In den Augen meiner Mutter - Jo Leevers - E-Book

In den Augen meiner Mutter E-Book

Jo Leevers

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Beschreibung

Ein Familienroman, der unter die Haut geht: Ist die schwangere Georgie bereit herauszufinden, was ihre Mutter 20 Jahre lang verheimlicht hat? Die 32-jährige Georgie ist im achten Monat schwanger, als sie durch Zufall einen Hinweis auf den Aufenthaltsort ihrer Mutter Nancy erhält. Vor 20 Jahren hatte Nancy ihre Familie einfach so verlassen – ohne Erklärung, ohne Abschied. Jetzt, da Georgie selbst Mutter wird, kann sie das noch weniger verstehen als damals. Aber sie hat das Gefühl, Antworten zu brauchen, um in ihrem eigenen Leben endlich zur Ruhe zu kommen. Zusammen mit ihrem Bruder Dan reist Georgie in die schottischen Highlands, wo in den Medien über ihre Mutter berichtet wurde. Unterwegs kommen Erinnerungen an ihre Kindheit zurück, die mehr und mehr Fragen aufwerfen. War es etwa Georgies Schuld, dass Nancy gegangen ist? Und war ihr Vater wirklich der Held in der Geschichte? Was die Geschwister über ihre Familie herausfinden, erschüttert all ihre Gewissheiten. Und es stellt Georgies eigene Entscheidungen infrage. Einfühlsam und ergreifend, ohne kitschig zu werden, erzählt Jo Leevers' berührender Familienroman »In den Augen meiner Mutter« von den Dynamiken innerhalb einer Familie, von den Banden zwischen Müttern und ihren Kindern, von Lügen und Geheimnissen und davon, wie unsere Erinnerungen uns täuschen können. Eine bewegende Familiengeschichte, die Leser*innen von »Der Gesang der Flusskrebse« oder »Vom Ende der Einsamkeit« tief berühren wird.

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Seitenzahl: 447

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Jo Leevers

In den Augen meiner Mutter

Roman

Aus dem Englischen von Maria Hochsieder

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Einfach so hat Georgies Mutter Nancy ihre Familie vor zwanzig Jahren verlassen – ohne Erklärung, ohne Abschied. Jetzt, da Georgie selbst Mutter wird, kann sie das noch weniger verstehen als damals. Aber sie hat das Gefühl, Antworten zu brauchen, um in ihrem eigenen Leben endlich zur Ruhe zu kommen. Zusammen mit ihrem Bruder Dan macht Georgie sich auf die Suche nach Nancy. Unterwegs kommen Erinnerungen an ihre Kindheit zurück, die mehr und mehr Fragen aufwerfen. War es etwa Georgies Schuld, dass Nancy gegangen ist? Was die Geschwister über ihre Familie herausfinden, erschüttert all ihre Gewissheiten. Und es stellt Georgies eigene Entscheidungen infrage.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Neunundvierzig

Fünfzig

Einundfünfzig

Zweiundfünfzig

Dreiundfünfzig

Vierundfünfzig

Fünfundfünfzig

Danksagung

Im Gespräch mit Jo Leevers

Für A, T & M, die ich sehr liebe

Prolog

Georgie, April 2002

Seit sie einen eigenen Hausschlüssel hat, macht sich Georgie nicht mehr ganz so große Sorgen. Solange sie in der Schule ist, ist er in dem paillettenbesetzten Federmäppchen mit dem Reißverschluss sicher aufgehoben, und wann immer sie mag, kann sie mit der Hand nach dem weichen ledernen Schlüsselanhänger tasten und sich vergewissern, dass er noch da ist. So macht es nichts aus, wenn ihre Mutter bei Georgies Heimkehr die Tür nicht aufmacht.

Ein eigener Schlüssel war Teil der Neuerungen, die zu Georgies Wechsel an die weiterführende Schule gehörten, genau wie die kratzige Schuluniform, Mittagessensgeld statt eines Pausenbrots und eine Reihe neuer Regeln, die eher von den anderen Kindern als den Erwachsenen aufgestellt wurden.

Es ist ein Montag, der erste Schultag nach den Osterferien, und die Mädchen in Georgies Klasse haben darüber geredet, wo sie die Ferien verbracht haben: in einem Wohnwagen auf der Isle of Wight, in einem Ferienhaus in Spanien. Georgie hatte kein Bedürfnis, irgendjemandem von ihrem Urlaub zu erzählen: eine katastrophale Woche in einem feuchten Cottage in Wales, wo sich die Eltern in der Küche anschrien und Georgie und ihr Bruder ihnen aus dem Weg gingen, bis es vorbei war.

Doch Georgie hofft, dass bei ihrer Rückkehr in das warme, chaotische Durcheinander ihres Hauses in der St Luke’s Road alles wieder normal ist. Wenn sie heimkommt, ist ihre Mum vielleicht schon dabei, das Abendessen zu kochen, rührt in einer ihrer etwas zu bitteren Tomatensoßen auf dem Herd, während der Knoblauchgeruch in die Diele wabert. Aus dem Radio kommt Musik, zu der Mum sich wiegt und mitsingt, und der schreckliche Urlaub und die Dinge, die dort gesagt wurden, sind vergessen.

Doch als Georgie von der Schule nach Hause kommt und den Schlüssel in das lockere Schloss steckt, spürt sie, dass etwas nicht in Ordnung ist. Schon als sie die Tür aufschiebt, liegt ein Gefühl der Verlassenheit in der Luft, als sei das Haus den ganzen Tag leer gewesen. Trotzdem ruft sie »Hallo?« und geht durchs Haus in den Garten.

Dort findet Georgie ihre Mutter an ihren schlechten Tagen oft schlaff im durchhängenden Liegestuhl herumlungern, zu weit weg, um die Türglocke zu hören. Stundenlang sitzt sie da, mit aufgesetzter Sonnenbrille und Zigarette, die lose zwischen zwei Fingern baumelt, und einem grauen Aschehäufchen auf dem grob gemähten Rasen. Georgie sieht die Rückseite des Liegestuhls, und einen kurzen Augenblick regt sich Hoffnung. Doch dann hebt eine Brise den gestreiften Stoff an und bläht ihn auf zu einem prallen, wogenden Signal, dass niemand zu Hause ist.

Im Elternschlafzimmer fährt Georgie mit den Fingern über die zerknitterten Kleider im Schrank ihrer Mutter. Sie tupft sich etwas vom Parfum aus dem Body Shop auf die Handgelenke, dreht einen eingetrockneten Lippenstift heraus und wieder hinein. Hier ist noch alles da. Vielleicht wird ja alles wieder gut.

Sie geht zurück in die Küche, mischt Orangensirup und Wasser in einem Krug und konzentriert sich darauf, dass ihre Hand nicht zittert, als sie zwei Becher einschenkt. Dann legt sie vier Vollkornkekse auf einen Teller. Sie möchte es wiedergutmachen, denn ihr ist bewusst, dass sie auf eine Weise, die keiner ahnt, die Schuld an allem trägt.

Als ihr Bruder Dan vom Rugbytraining nach Hause kommt, sitzen sie schweigend am Küchentisch und warten auf das Klacken des Riegels am vorderen Gartentor. Als es ertönt, gleich darauf gefolgt vom Geräusch sorgfältig abgestreifter Schuhe auf der Fußmatte, wissen sie, es ist ihr Vater. Kaum dass er die Küche betritt, spürt Georgie, wie sich ihr Inneres verknotet, denn sie ahnt, was er sagen wird.

»Eure Mutter ist für eine Weile verreist«, erklärt er ihnen und leckt sich über die trockenen Lippen. »Es geht ihr nicht so gut, eine Auszeit wird ihr guttun. Das wird uns allen guttun.« Dann zwingt er seinen Mund in die Form eines Lächelns.

Dan gibt sich alle Mühe, zur Erwiderung sein breites Grinsen aufzusetzen, Georgie aber bringt es nicht über sich, mitzuspielen. Sie denkt daran, was in der vergangenen Ferienwoche passiert ist und was sie gesagt hat, womit all das in Gang gesetzt wurde.

Georgie geht zum Spülbecken, kippt ihren Becher aus und sieht zu, wie die orangefarbene Flüssigkeit über das weiße Porzellan schwappt. Sie hat so viele Fragen, die nur ihre Mutter beantworten kann. Vermutlich aber wird sie noch eine Weile warten müssen, bis sie die Wahrheit erfährt.

Eins

Nancy

Nan steht im Türrahmen und spürt, dass es eine kalte Nacht werden wird. Schon jetzt glitzern die Spurrinnen auf dem Weg, und auf den kahlen Ästen liegt ein schimmernder Film. Die Hündin kommt zu ihr, verdrückt sich dann aber wieder ans warme Feuer. Bree ist im Allgemeinen bei jedem Wetter aktiv, ihr Schwanz eine weiße aufgebauschte Feder, wenn sie alten Fährten durchs Dickicht folgt. Heute Nachmittag aber macht sie deutlich, dass das Wetter nicht für einen Spaziergang taugt.

Doch Nan weiß, sie muss raus. Sie merkt, wie sich die Gedanken regen und zu einem Knäuel der Ruhelosigkeit aufspulen. Die aufsteigende Panik bedeutet, dass Nan sich bewegen muss, andernfalls zieht die Gedankenspirale sie in jene dunkle Tiefe, die sie so fürchtet.

Also steigt sie in die harten Lederstiefel und nestelt an den ausgefransten Schnürsenkeln. Den Schal wickelt sie sich zweimal um den Hals, knöpft den schweren Wollmantel zu, der sie schon durch mehr Winter begleitet, als sie zählen kann. Auf gewisse Weise empfindet sie seine feuchte Schwere als tröstlich.

Sie stampft einmal, dann ein zweites Mal auf dem eisgesprenkelten Boden auf, um Bree zu sich zu beordern, und sperrt die Hütte hinter sich ab, auch wenn dafür eigentlich keine Notwendigkeit besteht. Meilenweit gibt es keine Nachbarn. Als sie aufsieht, zeichnen sich die Bäume bereits scharf vor dem dunkler werdenden Himmel ab.

Eiskalt schlägt ihr die Luft entgegen. In flachen Atemzügen saugt sie sie in die Lunge und malt sich aus, dass sie ihr Inneres wie eine weiße Wolke ausfüllt. Reinigend, läuternd. Nach den ersten Schritten lässt der Schmerz in den Knien nach, und das stetige Knirschen der Stiefel gibt einen beruhigenden Rhythmus vor. Diesen Spaziergang könnte sie mit geschlossenen Augen machen, genau wie Bree, die, die Nase tief am Boden, vorwegrennt.

Nur bis zur Hügelkuppe, beschließt Nan. Genug, um den Kopf frei zu kriegen und zu verhindern, dass ihre Gedanken um den alten Schmerz tief in ihrem Innern kreisen. Die Schutzhütte ist zu ihrer Zuflucht geworden, nachdem sie jahrelang ständig in Bewegung war, eine Gestalt an den Rändern der Gesellschaft, kaum wahrgenommen von den Menschen.

Ihr ist bewusst, wie sie mit den langen grauen Zöpfen, dem schweren Wintermantel, den sie mit einem Strick zusammenbindet, und den groben Stiefeln auf die Einheimischen wirken muss: wie eine Eigenbrötlerin. Eine Landstreicherin. Eine Hexe. Man hat ihr diese Namen und auch andere nachgerufen. Bei ihren seltenen Gängen hinunter ins Dorf sind die Ladenbesitzer ihr gegenüber höflich, doch sie halten die Blicke gesenkt, während Nan die schmutzigen Münzen einzeln abzählt.

Als Nan den Gipfel des Hügels erreicht, bemerkt sie ein ungewöhnliches Leuchten unter sich. Zunächst fragt sie sich, ob es Lagerfeuer sind, aber die Burns Night, die sie hier in Schottland im Januar feiern, ist längst vorbei. Blinzelnd versucht sie, in der Abenddämmerung Genaueres zu erkennen. Nein, es sind keine Feuer, sondern Lichtstrahlen, die sich in einer Linie fortbewegen wie Schlangenglieder.

Nan bleibt stehen. Sie hört nichts als ihren eigenen, schweren Atem. Bree wartet neben ihr ab, und sie beobachten die Lichterreihe, die sich zackig übers Feld bewegt, der zuckende Schein von Taschenlampen, die über das unebene Heidekraut schwenken.

Da scheint sich der Wind zu drehen, denn nun kann sie etwas hören. Tiefe Männerstimmen, bei denen sich ihr Magen verkrampft; verzweifelter klingende Rufe von Frauen. »Es-ie …«, scheinen sie zu rufen. Dann ertönt ein schnarrendes Dröhnen in der Luft über ihr – ein Helikopter, dessen riesiger Scheinwerfer kreuz und quer über die Landschaft streift. Die Dämmerung wird immer mehr zur Finsternis, und wenn jemand dort draußen vermisst wird, dann zählt jede Minute.

Es sieht so aus, als bewege sich der Suchtrupp in östlicher Richtung zu den Mooren, eine Gegend, die von der Ferne wie eine satte Wiese wirkt, aber eisige Gewässer verbirgt. Nan wendet sich ab. Zu viele Menschen, zu viel Licht und Lärm. Sie ist erleichtert, dass es sich diesmal nicht um ihre eigene Tragödie handelt, dass sie keine Schuld trägt.

Wegen der Lichter und Geräusche können Nan und Bree nicht den üblichen Weg nehmen, also schlägt Nan einen Bogen in die andere Richtung nach Westen. Bree mag diese Route nicht. Sie ist exponierter und führt an dem großen Felsblock vorbei, der Hound Rock genannt wird.

Als sie im Schutz des Felsens sind, ist der Wind plötzlich weg, und die Hündin bleibt regungslos stehen. Bevor Nan sie rufen kann, stiebt Bree davon, wie zum Spott mit ihrem fedrigen Schwanz winkend. Um diese Tageszeit ist sie vielleicht hinter einem Hasen her, aber es ist auch möglich, dass sie eine Aasfährte aufgenommen hat. Bree hat die Angewohnheit, sich in lange verendeten Tierkadavern zu suhlen, und der Gestank wird scheußlich sein, wenn Nan sie nicht rechtzeitig zurückholt.

Nan klettert auf den Felsen, und der Geruch nach feuchtem Moos und Eisen steigt ihr in die Nase. Doch Bree ist schon eine Ebene weiter, wo sich eine Öffnung im Felsen befindet. Dort suchen Wanderer manchmal Schutz vor dem Regen und hinterlassen Bonbonpapiere oder, schlimmer noch, Knäuel aus Klopapier.

»Bree, runter da. Sofort!«

Bree hört nicht auf sie, ihr weißer Schwanz ist in der Dunkelheit verschwunden. Nan weiß, es wäre dumm, weiterzugehen, also bleibt sie stehen. Irgendwann wird Bree schon nach Hause kommen, wahrscheinlich nach etwas Totem stinkend.

Doch da hört sie es. Ein Winseln, das nicht von Bree stammt, denn Nan kennt jedes Geräusch, das die Hündin macht. Zuerst hält sie es für ein Schaf, das sich in höhere Regionen verirrt hat. Aber es klingt anders, eher wie ein Wimmern.

Nan hält die Luft an und lauscht angestrengt. Jetzt hört sie nur noch das Rauschen ihres Bluts in den Ohren.

Da ertönt das Geräusch wieder. Diesmal ist es schwächer, klingt eher wie ein Schluchzen. In diesem schrecklichen, dumpfen Augenblick begreift Nan, dass es kein Tier ist. Sie geht in die Knie und klettert und krabbelt so schnell wie nur möglich auf das Geräusch zu. Ihr Knie stößt an etwas Hartes, und sie flucht und erinnert sich daran, dass sie eine Stimme hat.

»Hallo? Ist da jemand?«

Nan klettert weiter, streckt eine Hand aus, dann die andere. Ihre Finger bekommen etwas zu fassen. Ein einzelner Schuh. Ein Kinderschuh.

Mittlerweile ist sie panisch, hektisch tastet sie das Innere der Höhle ab, rückt immer weiter vor, aber da ist nichts als Zweige und Erde. Da streifen ihre Finger etwas Festes, sie befühlt die Umrisse eines kleinen Fußes, dann des anderen. Ihr Herz zieht sich zu einem scharfen Schmerzpunkt zusammen. Ohne zu zögern, streckt sie beide Arme nach dem Kind aus – denn, ja, es ist ein Kind – und holt es aus seinem Versteck heraus.

Ihr ist bewusst, dass sie alles falsch macht, denn möglicherweise hat es Knochenbrüche, aber instinktiv knöpft sie den dicken Mantel auf und zieht das zartgliedrige Kind an sich. Die Zeit schlingert, als Nan sich an dieses Gefühl erinnert, das gleichzeitig fremd und vertraut ist.

»Alles ist gut«, bringt sie heraus. »Ich habe dich.«

Einen schrecklichen Moment lang regt sich nichts, und Nan spürt keinen Atem. Nur die kalte Oberfläche des viel zu dünnen Pullovers, die nasse Jeans des Kindes. Nan wickelt den Mantel fester und reibt in einem entschlossenen, regelmäßigen Rhythmus über den Kinderrücken.

Sie steckt in diesem Augenblick fest, ohne ein Vorwärts oder Zurück, und macht einfach, was sie für richtig hält. Sie spürt die vorstehenden Knochen an der Wirbelsäule und hält die Luft an, um zu lauschen. Da rührt sich das Kind ganz schwach und wimmert.

Plötzlich ist Nan klar, dass sie hier fortmüssen. Sie muss ins Dorf hinunter und Hilfe holen, sich dem Lärm und den Menschen aussetzen, vor denen sie sich so lange versteckt hat. Denn hier geht es nicht um Nan, sondern darum, das Kind zu retten – so wie es jede Mutter tun würde.

Nan nimmt das Knacken in ihren Knien kaum wahr, als sie auf die Beine kommt – das Kind ist schwerer, als sie erwartet hat –, dann findet sie ihr Gleichgewicht wieder und beginnt, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Schritt für Schritt trägt sie das Bündel den Hügel hinunter, während Bree immer an ihrer Seite bleibt. In der Finsternis und Kälte bewegen sie sich vorwärts, bis das verschwommene Licht von unten sich in eine Reihe einzelner Lichtbündel aufteilt, eines davon sich losreißt und in ihre Richtung leuchtet. Eine Gestalt rennt auf sie zu, ein ruckelnder Scheinwerfer, der Nan blendet, sodass sie stehen bleiben muss, und dann ruft eine Stimme: »Da ist jemand. Ich glaube, sie hat sie. Mein Gott. Man hat sie gefunden.«

Zwei

Georgie

Niemals würde sie das irgendwem gegenüber eingestehen, aber die Geburtsklinik wird für Georgie immer mehr zum verhassten Ort. Es sollte ein Ort der Freude sein, aber Georgie fühlt sich zutiefst unwohl, als sie in dem überheizten Wartezimmer sitzt. Wilf musste beruflich verreisen, deshalb ist sie allein hier. Aber im Zimmer sitzen einige andere zukünftige Väter, die allesamt peinlich berührt wirken, die Augen auf die Handybildschirme geheftet, um dem Anblick der aufgereihten geschwollenen Bäuche auszuweichen, die sagen: »Ja, ich hatte Sex.« »Ich auch.« »Und ich auch!«

Die erste Ultraschalluntersuchung hatte sie als etwas so Besonderes empfunden. Es war unglaublich gewesen, den pulsierenden Herzschlag zu sehen, die träge treibenden Gliedmaßen und sogar den Umriss einer Nase. Aber dann kamen all die Fragen, und auf die Hälfte davon wusste Georgie keine Antwort, also entschied sie sich einfach für das, was am besten klang. Jetzt hat sie jedes Mal, wenn sie wieder in der Klinik ist, Angst, dass man ihr auf die Schliche kommt. Womöglich fragt man noch einmal nach, ob es in ihrer Familie Fälle von Schwangerschaftsdiabetes, Präeklampsie oder postnataler Depression gegeben habe, und sie kann sich beim besten Willen nicht erinnern, welche Antwort sie das letzte Mal gegeben hat.

Heute Vormittag ist Georgie für das letzte Check-up da – »Bald ist es so weit«, mahnt Serena, die Hebamme. »Gerade mal zwei Wochen!« Sie nimmt Maß – mit einem anheimelnd altmodischen Maßband – und tastet dann mit der warmen, trockenen Hand rund um Georgies voluminösen Bauch, um herauszufinden, wo das Baby liegt.

Dann kommt die Blutdruckmanschette, das beruhigende Pumpen, als sie sich aufbläht, dann das traurige Zischen, mit dem sie abschwillt, und mit einem Ruck des Klettverschlusses wird ihr Arm freigegeben. Erst da runzelt Serena die Stirn. »Wie war das noch mal? Der niedrige Blutdruck liegt in der Familie, oder?«

»Ja«, antwortet Georgie. Denn das ist einfacher, als zuzugeben, dass sie keine Ahnung hat, welche körperlichen Eigenheiten sie möglicherweise von ihrer Mutter geerbt hat.

Als sie die Klinik endlich verlässt, hat sie den Bus nach Hause verpasst, und der nächste fährt erst in zwei Stunden – eine der Launen des Landlebens. Georgie macht sich zu Fuß auf den Weg, doch sie bereut die Entscheidung, kaum dass sie den Stadtrand erreicht und daran erinnert wird, dass der Gehsteig sich zunächst zu einem schmalen Streifen verengt und schließlich ganz verschwindet. Ein weiterer Aspekt des ländlichen Lebens, an den sie sich langsam gewöhnt.

Also gilt für den Rest des Weges, dass sie sich Bauch voran in die hohen Hecken presst, wann immer ein Auto vorbeirast. Während sie ihr Haar aus einem besonders stacheligen Busch entwirrt, denkt Georgie, um wie viel einfacher das Leben wäre, wenn sie Auto fahren könnte.

Es sind weitere fünfzehn Minuten stockenden Weges entlang einer stark befahrenen Landstraße, bis Georgie die Abzweigung zu dem ökologischen Bauprojekt erreicht, in dem Wilf und sie jetzt leben. Ihr Haus am Ende der Orchard Drive ist eines von gerade mal dreien, die fertiggestellt sind. Noch ist es keine richtige Straße, sondern eher ein breiter matschiger Feldweg, zerklüftet von den tiefen Reifenspuren der Lastwagen und Bagger, die kommen und – genauso wie die Arbeiter – für Wochen verschwinden.

»Lieferkettenprobleme«, erklärte ihr ein Vorarbeiter mit einem gelben Helm, der mit verschränkten Armen breitbeinig vor ihr stand. Georgie mutmaßt, dass es sich eher um Geldkettenprobleme handelt, aber das erwähnt sie Wilf gegenüber nicht, der unbeirrbar zuversichtlich bleibt angesichts ihres Lebens auf einer Baustelle. Er sagt Dinge wie: »Es wird ganz toll, wenn alles fertig ist« oder »Bestimmt bekommen wir ganz bald Nachbarn«, während er Abend für Abend die Schlammklumpen von seinen Schuhen kratzt.

Bis dahin sind Wilf und Georgie die ersten und einzigen Bewohner dieses bahnbrechenden Ökoprojekts, in dem jedes Haus aus nachhaltigen Materialien gebaut und mit einer effizienten Holzfaserdämmung versehen ist. Wilf meint, dass derartige Projekte die Zukunft seien und alle Menschen dem Klimawandel ins Auge sehen müssten. Allerdings musste Wilf für zehn Tage ins Ausland, und so ist Georgie die Einzige, die derzeit hier lebt, in einem Haus, das zwar möglicherweise zur Rettung des Planeten beiträgt, sich aber ziemlich einsam anfühlt.

Georgie schabt die Stiefel an der Kante der Türschwelle ab, um den gröbsten Schlamm zu entfernen, und drückt die Haustür mit einem Ruck auf. Sie klemmt ein bisschen, die Ränder müssen noch abgeschliffen werden, doch der Schreiner hat sich schon seit Wochen nicht mehr blicken lassen. Ähnlich wie der Fliesenleger, der nur etwas aus dem Lieferwagen holen wollte und nie mehr wiederkam. Georgie steht in der Diele und versucht, den noch unvertrauten Geruch im Haus zu bestimmen: Es hängt noch ein Hauch des Toasts vom Frühstück in der Luft, hauptsächlich aber riecht es nach feuchtem Putz.

Georgie setzt sich auf die Bank in der Diele und atmet bewusst aus. In fünf Tagen kommt Wilf nach Hause, ab dann sind sie auf der Zielgeraden: der Countdown zum Geburtstermin. Sie möchte nicht zu den Frauen gehören, die die Tage zählen, bis der Mann wiederkommt, aber wenn Wilf da ist, scheint alles so viel leichter zu bewältigen. Dann ist es, als würde Georgie in eine Parallelwelt treten, in der sie eine bessere Version ihrer selbst ist und vernünftige Entscheidungen trifft. In dieser Welt erzählt sie ihrer Hebamme keine ausgedachten Sachen und stapft nicht an stark befahrenen Straßen ohne Gehsteig entlang.

Vielleicht liegt es daran, dass Wilf die alte Georgie nie erlebt hat. Sie lernten sich während eines Jobs kennen, den sie ruhig und kompetent erledigte, und seitdem hat er Georgie nie hinterfragt. Genau so soll es bleiben, wenn es nach Georgie geht: Sie möchte nicht, dass er die Georgie von davor kennenlernt, die Frau, die ein orientierungsloses Wrack war, durchs Leben stolperte, Menschen verletzte und Leben zerstörte.

Die Bank hier in der Diele ist wie fast alles in diesem Haus ein abgelegtes Möbelstück von Wilfs Eltern. Seine Mutter ist Beschäftigungstherapeutin und sein Vater Direktor an einer Förderschule. Sie leben nicht weit von hier in einem viktorianischen Bauernhaus, in dem sie ihre drei Söhne großgezogen haben. Das ganze Haus strahlt einen verblassten eleganten Charme aus, und in den Zimmern türmen sich Möbel, die sie über die Jahre auf Landauktionen aufgegabelt haben. »Spottbillig. Im Grunde ist das alles Feuerholz«, hatte seine Mutter Ruth gesagt und sich die Hände an der Schürze abgewischt, während sie Wilf und Georgie dabei zusah, wie sie die ausgemusterten Stücke in den gemieteten Transporter luden.

Infolgedessen herrscht in Wilfs und Georgies neuem Zuhause eine merkwürdige Mischung unterschiedlichster Stile: massige Holztruhen, ein Büfett aus den Siebzigern und durchgesessene Sessel aus nicht genau zu bestimmenden Epochen. Die Möbel, die im Bauernhaus Teil der unkonventionellen Boheme-Atmosphäre waren, wirken in den hallenden Räumen verunsichert – ganz ähnlich wie Georgie.

In der Küche öffnet sie den Kühlschrank und nimmt sich eine Handvoll grünen Salat aus dem Gemüsefach. Im Augenblick hat Georgie Heißhunger auf alles, was frisch und knackig ist: feuchten Eisbergsalat, große Stücke taubenetzter Gurke, frisch gewaschene Karotten. Manchmal drückt sie ein paar Eiswürfel aus der Gummiform, zerkaut sie und genießt ihre harte, knirschende Konsistenz.

Mit etwas mehr Sinn für die Etikette arrangiert Georgie den restlichen Salat auf einem Teller und legt als Proteinspender einen Brocken Käse dazu. Dann sieht sie die Teevorräte in der winzigen Küchenschublade durch, die eigens für Teebeutel konzipiert wurde. Kamille reizt den Magen am wenigsten, beschließt sie. Sie dreht den Heißwasserhahn auf, der sprudelnd zum Leben erwacht.

Georgie vermisst das Ritual, den Kessel aufzusetzen und abzuwarten, bis das Wasser kocht, doch angeblich ist dieser Hahn energieeffizienter. Sie tunkt den Teebeutel ein paarmal ein, holt ihn dann an seinem Faden heraus und legt ihn zu den getrockneten Beuteln von gestern, die auf einer Untertasse zusammenkauern wie graue Babymäuse in ihrem Nest.

Offiziell ist Georgie noch nicht im Mutterschutz, aber ihre Arbeit als Hochzeitsfotografin ist abgeflaut. In London hatte sie sich ein solides Netz aus Kontakten und Weiterempfehlungen aufgebaut, doch jetzt, nach dem Umzug, wird sie noch einmal von vorn anfangen müssen. Wilf meint, sie solle die regionalen Hochzeitsmessen besuchen und sich dort vorstellen und außerdem in den Zeitungen annoncieren. Ihr ist klar, dass diese Vorgehensweise für Wilf funktionieren würde – er ist die Extrovertiertheit und Zuversicht in Person −, sie allerdings ist ein ganz anderer Mensch. Meistens weiß sie Wilfs Wir-schaffen-das-Haltung zu schätzen, die ein guter Ausgleich zu ihrer eigenen Herangehensweise ans Leben ist: Bei ihr ist das Glas halb leer, nicht halb voll. In diesem Fall aber, denkt sie, täuscht sich Wilf. Ihr Stil zu fotografieren kam in London gut an, doch sie ist nicht davon überzeugt, dass die Menschen in dieser Ecke Devons einen Sinn dafür haben.

Denn Georgie macht keine konventionellen Hochzeitsfotos. Natürlich weiß sie, dass die meisten Menschen eine Hochglanzversion dieses Tages sehen wollen, Bilder, die man in silberne Rahmen steckt und auf den Kaminsims stellt. Georgies Bilder hingegen ähneln eher Erinnerungsschnipseln. So erwischt sie die Braut dabei, wie sie ihrer besten Freundin etwas ins Ohr flüstert, oder sie fängt den Eröffnungstanz des Brautpaars mit beschwingter Unschärfe ein – Fotos, die die Atmosphäre jenes Tages wiedergeben.

»Nenn es Hochzeitsreportage«, sagte Finn immer. »Dann finden es die Leute cool.« Noch immer hat sie seine Stimme im Ohr und erinnert sich, wie seine Augen bei einem guten Einfall aufleuchteten. Nach einer Weile war er nicht mehr so enthusiastisch, sondern meinte, dass Georgie mit ihrer Arbeit ihre Prinzipien verrate. Darüber, dass diese Arbeit ihr Leben finanzierte, beklagte er sich hingegen nicht.

Sie schüttelt den Kopf, erschüttert, dass ihre Gedanken zu ihm abgeschweift sind, ausgerechnet hier, in diesem neuen Haus, in dem es ausschließlich um Wilf, sie selbst und die Zukunft gehen soll. Es erscheint ihr wie ein Akt der Treulosigkeit. Schlimmer noch, sie weiß genau, was Finn von diesem Haus hier halten würde. »Pseudorustikal für Möchtegernprovinzler«, würde er sagen. »Stehst du jetzt auf Cottage-Kitsch, Georgie?«

Doch Wilf ist kein Fake oder Möchtegern. Er ist der unverfälschteste Mensch, der ihr je begegnet ist. Er ist das Gegenteil von Finn und allem, wofür er stand, und genau das ist der Grund, warum sie hier ist.

Es war Wilfs Vorschlag, nach Devon zu ziehen. Er möchte, dass ihr Baby dieselbe sorgenfreie Kindheit erlebt, die er selbst hatte. »Auf der Dorfwiese spielen, zu Fuß zur Schule gehen – all so was.« Außerdem gab er zu bedenken, dass es vernünftig wäre, wenigstens ein Paar Großeltern in der Nähe zu haben. Die Alternative, nämlich näher zu Georgies Vater und Stiefmutter in Surrey zu ziehen, war weitaus weniger reizvoll. Und ganz gewiss will Georgie nicht, dass ihr Baby dieselbe Kindheit hat wie sie selbst: in einer Sackgasse am Stadtrand von Redhill, in einem Haus mit hohen Ansprüchen an die Hygiene, aber wenigen an die Liebe. Genau genommen gilt, je mehr Abstand Georgie zwischen sich und ihre Vergangenheit bringt, desto besser.

Es zieht sie nach oben ins Kinderzimmer, das zu einem zentralen Punkt, zu Georgies Halt, geworden ist. Hier ist alles bereit, startklar. Auf dem Wickeltisch liegen stapelweise waschbare Windeln und Kartons mit biologisch abbaubaren Feuchttüchern. Die Schubladen sind voller weißer Schlafoveralls und Mulltücher, sämtlich frisch gewaschen und zusammengelegt. Und in der Mitte des Raums steht das Babybett, ein ovales Modell mit Himmel. Es ist strahlend weiß und erinnert Georgie an ein Raumschiff, das, genau wie sie selbst, auf ein Lebenszeichen wartet.

Unter der Haut an ihrem Bauch spürt Georgie, wie sich ihr Baby schwerfällig herumdreht. »Das ist unser neues Zuhause«, flüstert sie, doch es klingt nicht besonders überzeugend – noch nicht. Sie hofft, dass sich die Dinge fügen, wenn Wilf wieder da ist.

»Es ist kein günstiger Zeitpunkt, aber ich bin nur zehn Tage weg«, hatte er gesagt. Als sie einander kennenlernten, hatte Wilf ihr von seinen Plänen erzählt, mit seinem Freund Mehdi ein Unternehmen aufzubauen, das Öko-Wanderreisen in abgelegenen Landstrichen anbietet, angefangen mit Marokko. »Wir wollen Leute an diese Orte bringen, ohne die Landschaft zu zerstören oder die Menschen, die dort leben, auszubeuten. Die Hälfte des Profits soll an Gesundheitsprojekte der Dorfgemeinschaften gehen«, hatte er ihr erklärt. Georgie hatte genickt und es für das übliche Greenwashing gehalten, aber wie sich herausstellte, waren Wilf und Mehdi aufrichtig überzeugt – und diese erste Reise ist ein alles entscheidender Augenblick.

Mehdi war ganz darauf eingestellt gewesen, die Gruppe zu leiten, zu der einige Journalisten und ein wichtiger Lokalpolitiker gehören. Doch in allerletzter Minute hatte Mehdi sich beim Squashspielen das Schlüsselbein gebrochen. Es war ausgeschlossen, dass er einen Rucksack aufsetzte, geschweige denn eine Wanderreise leitete. »Es wäre eine Katastrophe, das abzusagen«, meinte Wilf. »Ohne die Presseberichterstattung kriegen wir keine Buchungen für das restliche Jahr. Ich muss fahren, Georgie. Aber ich bin ganz bald wieder da.«

Also hatte Georgie gelächelt und gesagt: »Natürlich«, innerlich aber heulte sie auf. Sie sah ihm zu, wie er sorgfältig Kleidung und Ausrüstung einpackte, und wollte am liebsten alles wieder herauszerren und brüllen: »Nein, fahr nicht, lass mich nicht allein.« Denn was, wenn Wilf nicht wiederkäme?

»So was kann passieren«, wollte sie ihm sagen. »Es ist schon mal passiert.« Sie hatte ihn nicht zur Tür begleitet, als er aufbrach, sondern von oben beobachtet, wie er den Rucksack über den holprigen Grund zu dem wartenden Taxi getragen hatte. »Ich mag keine Abschiede«, war alles, was sie gesagt hatte.

Das war vor fünf Tagen gewesen, und seitdem hatte Georgie versucht, ins Landleben dieser verschlafenen Ecke von Devon hineinzuwachsen. Sie bemüht sich aufrichtig, freundlich zu sein, seit sie hergezogen sind. Sie lächelt die anderen Frauen in der Klinik an, bis ihre Wangen schmerzen. Und obwohl es billiger und einfacher wäre, im Online-Supermarkt einzukaufen, erledigt sie die Lebensmitteleinkäufe eisern im Hofladen und belädt ihren Weidenkorb mit überteuerten Marmeladengläsern, mehlbestäubten Brotlaiben und erdverkrustetem Gemüse. Sie achtet darauf, mit einem heiteren, beschwingten »Guten Morgen!« zu grüßen, aber die Frau an der Kasse behandelt sie immer noch wie eine Fremde.

»Es dauert einfach, bis die Leute einen Neuankömmling akzeptieren«, hatte Wilf gesagt.

»Aber wie lange?«, will sie fragen.

Sie sieht aus dem Fenster auf die aufgewühlte Erde vor dem Haus und die durchweichten Felder dahinter. Weiter hinten liegt der graue Streifen der Straße, auf der Autos und Lastwagen aufschimmern. Georgie weiß genau, warum sie hierhergezogen ist, was sie hinter sich lassen muss. Nur fühlt sich ihre Zukunft hier noch vage an, unfertig wie die schlammige Straße, die lückenhaften Badezimmerfliesen und die schlecht schließenden Türen.

In der Zimmerecke steht einer der verblichenen Sessel, die Ruth ihnen geschenkt hat. »Der ist perfekt fürs Stillen in der Nacht«, hatte sie gemeint. Georgie lässt sich darauf sinken und hört eine alte Sprungfeder gedämpft vibrieren. Sie holt ihr Handy heraus und blättert wie üblich durch Twitter, Instagram und WhatsApp. Nicht, dass es viel gäbe, was sie verpasst.

Seit dem Umzug folgt sie ganz bewusst sämtlichen Londoner Freunden nicht mehr und hat die WhatsApp-Gruppen verlassen – zu viele Erinnerungen hängen daran. Jetzt checkt sie nur die Nachrichten und ein paar Blogs von hauptberuflich schwangeren Frauen, »Mum-Influencerinnen«, die den Tag damit zubringen, Smoothies zu zaubern und Cremes gegen Schwangerschaftsstreifen zu bewerben.

Heute allerdings haben alle diese zukünftigen Mütter nur ein Thema. Wie ein Lauffeuer hat sich eine Story mit dem Hashtag #mädchenvermisst im Internet verbreitet. Auf einer schottischen Insel wird ein Kind vermisst, eine Suchaktion wurde gestartet. Georgie überfliegt die Beiträge. Jemand hat ein verschwommenes Foto des Dorfs gepostet, in dem die Siebenjährige sich aufhielt, und ein Schulfoto, auf dem sie mit Zahnlücke in die Kamera lächelt.

Wieder regt sich Georgies Baby, und sie streichelt mit der Hand über den Bauch und ertastet einen hervorstehenden Fuß oder Ellbogen. Es ist in Ordnung, ihr Baby ist in ihr drin und in Sicherheit, aber ein anderes Kind wird vermisst. Ein kleines Mädchen, das heute Morgen in ihrem Lieblingspullover, Jeans und fadenscheinigen Turnschuhen zu einem Spaziergang aufgebrochen ist. Nun haben alle Angst um sie.

Vor Georgies Augen beginnt die Stimmung im Netz umzuschlagen – die Sorge verwandelt sich in kaum verhohlene Anschuldigungen. Das ist schrecklich, aber wieso war das kleine Mädchen allein unterwegs? Wo waren die Eltern? Hat sie sich wirklich verlaufen, oder wurde sie entführt? Was macht eigentlich die Polizei? Was wissen wir überhaupt über die Eltern?

Georgie muss eingeschlafen sein, denn sie wacht im Dunkeln auf. Sie hält das Handy noch in der Hand, und sie kann nicht anders, als wieder über diese Story nachzulesen, auch wenn sie weiß, dass es falsch ist, sich am Leid anderer zu weiden. Doch als sie durch die Beiträge scrollt, hebt sich ihre Stimmung. Die Story hat schon eine neue Richtung genommen. Vermisstes Mädchen gefunden! Sie ist in Sicherheit! Wundersame Rettung!

Georgie wendet sich vom Aufruhr in den sozialen Medien ab und sucht nach einem Update in einem regionalen Newsfeed. Sie geht nach unten, macht sich etwas Warmes zu trinken und setzt sich zum Lesen aufs Sofa. Doch als sie fertig gelesen hat, ist der Kamillentee vergessen.

Vermisstes Kind von einzelgängerischer Inselbewohnerin gerettet

 

Die Suche nach der siebenjährigen Jessie Lucas wurde abgebrochen – aus dem denkbar besten Grund. Jessie war bei Verwandten zu Besuch, als sie am Montagmorgen, 7. Februar, verschwand.

Gegen Mittag versammelte sich eine Gruppe von Freiwilligen, um nach dem Kind zu suchen, und darüber hinaus wurde am frühen Abend zur Unterstützung ein Rettungshubschrauber eingesetzt. Angesichts der erwarteten nächtlichen Temperaturen, die deutlich unter null zu fallen drohten, schwand bald die Hoffnung auf Rettung. »Wir hatten keine Ahnung, in welche Richtung das kleine Mädchen gegangen war«, erklärte der Inhaber des Dorfladens Andrew McNabb.

Eine Spaziergängerin, die mit ihrem Hund unterwegs war, entdeckte die kleine Jessie schließlich am Hound Rock und brachte sie ins Dorf hinunter. Die Frau kennt man im Ort unter dem Namen »Nan«, und den Inselbewohnern zufolge ist sie eher eine Einzelgängerin.

Tim Lucas, der Vater des Kindes, sagt: »Wir können dieser Frau nicht genug danken, dass sie unser Kind in Sicherheit gebracht hat. Wir sind unendlich erleichtert, dass Jessie wieder zu Hause ist.«

Jessie ist wegen leichter Unterkühlung in Behandlung, doch man rechnet damit, dass sie sich vollständig erholt. »Nan«, die Frau aus dem Ort, war für einen Kommentar nicht zu erreichen. Es war bereits die neunte Rettungsaktion in zwölf Monaten. Ortsfremde werden aufgefordert, die regionalen Sicherheitshinweise für Wanderer und Bergsteiger zu beachten.

Am Ende des Berichts ist ein Foto, und die Bildunterschrift lautet: Die kleine Jessie, ihre Mutter Alice und »Nan«, die das Mädchen rettete.

Mehrmals liest Georgie diese Worte, denn wenn sie das Bild direkt betrachtet, fühlt es sich an, als würde jemand ihren Brustkasten aufstemmen.

Auf dem Foto sitzt das kleine Mädchen zwischen zwei Frauen. Die eine ist unübersehbar seine Mutter, die andere aber ist eine ältere Frau. Im Vergleich wirkt sie schmutzig und verwahrlost.

Sie trägt einen großen Mantel und einen mehrmals um ihren Hals geschlungenen Schal. Das graue Haar ist in der Mitte gescheitelt, und zwei lange geflochtene Zöpfe rahmen das gerötete, wettergegerbte Gesicht ein. Über der Lippe ist ein Muttermal, und sie hat Krähenfüße in den Augenwinkeln. Doch ihre Augen sind so klar wie eh und je, und der Mund steht leicht offen, als wolle sie etwas sagen.

Als Fotografin kennt Georgie diesen Gesichtsausdruck gut: Er ist typisch für jemanden, der nicht fotografiert werden will. Das Gesicht aber erkennt sie aus einem anderen Grund. Zwar ist es älter, verwitterter und gröber als in Georgies Erinnerung. Aber es gibt keinen Zweifel, dass die Frau auf dem Bild ihre Mutter ist. Jene Mutter, die Georgie seit zwanzig Jahren nicht gesehen hat und die sie längst für tot oder so weit fort hielt, dass sie niemals wieder auftauchen würde.

Georgie wird von Schwindel erfasst, und sie beugt sich nach vorn und stützt den Kopf auf die Hände. Der verkorkste Trümmerhaufen ihrer Kindheit stürzt über sie herein, das ganze Chaos, das sie unter solchen Mühen hinter sich gelassen hat. Sie denkt daran, wie ihre Mutter in den Tagen war, bevor sie sie verließ. Ein Wirbelwind aus zusammengebissenen Zähnen und scharfen Nägeln, der durchs Haus wehte und wutentbrannt und unter Tränen an Türen und Fenstern rüttelte. Während Georgie und ihr Bruder Dan oben saßen und darauf warteten, dass der Sturm sich legte.

Dann denkt sie daran, wie Nancy an der Tür stand und Georgie auf dem Schulweg zum Abschied winkte, als wäre alles in Ordnung. Als sie so tat, als wäre sie am Ende des Schultags noch da – und von Neuem empfindet Georgie den Verrat.

Nancy hatte die Ruinen ihres Familienlebens hinter sich gelassen und es ihren Kindern überantwortet, die Bruchstücke zusammenzusetzen und ihrem Vater so gut beizustehen, wie es ihnen möglich war. Während Georgie durch die darauffolgenden Jahre stolperte, hatte ihre Wut immer auch einen Beigeschmack von Schuld, weil sie sich fragte, wie viel Verantwortung sie selbst für das Unglück der Familie trug.

Im kahlen Wohnzimmer ihres Ökohauses konzentriert sich Georgie darauf, tief und langsam zu atmen, wie es ihr Serena, die Hebamme, beigebracht hat. In zwei Wochen wird Georgie ihr eigenes Baby zur Welt bringen, ein Kind, das sie bereits mit einer solchen Inbrunst liebt, dass ihr unerklärlich ist, wie eine Mutter ohne einen Blick zurück ihre Kinder verlassen kann.

Nun aber ist ihre Mutter wieder da, von den Toten auferstanden. Und mehr denn je braucht Georgie Antworten.

Drei

Nancy

Ihr war nicht klar gewesen, dass der Mann sie fotografieren wollte. Sie sah nichts als das Blitzen, blendende weiße Punkte, und bis sie blinzelnd wieder etwas erkennen konnte, war es zu spät, um etwas zu sagen. Der Mann war weg.

Gleich darauf kreiste der Rettungshubschrauber mit betäubendem Getöse über ihren Köpfen, und während sich alle brüllend zu verständigen versuchten, hielt Nancy es für das Beste, sich unauffällig fortzustehlen. Und so hatte sie sich in die Schatten verdrückt, kurz auf den Boden gestampft, um Bree zu sich zu rufen, und gemeinsam waren sie in der Dunkelheit verschwunden. Seite an Seite marschierten sie voran und ließen den Lärm und den Rummel hinter sich, bis nur noch das gleichmäßige Knirschen von Nans Stiefeln und Bree an ihrer Seite zu hören waren. So wie es ihnen beiden am liebsten war. Als sie ihr Zuhause erreichten, kamen Nancy die Ereignisse der vergangenen Stunden bereits nur noch wie ein Traum vor.

Zurück in der Hütte, verschränkt Nancy die Arme über der Brust; die warme Stelle, in die sich das kleine Mädchen so mühelos eingefügt hat, ist schon abgekühlt. Nan hatte das Kind über holprige, gefrorene Pfade hinuntergetragen, mit wild pochendem Herzen, voller Sorge, dass es schon zu spät wäre. Um sich zu beruhigen, hatte Nan vor sich hin gesummt. Eine alberne Melodie, ein altes Wiegenlied, das sie längst vergessen geglaubt hatte, über Spottdrosseln und Diamantringe, doch der Rhythmus half ihr, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Und wenn sie sich nicht täuschte, dann hatte das Mädchen die Melodie erkannt und sich noch ein wenig tiefer in ihrer Armbeuge verkrochen.

Es war ein so vertrautes Gefühl gewesen, wie sich die Gliedmaßen des Kindes in die von Nancy eingepasst hatten. Der Kopf lag fest auf ihre Brust gepresst, und wenn Nancy das Kinn senkte, kitzelte sie das feine Haar, und sie atmete diesen ganz besonderen Keksduft ein. Nancy schiebt die Erinnerung fort.

Das Gefühl stammt aus einem anderen Leben, als Nancy ein anderer Mensch war. Seitdem hat sie an so vielen Orten gelebt, ihren Namen geändert, einen neuen Akzent angenommen, getan, was immer nötig war, um sich anzupassen oder sich irgendwie durchzuschlagen. Es gab finstere Zeiten, in denen sie in Herbergen oder Ladeneingängen schlief und sich unter zahllosen Decken versteckte, um ihre weiblichen Formen zu verhüllen.

An einem Ort weit weg von zu Hause war sie langsam wieder auf die Beine gekommen. Anschließend war sie nach England zurückgekehrt, um in Warenlagern und an Fabrikfließbändern zu arbeiten, bevor sie in Irland ein wenig zur Ruhe kam und sich um Tiere kümmerte, die, wie sie feststellte, eine angenehmere Gesellschaft waren als die meisten Menschen. Daraufhin war sie in die Wildnis Schottlands gezogen.

Als sie nun in dem schmalen Bett ihrer Schutzhütte liegt, denkt Nancy an das Blitzen der Kamera und fängt an, darüber nachzudenken, was das für sie bedeuten könnte. Nancy selbst hat keinerlei Bedarf an einem Telefon oder dem Internet, aber sie weiß, dass andere Menschen pausenlos im Äther schnattern, dass Bilder und Geschichten von einem Handy zum nächsten schwirren und auf den Bildschirmen in Häusern im ganzen Land aufpoppen.

Abrupt setzt sie sich im Bett auf. Wie konnte sie so töricht sein? Auf der Flucht zu sein, immer in Bewegung zu bleiben, über die Jahre ist ihr das in Fleisch und Blut übergegangen. Aber das Leben auf dieser Insel hat sie träge werden lassen; sie ist zu lange an einem Ort geblieben. Und sie hat den Fehler begangen, den Einheimischen eine Version ihres Namens zu nennen, die zu nah dran ist an der Wirklichkeit. Heute hat sie ihre Tarnung auffliegen lassen.

An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Sie spürt, wie das Adrenalin sich von ihrer Mitte ausbreitet und jeden Körperteil in Alarmbereitschaft versetzt, wie ein Tier, das bereit zur Flucht ist. Denn wer weiß, wie weit ihr Bild schon gereist ist. Gut möglich, dass er es in dieser Minute betrachtet und sein stilles Lächeln lächelt.

Am Morgen wird Nancy ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpacken und die Insel verlassen. Dieser Ort ist Balsam für ihre Seele geworden, es wird ihr schwerfallen, fortzugehen, aber der Fluchtinstinkt steckt ihr mittlerweile in den Knochen. Das Bewusstsein, dass es niemals wieder so schlimm sein wird wie damals, als sie das erste Mal weggehen musste, ist ein schwacher Trost.

Lange Zeit sitzt Nancy aufrecht im Bett, sie merkt kaum, wie kalt die Nacht ist. Bald wird sie das Gefühl vergessen haben, wie sich das kleine Kind an sie klammerte. Alles verblasst, wenn man lange genug wartet. Sie starrt aus dem Fenster und wartet darauf, dass der Morgen graut.

Vier

Georgie

Es ist Glück, dass eine gepackte Reisetasche bereitsteht. Die Schwangerschaftsratgeber empfehlen, sich frühzeitig zu rüsten, und Georgies Tasche wartet schon seit einem Monat neben der Haustür auf ihren Einsatz, dafür hat Wilf gesorgt. Georgie packt ein paar Dinge aus, die sie noch nicht brauchen wird: ein dickes Bündel Einlagen, ein elektrischer Zerstäuber für ätherische Öle. Den voluminösen Morgenmantel ersetzt sie durch ein zweites Paar Umstandsleggings und einen Pullover, die Georgies derzeitige langweilige, aber praktische Uniformierung ausmachen. Den Waschbeutel lässt sie drin, ebenso das Ladegerät, die Wasserflasche und eine Großpackung Müsliriegel, die vermutlich wie Pappkarton mit Zuckerglasur schmecken.

Es ist erst fünf Uhr nachmittags, aber draußen ist es schon völlig dunkel, und es fühlt sich später an. Sie findet die schottische Insel, über die sie in den Nachrichten gelesen hat, auf Google Maps, und betrachtet in der Satellitenversion eingehend die weite aus Heide und Felsen bestehende Landschaft. Es ist wirklich der hinterste Winkel der Welt. Ein Ort, an dem sich jemand sehr lange verstecken kann. Aber zwanzig Jahre lang? Das ist unmöglich. Ganz gewiss jedenfalls entspricht es nicht der Geschichte, die man ihr und Dan als Kinder erzählt hat. Georgie ruft ein Taxi und sperrt die Tür ihres Pseudo-Cottages hinter sich ab.

Der Taxifahrer gehört zur redseligen Sorte und kriegt sich kaum darüber ein, dass Georgie schwanger ist. Immer wieder versucht er, Georgies Blick im Rückspiegel auf sich zu ziehen, und drei Mal wiederholt er, dass er für den »zusätzlichen Passagier« keine Extragebühr berechnen wird, doch Georgie ignoriert ihn beharrlich.

Sie muss den Zug um 17:41 Uhr nach London Paddington erwischen und dann mit der U-Bahn nach Euston fahren, von wo aus der Nachtzug hinauf nach Schottland fährt. Wenn der Kerl Gas gibt, kann sie es schaffen. »Ja, ja, ein zusätzlicher Passagier, haha«, sagt sie. »Könnten Sie bitte ein bisschen schneller fahren? Ich muss diesen Zug unbedingt erwischen.«

Ihr bleiben nur Sekunden zum Einsteigen. Im hochschwangeren Zustand fällt der Versuch zu rennen wirklich nicht leicht – ihr Bauch fühlt sich an wie ein zusätzlicher Körperteil, der ihren Schwerpunkt aus dem Lot bringt.

Als sie sich hingesetzt und sich ihr Atem einigermaßen normalisiert hat, zieht Georgie das Handy aus der Tasche. Sie sollte Wilf Bescheid geben, wohin sie fährt. Allerdings ist das etwas heikel, denn soweit Wilf weiß, heißen Georgies Eltern Frank und Irena und leben in einer Siedlung aus den Siebzigern in Redhill in Surrey, wo sie eine hübsche Bonsaisammlung hüten und Gründungsmitglieder der örtlichen Nachbarschaftswache sind.

Sie tippt eine Nachricht:

Hier ist es gerade ein bisschen chaotisch. Anscheinend lebt meine Mutter – meine echte Mutter, nicht Irena – auf einer schottischen Insel. So wie es aussieht, schon seit einer ganzen Weile. Also, ich war zwölf, als sie uns verlassen hat, aber sie sieht definitiv so aus und hat auch einen ähnlichen Namen. Jedenfalls muss ich hinfahren und mit ihr reden. Ein paar Dinge in meinem Kopf ordnen, bevor das Baby kommt. Wenn du dann wieder zu Hause bist, kann ich mit der Vergangenheit abschließen, und wir beginnen unser neues gemeinsames Leben.

Doch dann legt sie den Finger auf den Bildschirm und sieht zu, wie diese problematischen Wörter wieder verschwinden.

»Ich hoffe, alles läuft gut«, schreibt sie stattdessen. »Ich fahre kurz weg und besuche eine alte Freundin, bin aber sicher vor Freitag zurück. Kann kaum erwarten, dich wiederzusehen.« Sie fügt zwei Ausrufezeichen hinzu, damit es fröhlicher wirkt, und drückt auf Senden.

Sie hat ihn nicht direkt angelogen, sie ist bloß noch nicht dazu gekommen, ihm ihre vertrackte Familiengeschichte zu erzählen. Egal, bis Wilf aus Marokko zurück ist, hat sie das alles geregelt. Bis dahin hat Georgie die Antworten, die sie braucht, und Wilf kann nach Hause kommen, sie in den Arm nehmen und sagen, wie sehr ihr Bauch gewachsen ist, und ihr lauter Geschichten von seiner Reise erzählen. In der Zwischenzeit kann Georgie die Vergangenheit endgültig begraben, und Wilf und sie können die Zukunft angehen – und die Tage bis zum Termin in gerade mal zwei Wochen zählen.

Zugegeben, es war eine Überraschung, als sie schwanger wurde, aber wie Wilf sagte, beschleunigte es die Dinge einfach nur ein bisschen. Sie liebt es, dass Wilf in allem das Positive sieht. Und seit sie London verlassen und mit Wilf einen Neuanfang gestartet hat, ist sie so glücklich wie schon lange nicht mehr. Nichts kann sie also weniger brauchen, als dass die Vergangenheit sich in die Gegenwart drängt wie ein schwarzer Tintenstrudel in einem Glas mit klarem Wasser und alles zu verpesten droht.

Als sie mit den Händen über die strammen, sich regenden Konturen ihres Babys streicht, stellt sie sich die unvermeidliche Frage, was ihre Mutter zu diesem Zeitpunkt ihrer eigenen Schwangerschaft wohl empfunden hat. War sie aufgeregt oder voller Angst und Sorge? Wusste Nancy damals schon, dass eine krankhafte Ruhelosigkeit in ihr lauerte?

Denn wenn es so ist, fürchtet Georgie, dass etwas ähnlich Zerstörerisches in ihr selbst darauf wartet, sich an die Oberfläche zu kämpfen. In ihrem Ökohaus in Devon könnten die Dinge nicht perfekter wirken. Auf den Neuankömmling warten winzige Schlafsäcke, ein Designerbettchen und ein topmoderner Vaporisator, und Georgie liebt ihr Baby schon jetzt mit instinktiver Dringlichkeit. Aber ist Liebe genug, um das schlimme Erbe zu überwinden und eine gute Mutter aus ihr zu machen?

Vielleicht war es für Nancy ja der Kipppunkt, als sie Kinder bekam. Oder hatte Georgie sich auf andere Weise schuldig gemacht und ihre Mutter zum Weggehen gedrängt? Zwanzig Jahre später hat Georgie noch immer keinerlei Vorstellung davon, wie Nancy diese Fragen beantworten wird. Andererseits fragt sie sich, wie viel sie überhaupt je über die Frau wusste, die ihre Mutter war.

Fünf

Nancy, 1984
»Lass dir ja kein Kind andrehen«

Nancy wächst in einem Haus auf, das sich nie wie ihr eigenes Zuhause anfühlt. Das liegt daran, dass es ein Schein-Zuhause für andere ist, Gäste, die gutes Geld für einen Aufenthalt im Beaufort Bed and Breakfast bezahlen. »Aber nie genug«, sagt ihr Vater Mike seufzend und schiebt die Brille den Nasenrücken hinauf, wenn er am Sonntagabend die Geschäftsbücher durchsieht und mit dem dicken Zeigefinger die Zahlenreihen entlangfährt, die bestimmen, ob sie in der folgenden Woche Halsgrat oder Koteletts essen.

Die Gästezimmer liegen im vorderen Teil ihrer Doppelhaushälfte am Stadtrand von Stamford, während Nancy und ihre Eltern Theresa und Mike auf einen Anbau nach hinten beschränkt sind. Hier landen auch die alten und abgenutzten Hotelmöbel, ebenso wie die angeschlagenen Teller, stumpfen Messer und Gabeln mit krummen Zinken. Umgeben von Dingen, die ihre besten Zeiten hinter sich haben, gibt sich Nancy keinerlei Illusion darüber hin, wer im Beaufort wirklich wichtig ist: die zahlenden Gäste.

Kurzzeitig, als Nancy klein war, weckte das Leben in einem Hotel bei den anderen Mädchen an der Grundschule durchaus Neid. Heimlich brachte sie ihnen Minikekspackungen und winzige Becher H-Milch von den Teetabletts der Gäste mit. Und manchmal begleitete sie eine Freundin nach Hause, und Nancy führte ihr das beste Zimmer vor – das mit der seidenglatten pfirsichfarbenen Tagesdecke und Blick über die Vorstadtstraße. »Es hat ein eigenes Bad mit Toilette«, erklärte Nancy ihnen stolz, und sie bestaunten die Klopapierrolle, die zu einem V gefaltet war, und schnupperten an dem Seifenstück im Wachspapier.

Zu dieser Zeit waren Nancy und ihre Freundinnen einfach noch zu jung, um es besser zu wissen. Mittlerweile ist Nancy sechzehn, und ihr ist bewusst, wie schäbig das Beaufort mit seinen roten Teppichen und den Rissen in der Tapete ist. Ihr tun die Leute leid, die am Freitagabend anreisen und die »familiengeführte, einladende« Unterkunft erwarten, die auf den Gelben Seiten beworben wird. Wenn sie ihnen die Zimmer zeigt, bemerkt sie die Enttäuschung auf den Gesichtern, und sie fühlt mit ihnen, denn hätte sie die Wahl, würde auch sie gern aus diesem Haus auschecken.

Inzwischen verliert Nancy nicht mehr so viele Worte darüber, wo sie lebt, und das Zimmer mit eigenem Bad weckt keinen Stolz mehr in ihr. Genau genommen ist es mittlerweile ihr Job, die Badezimmer mit der altmodischen rosa Badkeramik zu putzen, und egal, wie viel Scheuerpulver sie benutzt, nie gelingt es ihr, die Kalkränder vollständig abzuschrubben.

Immerhin lernt sie bei der Arbeit eine Menge über andere Menschen. Bald bekommt Nancy ein Gespür für die Handelsvertreter, die sie ein bisschen zu dicht streifen, wenn sie den Putzeimer die Treppe hinaufträgt. Aber sie sieht auch schöne Dinge, und ihr fällt auf, dass in größeren Familien oft ein unbeschwerterer Umgang herrscht. Sie beobachtet Kinder, die mit aufgestützten Ellbogen am Tisch sitzen, die sich gegenseitig necken – sogar die Eltern –, und doch wird nicht geschimpft. Es muss irgendwie damit zu tun haben, Geschwister zu haben, mutmaßt sie.

Allerdings sind die fröhlichen Familien dünn gesät, denn die meisten Gäste sind enttäuscht vom Beaufort. Sie bemerken, dass die Wasserhähne tropfen und es in den Heizungsrohren klopft und knackt, wenn sich das System um sechs Uhr morgens einschaltet. Und dass man in Zimmer drei nur dann die Fernsehnachrichten auf Channel 4 ansehen kann, wenn man die Antenne zum Fenster richtet.

Sogar Paare, die für einen romantischen Kurzurlaub anreisen, geraten am Ende aneinander und beschuldigen sich gegenseitig, diese Absteige ausgesucht zu haben. »Keine Rückerstattungen«, wird zum ständig wiederholten Mantra ihres Vaters, wenn er an der Durchreiche zur Küche steht, die gleichzeitig sein Büro darstellt. »Seien Sie froh, dass Sie nur fürs Wochenende hier sind«, will Nancy ihnen sagen. Mit sechzehn muss sie noch zwei Jahre in diesem Haus ausharren, bevor sie sich an die Uni flüchten kann.

Niemand aber ist bitterer enttäuscht über das Leben im Beaufort Bed and Breakfast als Nancys Mutter Theresa. Als Theresa selbst sechzehn war, war auch sie ein aufgewecktes Mädchen. Aber das war 1966, und kein Lehrer hatte ihr gegenüber das Wort »Universität« auch nur in den Mund genommen. Stattdessen war sie wie die meisten ihrer Freunde – und vor ihnen die Eltern – zum Arbeiten in die ortsansässige Fabrik gegangen, die Flugzeugteile produzierte. Der einzige Unterschied war, dass Theresa in der Buchhaltung arbeiten durfte, weil sie die Schule überraschend gut abgeschlossen hatte. Es war eine untergeordnete Stelle, aber eine mit Perspektiven, und Theresa galt, obwohl sie ein Mädchen war, als »vielversprechend«.

Doch alles wurde schlagartig anders, als Theresa mit siebzehn zu einer Tanzveranstaltung des Rotary Clubs ging. Dort lernte sie einen Mann namens Mike Jebb kennen, von dem es hieß, dass er das Bed and Breakfast seiner Eltern übernehmen würde, und der als guter Fang galt. Unter dem Silberschimmer der gemieteten Discokugel wirbelte Mike Theresa zu dem Lied Everlasting Love wieder und wieder herum, und ihr Schicksal war besiegelt. In aller Hast heirateten Theresa und Mike, und keine sieben Monate später kam – »Überraschung!« – Nancy auf die Welt.

Als Nancy Teenagerin ist, gibt sich ihre Mutter wenig Mühe zu verheimlichen, wie sehr es ihr zusetzt, dass ihr Leben derart eingeschränkt wurde. Theresa hat klare Ansichten über Jungs, Ansichten, die sie Nancy regelmäßig kundtut. Jungs sind schmutzig, sie sind hinterhältig, und sie tun und sagen alles, was nötig ist, um an Nancys Unterhose zu kommen. Unter allen Umständen muss sie sich von ihnen fernhalten, andernfalls »ruiniert sie ihr Leben, und zwar endgültig«.

Außerdem hat Theresa die Angewohnheit, Gehässigkeiten von sich zu geben und umgehend das Zimmer zu verlassen, sodass man keine Chance hat, etwas darauf zu erwidern. »Du warst ein Unfall«, erklärt sie Nancy an einem Sonntagabend, als sie gemeinsam vor dem Fernseher sitzen. »Hast mich für immer an diesen Kloß gebunden.« Sie deutet auf Nancys Vater, der im Sessel schläft, und verschwindet dann in die Küche, als sei nichts geschehen.

Nancy, die das nicht zum ersten Mal hört, seufzt und wendet sich wieder dem grinsenden Sid James und Barbara Windsor im Fernsehen zu. Nancy weiß auch, dass ihre überstürzte Geburt – ein Notkaiserschnitt – der Grund ist, warum sie Einzelkind geblieben ist. »Die Ärzte waren so in Eile, sie haben in mir herumgewühlt und die Eileiter beschädigt«, hat ihr Theresa voller Verbitterung erklärt.

Manchmal sagt Theresa diese Sachen direkt zu Nancy, öfter aber zu Aunty Annette. Theresa und ihre Schwester Annette sitzen gern am Küchentisch, rauchen Rothmans und reden über ihre nichtsnutzigen Ehemänner und den Marktpreis für Fleisch, und warum Bettlaken aus Polyester eine günstige Alternative für das Bed and Breakfast sind.

»Dir stehen so viele Möglichkeiten offen, Nancy«, fährt ihre Mutter fort, als sie wieder ins Wohnzimmer hereinschneit. »Ich hatte das nie. Also lass dir ja kein Kind andrehen. Das wäre das Ende.«

Nancy schaltet die Komödie im Fernsehen aus und verdrückt sich hinauf in ihr Zimmer, wo ihre Bücher auf sie warten. Wenn sie die Prüfungen besteht und anschließend den höheren Abschluss draufsetzt, kann sie es weit bringen – das sagen alle Lehrer. Doch als Nancy die Treppe hinauftrottet, spürt sie, wie ihr Theresas Worte dicht auf den Fersen folgen.

An Abenden wie diesen empfindet sie die düstere Stimmung ihrer Mutter geradezu körperlich, eine gelbe Wolke, die sich in den Ecken der bescheidenen Räume zusammenbauscht, unter dem Esstisch hervorquillt und unter Nancys Zimmertür hereinwabert. Wenn diese gelbe Wolke das Haus ausfüllt, dann behält Nancy ihre Gedanken wohlweislich für sich, denn die bleischwere Präsenz würde sie nur ersticken und auslöschen.

Es gibt nur eines, was dazu beiträgt, dass die Wolke sich lichtet – nämlich wenn Nancy sich vorstellt, sie sei jemand anders, wenn sie schauspielert. Das Leben in einem Bed and Breakfast hat ihr beigebracht, zu heucheln und zu täuschen. »Guten Morgen, was für ein schöner Tag!« »Oh, das tut mir leid, ich schau mir den Fernseher in Zimmer drei gleich an.« »Heizungsgeräusche? Nein, ich glaube nicht, dass es da ein Problem gibt.« In diesem Schuljahr aber hat die Englischlehrerin die Klasse aufgefordert, Theaterstücke laut vorzutragen.

Nancy liebt das Gefühl, ihr Ich abzustreifen und eine neue Identität auszuprobieren. Während die Klassenkameraden sich verhaspeln oder mit monotoner Stimme vorlesen, empfindet Nancy die Aufgabe als ganz einfach. Sie muss nichts tun, als sich als jemand anders auszugeben, und stellt fest, dass sie das ziemlich gut kann.

Heute Abend prägt sie sich für das Probeexamen in der nächsten Woche Zitate aus Othello ein. Sie schreibt ihren Lieblingssatz ins Schulheft: »O hüte dich, mein Herr, vor Eifersucht: Sie ist das grünäugige Ungeheuer, das das Fleisch verhöhnt, von dem es sich nährt.«