen, weil sie gestorben waren. Dieses Erbe hätte Kidan und ihre Schwester schützen können, stattdessen hatten sie das Undenkbare getan.

Sie hatten alles ihm vermacht.

Das Testament war mit dem Namen des Vampirs unterschrieben, das S gekringelt wie eine Schlange.

Susenyos Sagad.

Kidan hörte die Schreie ihres Opfers durch den Raum und in ihrer Brust widerhallen.

»Susenyos Sagad! Das ist sein Name. Er … Er hat sie entführt.«

Sie kratzte eine Form in den Teppich, das Fleisch ihres Fingers brannte auf dem rauen Stoff. Wieder und wieder und wieder. Ein Dreieck zeichnete sich ab. Gut. Ihr Geist und ihr Körper waren im Einklang. Was Susenyos Sagad betraf, empfand sie nichts als nackte Wut.

Manchmal verbarg Kidans Geist Dinge vor ihr, und nur ihre Finger konnten sie übersetzen. Dreiecke für Wut. Quadrate, wenn die Angst zu groß wurde, und Kreise für Momente der Freude.

Seit der Kindheit benutzte sie diese Symbole, um ihre Gedanken zu entschlüsseln.

Durch die unleserlichen Passagen konnte sie das Testament nicht in seiner Gänze verstehen. Was verbarg Dekanin Faris vor ihr?

Gesetz für die Erbschaft von Häusern

Soll ein Vampir das Haus der Familie erben, so muss er es 28 Tage hintereinander in Einsamkeit bewohnen, damit das Testament in Kraft tritt.

Kidan las es noch einmal. 28 Tage. Wie lange war es her, dass ihre Tante gestorben war? Eine Woche? Zwei? Bei der Vorstellung, dass Susenyos Sagad mit June als Mahlzeit zu Tisch saß und die Tage zählte, bis er das Haus vollständig in Besitz nehmen konnte, drehte sich ihr der Magen um.

Anfechtung des Testaments

Wenn ein Mensch das Haus seiner Familie erben will, muss er die Universität von Uxlay besuchen und das Zusammenleben von Menschen und Vampiren studieren.

Wenn der menschliche Nachkomme seinen Abschluss noch nicht gemacht hat, aber Anspruch auf das Haus erheben will, kann er während seines Dranacti-Studiums im Haus seiner Familie wohnen.

Dekanin Faris hatte den letzten Satz hervorgehoben. Sie sollte im Haus ihrer Familie wohnen, um die 28 Tage Einsamkeit zu unterbrechen. Ein Schlupfloch. Kidan würde mit ihm zusammenleben müssen. Säure füllte ihren Mund.

Sie stand auf, öffnete die Vorhänge ein wenig und erblickte zwei Reporter mit Kameras, die gerade eine Zigarettenpause einlegten. Aus Gewohnheit glitt ihr Blick zum Paketkasten.

Jemand holte ihren Brief heraus. Kidan zuckte zusammen.

»Hey!«

In dem Moment, in dem das Wort ihren Mund verließ, war sie auch schon aus der Tür und nahm drei Stufen auf einmal. Doch als sie unten ankam, war die Gestalt schon verschwunden.

»Scheiße!« Ihr Schrei erschreckte eine alte Dame und erregte die Aufmerksamkeit des einzigen verbliebenen Reporters.

Sie eilte über die Straße zu ihrem Schließfach, zückte den Schlüssel und versuchte hektisch, es aufzuschließen.

Ein hagerer Mann mit säuerlichem Atem tauchte mit seiner Kamera neben ihr auf. Am liebsten hätte sie sie ihm in den Rachen gestopft, doch sie hielt sich zurück.

»Kidan, die Nachbarn haben gehört, was passiert ist. Hast du die Sache von langer Hand geplant?«

Sie ignorierte ihn. Denn zum ersten Mal seit Jahren lag wieder ein gebundenes Buch in ihrem Spind. Ihre Finger zitterten, als sie das schwere Buch unter den Arm klemmte, den Kasten abschloss und eilig zurücklief. Der Reporter war ihr dicht auf den Fersen. Gerade als sie die Tür zuknallen wollte, rief er:

»Wie fühlt es sich an, ein Mitglied der eigenen Community zu töten?«

Kidan hob den Blick und sah direkt in die Kamera. Für einen Moment war sie die vierzehnjährige June, die sich in Mama Anoets Badezimmer versteckte und es kaum erwarten konnte, der Welt all die Dinge zu erzählen, die ihr Angst machten.

Böse, dachte sie. So fühlte es sich an. Und alles Böse muss sterben.

Tante Silias Tagebuch

Die Dekanin hat geschworen, sich nicht an dich zu wenden, aber sie wird ihr Versprechen brechen, wenn mir etwas zustößt. Ich kenne sie zu gut. Ich habe eine Vertraute in Uxlay gebeten, dies für dich zu hinterlegen. Sie schuldete mir einen letzten Gefallen. Und wenn du in die Höhle des Löwen gehst, musst du vorbereitet sein.

Ich wünschte wirklich, du würdest fliehen, aber die Hartnäckigkeit deiner Briefe zeugt von deiner Sturheit. Ich bete, dass sie dich schützt.

Hör gut zu, Kidan, und sei wachsam. Es begann lange vor meiner Zeit, aber irgendetwas verfolgt unsere Familie. Es hat deine Großeltern geholt, deine Eltern und jetzt deine Schwester. Uxlay hat sich gegen das Haus Adane gewendet.

Alles, was ich über die anderen Häuser weiß, habe ich in diesem Buch zusammengetragen sowie alles, was du sonst noch wissen musst. Irgendwo darin liegt der Schlüssel zu June. Wenn du dies liest, bedeutet es, dass ich sie nicht gefunden habe. Ich hoffe, das hilft dir weiter. Benutze meine Augen als deine, mein Wissen als deines, und finde die Wahrheit.

Falls du dich entscheidest zu fliehen, nimm das falsche Gift in diesem Buch. Es wird dir nicht schaden. Dein Vampir wird die Wirkung des Giftes daran erkennen, dass sich dein Geruch verändert. Uxlay wird glauben, dass du im Sterben liegst. Eine sterbende Erbin ist frei und wertlos. Nutze es, um frei zu sein.

Vertraue nur dir selbst.

In Liebe

Tante Silia

5.

Kidan zog sich langsam an und strich den Rollkragen über ihrer Kehle glatt. Sie bedeckte gern so viel Haut wie möglich, vor allem ihren Hals, trug entweder einen Schal oder ein Tuch zum Schutz.

Sie brachte ihre Zöpfe in Ordnung, die sich allmählich auflösten. Der Mangel an Sonnenlicht hatte das satte Braun ihrer Haut in einen kühlen, gelblichen Ton verwandelt. Sie verzog grimmig den Mund und griff nach der Stylingcreme, um sich den Anschein von Gepflegtheit zu geben.

Kidan hatte die ersten Seiten von Tante Silias Buch gelesen, bevor sie es an die Wand warf. Es fanden sich keine Antworten darin, nur weitere Fragen.

Tante Silia hatte sie an einen Ort gebracht, der nicht sicher genug war, und June hatte sie auch nicht gefunden.

All die Frauen, die geschworen hatten, Kidan zu beschützen, hatten sie im Stich gelassen.

Instinktiv berührte sie ihr Schmetterlingsarmband. Wenn Kidan genau hinsah, konnte sie noch Blutspuren auf den Flügeln erkennen. Das Blut seiner Besitzerin verlieh dem silbernen Metall einen makabren rubinroten Schimmer.

»Schmetterlinge«, klang ihr die Stimme seiner Besitzerin in den Ohren. »Sie erinnern uns daran, dass wir uns ständig verändern.«

Im Inneren des Schmetterlings befand sich eine kleine blaue Pille. Man musste sie nur schlucken, um diese Welt hinter sich zu lassen.

Kidan war zu jung, um sich an den Tod ihrer Eltern zu erinnern, doch seither hatte sie jeden Augenblick das Gefühl, allein in einem stockdunklen Raum zu sein, und ein unheimlicher, warmer Atem kitzelte ihren Nacken. Was auch immer es war, das da atmete, verharrte still. Es wartete. Es beobachtete.

Mama Anoet bezwang das Ungeheuer mit zarten Fingern – sie frisierte Kidans krauses Haar, kochte würziges Hühnchen zum Abendessen, zog ihnen für die Kirche Sonntagskleider an.

Sicherheit, sie hatte nach Sicherheit geschmeckt. Ein Gefühl, fremder noch als Moos auf der Haut.

Vor einem Jahr und sieben Monaten, in der Nacht ihres achtzehnten Geburtstags, war alles in Fetzen gerissen worden. Sie schloss die Augen vor der Erinnerung, aber es half nichts. Das Bild war tief in Kidans Seele, in ihr Innerstes eingebrannt.

June, zusammengesunken im Garten, in sanftes Mondlicht getaucht, die Lippen rot von Blut. Kidan, die an der verschlossenen Wohnzimmertür rüttelte, wütend dagegen hämmerte, während der Schatten eines Mannes nach ihrer Schwester griff und in der Nacht verschwand. Kidan hatte es der Polizei immer wieder erzählt – ohne mit einem Wort Vampire zu erwähnen. Sie hatte es der ganzen verdammten Welt erzählt. Aber Junes Zimmer war leergeräumt. Jede Spur von ihr verschwunden. Man stempelte sie als Ausreißerin ab. Eine volljährige Ausreißerin.

Kidan hatte gefoltert und getötet, um den Namen des Schattenvampirs zu erfahren. Und die ganze Zeit über hatte er im Haus ihrer Eltern gewartet. Hatte er sich in jener Nacht an June gelabt, bis sie starb? Oder hielt er sie gefangen? Kidans Blick verschwamm, und ehe sie sich versah, zückte sie ihr Handy und rief die Dekanin an.

Dekanin Faris meldete sich sofort.

»Ich bin’s«, rief Kidan, bevor sie es sich anders überlegen konnte. »Ich werde nach Uxlay kommen.«

»Das sind ausgezeichnete Neuigkeiten.«

»Unter einer Bedingung«, sagte sie langsam und versuchte zu atmen. »Ich brauche Eure besten Anwälte, um meinen Prozess rauszuzögern. Acht Monate sind alles, was ich brauche.«

Eine lange Pause. Kidan brauchte Zeit, um nach June zu suchen.

»Und warum sollte ich dem zustimmen?«

Kidan lehnte sich auf ihrem Bett zurück und sprach mit fester Stimme.

»Weil Ihr genauso wenig wollt wie ich, dass Susenyos Sagad Haus Adane erbt.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Ihr Herz schlug wie wild.

»Nun gut. Ich werde einen meiner Vertrauten schicken, um dich abzuholen.« Die Dekanin zögerte. »Aber eine Warnung, Kidan Adane, in Uxlay werden Vermächtnisse nicht einfach so vererbt. Sie müssen erkämpft werden. Bist du dazu bereit?«

Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken.

»Das bin ich.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, saß Kidan in der erdrückenden Stille und zeichnete ihre Formen.

Uxlay. Sie würde in die Höhle des Löwen gehen. Um mit ihm zu leben. Um ihn zu töten.

Das Mondlicht, das durchs Fenster fiel, verlängerte Kidans Schatten und verzerrte ihn zu einer dünnen, makabren Gestalt auf dem Teppich, die kaum von der zu unterscheiden war, die June entführt hatte.

Du bist nicht wie sie.

Aber sie war selbst ein Monster. Am Ende, wenn June gefunden und in Sicherheit war, würde sie ihre Schwester wieder zurücklassen müssen, und es brach Kidan das Herz. June würde nicht mehr mit ihr sprechen wollen, geschweige denn sie berühren, wenn sie von dem Leben erfuhr, das sie genommen hatte. Auch wenn es in ihrem Namen war, vor allem, weil es in ihrem Namen war. June würde ihr nicht verzeihen können, und damit konnte Kidan nicht leben. Gedankenverloren spielte sie mit der blauen Pille. Alles, was noch zu tun war, war, das Böse in ihr zu jagen und einzusperren, damit sie, wenn sie unweigerlich gehen würde, die Welt ein wenig besser hinterlassen würde.

6.

Die Universität Uxlay lag in einer Stadt, die von Bäumen verschlungen zu werden drohte. Ein altehrwürdiges Gemäuer, still wie ein Kloster während des Gebets. Die Türme des Campus fingen das erste Sonnenlicht ein und leuchteten im Morgennebel. Sie glichen vier uralten Kerzen in den Armen eines Wesens, das jeden Tag erwachte, um für die Sünden seiner Bewohner zu büßen.

Kidan fand, es gäbe einen besseren Weg, ihre Seelen zu retten. Die Sonne musste brennen. Mit solcher Wut brennen, dass die Türme in heiligen Flammen aufgingen. Das wäre wahre Absolution.

Sie hatte nicht viel darüber nachgedacht, wo sie sterben würde, aber hier, auf dem kopfsteingepflasterten Gelände, so viel Chaos wie möglich anrichten, bevor sie in die Hölle kam? Das barg eine gewisse Poesie.

Ihr Lächeln spiegelte sich in der regenverschmierten Scheibe, eine leichte Wellenbewegung.

Seit wann habe ich eine poetische Ader, dachte sie. Vielleicht werde ich doch eine gute Studentin.

Die Universitätsstadt war klein, aber sie hatte ihr eigenes Rascheln, Menschen, die vor Geschichten und Geheimnissen flimmerten, gefangen in den Klauen der Dranaics. Sie riss sich zusammen, den Blick zu Boden gerichtet, und lauschte Junes Stimme. Sie konnte es sich nicht leisten, sich ablenken zu lassen oder in anderen zu verlieren.

Nachdem die Dekanin sich hatte entschuldigen lassen, weil irgendeine Sitzung länger dauerte als vorgesehen, trat Kidan allein in die gähnende Morgendämmerung. Trotz der frühen Stunde herrschte Geschäftigkeit, Türen öffneten und schlossen sich, und der Geruch von Kaffee lag in der Luft. Die Sonne brach langsam durch den Nebel.

Sie kam an einem kleinen Garten mit zwitschernden Vögeln vorbei, zu friedlich für einen Ort wie diesen. In der Mitte flackerte eine Feuerstelle mit einem Rost. Sie ließ sich auf der gegenüberliegenden Bank nieder und hielt ihre Handflächen gegen die Wärme.

Eine kleine Gestalt zuckte zu ihren Füßen – ein Vogel mit gebrochenem Flügel. Etwas hatte seinen schlanken Hals durchbohrt. Kidan nahm das Wesen in die Hände. Sie spürte das flatternde Herz des Vogels, während er wütend mit den Flügeln schlug.

»Ganz ruhig. Ich helfe dir«, flüsterte sie.

Es musste doch irgendwo eine Krankenstation geben. Sie sah sich um und rief den ersten jungen Mann, den sie sah. Er hatte den Blick gen Himmel gerichtet, einen Finger zwischen den Seiten eines Buches, das er auf seine schwarze Hose stützte.

Sie zog ihre Kopfhörer raus. »Hey, kannst du mir helfen?«

Aus der Nähe war er älter, vielleicht Mitte zwanzig, dunkelhäutig wie der Rest der Menschen in dieser Stadt, aber mit einem gesunden Glow, den Kidan nur hatte, nachdem sie in der Sonne war. Sein gezwirbeltes Haar war zurückgebunden, vorn zwei lose Strähnen, die sein kräftiges Kinn umrahmten.

»Sein Flügel ist gebrochen. Gibt es hier eine Krankenstation?«

»Nicht für Tiere.« Seine Stimme klang tief und zurückgenommen, als würde er nicht oft sprechen.

Das Buch in seiner Hand zeigte auf dem Einband eine aufgeschnittene Grapefruit.

Kidan betrachtete das weiche blaue Gefieder und die Knopfaugen des Vogels. Sie schienen direkt in ihre Seele zu blicken.

»Du bringst ihn um, wenn du ihn so fest hältst.« Seine Worte kamen wie aus einem Tunnel. Er streckte seine große Hand aus und wartete. »Er leidet.«

Seine Züge waren geschliffen wie dunkles Glas. Der seltsame Drang, seine Augenbrauen nachzuzeichnen, überkam sie. Die Morgensonne beschien sein Haar und krönte ihn wie einen verlorenen König. Der Rest seines Gesichts lag im Schatten. Es hatte die faszinierende Schönheit einer Sonnenfinsternis, etwas, das man betrachten und bewundern wollte, auch wenn man sich die Augen verbrannte. Kidan wollte nicht blinzeln. Oder besser gesagt, sie konnte nicht. Sie beobachtete ihn mit dem schrecklichen, fiebrigen Gefühl, etwas zu wollen, was ihr nicht gehörte. Obwohl es ihr peinlich war, konnte sie nicht aufhören, ihn anzustarren.

Er ließ sie gewähren.

Als wüssten sie beide, dass er sich ihr schon bald entziehen würde. Und er tat es, langsam und sanft wie die Wolken, die sich über ihnen bewegten, und die fallenden Blätter, die zu ihren Füßen tanzten. Ohne die Täuschung der Sonnenstrahlen konnten seine Augen ihre Wahrheit nicht verbergen. Sie waren nicht mehr auf ihr Gesicht gerichtet, sondern auf ihren Kragen. Kochten vor Verlangen. Derselbe Hunger blieb, als er den Vogel anstarrte. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Er war kein Student.

Ihre Hände packten fester zu, immer fester, bis das Flattern langsamer wurde, stotterte und dann aufhörte. Kidan ließ den Vogel in seine Hände fallen. Er lag leblos da, den Hals eingezogen.

Der Mann hob den Blick von dem toten Vogel. »Warum hast du ihn mir nicht gegeben?«

»Weil du ihn auch getötet hättest.« Kidans Haut prickelte, als er sie mit verhaltenem Interesse ansah. »Du bist einer von ihnen, oder? Ein Dranaic?«

Sein Teint war der Erde zu nah. Sie hätte es wissen müssen. Er war schön, mit Augen, die tausend Jahre gelebt hatten und alldem wenig abgewinnen konnten.

Der Anflug eines Lächelns. »Du beschuldigst mich einer Tat, die du selbst begangen hast, du bist unzweifelhaft ein Mensch.«

Kidan biss die Zähne zusammen. »Ich wollte ihn nicht töten.«

»Was spielt das für eine Rolle? Tot ist tot.«

»Töten aus Verlangen ist grausam. Du wolltest ihn töten – du hättest es genossen. Ich kann es sehen.«

Er bestritt den Vorwurf nicht. Kidan erhob sich und strich sich zwei Federn ab. Der Dranaic beobachtete sie, den Vogel immer noch in der Hand. Er wartete, bis sie sich Auge in Auge gegenüberstanden, bevor er das Wesen in die Feuergrube schleuderte.

Sie versuchte, ihn aufzufangen, fiel auf die Knie und schrie auf, als das heiße Metall ihre Finger verbrannte. Entsetzt sah Kidan zu, wie sich die Federn schwärzten.

Eine vertraute, scharfe Stimme hallte aus dem Feuer: »Das Böse ist in dir. Es wird uns vergiften. Bete, Kidan.«

Der Vampir hockte sich neben sie, erleuchtet von der warmen Glut, seine Stimme ganz nah.

»Tod durch Verletzungen, Tod durch Ersticken, Tod durch Verbrennen«, gab er zu Bedenken. »Sag mir, Mensch, was hätte der Vogel vorgezogen?«

Kidans Blick wurde schwarz, wie gebannt von den verzehrenden Flammen, ihre Kehle wie zugeschnürt.

Er seufzte höhnisch. »Du hast dich in sein Leben eingemischt und ihm drei Tode beschert, obwohl er nur einen hätte haben können. An deiner Stelle wäre ich entsetzt. Eine unmoralische Seele wie du sollte nicht frei rumlaufen.«

Es herrschte ein Moment der Stille zwischen ihnen, während das Feuer ihre Haut wärmte.

»Oder«, fuhr er fort. »Du könntest aufstehen, dir selbst dafür applaudieren, dass du den Tod so geschickt über seine stumpfen Grenzen hinaus ausgedehnt hast, und dich mir anschließen, um einen Nachmittag mit mir über die Sterblichkeit zu plaudern.«

Kidan stand langsam auf und spuckte ihm vor die Füße. Sein toter Blick funkelte amüsiert und huschte wieder zu ihrem Hals. Verharrte gerade so lange, dass sie es bemerkte. Sie wollte das Halstuch fester ziehen, aber noch mehr wollte sie ihm wehtun, ihr Messer aus der Jacke ziehen und es ihm in die Brust stoßen, unter dem hörbaren Keuchen des Fremden. Sie beherrschte sich. Ein Messer würde ihn ohnehin nicht töten. Sie zwang sich wegzugehen. Es stand zu viel auf dem Spiel, und sie war erst eine Stunde hier.

7.

Bevor du euren Haus-Dranaic kennenlernst, musst du genau verstehen, wofür du kämpfst«, sagte Dekanin Faris und nippte an ihrem Tee.

Sie saßen im Haus Grand Faris, im Bauch eines Wals. Eine kühle Brise vom offenen Balkon ließ Kidan frösteln.

Der Tee war in ihren Händen kalt geworden. »Ich bin hier, um das Haus zu erben.«

»Ja, aber was genau ist ein Haus?«

Sie runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?«

»Häuser sind Macht. Nicht im metaphorischen Sinne, sondern wortwörtlich.« Sie hielt einen Moment inne und ließ die Worte wirken. »Warum versuchst du zum Beispiel nicht, diese Teetasse fallen zu lassen?«

Kidan senkte den Blick und hob ihn dann wieder. Vielleicht hatte das Zusammenleben mit diesen Kreaturen die Dekanin in den Wahnsinn getrieben.

»Stell die Teetasse auf den Tisch«, wiederholte sie.

Kidan tat es. Doch als sie ihren Griff lockerte, blieb die Teetasse kleben. Sie versuchte es nochmal, mit so viel Kraft, dass es klirrte. Ihre Finger blieben um den Henkel geschlungen. Kidan sprang auf und schüttelte die Hand. Der Becher flog nicht gegen die Wand.

»Ist die an meiner Hand festgeklebt?«, fragte Kidan.

Dekanin Faris zog eine Augenbraue hoch. »Bitte, setz dich, ich erkläre es dir.«

Kidan setzte sich langsam, die Nerven zum Zerreißen gespannt.

Die Dekanin schob eine Tafel in die Mitte des Tisches, auf der etwas geschrieben stand.

In diesem Haus wird keine Teetasse abgestellt.

»Die Häuser befolgen nur ein Gesetz. Das Gesetz, das ihre Besitzer erlassen.« Die Stimme der Dekanin klang ruhig, einstudiert. »Dieses habe ich mir natürlich extra für dich ausgedacht.«

Kidan blinzelte. Und blinzelte noch einmal. Sie schob ihren Stuhl zurück und ging in die Küche. Zuerst versuchte sie, die Tasse von ihrer Haut zu lösen, indem sie die Kante der Arbeitsplatte als Hebel benutzte. Als das nicht klappte, fand sie einen Löffel und versuchte, ihn unter ihre Handfläche zu stemmen. Das brachte nur eine Reihe von Flüchen hervor, weil der Löffel ihr entglitt und gegen ihre Augenbraue prallte. Sie drehte den Wasserhahn auf und tauchte ihre Hand ins Wasser, aber davon wurde das Porzellan nur glitschig und ihr Pullover nass.

»Wenn du fertig bist, könnten wir weitermachen«, ertönte die Stimme der Dekanin von nebenan.

Kidan drehte den Wasserhahn zu und beugte sich schwer atmend über die Spüle. Unmöglich. Ausgeschlossen.

Kidan kehrte zurück, durchnässt und verängstigt. »Machen Sie das weg.«

»Natürlich«, Dekanin Faris stellte die eigene Teetasse ab. Sofort löste sich Kidans Tasse und fiel runter. Instinktiv fing Kidan sie auf. Mit offen stehendem Mund untersuchte sie die glatte Oberfläche. Nichts Ungewöhnliches daran, und doch hatte sich die Schwerkraft ihrer Welt verschoben.

»Wie?«

»Nach Jahren der Herrschaft werden die Häuser zu einer Erweiterung ihrer Besitzer. Sie sind sehr komplizierte Wesen.«

Die Macht der Häuser …

Kidan setzte sich wieder und betrachtete ihre Tasse, als könnte sie jeden Augenblick anfangen zu singen.

»Hast du dich beruhigt?«, fragte die Dekanin.

Kidan nickte.

»Schön. Dann hör gut zu, was ich dir jetzt erzähle. Hunderte von Jahren haben Vampire die Menschen gejagt und gequält. Wir waren völlig machtlos gegen sie. Die Einzigen, die es mit ihnen aufnehmen konnten, waren die sogenannten Weisen, und die wurden systematisch ausgerottet.« Dekan Faris runzelte kurz die Stirn. »Bevor der Letzte Weise starb, erschuf er jedoch die Drei Fesseln.«

Kidan wusste von diesen machtvollen Fesseln. Sie hatte sie oft rezitiert, wenn sie nach Albträumen Junes verschwitzten Körper an sich drückte. Die Dritte Fessel war ihre liebste. Sie sorgte dafür, dass die Vampire sich nicht vermehren konnten.

»Der Letzte Weise gab uns auch die Macht über unsere Häuser. Jeder Acti, also jedes Mitglied der achtzig Familien, hat das Potenzial, Hausbesitzer zu werden. Früher konnte jedes Haus seine eigenen Gesetze erlassen. Wie man sich vorstellen kann, hat das zu allerlei Konflikten zwischen den einzelnen Familien geführt.«

»Gesetze … wie Länder«, echote Kidan, die Gedanken immer noch vernebelt.

»Genau. Jedermann, jedes Haus für sich selbst. Als Frieden zwischen Vampiren und Menschen geschlossen wurde, luden wir die Vampire ein, mit uns zu leben, in unseren Häusern, als unsere Gefährten. Das hat alles verändert.«

Kidan verzog den Mund, als sie die Worte Frieden und Vampire in einem Satz hörte. Sie waren von Natur aus Gegensätze, und das eine konnte nicht existieren, während das andere lebte.

Dekanin Faris fuhr fort.

»Uxlay ist einzigartig, weil wir uns entschieden haben, als Gemeinschaft zu handeln. Zwölf Erben und Erbinnen haben sich zusammengeschlossen, um in jedem Haushalt ein und dasselbe universelle Gesetz zu befolgen. Ein Gesetz, das uns vor der Außenwelt schützt.«

Der Nebel löste sich auf und hinterließ einen roten Schleier. So viel Macht, um sich vor der Außenwelt zu schützen? Wozu, wenn das Problem innerhalb dieser Mauern lag?

»Komm mit.« Dekanin Faris schob ihren Stuhl zurück und trat auf den Balkon.

Kidan folgte ihr und stemmte sich gegen den starken Wind. Vor ihnen erstreckte sich ganz Uxlay. Herrschaftliche Villen umgaben den Campus wie ein Gürtel.

»Wie du vielleicht bemerkt hast, grenzt jedes Haus an das Nachbargrundstück. Das ist so gewollt, damit die Gültigkeit des universellen Gesetzes nicht unterbrochen wird.«

»Was genau ist das für ein Gesetz?«

»Kein Unbefugter kann Uxlay finden oder betreten, weder Mensch noch Vampir.«

Kidans Hände krampften sich ums Geländer. Jetzt begriff sie, warum sie die Universität nicht gefunden hatte. Die Tage und Monate, die sie in ihrer Wohnung verbracht und sich selbst fast in den Wahnsinn getrieben hatte, weil sie wusste, dass dieser Ort existierte, es aber nicht beweisen konnte … Es war grausam gewesen. Sie betrachtete die Gesichtszüge der Dekanin, die Falten in den braunen Augenwinkeln, die ihr Alter verrieten.

Kidan runzelte die Stirn. »Aber dieses Haus liegt nicht an der Grenze.«

Dekanin Faris nickte. »Als Gründer sind die Häuser Adane und Faris die einzigen, die eigene Gesetze erlassen können. Daher liegen Amt und Aufgaben des Dekans von Uxlay bei uns.«

Kidan schwankte fast. Ihre Vorfahren hatten Uxlay gegründet? Sie waren Dekane gewesen? Und was noch wichtiger war: Das Haus Adane konnte eigene Gesetze erlassen. Sie konnte sich nicht vorstellen, welche Macht das bedeutete. Der Schock über diese neue Entdeckung verwandelte sich in eine aufregende Möglichkeit.

Kidans Augen leuchteten. »Wollen Sie damit sagen, dass ich im Hause Adane jedes Gesetz erlassen kann? So wie Sie das mit der Teetasse?«

Dekanin Faris wählte ihre Worte mit Bedacht. »Hausgesetze zu erlassen und zu ändern, ist eine unglaublich schwierige Kunst. Eine, die du im nächsten Jahr lernen wirst, wenn du dann noch bei uns bist. Aber es wird einige Jahre dauern, bis du es beherrscht.«

Jahre …

Ihr Blick wanderte zu der Teetasse. Konnte es wirklich so schwer sein?

Die Dekanin deutete auf ein dunkles Gebäude, direkt gegenüber. »Haus Adane. Nur unsere Häuser liegen innerhalb der Grenze, Kidan. Es ist eine große Verantwortung, die uns da übertragen wurde, eine Macht, die wir nicht missbrauchen dürfen. Wenn Susenyos Sagad das Haus Adane erbt und diese Macht missbraucht, wird Uxlay auseinanderbrechen.«

Ein bitteres Lächeln umspielte Kidans Lippen. »Wenn Sie ihm nicht trauen, warum glauben Sie mir dann nicht, dass er meine Schwester entführt hat?«

Dekanin Faris sprach langsam. »Welche Beweise gibt es dafür, dass er deine Schwester entführt hat?«

Kidan öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Das Geständnis ihres Opfers klang ihr in den Ohren.

Susenyos Sagad! Er hat sie entführt!

Sie biss sich auf die Zunge. Kidans Beweis konnte nicht verwendet werden. Noch nicht.

»Hausgesetze können nur von ihren wahren Besitzern geändert werden. Du siehst also, wie groß die Verantwortung der Erben und Erbinnen in Uxlay ist. Ihr alle seid entscheidend für den Erhalt der Gemeinschaft von Uxlay und die Sicherheit unseres Volkes.«

Kidan begann zu verstehen. »Und die jeweiligen Gesetze gelten nur innerhalb eines Hauses, nicht außerhalb? Richtig?«

Dekanin Faris hob ein heruntergefallenes Blütenblatt vom Sims und ließ es vom Wind davontragen. »Ja. Mein Gesetz gilt nur auf dem Grund und Boden von Haus Faris.«

Kidan betrachtete den Grenzkreis jetzt mit anderen Augen. Jedes dieser Häuser grenzte an das nächste, sodass ihr gemeinsames Gesetz einen mächtigen Schutzschild bildete.

»Was passiert, wenn eines der Häuser an der Grenze beschließt, das universelle Gesetz zu brechen?«

Kidan stellte sich das Ganze wie einen Damm vor, eine einzige undichte Stelle und er stürzte ein. Gab ihre Existenz der Außenwelt preis.

Dekanin Faris sah sie neugierig an. »Uxlay wurde als sichere und verborgene Gemeinschaft gegründet. Jeder, der das infrage stellt, wird aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen. Wir werden Wege finden, diesen Verlust auszugleichen.«

Ihre Worte klangen eher wie die eines Generals, der zu seiner Armee sprach.

Kidans Stirn legte sich in Falten. »Aber was ist, wenn sich die Vampire hier gegen euch erheben? Wenn sie euch verskla … äh, gefangen nehmen, euch zwingen, ihnen Blut zu geben?«

Dekanin Faris schien sich an der Frage nicht zu stören. »Es ist genau diese von Tod und Chaos geprägte Lebensweise, die der mächtige Weise beendet hat, als er die friedliche Koexistenz vorschlug. Glaubst du, Vampire sind hirnlose Agenten der Gewalt? Sie sehnen sich nach Frieden, genau wie wir. Sie haben sich für ein Zusammenleben mit uns entschieden, und das schon seit Generationen. Wer das nicht will, kann Uxlay verlassen, und hat es getan.«

Sie sehnen sich nach Frieden, genau wie wir. Kidan wollte lachen, aber Dekanin Faris schien ihre eigenen Worte wirklich zu glauben.

Die Dekanin ging wieder rein und schenkte Zimttee nach.

»Wenn Susenyos Sagad das Haus 28 Tage hintereinander allein bewohnt, wird er der alleinige Besitzer. Wenn du bei ihm einziehst, wird das Testament ausgesetzt, und du hast Zeit, deinen Abschluss zu machen und dein Haus zurückzufordern. Bitte trink.«

Kidan griff nach der heißen Tasse Tee, und ein Kribbeln durchlief ihren Arm. Sofort stellte sie die Tasse wieder ab, um zu sehen, ob das Gesetz wirklich geändert war. War es. Wie funktionierte das alles?

»Oder Sie könnten ihn einfach verhaften.«

»Ich bewundere deinen Mut, Kidan, aber deine Vorurteile und Unterstellungen werden dir das Leben hier schwer machen. Bis zu einem gewissen Grad sind sie nützlich. Sei wachsam, aber niemals kaltherzig. Vor allem, wenn die kleinen Gruppen und Clubs von Uxlay anfangen, dich einzuladen.«

Kidan rümpfte die Nase. »Ich bin an keiner Gruppe interessiert.«

»Aber sie werden sich für dich interessieren.« Die stechenden Augen der Dekanin funkelten warnend. »Jeder will eine Gründererbin zur Freundin haben. Sei vorsichtig.«

»Klar … Aber muss ich den Unterricht besuchen?«

Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. »Ja. Du musst teilnehmen, und Durchfallen ist keine Option. Jeder andere Acti kann durchfallen und es im nächsten Jahr noch einmal versuchen, ohne sein Erbe zu gefährden. Du nicht. Deine einzige Chance ist, unsere Philosophie zu studieren. Wenn du versagst, hat Susenyos das Recht, dich zu vertreiben, bis im nächsten Jahr ein neuer Kurs beginnt, und dann wird es zu spät sein.«

Kidan stieß die Luft aus. Und nickte.

»Doch bevor das Studium beginnt, musst du noch etwas Wichtiges erledigen.« Dekanin Faris beugte sich vor, als wollte sie ihr ein Geheimnis verraten. »Ich möchte, dass du herausfindest, welches Gesetz in deinem Haus gilt. Es offenbart sich nur potenziellen Erben.«

Es gab bereits ein Gesetz.

Kidan senkte den Blick auf ihre Hände. »Ich nehme an, es geht nicht um Tee.«

Dekanin Faris lächelte schwach. »Nein, ich fürchte nicht.«

»Und wo finde ich das Gesetz? Auf einem Tisch, so wie hier?«

Die Dekanin zögerte, und zwischen ihren Brauen bildete sich eine Sorgenfalte. »Das Haus ist ein Echo der Seele. Jedem potenziellen Erben stellt es sich anders dar. Ich kann dir nur sagen, dass sich das Gesetz in dem Raum verbergen wird, den du am wenigsten betreten willst.«

Kidan blinzelte langsam. »Das verstehe ich nicht.«

»Das wirst du, sobald du dich eingelebt hast«, lächelte sie. »Im Gegensatz zum Erlassen oder Ändern eines Hausgesetzes sollte das Lesen eines bestehenden Gesetzes recht einfach sein. Ich habe volles Vertrauen in dich.«

Ihr Blick fiel auf die wogenden Vorhänge, die im Wind flatterten, und sie legte den Kopf schief, als würde sie lauschen.

»Herein«, sagte Dekanin Faris, obwohl niemand geklopft hatte.

Ein Mann mit Zöpfen und unnatürlich aufrechter Haltung betrat den Raum.

»Das ist Professor Andreyas, mein Gefährte und dein Professor für Einführung in Dranacti«, sagte die Dekanin.

Dranacti – das war der offizielle Name des Philosophiekurses, den sie unbedingt bestehen musste. Kidan reichte ihm nicht die Hand, und er ihr auch nicht. Ihr fiel auf, wie gut ihnen die menschliche Haut passte. Er musterte sie, ohne zu blinzeln, und es lief ihr kalt den Rücken runter.

»Es ist mir ein Vergnügen.« Seine Stimme kräuselte das Wort ein wie ein Skorpionschwanz. Er beugte sich vor, um der Dekanin ein paar Worte zuzuflüstern.

Am Ärmel von Professor Andreyas steckte eine goldene Anstecknadel – ein schwarzer Vogel mit einem silbernen Auge. Das Siegel von Haus Faris, wie Kidan gelernt hatte.

»Gut«, sagte Dekanin Faris. »Wir gehen jetzt Susenyos besuchen. Komm, Kidan. Ich erkläre dir alles unterwegs.«

Kidan folgte den beiden nach draußen. Nebeneinander boten sie einen seltsamen, aber beeindruckenden Anblick. Der eine Unmensch, stählerne Haut, ewig. Die andere eine Schwarze Frau, weiches Fleisch, alternd. Und doch folgte er ihren Schritten, beugte sich ihrer Stimme, passte sich ihren Bewegungen an. Der Schatten einer Sonne.

8.

Dekanin Faris und Kidan erreichten ein Haus, das aussah wie ein Spukschloss. Wenn Häuser Kidan an verwilderte Haustiere erinnerten, so hatte dieses abgebrochene Zähne und litt an einer seltsamen Krankheit.

Sie sah zu den Fenstern und hielt Ausschau nach dem Dranaic, der ihre Familie überlebt hatte. Wäre die Dekanin nicht gewesen, hätte Kidan auch dieses Haus angezündet.

»Ich dachte, es wäre größer«, sagte Kidan finster und verglich es in Gedanken mit der herrschaftlichen Villa der Dekanin.

»Deine Eltern hatten einen dezenten Geschmack.« Die Gesichtszüge von Dekanin Faris hellten sich auf, als sie das Haus betrachtete. »Ich habe dieses Haus seit dreißig Jahren nicht mehr betreten.«

»Warum?«

»Mit zwanzig habe ich die Herrschaft über mein Haus erlangt, und seither darf ich Häuser, die jemand anderes beherrscht, nicht mehr betreten. Das Haus Adane gehört im Moment niemandem. So etwas kommt nur sehr selten vor, und ich freue mich auf den Besuch.«

Ihre seltsamen Bräuche erschlossen sich Kidan nicht. Sie betrachtete den schwarzen Schornstein und die ungereinigten Dachrinnen.