In den Tiefen des magischen Reiches - Hannelore Nissen - E-Book

In den Tiefen des magischen Reiches E-Book

Hannelore Nissen

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Beschreibung

FANTASIE Für Kinder von 6 bis 12 Jahren Da gibt es ein Geheimnis um die beiden Kinder vom Blauen Planeten: Ferne, hallende Echorufe aus dem Sagenland Tandonay flehen in großer Not um ihre Hilfe. Hier muss etwas Entsetzliches geschehen sein! Skurril und urkomisch kommen sie daher, die kleinen Übeltäter, Mäuseköpfchen, Drachenauge und Ziegenbärtchen, sowie ihr Chef, der Häßling. Aus purer Angst führen die Vier widerspruchslos zerstörende Befehle des gefürchteten Zauberers ZEDON aus. Ihm geht es um Macht über Tandonay. Aber dann geschieht ein gefährlicher Zwischenfall und die kleinen Verbrecher erleben zum ersten Mal, was Freundschaft bedeutet. Das verändert sie. Aber da ist noch der gefährliche Knull mit seinem giftigen Atem und sie, die listige Seehexe. Auf einem Lichtbogen, der zum Magischen Reich im Weltall führt, trifft man auf exotische, grotesk fantasievolle Gestalten. Sie alle stammen aus unterschiedlichsten Welten und sind einander fremd, manche misstrauisch. Das Wichtigste an dieser Geschichte aber ist, dass sie in der Gefahr zu Freunden werden und erfahren: Einzeln sind wir wehrlos. Nur, wenn wir zusammenhalten, sind wir stark. Ob die betroffenen Märchenfiguren, die Kinder vom Blauen Planeten oder schon gar die fremdartigen Wesen aus dem All zu diesem Zusammenhalt fähig sind? Ein Buch, das Kindern auf fantasievolle Weise die Fragen unserer Zeit beleuchtet und mögliche Antworten gibt. Ideal zum Vorlesen

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Seitenzahl: 193

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für meine Kinder & Gerard,

auch für diejenigen, die sich wie Kinder von meiner Geschichte verzaubern lassen

Inhaltsverzeichnis

DIE VORGESCHICHTE

EINE GESCHICHTE VON DER ICH NOCH NICHTS WEISS

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

24. KAPITEL

25. KAPITEL

26. KAPITEL

27. KAPITEL

DIE VORGESCHICHTE

Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass sich unser Leben durch den Anruf von Mika so verändern würde.

Die Geschichte beginnt damit, dass mein Enkel, wie so oft, temperamentvoll ins Telefon posaunt: »Omama, schreibst du uns wieder ein neues Märchen?« Mika schreit immer, wenn er mit mir telefoniert. Wahrscheinlich meint er, die vielen hundert Kilometer zwischen uns überbrücken zu müssen. Philipp, seinen Bruder, höre ich im Hintergrund flüstern. Er ist zurückhaltender. Die beiden haben offensichtlich den Lautsprecher angestellt. So können beide sofort hören, was ich dazu sage. »Was für eine Art Märchen soll’s denn sein, meine Kleinen? Wieder ein Abenteuer – vielleicht mit Rittern?«

Sie scheinen etwas zögerlich und unentschlossen zu sein, denn ich bekomme zunächst keine Antwort.

»Piraten hatten wir noch nicht«, schlage ich vor: »Sollen vielleicht diesmal richtig wilde und verlauste Seeräuber vorkommen? Das würde auch eurem Gerard-Opi gefallen!« Am anderen Ende der Leitung wird heftig diskutiert. Na, das wird ein längeres Gespräch. Ich setze mich gemütlich in einen großen Korbsessel, der neben mir steht und warte vergnügt ab. Die beiden zögern noch immer. Ich höre ein aufgeregtes Hin und Her von Meinungen, doch sie können sich offensichtlich nicht einigen.

Da kommt mir eine Idee: »Vorschlag: Sprecht erst einmal in Ruhe miteinander. Ist doch eigentlich ganz einfach. Ihr denkt euch irgendwelche Gestalten aus, die in meiner Geschichte vorkommen sollen, und die nennt ihr mir dann. Wollen wir das so machen?«

»Omama warte!«, höre ich Mikas aufgeregte Stimme: »Ich weiß ja schon! Das Märchen soll von einem Prinzen handeln, aber er muss so alt sein wie wir.«

»Nein, Mika«, protestiert Philipp jetzt sehr entschieden. »Von uns soll sie handeln, von dir, mir und Omama. Und es muss abenteuerlich sein, kann auch gruselig oder gefährlich werden.«

»Aber Prinzen sind im Märchenreich und wir sind hier auf unserer Erde. Wie soll ich das in einer Geschichte zusammenbringen? Es ist unmöglich.« Das jedoch interessiert meine Beiden offensichtlich nicht. In mir sträubt sich alles. Es klingt kompliziert und ich bin beruflich sowieso schon überlastet.

›Aber wenn sie sich doch darüber freuen‹, meldet sich eine Stimme in mir. Oh, ich kenne sie. Vorsicht! Jetzt bloß nicht nachgeben! Zu meinem Entsetzen höre ich mich gleich darauf sagen: »Ich kann’s ja mal versuchen.« Und es ist wie immer; meine Enkel haben gewonnen!

Todmüde liege ich abends in meinem Bett. Meine Gedanken wandern. Wie kann ich einen Prinzen aus der Fantasiewelt mit meinen Enkeln zu ein und derselben Geschichte verbinden und Jona, der kleine Bruder der Beiden? Er müsste auch in dieser Geschichte vorkommen. Ich bin ratlos! Mir kommt einfach keine schlüssige Idee.

›Schlaf jetzt!‹, rede ich mir selbst zu. ›Ich muss unbedingt schlafen. Morgen ist wieder ein voller Arbeitstag und ich komme erst spät nachhause‹. Aber ich finde keine Ruhe in mir. Warum kann ich nicht einschlafen? Ich muss …

Da knackt es leise, aber deutlich am Fenster unseres Schlafzimmers. Danach ist ein fremdes, schleifendes Geräusch zu hören, was ich mir nicht erklären kann. Ist Gerard aufgestanden? Nein, er schläft ganz tief neben mir.

Ich richte mich etwas auf und bemühe mich mit größter Konzentration, etwas zu hören. Was bedeutet das alles? Was geht hier vor? Da! Dort drüben sehe ich was. Sieht aus wie grüne Augen, richtig funkelnde Augen! Sie starren mich aus der Dunkelheit an. Da ist doch jemand!

Mein Herz pocht rasend. Jetzt scheint sich etwas zu bewegen. Ganz genau kann ich es nicht erkennen. Nein, das gibt es doch nicht! Es sieht tatsächlich so aus, als ob schwarze Schlangen um ein Gesicht tanzen. Nein, nein! Eine wilde Angst flammt in mir auf.

Da höre ich eine weibliche Stimme. Leise, ganz leise flüstert sie. Eindeutig kommt sie genau aus der Richtung, aus der mich die lodernden Augen ansehen:

»Ich brauche deine Hilfe!« Dann folgt ein zarter Nachhall. Er klingt ähnlich einem Echo: »Hilfe! Nur du und deine Enkelsöhne …söhne … wurden bestimmt, mich zu erlösen. Helft mir, helft mir doch bitte … bitte! »

Gerard neben mir ist aufgewacht und berührt mich am Arm. »Warum bist du so unruhig? Du hast mich aufgeweckt.«

Leise frage ich ihn: »Hast du das auch gehört? Siehst du die grünen Augen auch?«, und suche zugleich das funkelnde Grün. Doch sie sind nicht mehr da.

»Wo? Wo? Da ist nichts«, Gerards tiefe, weiche Stimme beruhigt mich ein wenig. »Was soll denn da gewesen sein? Soll ich das Licht einschalten?«

»Nein, bitte nicht!« Dieses Etwas, wenn es noch hier sein sollte. Ich will es nicht verjagen. Diese Stimme, ihre große Trauer hat mich tief berührt. Oder war es ein Traum und ich bilde mir alles nur ein? Nein, das kann eigentlich nicht sein, ich habe ja noch nicht geschlafen. Komisch. Ich drehe mich auf meine gewohnte Einschlafseite. Oder sollte ich doch geträumt haben?

Was war das für ein seltsamer Traum gestern Nacht? So fassbar, so deutlich. Ich könnte jedes gesprochene Wort wiederholen!

Ein Gedanke blitzt in mir auf: Der Traum – ja klar! Diese seltsame Begegnung könnte der Einstieg in ein Märchen sein, das ich für meine Enkel schreiben soll. Das ist DIE Lösung. Schnell aufschreiben, ehe ich diesen Traum vergesse! Schon fliegen die ersten Zeilen über das Papier. Die Geschichte der traurigen Unbekannten, die mich um Hilfe angefleht hat, ist ziemlich rasch zu Papier gebracht.

Jetzt schnell den Mantel anziehen! Ich komme sowieso schon zu spät ins Büro. In der Straßenbahn kann ich ja darüber nachdenken, wie ich die Geschichte nennen soll und wie es weitergeht. Ja, heute Abend schreibe ich weiter.

EINE GESCHICHTE VON DER ICH NOCH NICHTS WEISS

1. KAPITEL

Über der unendlich weiten Wiese wurde es bereits dunkel. Trostlos und öde ragen hier und da abgestorbene Zweige aus gelbem, fauligem Gras. Hier blühten keine Blumen und hier sang auch kein Vogel. Bedrückend war diese Stille, die noch nicht einmal vom heiseren Schrei irgendeiner dort lebenden Krähe durchbrochen wurde.

Aus dem fernen Wald flirrte gerade ein Schwarm Glühwürmchen herbei. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, mit ihren Laternen verirrte Wanderer zu warnen. Viel Unglück war hier schon geschehen.

Und wieder erblickten sie einen jungen Mann, der durch diese unheimliche Wiese stapfte. Mit jedem seiner Schritte sank er tiefer in den nassen, morastigen Boden. Er nahm beide Arme zur Hilfe, schwang sie abwechselnd hoch, um überhaupt vorwärtszukommen, doch es war und blieb mühsam. Seine Kraft erlahmte mehr und mehr.

All dies sahen die Glühwürmchen. Diesmal aber schien einiges anders zu sein. Dank ihrer sensiblen Gaben spürten sie sofort: In den Gesichtszügen dieses jungen Mannes zeigte sich nicht der Ausdruck von Habgier, den sie bei vielen anderen Abenteurern erkannt hatten. Er schien kein gewöhnlicher Mensch zu sein. Hoffnung erwachte in den Glühwürmchen: War er der Auserwählte, auf den sie so lange schon gewartet hatten?

»Junger Mann«, rief die älteste der kleinen Lichtgestalten, »kehre um! Sollen wir dir leuchten?«

Ein anderes Glühwürmchen warnte: »Du gehst hier einen sehr gefährlichen Weg, denn genau hier beginnt das dunkle Moor.«

Die piepsende Stimme des Jüngsten schrie in großer Aufregung: »Es ist das unermesslich große Reich der undurchschaubaren Düsteren Königin.«

Und dann riefen alle durcheinander: »Dort droht dir Gefahr! Hör auf uns, Jüngling! Bleib sofort stehen! Kehr um!«

Da blieb der Junge stehen und sah sich verwundert um, woher wohl die zarten Stimmen kamen. Aber alles, was er in der beginnenden Finsternis noch erkennen konnte, war ödes Land. Kein blühender Strauch, kein grüner Baum. Auch der Himmel war in seiner Weite fahl und wie Asche so grau.

›Wer war das?‹, wunderte er sich und wollte das vordere Bein zurückziehen, um etwas auszuruhen und sich umzusehen. Aber sogleich umfloss das Moor schmatzend und mit zähem Schleim seinen Stiefel, um den Jungen festzuhalten. Wie konnte er denn wissen, dass ein Zauberspruch der wabernden, blubbernden Masse befohlen hatte, jeden Fremden zu umklammern? Niemand sollte das dunkle Reich betreten, ohne je wieder herauszukönnen! Unbarmherzig hüllte ihn dann das Moor mit seinem Nebel ein, der den Eindringling trunken machte und ihn so verwirrte, dass er den Weg zurück nicht mehr finden konnte. Später zog die dunkle, zähe Masse an seinen Beinen. Sie blubberte Stolpersteine vor seine Füße, sodass der Wanderer stürzen musste und elend im Moor versank. Dann war er für immer gefangen.

»Wer ruft? Sind hier Lebewesen? Ich kann mich nicht umdrehen. Meldet euch! Hab mich verirrt, aber in der Ferne sehe ich Lichter – das sind bestimmt Häuser. Kommt ihr von dort?« Die Stimme des jungen Mannes wurde immer lauter. Zum Schluss schrie er die letzten Worte in seiner Not und Angst in das Dunkel.

Im Nu flogen die Glühwürmchen zu ihm: »Nicht! Geh nicht weiter! Das sind Irrlichter, unsere armen Brüder. Sie werden im Moor gefangen gehalten«, wisperte der ganze Schwarm aufgeregt und beschwörend durcheinander. Dann bildeten sie mit ihren leuchtenden Körpern einen Kreis um ein Etwas, das der Jüngling noch nicht genau erkennen konnte.

Die kleinen Lichtgestalten deuteten auf einen schon halb verwitterten, großen Ast hin. Man konnte sich jetzt noch vorstellen, dass er vor vielen hundert Jahren mit seinen grünen Blättern einst einen stolzen Baum geschmückt hatte. Lange war dieser Riese schon gefallen und von der schwarzen Masse des Moores geschluckt worden. Nur dieser kahle Ast ragte noch bizarr, aber stark und eigensinnig in die Höhe.

Aufgeregt hielt der ganze Schwarm in seinem unruhigen Flug inne und lauerte dann. Wenn dieser junge Mann der Auserwählte sein sollte, so musste jetzt etwas geschehen.

Tatsächlich! In dem Augenblick, als der Jüngling im Licht der Glühwürmchen den rettenden Ast erblickte und ihn schnell ergriff, erwachte auf geheimnisvolle, wundersame Weise das tote Holz plötzlich zu neuem Leben. Der junge Fremde fühlte in seiner Hand das Erstarken des modrigschwammig gewordenen Holzes. Es formte sich zu schlanker Höhe und zusehends glättete sich auch seine Außenhaut. Sie strahlte silbern im matten Abendlicht. Zum Erstaunen aller bildete sich jetzt am oberen Ende des Stabes langsam eine gläserne Kugel. Überwältigt schrien die Glühwürmchen auf. Alle schauten fasziniert zu, wie sie plötzlich in wechselnden Farben zu leuchten anfing.

Dann hörte man wieder die aufgeregte Stimme des kleinsten Würmchens: »Sieh doch, Omi, er hat den toten Ast zum Leben erweckt!« Seine Großmutter flog, wie immer, dicht neben ihm. Jetzt nickte sie ihm zu und rief glücklich:

»Endlich! Er ist gekommen. Ja ja, er muss es sein!« Sie wandte sich auch an die anderen: »Wir haben so lange gewartet. Schaut hin! Jetzt ist er da – der Retter der Märchenwelt!« Daraufhin schrien und lachten sie alle durcheinander. Es war ein Wirrwar von vielen zarten Stimmchen.

Indessen packte der Jüngling seinen festen Halt und ließ nicht nach, ihn zu umklammern. Zu groß war seine Angst, vom Moor verschluckt zu werden. Schwerfällig erhob sich der verwandelte Ast, um schließlich zu schweben. Sirrend zog die Energie dieses rätselhaften Stabes den jungen Mann aus dem gefährlich glucksenden Moor heraus. Spätestens jetzt musste jeder Beobachter begriffen haben, dass dieser scheinbar tote Ast Zauberkraft besaß. Nun konnte er endlich seine volle Kraft entfalten, denn ein Auserwählter hatte ihn mit seinen Händen berührt.

Ein besonders großes Glühwürmchen kreiste um den Jungen.

»Was führt dich hier an diesen gefährlichen Ort?«, fragte es, offensichtlich noch ganz verwirrt von dem Geschehenen, und bremste kurz vor ihm seinen Flug.

Ein anderer rief: »Wer bist du?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wollte ein weiteres wissen: »Wie kommst du hierher?«

Danach riefen alle Glühwürmchen ihre Fragen und Vermutungen durcheinander. Sie hatten schon manchen Fremden das nasse Gras tollkühn durchschreiten sehen, das spärlich am Rande des Moores wuchs. Sie alle wollten den unschätzbar kostbaren Schatz der sagenhaften Königin erobern. Ein weitverbreitetes Gerücht erzählte davon. Aus Habgier hatten sie die unbekannten Gefahren im Reich der Düsteren Königin herausgefordert und waren nie wieder in ihre Heimat zurückgekehrt.

Der Junge fiel erschöpft auf das Gras nieder. Behutsam bettete er den Stab neben sich.

»Ich bin Tahomo, der Prinz von Tandonay, und suche nach Salmidon, den Hüter des Sternenzelts. Er soll im Magischen Reich wohnen. Wahrscheinlich bin ich vom Weg abgekommen«, erklärte der Jüngling den Glühwürmchen. »Ich danke euch! Ohne eure Hilfe wäre ich wohl verloren!« Und dann erzählte er ihnen voller Vertrauen seine traurige Geschichte.

Inzwischen war es vollends dunkel geworden. Über dem schaurigen Moor schwebte ein schillernd flackerndes Licht. Es war einem Wetterleuchten ähnlich. Leise Stimmen flüsterten hier und dort und verstummten wieder. Auch hörte man vereinzelt sehnsuchtsvolle Klagelaute. Dann herrschte wieder bleierne Stille. Nur wer genau hinhörte, nahm jetzt ein leises Singen wahr.

Das zuckende, von dumpfem Grollen begleitete Wetterleuchten und der Gesang wurden nun stärker. Die Klänge schwollen an. Sie bekamen mehr und mehr magische Anziehungskraft.

Tahomo schaute sich suchend um. Eine starke Sehnsucht überfiel ihn und verwirrte alle Sinne des jungen Prinzen. Als ob er die Warnung seiner neuen Freunde nicht gehört hätte, erhob er sich plötzlich wie im Wahn. Voller Entsetzen mussten die Glühwürmchen ohnmächtig zusehen, wie Tahomo seine Hände vom rettenden Stab löste. Schwankend schritt er wieder auf das gefährliche schwarze Moor zu; er konnte nicht anders, so sehr lockte ihn der betörende Klang dieser Stimmen. Die Glühwürmchen klagten laut und warnten eindringlich, doch der Junge hörte sie scheinbar nicht.

In diesem Moment flammte mit fauchendem Zischen ein Licht auf. Es leuchtete ähnlich einem Strahlenkranz, über dem Moor. Schemenhaft formte sich darunter die unheimliche Gestalt der Düsteren Königin und wurde lebendig.

Tahomo blieb stehen. Er war von dieser schwebenden, zarten und elfengleichen Frauengestalt fasziniert. Ein dunkelblaues Schleier-Kleid umschloss ihren Körper. Der breite Saum wehte in Fetzen über dem unruhigen Moor. Wassertröpfchen funkelten wie Sterne auf dem tanzenden Gewand, und wenn sie herunterfielen, so stürzten sie mit einem silbernen Klang, »ping«, wie Sternschnuppen so hell, in das schwarze Moor, das sie auf immer verschluckte.

Auf dem Haupt der Düsteren Königin strahlte ein Diadem in kalten Regenbogenfarben. Die langen Haare ringelten sich wie schwarze Schlangen in lebendigem Auf und Ab um ihr bleiches Gesicht. Nun bewegten sich ihre Arme in einem weiten Halbkreis, als winkte sie den Jungen zu sich. Plötzlich wandte sich auch ihr Körper in schlängelnden Bewegungen. Ihr ganzer Leib nahm mehr und mehr die Gestalt einer riesigen Schlange an. Tahomo aber sah nur den eigentümlich schmerzlichen Ausdruck ihres lieblichen Gesichts. Ihm schien, als kenne er es. Wo hatte er diese Augen schon einmal gesehen? Sie waren ihm so vertraut.

Mit lockendem Gesang kam sie näher, immer näher. Gerade wollte sie den gebannten Jüngling umschlingen; doch in seinem Inneren spürte Tahomo brennend die Gefahr: ›Ich muss wach werden‹, jagten die Gedanken durch seinen Kopf. Hastig atmete er tief ein, als ob er sich von Fesseln befreien wollte. Da löste sich ein lauter Schrei aus seiner Kehle: »Salmiiidoooon!«

Jetzt geschah etwas Unglaubliches: Der geheimnisvolle Zauberast erhob sich langsam aus dem Gras. Sirrend rotierte er um sich selbst und flog dem Prinzen hinterher. Sein Kreiseln wurde immer schneller. Bald konnte man keine klaren Umrisse mehr erkennen. Er wuchs, wurde größer und größer. Dann floss er mit lautem Ächzen auseinander, dehnte und verwandelte sich schließlich in einen mächtigen Schiffskörper.

Der völlig verwirrte Prinz stand wie gelähmt. Er sah atemlos zu, wie der vordere Teil des Schiffes in die Höhe schwebte, sodass er ins Innere schauen konnte. Dort stand reglos eine hohe Gestalt. Sie schien aus mehr oder minder dichten, dunkelgrauen Rauchschwaden zu bestehen und war nur schemenhaft zu erkennen. Mit heiserem Flüstern lockte sie: »Komm zu miiir!« Die durchsichtige Gestalt öffnete weit ihre Arme und zog den Jungen, mit der Kraft eines starken Sogs, in das große, strahlende Boot hinein. Danach zerfloss das Wesen und löste sich langsam in Luft auf. Der Bug hinter Tahomo schloss sich mit lautem Getöse.

Gleich darauf hob das Schiff ab und flog mit dem Prinzen himmelwärts. Weit weg von dem blubbernden und wuchernden Schleim des Moores, auf dem sich jetzt eine große, schillernde Schlange wandte. Diese bäumte sich nochmals auf, setzte zu einem Sprung an, um das strahlende Luftschiff vielleicht noch zu erhaschen. Doch schwebte dies bereits weit über den lichten Wolken der wärmenden Sonne entgegen. Die silberne Schlange aber stieß einen verwunderlich klagenden Seufzer aus und sank kraftlos in sich zusammen.

»Er sucht Salmidon«, riefen einige Glühwürmchen dem leuchtenden Gefährt nach. Andere der kleinen Wesen schrien: »Hilf ihm und behüte seinen Weg!«

Damit entschwand Tahomo den Blicken seiner kleinen Freunde.

2. KAPITEL

Ein auffallend bunt bemaltes Schiff flog in strahlender Sonne und großer Höhe dahin. Es trug stolze Segel, in denen sich der Wind verfing und von ihm aufblasen ließen, sodass das Luftschiff rasend schnell über einem weiten Meer dahin schwebte. Nach etlichen Tagen erreichte es das Ufer eines fremden Landes. Von der Küste aus stieg das Gelände stark an. Ein junger Mann stand aufrecht am Bug des Himmelgefährts und versuchte, durch Wolkenlücken das bizarre Gebirge unter sich wahrzunehmen. Einsam und schroff ragten Felsen in eisige Höhe, und doch waren sie von beeindruckender, erhabener Schönheit. Hier und da erkannte Tahomo Gämsen. Sie sprangen über Steine und Geröll. Wie sie das nur schafften? Sonst lebte hier scheinbar niemand.

Aber halt! Er beugte sich tief über die Reling des leuchtenden Bootes, um die Landschaft unter ihm genauer erkennen zu können. Dort stand eine kleine Hütte. Sie war offensichtlich aus zufällig gefundenen und aufgelesenen alten Holzbrettern mit Hilfe junger, biegsamer Wurzeln zusammengefügt worden. Schief und wackelig sah diese armselige Behausung aus. Der junge Mann dachte: ›Die ist sicherlich längst verlassen. Wer dort wohl gewohnt haben mag? Na, wenn der nächste Sturm kommt …,‹ mutmaßte er.

Aber nein, nahe der Hütte sah er den Besitzer kommen. Es war ein uraltes Männlein mit einem auffällig breiten Buckel. Seine krummen Beine steckten in roten Strümpfen, die man deutlich erkannte, weil es eine weite, aber viel zu kurze Hose trug. Seine Füße steckten in verschiedenen Schuhen. Der Alte schleppte ein Bündel Holz auf seiner Schulter. Trotz dieser Last aber trug dieses Männlein vor seiner Brust noch eine winzige rote Tasche. Die schien es mit den Händen fest zu umklammern. Als das kleine Wesen das Luftschiff mit dem dahin fliegenden Prinzen erblickte, warf es das Bündel ab und verbeugte sich tief. Tahomo dachte: ›Wie kann er mich kennen?‹ Doch dann versperrte ihm eine Wolke die Sicht. Weiter und immer weiter flog das stolze Gefährt mit dem Prinzen. Als er wieder hinuntersehen konnte, war er bereits fern von jenem Ort, an dem das kleine Lebewesen hauste.

Jetzt wurde das Hochgebirge immer schroffer. Tahomo sah nur noch die von Schnee bedeckten Gipfel oder Felsen mit messerscharfen Graten. Zwischen ihnen stürzten von Zeit zu Zeit gefährliche Geröll-Muren donnernd in die Tiefe. Er wusste, dass das Geröll dann alles mit sich riss, was in seiner Nähe war, und ein banges Gefühl beschlich den jungen Prinzen.

»Wohin trägst du mich, mein leuchtendes Boot?« Der junge Mann schrie seine Worte in den Wind. Da er hier allein war, rechnete er jedoch nicht mit einer Antwort. Aber was für eine Überraschung: Am Bug des bunt bemalten Schiffskörpers erstrahlte plötzlich eine goldene Gestalt mit wunderlichem, eher männlichem Kopf. In dem Augenblick, als Tahomo seine Frage in den Wind schrie, erwachte diese Gestalt zum Leben. Aus seinen Lippen sprudelte ein schmales, weißes Band mit singender Schrift, welche im Fahrtwind heftig zitternd und wirbelnd flatterte. In metallisch klingenden Tönen hörte der Prinz die Botschaft:

»Mir wurde befohlen, den Auserwählten zu Salmidon ins Magische Reich zu bringen.«

»Genau dorthin wollte ich, denn ich muss den Auftrag meines Vaters erfüllen!«, rief der Prinz erregt.

»Danke nicht mir, Tahomo«, erklang es vom singenden Band, »danke dem Gebot eines höheren Wesens. Es hat mir befohlen, dich auf deinem Weg zu beschützen!«

»Wie komme ich zu Salmidon? Verrate es mir!«

»Die Zeit ist noch nicht reif, Tahomo, noch muss dies für dich ein Geheimnis bleiben.«

3. KAPITEL

Der Flug im leuchtenden Schiff unter der wärmenden Sonne hatte den Prinzen seine schweren Sorgen fast vergessen lassen. Nun aber legte er sich still auf den Boden des fliegenden Gefährts und schloss seine Augen. Er war müde. Bei der Erinnerung an das, was zu Hause geschehen war, kamen ihm die Tränen. Was aber hatte sein Leben so völlig verändert?

Eines Tages hatte sein Vater, der Herrscher von Tandonay, Tahomo zu sich kommen lassen.

»Mein geliebter Sohn«, hatte er mühsam und leise gesprochen. »Ich habe es nie verstanden und ahne auch heute nicht, warum deine Mutter ohne erkennbaren Grund plötzlich verschwand. Ist ihr ein Unglück zugestoßen? War es ein Verbrechen? Ich bin inzwischen zu alt und zu schwach, um in die Welt zu gehen und die Ursache zu suchen. Ich bin nicht mehr in der Lage, für das, was an meinem Hofe geschehen ist, eine Erklärung zu finden oder gar ein böses Vergehen zu rächen.« Langsam hatte sich der alte König zum Sohn gebeugt und ihn voller Liebe mit müden Augen angesehen.

»All die Jahre habe ich dich mit viel Wissen ausgestattet und zu aufrechtem Denken erzogen. Mein Vertrauen zu dir ist unendlich groß, so auch meine Überzeugung, dass du diese schwere Aufgabe für mich lösen kannst. Geh in die Fremde und such nach Salmidon, dem Hüter des Sternenhimmels. Er wird dir Rat geben.« Der Sohn spürte die innige Umarmung seines Vaters noch immer. Danach war der König von Tandonay völlig apathisch und kraftlos geworden. Später verfiel er vollends der Krankheit tiefer Traurigkeit.

Was war denn nur damals mit der Königin geschehen? Tahomo überließ sich ganz den leisen Bewegungen seines Luftschiffs und dachte nochmals über das rätselhafte Verschwinden seiner Mutter nach.

Tandonay war ein liebliches Land inmitten des Märchenreichs. Sein Herrscher lebte mit dem Prinzen und seiner Frau Naomi in Frieden und unbeschwert. Er liebte die Königin und seinen Sohn Tahomo von ganzem Herzen. Sie waren, neben dem Glück seines Volkes, das Wichtigste in seinem Leben. Und so blühte Tandonay, umschlossen von schützenden Bergen.

Eines Abends jedoch, als Tahomo noch ein Knabe war, geschah etwas Schreckliches: Bei der festlich gedeckten Tafel wartete man länger als gewöhnlich auf Königin Naomi. Plötzlich flog die Tür zum Saal auf. Herein sprudelten Hofdamen in weiten, bunten Kleidern. In ihrer Aufregung sahen sie aus wie liebliche Blüten, die der Wind über eine Wiese haucht. Der König musste damals oft über die ausgelassenen und stets fröhlichen jungen Frauen lachen, doch heute lachte er nicht. Sein Herz spürte Gefahr und er richtete seine Augen ernst und prüfend auf die Hofdamen.

»Wir können die Königin nicht finden!«, rief die erste der Damen. Eigentlich war sie für ihre stete Zurückhaltung bekannt, doch jetzt schien sie außer sich zu sein. »Vor einer Stunde bereits haben wir sie gesucht. Wir haben gerufen, doch keine Antwort kam – sie blieb verschwunden! Bis jetzt haben wir sie gesucht.«

Der König erhob sich bedrohlich. »Wer sollte heute ihre Gefährtin sein?«

»Ich!« Die jüngste der Damen schritt unsicher auf ihn zu. Dann begann sie leise zu erzählen: »Wir spazierten im Park …«