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Finstere Zeiten Ein Mordfall in Mayen 1919 Die Straßen und Gassen des Städtchens Mayen am östlichen Rand der Eifel liegen in tiefem Dunkel. Für die Laternenbeleuchtung fehlt wegen des verlorenen Kriegs das Gas. In dieser Finsternis schlägt ein Mörder zu, schnell, skrupellos, und wie er glaubt, unbeobachtet. Kommissar Jakob van de Molen ist erst vor fünf Monaten von Berlin in die kleine Stadt versetzt worden, in der angesichts der katastrophalen Versorgungslage ein täglicher Kampf ums Überleben den Alltag der Menschen prägt. Als neuer Leiter der Kriminalpolizei hat er es nicht leicht mit den städtischen Honoratioren, denn schon bald sieht er sich den Anfeindungen von Stadtrat Maus, dem skrupellosen Leiter der Ortspolizeibehörde, ausgesetzt. Auch an die Menschen mit ihrer harten und direkten Sprache, die bei der schweren Arbeit im Schieferbergwerk und den Basaltsteinbrüchen ihr karges Brot verdienen, muss er sich erst gewöhnen. Van de Molen kennt die junge Frau, deren Leiche in einer stürmischen Nacht vor dem Tor der Genovevaburg im Schnee gefunden wird: Elfriede, das Dienstmädchen des Stadtrates war kein Kind von Traurigkeit, heißt es. Aber wer hat sie ermordet? Alles deutet darauf hin, dass ihr ehemaliger Freund, ein gewalttätiger Steinbrecher, sie erschlagen hat. Doch mit dem scheinbar schnellen Ermittlungserfolg will sich Van de Molen nicht zufriedengeben und sucht weiter. Da erwächst aus dem Hinweis eines stadtbekannten Klaukindes ein schrecklicher Verdacht, aus dem bald bittere Gewissheit wird.
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Seitenzahl: 471
Veröffentlichungsjahr: 2025
Wilfried Manheller
In den dunklen Gassen von Mayen
Wilfried Manheller, geb. 1956, war seit 1977 im Polizeidienst des Landes Rheinland-Pfalz, zunächst bei der Schutzpolizei in Bad Neuenahr-Ahrweiler, dann als Dienstgruppenleiter im Polizeipräsidium Mainz. Später wurde er dann Leiter des K3 (Kommissariat zur Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität) in Mayen und 2006 Leiter der Kriminalpolizei in Bad Neuenahr-Ahrweiler.
Seit dem Jahr 2018 widmet er sich im Ruhestand unter anderem der Schriftstellerei und verfasste zwei historische Romane über die Zeit der Bauernkriege. »In den dunklen Gassen von Mayen« ist sein erster historischer Kriminalroman und der Beginn einer Reihe um den Ermittler Jakob van de Molen.
Wilfried Manheller
Originalausgabe
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Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von
© Stadtarchiv Mayen
Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
ISBN 978-3-95441-725-4 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-95441-732-2 (eBook)
1 DER MORD AN DER GENOVEVABURG
2
3 WAS BISHER GESCHAH
4 AM SELBEN TAG IN BERLIN
5 DIE ERSTEN TAGE IN MAYEN
6 DIE AKTE DAHM UND ANDERE MERKWÜRDIGKEITEN
7 DER KRIEG IST AUS!
8 LISBETHCHEN ODER DIE NOT UNTER DEM DACH
9 DIE ERMITTLUNGEN IM MORDFALL ELFRIEDE LAMBRICH
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NACHWORT
Montag, 10. Februar 1919
Während sich in Weimar die Männer, die man später als Novemberverbrecher beschimpfen und verfolgen würde, der reaktionären Kräfte des untergegangenen Kaiserreichs erwehren mussten, beherrschten in Mayen, einer kleinen Stadt am östlichen Rand der Eifel in der preußischen Rheinprovinz, der tägliche Kampf ums Überleben angesichts der katastrophalen Versorgungslage und die schwere Arbeit im Schieferbergwerk und in den Basaltsteinbrüchen den Alltag der Menschen.
Und während die Nationalversammlung im festlich beleuchteten Nationaltheater in Weimar das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt beschloss und die Vorbereitungen für die Wahl des ersten Reichspräsidenten am nächsten Tag traf, lag der Marktplatz in Mayen im Dunkeln; für die Straßenbeleuchtung fehlte – dem verlorenen Ersten Weltkrieg geschuldet – seit Ende des Jahres 1918 das Gas.
Es war bitterkalt an jenem Abend des zehnten Februar 1919. Ein scharfer Nordostwind jagte spitze Schneekristalle durch die Stadt und vertrieb die Menschen in ihre schlecht geheizten Wohnungen, sodass die Straßen menschenleer waren.
Die Kirchturmglocke von Herz Jesu schlug zehn Uhr.
Eine Seitentür öffnete sich, ein Kind, ein Mädchen von vielleicht zehn oder elf Jahren, verließ laut hustend die Kirche und blickte sich verstohlen um. Draußen, in einer dunklen Ecke neben der Tür, stand ein alter Handkarren mit Eisenrädern, in dem nur einige Bretter lagen. Das Kind packte die Deichsel, ruckelte an dem Karren, der in der Kälte im Schnee festgefroren war, und zog ihn dann mit quietschenden Rädern in Richtung Marktplatz. Der Schnee brachte immerhin so viel Licht, dass man trotz der fehlenden Straßenbeleuchtung noch genug sah. Das Mädchen ging langsam die Straße entlang, blickte in alle Hofeinfahrten und sonstigen finsteren Ecken, verschwand bisweilen in einer dieser Ecken, als suchte es etwas, und kam doch immer mit leeren Händen zum Karren zurück. Wurde es wieder von einem trockenen Hustenanfall geschüttelt, hielt es sich sofort einen Ärmel der zu großen und zu dünnen Leinenjacke vor den Mund und schaute sich prüfend um, als hätte es Angst, gehört zu werden und aufzufallen.
Gegen halb elf kam ein Mann mit eiligen Schritten von der Burg hinunter. Die Arme schwenkend, als durchschritte er ein Kornfeld, bog er in den Burgfrieden ein und folgte außerhalb der Stadtmauer dem Boemundring. Das Kind sah ihn, drückte sich kurz in das Dunkel einer Hofeinfahrt und ging dann hinter ihm her, bis er in der Neutorstraße verschwand.
Auf dem Weg zurück zum Karren holte es in der Bärengasse eine stadtbekannte, attraktive Mittvierzigerin mit zweifelhaftem Ruf ein, die wegen ihrer Vorliebe für silbergraue Kaninchenfelle nur die Selwa Knain genannt wurde.
»Na, Lisbethchen, auch noch unterwegs? Wenn die anderen im Bett liegen, sind wir zwei noch fleißig, jede auf ihre Art, nicht wahr?« Die Frau zündete sich eine Zigarette an. »Aber es ist verdammt dunkel. Pass bloß auf, dass dich nicht mal einer überfällt.«
Lisbethchen schüttelte den Kopf. »Selwa Knain, da brauchste kein Angst ze habe. De Duudschläje-Tünn passt doch auf mich auf, un dat wissen de Spitzbube.«
»Stimmt, hatt' ich vergessen.« Selwa Knain lachte vor sich hin, und als sie den Karren erreichten, stützte sie sich mit einer Hand auf Lisbethchens Schulter und schaute hinein. »Na, hast du denn wenigstens etwas gefunden?« Sie sah die Bretter, schüttelte den Kopf, kramte in der Manteltasche und gab dem Mädchen einen Groschen in die Hand. »Kauf dir davon morgen ein paar süße Brötchen, aber iss sie selbst, damit du mir nicht doch noch eingehst. Klar?«
Lisbethchen machte einen kleinen Knicks. »Danke, Selwa Knain, mach' esch!«
Die Frau schaute das Kind prüfend an. »Ich habe gehört, du stehst auch unter dem Schutz von dem Kommissar, dem van de Molen? Bist wohl unter die Ehrlichen gegangen.«
Lisbethchen schien für einen Augenblick zu überlegen. »Ach, weißte, Selwa Knain, me muss ja gucke, wo me bleibt. Un der Kommissar gibt me ab und an och was ze esse.«
»Ja, gehst du denn nicht mehr klauen? Da werden sich die Mayener aber freuen.«
»Was du alles wisse willst, Selwa Knain! Esch hab doch nie geklaut. Esch hab nur die Sache aufgehobe, die auf de Straß lage. Esch klau doch net!«
Die Frau strich Lisbethchen mit der Hand über den Kopf. »Du bist schon ein armes Stück«, sagte sie ehrlich bedauernd und blickte sich verstohlen um. »Und vergiss nicht: Wegen dem, was du da neulich in der Kirche gesehen hast, bei der Beichte … Kein Sterbenswörtchen zu der Sache mit mir und dem Pastor Ölheim in der Sakristei. Du hast ja gehört, was der Pastor gesagt hat: Das wär eine Todsünde, wenn du etwas davon erzählen würdest, und du kämst in die Hölle!«
Lisbethchen wich einen Schritt zurück. »De weißt doch, esch sag nix, brauchst kein Angst ze habe, Selwa Knain.«
»Und pass bloß auf, dass der Kainz dich nicht mal erwischt. Das ist doch ein ganz Scharfer bei den Kriminalen, meint der Duudschläje-Tünn. Der steckt dich ins Loch.«
»Du meinst die Ratt? Dat is wahr, dem ist net ze traue, aber esch pass schon auf, un um die Uhrzeit liegt der im Bett. Weißte, der is gemein, aber net fleißig. Außerdem: De Kommissar is dem sei Chef, der wäscht dem dann seine Kopp, bis de Ohre rot werde, dat kannste aber glaube.«
»Ich sag's ja nur. Der Kommissar ist ja auch nicht immer um dich herum. Pass halt auf und lass dich bei deiner Organisiererei nicht erwischen, würdest mir fehlen … Mein Gott, Lisbethchen!«, erschrocken legte Selwa Knain eine Hand auf den Mund, »jetzt rede ich hier mit dir, als hätt' ich alle Zeit der Welt, und hätt' beinahe meinen Freund vergessen, der wartet doch noch auf mich!« Sie kicherte vor sich hin, zog sich den grauen Kaninchenpelz fester um den Hals und verschwand mit trippelnden Schritten im Dunkel des Marktplatzes.
Lisbethchen packte den Karren und machte sich auf den Weg in Richtung der Weiersbach, wo sie mit ihrer Familie in einem feuchtkalten Kellerloch hauste.
Doch wieder kam ein Mann eiligen Schrittes vom Burgweg hinunter und zwang Lisbethchen, erneut im Dunkel einer Hofeinfahrt zu verschwinden. Fassungslos über so viel störenden Fußgängerverkehr um diese Uhrzeit schüttelte das Mädchen unwillig den Kopf. Dass der eilige Fußgänger auf seinem Weg über den Marktplatz einer unvorsichtigen Katze einen Tritt gab, dass sie quer über das Pflaster flog, sah Lisbethchen nicht, reimte es sich aber zusammen, als sie das vorwurfsvolle Kreischen der Katze hörte.
Da das Quietschen des Handkarrens nicht zu unterdrücken und auch nicht zu überhören war, wartete das Kind eine geraume Zeit, freute sich, als die Katze noch vorbeikam und um seine Beine strich, und machte sich wieder auf den Weg, die Katze im Schlepptau. Man ging noch einige Meter gemeinsam, dann trennten sich ihre Wege, weil der Katze im Schnee die Füße kalt wurden.
Als sich Lisbethchen mit dem quietschenden Karren der Weiersbach näherte, wurde am ersten Haus die Tür geöffnet. Lichtschein fiel auf eine schwere Gestalt in rotem Mantel, roten Stiefeln und mit roter Pelzkappe auf dem Kopf. Der Mann stellte sich mitten auf den Weg, den das Lisbethchen nahm. »Na, Lissje, wo kümmst de denn jetzt noch her? Warste widda fringse?« Auch der Mann beugte sich über den Karren, schüttelte missmutig den Kopf, als er nur die paar Bretter darin sah, und nahm sich das dickste davon. »Dat wollste mir doch suwisu schenke, udda, Lissje? Kann esch good brauche. Hast ane good bai mie.« Auch er streichelte Lisbetchen über das Haar; sie schaute zu Boden. »On loss desch net von de Ratt, dem Kainz, erwösche. Dat es en harte Hond, der spiert desch en! Der neu Kommissar soll den stramm enjenordet hann, on seitdem ka'ma dem noch winija traue. Erjendwann scheeßen esch dem en Kuhel en saine dreckeje Kopp.«
»Esch wahs! Haste me at emol jesoht, Duudschläje-Tünn, dat behaalen esch noch. Wejen mie mohste dem neust dohn, esch passen schun off.«
»Joh, joh, dau bes schun mei Bestet, Lissje. Esch haalen joa och de Hand üwa desch, wenn de wahst, bat esch maanen.«
»Mit wäret lewa, dau jäwsa ma ebbes ze ähße. Esch hann seit jesda neust mieh krisch«, klagte sie und schaute ihn mit treuen Augen an.
»Maanste dau dann, esch wär de Armekösch? On dau wahst doch, bie de Leut soan: ›Gibste mir, geb ich dir. Hab isch nix, kriegste de och nix!‹ Su es et Läwe, Lissje.«
Lisbethchen hob den Kopf und schaute Duudschläje-Tünn an. »Tünn, hann esch die at gesoaht, dat esch nimmie su good hüren on sehn? Wenn de verstahst, bat esch maanen.«
Duudschläje-Tünn lachte laut auf, klopfte Lisbethchen mit seiner schweren Hand auf die Schulter, dass es zur Seite einknickte, und bestätigte ihr: »Lissje, esch sehn, dau has at vill von mir jeliehrt. Waat emol …« Er ging zurück in seine Wohnung. Man hörte es poltern, es klatschte zweimal laut, dann schrie eine Frau, und Tünn kam ruhigen Schritts wieder nach draußen. »Esch mohst em Ammi mohl widda zeije, ber de Häär em Haus es. Häi! Haste noch ebbes zom kniwele.« Er wuselte Lisbethchen durch die Haare. »Un merk dir: Esch halen de Hand üwwa desch, sos kaane, och net de Kommissar. Esch künnt och dem Kommissar en Kuhel en de Kopp scheeße, anfach su. Künnt esch doan, Lissje.«
»Dat machste net, Tünn, dat machste net!«, beschwor sie ihn mit weinerlicher Stimme.
»Un wenn doch?«, wollte er sie ärgern.
»Dann … dann helfen esch die nimmi. Dann brauchste mesch neunst mie ze fraare. Dann helfen esch nur noch de Polezei!«
Scheinbar erschreckt, legte er kurz die rechte Hand vor den Mund. »Lissje, wenn dat esu es, dann maachen esch et net, es doch klar!« Wieder wuselte er ihr durch die Haare und schickte sie nach Hause.
Mit quietschenden Rädern zog sie durch den Schnee zu einem dunklen Haus, aus dem lautes Husten zu hören war.
Duudschläje-Tünn schaute ihr kurz nach, schüttelte bedauernd den Kopf, als er das Husten hörte, zog den Mantel enger und verzog sich in seine warme Wohnung.
Dienstag, 11. Februar 1919
Kommissar van de Molen schreckte plötzlich auf, er hatte etwas gehört, wovon er aufgewacht war. Er horchte in die Nacht … Stille!
Vielleicht hatte er auch nur schlecht geträumt. Er schlief schon die ganze letzte Zeit unruhig. Obwohl er bereits vor fast einem halben Jahr aus Berlin nach Mayen versetzt worden war und hier die Stelle des leitenden Kriminalbeamten übernommen hatte, lief es für ihn weiterhin nicht so, wie er sich das wünschte.
Da war der Fall des gesuchten Mörders Johann Mayer, den sie nicht zu Ende bringen konnten; die ständigen Auseinandersetzungen mit Stadtrat Maus, dem Leiter der Ortspolizeibehörde, der ihn – warum auch immer – unbedingt loswerden wollte; das Gezanke mit seiner Vermieterin, Frau Kaufmann, die glaubte, ihn bevormunden zu müssen; das Getuschel mancher Mitarbeiter der Schutzpolizei hinter seinem Rücken: »Ah, da kommt der Kommissar aus Berlin, jetzt aber aufgepasst, es gibt viel zu lernen, ihr Mayener Dummköpfe!«; die Gewissheit, dass es im Kreis seiner Kriminalbeamten mindestens einen gab, der alles, was er mit seinen Mitarbeitern besprach, an Stadtrat Maus weitertrug … Und zu allem Überfluss hatte ihm eine Frau einen Heiratsantrag gemacht; man musste sich das einmal vorstellen: Eine Frau machte ihm einen Heiratsantrag! Einfach so! Hier in Mayen stand für ihn wirklich einiges Kopf, und er hatte noch keine Vorstellung davon, wie er diese Probleme zufriedenstellend lösen konnte!
Was war das jetzt? Wieder hatte er etwas gehört. Hämmerte jemand gegen die Haustür? Um diese Zeit? Es war doch erst zwanzig nach vier.
Van de Molen stand auf, öffnete das Fenster zum Hinterhof hin und schaute hinunter. Im Schein eines Windlichtes sah er eine Pickelhaube glänzen. »Wer da?«, rief er hinunter.
»Ich bin's, Herr Kommissar, Polizeiwachtmeister Jonas!«
»Was gibt's?«
»Sie müssen sofort kommen, auf dem Weg zur Burg liegt eine Frauenleiche. Polizeikommissar Rosenstock sagte, Sie sollen übernehmen, weil … Sie sind doch der Kriminalkommissar, Herr van de Molen!«
»Ich komme sofort. Ich ziehe mich nur noch an. Warten Sie!«
Auf dem Weg nach unten kamen ihm die Worte seines Ausbilders, Heinz Gröbe, wieder in den Sinn. »Meine Herren Kommissare, Mordermittlung ist Struktur, Struktur und noch mal Struktur, und im Detail liegt die Wahrheit! Merken Sie sich das!« Gröbe, du warst ein guter Mann. Und jetzt bist du schon fast zwei Jahre tot. Einfach so auf offener Straße niedergeschossen. Tja, und vom Täter keine Spur!
Unten angekommen, informierte ihn Polizeiwachtmeister Jonas, dass Polizeihauptwachtmeister Heuser und Polizeiwachtmeister Steiner am Tatort warteten.
Na, besser hätte es auch nicht kommen können. Gerade Heuser und Steiner, ärgerte sich van de Molen im Stillen und fragte: »Wer hat die Leiche gefunden?«
»Ein junger Mann, der auf dem Weg in die Backstube Göbel war. Der hat uns verständigt.«
»Wo ist der Mann jetzt?«
»In der Backstube. Die fangen dort schon um drei an zu arbeiten. Da wird jede Hand gebraucht.« Jonas lachte wie über einen Witz.
»Warum lachen Sie?«
»Entschuldigung, das war blöd von mir. Der Mann hat nur noch die rechte Hand, die andere hat er in Frankreich verloren. Vor einem Jahr glaube ich. Entschuldigung! Wo Sie doch auch im Krieg verletzt worden sind. Hätte ich mir sparen können.«
Auf dem Weg zum Tatort machten sie noch einen kurzen Umweg zur Dienststelle, um die Tatortkoffer zu holen.
Als van de Molen erfahren hatte, dass er in die Provinz versetzt werden würde, rüstete er sich mit verschiedenen Hilfsmitteln aus, die »man« am Tatort benötigte: Spurentafeln, Maßbänder, Zollstöcke, Kamera mit Stativ, Flaschen zur Aufnahme von Spurenmaterial, Rußpinsel für die Fingerabdrucksicherung, Gips zum Ausgießen von Spuren im unbefestigten Untergrund und vieles mehr. Hilfestellung dazu hatte ihm Kriminaloberinspektor Ernst Gennat, Leiter der Berliner Mordbereitschaft, gegeben, und er hatte auch dafür gesorgt, dass der Erkennungsdienst ihm die notwendigen Gerätschaften und Materialien überließ. Dass es in Mayen aber für die Polizei kein Fahrzeug gab, mit dem man die Sachen an den Tatort transportieren konnte, hatte van de Molen nicht bedacht, hätte er sich aber denken können, denn auch in Berlin hatte es lange gedauert, bevor Gennat endlich sein »Mordauto« bekam.
Als er bei Stadtrat Maus, dem Leiter der Ortspolizeibehörde, vorstellig geworden war, um die Möglichkeiten auszuloten, ein Auto mit allen notwendigen Ausrüstungsgegenständen für die Tatortarbeit zu besorgen, hatte Maus das entrüstet als eine verrückte Berliner Idee abgelehnt. Ob denn van de Molen nur mit diesem Berliner Firlefanz vernünftige Ermittlungsarbeit zuwege bringe? Armes Deutschland!
»Herr Stadtrat, hier wäre wohl ›armes Mayen‹ eher angebracht«, hatte van de Molen verärgert widersprochen, und Stadtrat Maus nahm seinerseits – ebenfalls verärgert – diese »Widerspenstigkeit« zur Kenntnis.
Van de Molen überlegte noch, wie er die Koffer zum Tatort bringen konnte, da wusste Jonas Rat: »Ich hole aus dem Keller den alten Rollwagen, da laden wir die Sachen drauf und ziehen ihn halt zur Burg hinauf.«
Von der Dienststelle ging es über den Marktplatz leicht bergan hinauf zu dem niedrigen Burgberg, wo sie am Ende des Weges zum Burgtor den Tatort erreichten.
Dort wurde van de Molen mit dem hinlänglich bekannten Umstand konfrontiert, auf den ihn Ernst Gennat schon vorsorglich hingewiesen hatte: dass am Tatort grundsätzlich wichtige Erkenntnisse und Spuren gewonnen werden könnten, wenn sie die Polizei aus Unkenntnis und Gedankenlosigkeit nicht selbst vorher bereits vernichtet hätte.
Heuser und Steiner lehnten in ihren schweren Uniformmänteln neben der Leiche an der Mauer, die den Burgweg zum Tal hin abschloss, und rauchten. Kaum sahen die beiden ihn und Jonas kommen, da warfen sie die Zigaretten auf den Boden und traten sie aus. Weder die Leiche noch der engere Tatort war abgedeckt, obwohl es immer noch schneite, und zur Beleuchtung hatte man nur eine einzige Karbidlampe mitgebracht.
»Hauptwachtmeister Heuser!«, fragte van de Molen mit deutlicher Kritik in der Stimme, »wieso ist der Tatort nicht abgedeckt?«
»Wieso, wieso? Bei dem bisschen Schneefall ist das nicht nötig«, wehrte sich Heuser. »Man sieht doch noch alles!«
Van de Molen ließ sich allerdings auf keine Diskussion ein. »Hauptwachtmeister Heuser, ich verlange, dass das sofort nachgeholt wird. Außerdem benötige ich mehr Lampen. Sie haben mich gerufen, damit ich die Tatortarbeit mache. Dann will ich aber auch, dass die notwendigen Gerätschaften vor Ort sind.«
Widerwillig kam Heuser der Aufforderung nach und wollte Jonas und Steiner schicken, das Material zu holen. Steiner allerdings keifte Heuser an: »Du bist doch auch anderer Meinung. Warum geht nicht der, der den Kram haben will? Ich geh jedenfalls nicht.«
Van de Molen glaubte seinen Ohren nicht zu trauen; Heuser schien nicht zu wissen, wie er sich dazu verhalten sollte; nur Jonas drängte Steiner mitzukommen. Der aber steckte beide Hände in die Seitentaschen seines Mantels und blieb stehen.
Nun gut, dachte van de Molen, ging zu Steiner hin und machte ihm klar: »Polizeiwachtmeister Steiner, Sie gehen sofort zur Dienststelle und holen die Sachen, die ich für die Tatortarbeit benötige, das ist ein Befehl! Ansonsten ist dieser Nachtdienst Ihr letzter Dienst bei der Polizei; darauf können Sie sich verlassen.«
Steiner schaute zwar böse, aber dennoch sichtlich verunsichert zu Heuser. Als von dort keine Hilfe kam, grummelte er Unverständliches vor sich hin und folgte Jonas. Eine Viertelstunde später kamen beide mit Abdeckplanen und vier weiteren Karbidlampen zum Tatort zurück.
Nachdem van de Molen die Lampen am Tatort aufgestellt hatte, sah er, dass sich um die Leiche herum im Schnee grobstollige Schuhabdrücke befanden. Er kannte dieses Schuhprofil. Es war das Profil der Stiefel, die die Schutzmannschaften der Polizei trugen. Heuser und Steiner hatten also nichts Besseres zu tun gewusst, als sich die Leiche von allen Seiten anzusehen und dabei die tatrelevanten Schuhabdrücke des Opfers und des Täters zu zertrampeln. Er holte tief Luft, blies sie durch die zusammengepressten Lippen wieder aus und mahnte sich zur Ruhe. Gleiches war ihm schließlich auch in Berlin schon oft genug passiert. Dennoch konnte er das nicht so belassen.
»Polizeihauptwachtmeister Heuser, Polizeiwachtmeister Steiner, sehe ich das richtig, dass Sie sich die Leiche von allen Seiten angesehen haben?« Er schaute die beiden an, die ihm mit angespannten Gesichtern zuhörten. »Dabei haben Sie mit Ihren Stiefeln die Spuren des Opfers und des Täters zerstört!«
Heuser kratzte sich an der Nase, während Steiner auf den Boden starrte, als wollte er die Feststellung prüfen.
»Wenn Sie in Zukunft einen Tatort haben, achten Sie bitte darauf, die vorhandenen Spuren nicht zu zerstören oder zu beeinträchtigen. Um das zu vermeiden, sperren Sie den Tatort, sobald Sie ihn gesichert haben, einfach ab. Und unterlassen Sie es, am Tatort zu rauchen, zu trinken oder zu essen. Haben Sie das verstanden?«
Heuser nickte, Steiner wollte aber jetzt erst recht kein schlechtes Gewissen haben, sondern murrte: »Spielen Sie sich mal nicht so auf, Herr Kommissar. Wir waren das nicht!«
»Steiner!«, widersprach Heuser nun heftig, »ganz sicher waren wir das. Was soll denn der Unsinn? Jetzt reiß dich aber mal zusammen!«, und an van de Molen gewandt: »Es soll nicht wieder vorkommen. In Zukunft werden wir darauf achten, Herr Kommissar.«
Van de Molen packte die Gerätschaften aus und positionierte die Lampen so, dass der Tatort mit der zugedeckten Leiche, den Schuhspuren, Ascheresten und einem Zigarrenstummel am Grund der Mauer gut ausgeleuchtet war. Er markierte die Spuren mit nummerierten Tafeln und fotografierte sie mit der Carl Zeiss Jena Universal Palmos, die ihm Gennat aus der Asservatenkammer im Polizeipräsidium hatte zukommen lassen. Anschließend deckte er die Leiche wieder auf und begann mit ihrer Untersuchung. Da er sein linkes Knie wegen der Kriegsverletzung nur mit Mühe krümmen konnte, war es eine rechte Prozedur, ehe er endlich neben der Leiche kniete.
Die Frau lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Weg. Neben ihrem Kopf glänzte im Schein der Lampen eine kleine, mittlerweile gefrorene Blutlache. Auch das Loch im Schädeldach war bei dem hellen Gaslicht gut zu erkennen.
»Man hat ihr den Schädel eingeschlagen!«, erklärt er Heuser, der interessiert zusah.
»Dann muss der Täter aber groß gewesen sein, wenn er ihr von oben mitten auf den Kopf schlagen konnte!«, mutmaßte Heuser.
Van de Molen bestätigte, dass die Verletzung darauf hindeuten könne, und drehte die Leiche um. Wie bei allen Toten, die länger auf dem Gesicht gelegen hatten, war das Aussehen stark verzerrt, und der angefrorene Schnee tat sein Übriges. Trotzdem erkannte er Elfriede sofort, es traf ihn wie eine Faust in den Magen.
Das konnte doch nicht möglich sein! Träumte er? Was hatte sie hier an der Burg gemacht? Metzger, ihr ehemaliger Freund … Der hatte doch gedroht, er werde sie erschlagen. Hatte sie sich vielleicht mit ihm hier an der Burg getroffen? Aber warum? Angeblich hatte sie doch keinen Kontakt mehr zu ihm. Er faltete die Hände vor seinem Gesicht und dachte einen kurzen Moment nach. Aber wer sonst? Hatte Walter Metzger aus Eifersucht auf ihn Elfriede erschlagen? Aber dass sie sich mit Metzger hier oben, in dieser dunklen Ecke, treffen würde, das konnte er sich nicht vorstellen.
»Ich kenne die Frau.« Er stand mühsam auf, und Heuser machte Anstalten, ihm aufzuhelfen, was ihm mehr als unangenehm war. »Das ist das Dienstmädchen im Hause Maus, unseres Stadtrates.«
»Au, verdammt!«, entfuhr es Heuser, »und jetzt?«
»Sie heißt Elfriede und war mit dem Steinhauer Walter Metzger liiert. Vor ein paar Wochen hat er in meinem Beisein noch gedroht, die Elfriede ›kaputtzuschlagen‹, wie er sich ausdrückte. Auf der Wache müssten die vollständigen Personalien verzeichnet sein.«
»Sollen wir ihn holen, Herr Kommissar?«, zeigte sich Heuser diensteifrig.
»Seine Drohung und die Tatsache, dass die Frau erschlagen wurde, dürften hier ausreichen. Übernehmen Sie das, Polizeihauptwachtmeister Heuser?« Der salutierte kurz. »Gut, dann nehmen Sie ihn fest und bringen Sie ihn ins Arresthaus. Ich kümmere mich später um ihn. Ach so, informieren Sie bitte auch Kriminalsekretär Wagner, dass er mich hier am Tatort unterstützt.«
»Selbstverständlich, Herr Kommissar! Kann ich die Kollegen mitnehmen?«
»Gewiss! Und, Hauptwachtmeister Heuser, keinen Kommentar gegenüber Metzger zum Hintergrund der Festnahme. Informieren Sie ihn lediglich darüber, dass er eines Tötungsdeliktes dringend verdächtig ist.«
»Jawohl, Herr Kommissar!« Heuser salutierte erneut und verschwand mit Jonas und Steiner in Richtung Marktplatz.
Als van de Molen mit der Leiche von Elfriede auf dem Burgweg alleine war, kniete er sich wieder neben sie und schloss ihr die halb geöffneten Augen; die unnatürliche Kälte ihrer Haut erschreckte ihn. Er erhob sich und trat einige Schritte neben sie, ihm war schlecht. Dabei hatte sie ihn noch am letzten Freitag in seinem Büro besucht und ihm einen Heiratsantrag gemacht! Er sah sie noch, wie sie in seinem Büro vor ihm stand und ihn anlächelte. Und jetzt lag sie steif und seelenlos im Schnee … so kalt und fremd.
Elfriede …
Wann hatte er Elfriede das erste Mal gesehen? Richtig, an dem Tag, als das deutsche Heer in Frankreich kapitulierte, am elften November 1918.
An diesem Tag – in Mayen wusste man noch nicht, dass der Krieg zu Ende war – hatte van de Molen sich entschlossen, nach Dienstende auf dem Nachhauseweg einen kleinen Schlenker in die Stehbachstraße zu machen, in der Gaststätte Weihwasserkessel, die einen ziemlich zwielichtigen Ruf hatte, ein Bier zu trinken und den Verfall der Sitten zu beobachten.
Das Gasthaus hatte seine besten Tage längst hinter sich. Kein Wunder also, dass die Wirtshaustür in ihren Angeln kreischte, als er sie öffnete und den Schankraum betrat. Der eine oder andere vorwitzige Gast schaute auf, und van de Molen schaute sich kurz um. Die Gaststätte war gut besucht, vorwiegend Arbeiter aus der Steinindustrie, manche mit ihren Freundinnen, andere vielleicht auf der Suche danach. Bis auf einen kleinen Tisch in der Ecke hinter der Tür waren alle Tische besetzt.
Hier, in dieser Gaststätte, waren vorwiegend die Männer anzutreffen – allgemein »die Layer« genannt –, die tagsüber schwere und schweißtreibende körperliche Arbeit verrichteten: die Steinbrecher und Steinhauer, die Grubenleute aus dem Schieferbergwerk und die Pflasterer. Die ohnehin stickig-schweißige Luft wurde nicht besser dadurch, dass die meisten Männer, aber auch viele Frauen Zigaretten rauchten.
Es waren starke und raue Gesellen, die kein Vermögen besaßen und nur mit ihrer Arbeitskraft Geld verdienen konnten. Verständlich, dass sie gerade bei den Frauen beliebt waren, die auch nur wenig Mitgift mit in die Ehe bringen konnten. In Mayen waren das in diesen Tagen vorwiegend die Dienstmädchen aus dem Eifeler Umland. Sie wurden von ihrer Herrschaft zwar meistens gnadenlos ausgenutzt, hofften aber dennoch, ihre Aussteuer mit der Arbeit ein wenig aufbessern zu können.
Das erfuhr, wer sich mit den Leuten unterhielt oder sie beobachtete; und van de Molen interessierte sich schon berufsbedingt sehr für die Menschen seiner Umgebung. Außerdem genoss er es, diesen besonderen Klang ihrer Sprache zu hören, und nirgendwo konnte man das so unmittelbar erleben wie im Weihwasserkessel.
An einem Nebentisch beobachtete er drei Pärchen. Die Männer waren Anfang dreißig. Ihre geschundenen Hände wiesen sie als Steinhauer aus. Die Frauen, Mitte zwanzig, schienen entsprechend ihrer strengen und dunklen Kleidung Dienstmädchen aus dem Umland zu sein. Wie die einzelnen Paare miteinander umgingen, ließ van de Molen vermuten, dass man noch dabei war, sich zu finden.
Die Männer tranken Bier und brüllten wie gewohnt laut herum. Die Mädchen tranken Limonade, beachteten die Schreihälse nur am Rande und redeten immerhin noch so laut miteinander, dass van de Molen das meiste verstehen konnte, zumal ihr Dialekt für ihn etwas verständlicher war als der Mayener Dialekt. Eines der Mädchen – weiches, freundliches Gesicht mit großen dunkelbraunen Augen – berichtete ihren Freundinnen, dass sie sich morgens immer übergeben müsse, auch tagsüber sei es ihr dauernd übel, und die Brust schmerze und spanne. Leider war offenbar eine der Freundinnen keine wirkliche Vertraute, denn sie lärmte unüberhörbar: »Dau bos schwanger!« Die Ertappte bekam einen roten Kopf und schreckensweite Augen. Der Mann, der neben ihr saß, starrte sie ungläubig an. »Bat es loss? Dau wüars deck? Leewa God naa!«
Was für eine Sprachgewalt, dachte van de Molen. Doch leider gab es jetzt davon nichts Verständliches mehr zu hören, denn der Mann, er hieß wohl Walter mit Vornamen, gab dem Mädchen Elfriede – so schrie er sie jedenfalls an – eine schallende Ohrfeige, riss sie an den langen braunen Haaren und beschwerte sich lauthals darüber, dass er bei ihr bislang nicht durfte, wie er wollte, sie aber einen anderen durchaus rangelassen habe und jetzt auch noch schwanger sei.
Das Publikum in der Gaststätte, interessiert an den Einzelheiten, wurde still und hörte zu. Dass Frauen, die sich nicht benehmen konnten, auch schon einmal in aller Öffentlichkeit auf den rechten Pfad zurückgeschlagen wurden, kam gelegentlich vor; das war also kein Grund zur Aufregung. Im Gegenteil: Hier zeigte einer, wer in der Beziehung das Sagen hatte. Und wie zu hören war, schien die Frau ein amüsierfreudiger Rock, also »fubesch«, zu sein. Die Männer schauten sich Elfriede etwas genauer an. Die Frauen wiederum schüttelten sehr entrüstet den Kopf und dachten sich ihren Teil, wie immer der auch aussah.
Das Ende der Auseinandersetzung war kurz. Er schrie: »Dau Dreckshoar, esch schlinn desch kabott!« Und Elfriede, die, wie van de Molen jetzt feststellte, eine hübsche Frau war, schnappte sich ihren Mantel und rannte weinend aus der Gaststätte. Walter warf ein Büschel Haare, das Einzige, das er von ihr zurückbehalten hatte, auf den Boden und stiefelte hinterher. Van de Molen sah Gefahr heraufziehen und folgte den beiden.
Tatsächlich setzte sich der Streit draußen im Schein der gasbetriebenen Straßenlaterne fort. Walter hatte Elfriede wieder gepackt und schlug auf sie ein. Dabei schrie er in einem fort: »Esch schlinn desch kabott! Esch schlinn desch kabott!«
Van de Molen wusste, dass er gegen die Wut und Kraft Walters nicht wirklich viel aufzubieten hatte. Er zog deshalb seine Pistole und lud sie durch. Walter kannte offenbar das Geräusch, denn er ließ augenblicklich seine Arme sinken und drehte sich nach ihm um. »Bat boss dau dann füe aane?«
Van den Molen musste schmunzeln.
»Bat jett et doh ze laache, wellst de ahn off de Schnüss?«, reagierte Walter sofort.
»Kriminalpolizei! Lass sofort die Frau los!«
Walter machte einen Schritt auf van de Molen zu; falls er überrascht war, ließ er sich das nicht anmerken.
»Halt! Noch einen Schritt weiter, und ich schieße dir eine Kugel in den Kopf. Hast du das verstanden?« Van de Molen hatte in seiner Zeit als Schutzmann in Berlin gelernt, dass in solchen Fällen nur eine klare, unmissverständliche und auch für alkoholisierte Gehirne griffige Sprache die Wütenden zur Vernunft brachte; so auch hier.
Walter stotterte, nach Worten suchend, vor sich hin, blieb aber stehen; Elfriede verzog sich sofort in den Schutz der Dunkelheit. »Desch kreen esch noch, dann schlinn esch desch kabott!«, schrie er ihr mit heiserer Stimme nach.
Die Nacht hatte Walter Metzger im Polizeigewahrsam verbringen müssen. Bevor van de Molen ihn verließ, beteuerte er noch, dass die Sache für ihn erledigt sei. Wenn die Elfriede mit einem anderen … dann … er werde sich doch nicht zum »Hannes« machen lassen! Jetzt könne sie sehen, wo sie bleibe, dieses Flittchen. Habe ihm immer schöne Augen gemacht, sei ja wirklich hübsch, die Elfriede. Aber ihr Charakter … Er schüttelte abwertend den Kopf, zog kräftig die Nase hoch, lachte dann laut vor sich hin, erklärte, er habe zu viel getrunken, rede Unsinn und müsse sich hinlegen. Wo denn die Zelle sei?
Nachdem Walter im Arresthaus seine Zelle erhalten hatte, machte sich van de Molen auf den Weg zu seiner Wohnung. Er wollte sich auf der Straße gerade eine Zigarette anzünden, als plötzlich Elfriede aus dem Dunkel trat.
Sie sei ihnen nachgegangen und habe in der Kälte auf ihn gewartet, weil sie doch sonst niemanden habe, der sie beschütze und auf sie aufpasse; und mit einem treuen Blick: ob er sie nach Hause bringen könne, sie habe Angst.
Van de Molen fragte sich, worauf sie wohl hinauswollte. Die Antwort auf diese unausgesprochene Frage ließ nicht lange auf sich warten.
»Darf ich mich bei Ihnen einhängen?«, wollte sie wissen, wartete aber nicht auf seine Antwort, sondern packte seinen rechten Arm und drückte sich an ihn.
»Warum hinkst du? Ich darf doch Du sagen zu dir, meinem Beschützer?« Sie lachte und packte seinen Arm fester.
»Eine Kriegsverletzung«, blieb er einsilbig.
»Warum hast du keine Uniform an? Du bist doch Polizist!«
»Ich bin Kriminalbeamter. Da trägt man keine Uniform!«
So ging die Frage-Antwort-Unterhaltung noch eine Weile weiter, bis sie das Haus des Stadtrates Maus in der Wittbende, das van de Molen bereits kannte, erreicht hatten. »Hier arbeite ich!« In ihrer Stimme klang ein wenig Stolz mit. »Hier wohnt Herr Stadtrat Maus. Ich bin sein Hausmädchen.«
»Ach, bemerkenswert. Na, dann sind Sie jetzt ja in Sicherheit. Gute Nacht!«, verabschiedete er sich und wollte gehen, als Elfriede sein Gesicht fasste und ihn heiß auf den Mund küsste. »Du gefällst mir! Du bist so mutig!«
Er war im ersten Augenblick überrascht. Das hätte er in Mayen nicht erwartet. In Berlin war man ja etwas freizügiger, aber hier in Mayen … »Danke für das Kompliment!«, erwiderte er. »Aber haben Sie nicht einen Freund, der mir recht eifersüchtig zu sein scheint?«
»Na und? Außerdem will der mir höchstens einen Haufen Kinder machen, die will ich aber nicht! Ich möchte einen Mann, der mich ausführt, der mir schöne Schuhe kauft und so. Der halt was darstellt.«
»Ich sehe, Sie haben eine klare Vorstellung von Ihrem zukünftigen Mann. Den werden Sie dann wohl noch suchen müssen. Der Walter kommt dafür eher nicht infrage. Aber Sie sind noch jung und haben Zeit zum Suchen!«, blieb van de Molen dennoch sachlich, obwohl er über diese entwaffnend ehrliche Aussage innerlich schmunzeln musste.
»Sei doch nicht so stur, Herr Kommissar. Und sag Elfriede zu mir, jetzt, wo wir uns geküsst haben … Wie heißt du eigentlich?«
»Van de Molen, Jakob van de Molen.«
»Also Jakob!«
»Nein, van de Molen! Ich begleite Sie in meiner Eigenschaft als Kriminalbeamter, und in dienstlichen Angelegenheiten wahrt man die notwendige Distanz.«
»Jakob, rede normal mit mir. Was heißt denn Distanz? Das Wort kenne ich nicht.« Elfriede hatte wieder seinen rechten Oberarm gefasst.
»Abstand heißt das, und den sollten wir auch wahren!« Er löste ihren Klammergriff.
»Jetzt sei doch nicht so kalt, Jakob. Gefalle ich dir denn überhaupt nicht?« Und als er darauf keine Antwort gab: »Der Stadtrat Maus hat jedenfalls schon oft gesagt, dass ich schön bin. Und der hält auch keine Distanz zu mir. Der nicht!« Und sich wieder an ihn hängend: »Dass du aber auch so stur bist.«
Ehe van de Molen etwas dazu sagen konnte, öffnete sich ein Fenster im Hause Maus und eine Frau herrschte Elfriede an, sie solle augenblicklich ins Haus kommen, und dem unbekannten Begleiter – er hatte sich im Eingang des Nebenhauses verborgen – gab sie mit, er solle verschwinden, sonst rufe sie die Polizei. Ihr Mann sei schließlich der Polizeichef.
Am zweiten Weihnachtstag traf van de Molen Elfriede zufällig wieder. Er schlenderte die Marktstraße entlang und fühlte sich ein wenig einsam, als sie aus der Gaststätte Rheingold auf die Straße trat; auch sie war alleine. Sie sah ihn. Mit einem Lächeln zeigte sie ihre schönen Zähne und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. »Guten Tag, Herr Kommissar, auch alleine unterwegs?« Ohne zu fragen, hakte sie sich bei ihm unter. Sie zeigte auf die Gaststätte. »Da ist nichts los. Wir könnten aber ins Café Hartel in der Brückenstraße gehen. Die haben auf, und da ist es sehr gemütlich.«
Selbst ein hässlicher Weg kann schön sein, wenn man ihn zu zweit geht … Wer hatte das gesagt? Seine Mutter? Und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er seinen Eltern keine Weihnachtskarte geschickt hatte. Er hätte es tun können, auch wenn sie den Kontakt zu ihm offenbar nicht wünschten. Nun ja, er könnte ihnen aber eine Karte zum neuen Jahr schicken, wenigstens das.
Elfriede drückte sich an ihn.
Warum sollte er nicht mit Elfriede in ein Café gehen? War sie verheiratet? Sicher, sie war schwanger, aber wer wusste davon? War er verheiratet oder lebte er im Zölibat? Musste er jemanden fragen? Eben! Und so schlenderten sie die ruhige Marktstraße hinunter, betrachteten die Auslagen der Geschäfte und redeten.
So erfuhr er, dass sie sich von Walter Metzger getrennt hatte, weil sie sich nicht mehr schlagen lassen wollte. Im Übrigen habe sie ja jetzt ihn. Van de Molen nahm es überrascht zur Kenntnis, aber zunächst nicht weiter ernst. Doch als sie ihn auf dem Nachhauseweg in die Clemenskirche schleppte, begriff er, dass sie es genauso meinte. Die Clemenskirche sei noch offen und vor allem etwas beheizt, erklärte sie, da könne man sich doch gut aufhalten und reden, wenn man wolle. Das Letztere schien ihr aber nicht so wichtig, denn kaum hatten sie die Kirche betreten, da zog sie schon ihren Mantel aus und knöpfte ihre Bluse so schnell auf, dass van de Molen nur staunen konnte. Doch schon fiel Elfriede ihm um den Hals, küsste ihn wieder heiß und voller Lust und begann an ihm herumzunesteln.
Als sich jedoch im Gebälk der Empore ein Balken mit einem lauten Knacken meldete, wurde van de Molen schlagartig klar, dass er auf dem besten Weg war, eine sehr große Dummheit zu begehen. Was, wenn jemand die Kirche betrat – am zweiten Weihnachtstag nichts Ungewöhnliches – und sie beim Liebesspiel ertappte? Die Folgen wären nicht auszudenken. Er sah die Schlagzeile schon vor sich: »Leitender Kriminalkommissar entweiht an Weihnachten Clemenskirche.« Welch gefundenes Fressen für Maus! Das wäre genau der Fehler, auf den er zu warten schien.
Er löste sich von ihr und bat sie, sich wieder anzuziehen. Sie reagierte verärgert und mit Unverständnis. »Was hast du denn? Gefalle ich dir denn nicht? Was bist du denn für einer, stößt mich weg wie eine alte Rübe!«
»Elfriede, was redest du da? Wir sind hier in einer Kirche! Was, wenn jemand kommt und uns hier so sieht? Der Skandal könnte mich meinen Beruf kosten!«
»Jetzt kommt doch keiner mehr, es ist ja schon dunkel. Ich versteh dich nicht, du bist doch sonst nicht so feige, Jakob!«
Er schüttelte den Kopf. Sie begriff nichts, und das war für ihn kaum auszuhalten. »Elfriede! Erstens: Wir sind weder verlobt noch verheiratet. Zweitens: Das hier ist eine Kirche und kein Schlafzimmer. Damit ist alles gesagt. Wenn du das nicht begreifst, dann tut es mir leid.« Er legte einen Arm um sie. »Komm, ich bringe dich nach Hause.«
Sie drückte verärgert seinen Arm weg. »Das brauchst du dann auch nicht. Ich finde den Weg schon alleine!« Und sie trennten sich in keiner guten Stimmung.
Kaum war van de Molen auf dem Nachhauseweg auf die Marktstraße abgebogen, tauchte plötzlich Walter Metzger wie aus dem Nichts auf. »Ah, der Herr Kommissar spannt anderen Männern die Frau aus. Schöne Zustände sind das!«
»Elfriede ist nicht deine Frau, und deshalb hast du auch keine Ansprüche auf sie«, widersprach van de Molen. »Ich nehme dir also nichts weg!«
»Was habt ihr denn in der Kirche gemacht?«, wollte Metzger wissen und lachte hämisch.
»Wir haben gebetet, Herr Metzger. Würde Ihnen auch gut zu Gesicht stehen!«, beschied ihn van de Molen kurz angebunden und ließ ihn stehen.
Er sah Elfriede dann eine ganze Weile nicht, was ihm recht war; die Begebenheit in der Clemenskirche hatte ihn ernüchtert. Doch vor drei Tagen war sie plötzlich in seinem Büro erschienen.
Ihm war sofort aufgefallen, dass sie anders, ja fast perfekt aussah. Sie trug jetzt ihre dunklen Haare kurz geschnitten und gescheitelt. Rechts lagen sie glatt am Kopf an, und nach links hatte sie die Haare zu einer Welle onduliert, die bis an das linke Ohr reichte. Ihre Augenbrauen waren in einem weichen Bogen gezupft und dunkel nachgestrichen, die braunen Augen mit einem dezenten dunklen Lidschatten betont und die Lippen sorgfältig mit einem kräftigen Rot aufgefrischt. Ihr Gesicht war ebenmäßig blass.
Als sie den Mantel auszog, bemerkte er ihre schlanke Gestalt in dem eng anliegenden, dunkelblauen Rock. Sie sah ausgesprochen elegant aus, doch es lag etwas Berechnendes in ihrem Blick; dazu passte, dass ihre Bluse einen Knopf zu weit offen war.
Er schaute sie fragend an.
»Jakob, weißt du, ich bin jetzt hier, weil ich wissen will, wie du zu mir stehst. Du hast ja nichts von dir hören lassen, aber jetzt muss ich es wissen. Du siehst es, ich hab's an deinen Augen gesehen, und bald werden es auch die anderen sehen, dass ich schwanger bin. Dann muss ich meine Stellung aufgeben. Nur, wo soll ich dann hin? Mein Verlobter, der Feigling, will mich mit einem dicken Bauch ganz sicher nicht.«
»Ach, und du meinst, ich übernehme das dann?«
»Ich gefalle dir doch! Das sehe ich schon daran, wie du mich ansiehst. Wenn du mich schön findest, dann kannst du mich auch heiraten«, und fast flehend: »Ich werde dir eine gute Frau sein, darauf kannst du dich verlassen!«
»Elfriede, was soll ich? Dich heiraten? Wir kennen uns doch noch gar nicht. Wir haben uns zweimal gesehen! Verstehst du? Zweimal.«
Sie schien einen Augenblick irritiert, lächelte ihn dann aber an und meinte: »Jakob, ich kann gut kochen, ich mache dir die Wäsche und ziehe die Kinder groß. Du brauchst dich um nichts zu kümmern, das mach' alles ich. Du bist der Kommissar, und ich bin deine Frau … die Frau Kommissar … klingt richtig gut, find' ich! Das wäre doch schön! Oder?
»Elfriede, du müsstest dich mal reden hören. Hast du mir überhaupt zugehört?« Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Elfriede, die Gründe, die du nennst, haben für mich keine Bedeutung: Ich benötige keine Putzfrau, keine Köchin und auch keine Kinderbetreuung!« Er hatte das ziemlich forsch gesagt, und sie schaute ihn entgeistert an. Sie verstand ihn nicht und tat ihm in ihrer Naivität schon wieder leid. Bloß, was sollte er tun? Er wusste, dass er sie nicht heiraten würde; da passte nichts zusammen. Wie konnte er ihr das einigermaßen schonend begreiflich machen? »Elfriede, wir müssen das nicht jetzt, hier in meinem Büro, entscheiden. Wir sollten uns Zeit nehmen, alles in Ruhe überdenken, sagen wir, eine Woche, und dann setzen wir uns noch mal zusammen.«
»Du kannst mir doch jetzt schon sagen, ob du mich heiraten willst oder nicht. Was ändert sich denn in einer Woche? Nichts!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie sah ihren Traum zerrinnen und erwiderte weinerlich: »Warum hast du mich denn geküsst, wenn du mich nicht heiraten willst?«
»Aber du hast mich doch geküsst …«, widersprach er.
»Du bist so gemein!«, wurde sie nun deutlich lauter, »du bist genauso wie …« Sie winkte ab, ließ offen, wen sie meinte, und jammerte: »Es könnte so schön sein, aber du machst alles kaputt!«
In diesem Moment ging die Tür auf und Kriminalassistentenanwärter Kainz trat, ohne anzuklopfen, in das Büro. Er starrte sie beide an und bemerkte dann höhnisch: »Oh, welch harte Worte, das tut schon weh, nicht wahr, Herr van de Molen? Wie konnte ich aber auch in ein so ernstes Gespräch hineinplatzen, das macht man doch nicht!« Er schüttelte den Kopf und war schon wieder draußen, bevor van de Molen etwas sagen konnte.
Elfriede packte mit verweintem Gesicht ihren Mantel, stand noch für einen Augenblick unschlüssig vor seinem Schreibtisch, drehte sich dann abrupt um und verschwand ohne ein Wort.
Van de Molen saß noch eine Weile am Schreibtisch, er musste seine Gedanken sortieren. Was ist das nur für ein Durcheinander, fuhr es ihm durch den Kopf. Er stand auf, ging im Büro umher, stellte sich ans Fenster und schaute hinaus auf die Straße. Wie sollte er jetzt vorgehen? In diesem Moment sah er Stadtrat Maus kommen. Der hat mir jetzt gerade noch gefehlt, dachte er bei sich und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Er nahm gerade eine Akte aus dem Regal, da riss Stadtrat Maus, ebenfalls ohne anzuklopfen, die Bürotür auf. »Was wollte denn mein Dienstmädchen hier?«, und die Antwort nicht abwartend: »Warum haben Sie sie nicht zu mir geschickt?«
»Warum sollte ich? Sie wollte mit mir reden, und das Gespräch ist beendet, Herr Stadtrat. Aber woher wissen Sie denn, dass Ihr Dienstmädchen bei mir war?«
»Ich weiß es eben. Ich weiß alles, was hier geschieht. Das muss ich auch, als Leiter der Polizei, das sieht man ja. Und lassen Sie bloß die Finger von dem Mädchen, Sie als Kommissar sollten wissen, was sich gehört.«
»Herr Maus, ich verbitte mir diese Einmischung in mein Privatleben. Das geht Sie überhaupt nichts an, damit das klar ist«, sagte van de Molen scharf. »Und ich erwarte, dass man anklopfte, bevor man mein Büro betritt; das gilt auch für Sie, Herrn Stadtrat.«
»Was? Wie reden Sie mit mir? Seien Sie vorsichtig, Herr van de Molen!«, zischte Maus mit hochrotem Kopf und drohendem Zeigefinger. »Wir sind hier nicht in Berlin. Merken Sie sich das!«
Und jetzt war Elfriede tot! Lag erschlagen im Schnee, und er hatte den Mord an ihr aufzuklären.
Er rieb sich das Gesicht und murmelte: »Himmel noch mal!« Sein erster Mordfall – und er verzettelte sich in Gedanken. »Egal, einen Schritt nach dem anderen!«, sagte er sich und begann mit der Tatortarbeit.
In Elfriedes Hand fand er einen Knopf mit aufgerissener Fadenöse. Ihr Mantel war intakt, der Knopf stammte wohl vom Mörder.
Es knirschte im Schnee, und aus dem Dunkeln tauchte Wagner auf. »Morgen, Herr van de Molen!« Er stellte sich neben ihn und blickte auf Elfriede hinunter. »Mord? Tatsächlich das Hausmädchen von Maus?«
Van de Molen bestätigte: »Ja!«
»Kommt Winter auch noch? Ich meine: Haben Sie Winter auch informiert, als Ihren Stellvertreter?«, wollte Wagner wissen
»Nein, ich wollte Sie dabeihaben, weil ich Sie als unseren Fachmann für die Spurensicherung bei der Tatortarbeit heute Nacht benötige. Die weiteren Ermittlungen beginnen morgen, wenn es wieder hell ist. Dann werden alle gefordert sein.«
»Das leuchtet ein. Womit soll ich anfangen?«
»Sie könnten zuerst die Spuren in eine Liste eintragen und den Knopf und den Zigarrenstummel, der dort an der Mauer gelegen hat, asservieren.
Als Wagner damit fertig war und die Körpertemperatur der Leiche messen wollte, musste er feststellen, dass das Thermometer defekt war. Aber er wusste Rat und eilte ins nahe Krankenhaus, um Ersatz zu holen.
Anhand der gemessenen Temperatur kamen sie zu dem Schluss, dass Elfriede vermutlich zwischen zweiundzwanzig und null Uhr gestorben war.
Nachdem sie die Leiche ins Kaiser-Wilhelm-Auguste-Victoria-Krankenhaus hatten bringen lassen, fielen ihnen im Schnee weitere Schuhspuren am Liegeort auf, die nicht den grobstolligen Stiefeln der Schutzpolizisten zuzuordnen waren. Einige Abdrücke gehörten eindeutig zu Elfriedes Schuhen. Daneben gab es weitere, allerdings größere Schuhabdrücke mit feinem Profil, was auf einen qualitativ höherwertigen Schuh hindeutete.
»Ich glaube nicht, dass Metzger solche Schuhe hat! Das heißt, ich bin mir sehr sicher, dass das so ist«, sagte Wagner, der Metzger schon länger kannte. »Die ganze Spurenlage passt nicht zu ihm: profillose Schuhe, die Zigarre, das Treffen …«, er hob die Hände. »Leider ist es so, Herr van de Molen, leider!«
»Und wer könnte es sonst gewesen sein?«, wollte van de Molen wissen. »Vielleicht Johann Mayer, unser gesuchter Mörder vom letzten Herbst? Zumindest legt der Wert auf ein ordentliches Aussehen. Welche Schuhe hatte er denn bei seiner Festnahme getragen? Können Sie sich daran noch erinnern? Ich habe nicht darauf geachtet, muss ich zu meiner Schande gestehen.«
Wagner hob die Schultern. »Keine Ahnung! Ich habe auch nicht danach gesehen.«
»Na gut, das geht auf mein Konto. Ich hätte darauf achten müssen, dass das nicht durchgeht. Aber diese Erkenntnis nützt uns jetzt nichts.«
»Das ist wohl wahr.«
»Gut, dann … Ich denke, fürs Erste reicht das. Wir packen ein und sehen uns den Tatort nachher im Hellen nochmals an.«
Nachdem sie die vordringlichen Aufgaben erledigt hatten, deckten sie den Tatort wieder ab, luden das nicht benötigte Material auf den Handkarren und machten sich auf den Weg zurück zur Dienststelle.
Heuser beorderte auf van de Molens Bitte hin Hilfswachtmeister Jericho zur Absicherung des Tatortes und teilte dem Kommissar dabei mit, dass Walter Metzger stark betrunken zu Hause angetroffen und ohne Gegenwehr in das Arresthaus in der Stehbachstraße verbracht worden war.
Heuser war bester Laune. Er schlug vor, dass man gemeinsam ein Frühstück einnehmen solle. Als van de Molen zu bedenken gab, dass die Geschäfte doch noch geschlossen seien, lachte Heuser und klärte ihn auf, dass er zwar grundsätzlich recht habe, aber der Schlachthof und die Bäckereien für die Schutzpolizei schon offen seien. In Mayen achte man die Schutzpolizei und betrachte es als eine Ehre, den Beamten morgens nach dem Nachtdienst mit Brötchen und Fleischwurst für den nächtlichen Schutz der Stadt zu danken, klärte er van de Molen auf. Der nahm es erstaunt zur Kenntnis.
Beim anschließenden Frühstück betonte Heuser, welch gute Arbeit man doch in diesem Mordfall geleistet habe und dass mit der Festnahme Walter Metzgers auch ein schneller Erfolg geglückt sei; darauf müsse ein Bier getrunken werden, und schon ploppten die Bügelverschlüsse des Mayener Kanonenbräu.
Nachdem man sich zugeprostet hatte, wollte Heuser von van de Molen wissen, ob er denn nicht froh sei über den großen Erfolg, den sie eingefahren hätten.
»Selbstverständlich würde ich mich freuen, wenn Walter Metzger die Tat gesteht. Aber Kollege Wagner und ich haben diesbezüglich noch Bedenken. Die Spurenlage passt nicht recht dazu. Also werde ich mich mit Erfolgsmeldungen so lange zurückhalten, bis wir Metzger die Täterschaft nachgewiesen haben.«
»Ah, der Herr Kommissar van de Molen will den Erfolg für sich allein haben und gönnt ihn den einfachen Schutzleuten nicht!«, mutmaßte Steiner. Bevor van de Molen ihm antworten konnte, ging die Tür auf und Kriminalsekretär Winter, van de Molens Stellvertreter, betrat die Wache. Er blickte sich erstaunt um und wollte wissen: »Geht meine Uhr falsch oder gibt's was zu feiern?«
»Für uns schon, wir haben einen Mord geklärt. Aber für deinen sogenannten Chef nicht. Der Herr Kriminalkommissar sieht noch ein paar Haare in der Suppe! Vielleicht hat er aber auch was mit den Augen!«, hetzte Steiner.
»Steiner, halt die Klappe, du hast doch keine Ahnung. Ihr habt einen Mord geklärt? Dass ich nicht lache! Ihr habt auf Anordnung von Kommissar van de Molen Metzger festgenommen, mehr nicht. Reiß also den Mund nicht so weit auf!«, fuhr Wagner ihn an.
»Herr Wagner, lassen Sie mal. Dem Wachtmeister Steiner fehlt dazu der Überblick, und Streit untereinander bringt uns nicht weiter.« Van de Molen sah Wagner und Winter an. »Gehen wir!« Und sie verließen die Wache, ehe es zu einem unnötigen Zank ausarten konnte.
In seinem Büro klärte van de Molen Winter über den aktuellen Ermittlungsstand auf.
»Und warum haben Sie mich nicht gerufen, zu so einem Tatort?«, wollte der mit belegter Stimme wissen. »Als Ihr Stellvertreter?«
»Das hat Kollege Wagner auch schon gefragt. Die Antwort ist ganz einfach: Wagner benötigte ich wegen seiner Kenntnisse in der Spurensicherung. Für die erste Tatortarbeit genügte das. Die Ermittlungen fangen jetzt erst an, und mir ist es wichtig, dass ich unsere Kräfte sinnvoll und effizient einsetze. Wie gesagt, die Arbeit fängt erst jetzt richtig an«
»Nun gut. Ich wollte es nur wissen.«
Van de Molen nahm seinen Hut und ging zur Bürotür. »Wir treffen uns nachher wieder hier. Ich werde jetzt noch Stadtrat Maus über den Mordfall und das bisherige Ermittlungsergebnis informieren.« Er verstand Winters Enttäuschung, aber neben der Notwendigkeit, das Personal effizient einzusetzen, kam noch hinzu, dass er Winter nicht vertraute und ihn im Verdacht hatte, Informationen an Stadtrat Maus weiterzugeben, genauso wie Kainz. Aber es war nur ein Verdacht. Doch jetzt würde er Stadtrat Maus Bericht erstatten.
Stadtrat Maus saß bereits in seinem Büro, war von Steiner schon über den Mord und die Festnahme Metzgers informiert worden, und als van de Molen kam, fuhr er diesen sofort vorwurfsvoll an: »Ich dachte schon, Sie wollten mich überhaupt nicht mehr informieren. Die Elfriede war doch unser Hausmädchen … Wenn Wachtmeister Steiner mir nicht berichtet hätte, wüsste ich überhaupt nichts. Wie gut, dass ich heute Morgen schon so früh im Büro war.«
Als van de Molen ihm dennoch den Sachstand mitteilen wollte, winkte er ab. »Lassen Sie mal, ich bin ja informiert«, und nach einem kurzen Moment: »Die Elfriede war ein Eifelmädchen, etwas flatterhaft, wenn Sie mich fragen. In der letzten Zeit hatte sie, wie man erzählt, auch schlechten Umgang. Aber ich habe mich da herausgehalten. Da war meine Frau zuständig. Ich kannte das Mädchen ja kaum. Gelegentlich mal ein Wort, aber nicht mehr.«
»Wissen Sie, wohin Frau Lambrich gestern Abend noch wollte?«
»Ich hatte Stadtratssitzung, ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist. Meine Frau sagte aber, dass sie gegen zwanzig Uhr das Haus verlassen habe. Sie wollte sich noch mit Freundinnen treffen, hat sie gesagt. Ja, in der Nacht ist sie dann nicht zurückgekommen, und heute Morgen standen wir ohne Dienstmädchen da.« Er stand auf. »Schrecklich, was mit ihr passiert ist. Gestern Morgen war sie noch guter Dinge, hat mir einen schönen Tag gewünscht, und heute ist sie schon tot. Na ja, wenigstens ist der Täter gefasst. Gute Arbeit von der Wache. Auch in der Provinz weiß man, wie man Täter fängt. Nicht wahr, Herr van de Molen?«
Der ging auf diesen Seitenhieb nicht ein. »Sicher hat man Ihnen auch berichtet, dass ich nach der ersten Spurensicherung bezüglich der Täterschaft Metzgers erhebliche Zweifel habe. Ich befürchte, wir haben mit ihm den Falschen festgenommen.«
»Unsinn! Natürlich war der das. Ein Gewalttäter, wie er im Buche steht. Da sollten Sie den Männern der Wache den Erfolg ruhig gönnen und nicht das Haar in der Suppe suchen, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Neid steht keinem gut zu Gesicht!«
Stadtrat Maus zündete sich eine Zigarre an, paffte mächtige Rauchwolken in den Bürohimmel und klärte den Kommissar darüber auf, dass er selbst den Staatsanwalt anrufen werde. »Das ist eher meine Aufgabe, Herr van de Molen. Die Staatsanwaltschaft ist eine höhere Behörde, da sollte kein untergeordneter Beamter berichten«, und komplimentierte ihn hinaus. »Sie sehen, ich habe zu tun.«
Van de Molen blieb noch stehen. »Eines noch, Herr Maus, ich möchte Sie dazu einladen, heute Morgen an der zweiten Tatortbegehung teilzunehmen. Es war schließlich Ihr Hausmädchen, das da zu Tode gekommen ist, und ich könnte mir vorstellen, dass Sie sich selbst ein Bild von der Tat machen wollen.«
»Wieso das denn?« Maus schien kurz aus der Fassung gekommen zu sein, fasste sich dann aber wieder. »Natürlich werde ich an der Tatortbegehung teilnehmen, ich muss schließlich wissen, was da geschehen ist. Und auf die Informationen meiner Mitarbeiter kann ich mich ja nicht immer verlassen!« Er wies auf die Tür. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie zum Tatort gehen wollen, ich komme dann mit.«
Als van de Molen das Büro verlassen hatte, stand Maus auf. Ihm war schlecht, er hätte die Zigarre besser nicht angezündet. Dass ihm die Sache mit der Tatortbegehung aber auch so auf den Magen schlagen musste. Das war der van de Molen schuld, wer sonst. Dieser verdammte Kommissar aus Berlin … Nie wusste man, was der wirklich wollte.
September 1918
Stadtrat Gotthelf Maus, kommissarischer Leiter der Ortspolizeibehörde in Mayen, saß in seiner ganzen Masse vor dem nicht minder mächtigen Eichenschreibtisch und starrte mit angestrengtem Blick auf das Schreiben des preußischen Innenministeriums. Darin stand, dass zum ersten September 1918 ein Kriminalbeamter aus dem Berliner Polizeipräsidium nach Mayen versetzt werden würde, Punkt! Keine weiteren Informationen zur Person oder zu den Gründen der Versetzung. Dass der Landkreis Mayen einen Kriminalbeamten angefordert hatte, war ihm bekannt, aber das wusste man in Berlin doch nicht.
Er warf das Papier auf den Schreibtisch und stand auf. Sein Blick fiel auf das Porträt Kaiser Wilhelms II., das hinter seinem Schreibtisch an der Wand hing. Gedankenverloren zwirbelte er mit Daumen und Zeigefinger die scharf nach oben gebogenen Enden seines Schnurrbartes.
Nervosität stieg in ihm auf. Er wusste nicht, warum, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, dass mit dem Kommissar Gefahr für ihn aufzog. Sicherlich, der Mann unterstand direkt dem Landrat, aber diese Position war schon seit Längerem unbesetzt. Deshalb hatte Maus auch kurzerhand die Leitung der gesamten Polizei des Kreises Mayen an sich gezogen; ein kluger Schachzug, dem keiner widersprochen hatte, schließlich musste die Polizei ja einen Leiter haben. Diese Position war grundsätzlich dem Bürgermeister vorbehalten, aber der war in die Armee eingezogen worden, und keiner wusste, ob er irgendwann wieder zurückkehren würde. Sein kommissarischer Nachfolger, Bürgermeister Schaaf, dieser alte Simpel, hatte es nicht gewagt, ihn einzubremsen!
Er hatte sich diese Stellung aber auch verdient. Ja, das konnte man schon sagen. Er hatte sich hier in Mayen hochgearbeitet. Wenn er bedachte, woher er kam, aus welchem Drecksloch … Und jetzt hatte er, Stadtrat Gotthelf Maus, in Mayen das Sagen. Das war so, und das würde er sich nicht nehmen lassen! Von niemandem!
Nur … was war, wenn der Mann kam und feststellte, dass hier in Mayen das eine oder andere bei der Polizei nicht ganz richtig lief, und die Verhältnisse überprüfte? Was, wenn er sogar auf den Gedanken kam, sich für seine Person zu interessieren – allein der Gedanke trieb Maus schon den Schweiß ins Gesicht – und wenn er dabei auf seine wirkliche Vergangenheit stieß? Dann wäre alles aus, dann wäre er am Ende – er tupfte sich den Schweiß mit seinem Taschentuch von der Stirn. Niemals! Er musste den Mann wieder loswerden, koste es, was es wolle. Er würde sich seine Verdienste nicht von so einem wegnehmen lassen. Er nicht! Dass er aber auch nicht mehr über den Mann wusste, vor allem, warum er sich nach Mayen versetzen ließ? Das machte doch keiner, der nicht zielgerichtete Pläne hatte. Aber welche?
Gerade wollte er sich das Schreiben nochmals ansehen, als es an die Bürotür klopfte. Frau Weinreich, seine Sekretärin, streckte den Kopf ins Büro. »Herr Stadtrat, die Stadtverordnetenversammlung! Es ist schon nach drei!«
Maus schaute auf seine Uhr. »Was …? Weinreich, Sie haben doch eine Uhr! Himmel, wieso geben Sie mir nicht früher Bescheid? Sie wissen doch, wenn ich arbeite, dann arbeite ich, dann kann ich mich nicht auch noch um die Uhrzeit kümmern! Herrgott noch mal, wenn man nicht alles selbst macht!«
Er wuchtete sich aus seinem Sessel. Halt! Noch kurz das Porträt fixieren … dieser Feldherrenblick! Nein, der Kaiser ließ seine Helden nicht im Stich, nicht einen Sedan-Kämpfer. Diese Gewissheit gab einem doch immer wieder Kraft!