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»Ich floh schreiend aus der Kirche. Nachdem ich wie ein gefangenes Tier gegen die Tür trat, öffnete sie sich doch. Ich stürmte in die Nacht und rannte hinunter zum Rhein. Das irre Lachen des Priesters drang immer noch aus dem Gotteshaus. Vielleicht werde ich in den Fluten des Rheins Erlösung finden. Erlösung von dem Anblick, der sich mir vor fünf Minuten geboten hatte: An dem Kreuz hing nicht der Leib Christi, sondern der Körper von Herbert Lansky, meinem Reisegefährten. Man hatte ihn dort mit verrostetem Draht aufgehängt. Eine Narrenkappe saß auf dem eingeschlagenen Schädel. Aus seinen Augenhöhlen und blutverschmiertem Mund fielen Konfetti und Luftschlangen auf die heilige Erde …«
Aus der Erzählung ›Aschermittwoch‹ – Stephan Peters war gerade in seinen Lesungen für seine kriminell-schwarzhumorigen, bitterbösen, morbiden und gruseligen Stories und Novellen bekannt. Bärenklau Exklusiv präsentiert in mehreren Bänden das ganze erzählerische Werk des Autors.
Dieser Band enthält folgende Geschichten:
› Aschermittwoch
› Der geheimnisvolle Brief
› Ein Fall von Nekrophilie
› Schnee von gestern
› Trennungsschmerz
› Novilunium
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Stephan Peters
In der Dreizehnten Stunde
- Novellen und Erzählungen -
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Steve Mayer, mit einem Motiv von Steve Mayer by eedebee (KI), 2025
Korrektorat: Ilka Richter
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
www.baerenklauexklusiv.de
Die Handlungen dieser Geschichte ist frei erfunden sowie die Namen der Protagonisten und Firmen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
In der dreizehnten Stunde
Aschermittwoch
Der geheimnisvolle Brief
Ein Fall von Nekrophilie
Schnee von gestern
Trennungsschmerz
Novilunium
»Ich floh schreiend aus der Kirche. Nachdem ich wie ein gefangenes Tier gegen die Tür trat, öffnete sie sich doch. Ich stürmte in die Nacht und rannte hinunter zum Rhein. Das irre Lachen des Priesters drang immer noch aus dem Gotteshaus. Vielleicht werde ich in den Fluten des Rheins Erlösung finden. Erlösung von dem Anblick, der sich mir vor fünf Minuten geboten hatte: An dem Kreuz hing nicht der Leib Christi, sondern der Körper von Herbert Lansky, meinem Reisegefährten. Man hatte ihn dort mit verrostetem Draht aufgehängt. Eine Narrenkappe saß auf dem eingeschlagenen Schädel. Aus seinen Augenhöhlen und blutverschmiertem Mund fielen Konfetti und Luftschlangen auf die heilige Erde …«
Aus der Erzählung ›Aschermittwoch‹ – Stephan Peters war gerade in seinen Lesungen für seine kriminell-schwarzhumorigen, bitterbösen, morbiden und gruseligen Stories und Novellen bekannt. Bärenklau Exklusiv präsentiert in mehreren Bänden das ganze erzählerische Werk des Autors.
Dieser Band enthält folgende Geschichten:
› Aschermittwoch
› Der geheimnisvolle Brief
› Ein Fall von Nekrophilie
› Schnee von gestern
› Trennungsschmerz
› Novilunium
***
- Novellen und Erzählungen -
Stephan Peters
Sie kommen, um mich in die Dunkelheit hinunter zu zerren. Aber ich sollte vielleicht mit dem Anfang beginnen.
Der Intercity raste mit Höchstgeschwindigkeit auf Düsseldorf zu. Dortmund war gerade vorbei, und schmieriger Nebel hing über verschneiten Feldern im Februar. Irgendwo in der Ferne qualmten Fabrikschornsteine, und ein rötlicher Schein drang aus den riesigen Fensterscheiben, der sich über den Schnee wie altes Blut ausbreitete. Auf einem toten Gleis standen uralte Waggons herum, deren Treppen mit Unkraut überwuchert waren. Ein Schatten huschte in einen Wagen hinein. Wahrscheinlich ein Penner, der es sich dort gemütlich gemacht hatte. Ein totes Pferd lag daneben. Mit seinem aufgequollenen Bauch, die Beine gen Himmel gestreckt, als wolle es den Tod aufhalten. Ich wandte mich entsetzt ab, denn es hatte keinen Kopf mehr.
Dann schloss ich das Fenster, denn der Geruch einer Brauerei hing wie der von altem Schleim im Abteil. Ich fuhr erster Klasse. Ich rauchte, blickte in die Trostlosigkeit. Ab und an griff ich zur ›Süddeutschen‹, oder zum Kaffee. Mich fröstelte, obwohl das Abteil schon überheizt war. Hanna, meine Frau, war vor zwei Monaten gestorben. Ein grauenvolles Weihnachtsgeschenk vom Christkind. War das nun gut, überlegte ich, oder war das schlecht. In den letzten zwei Jahren umkreisten uns die Kobolde der Trennung; wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Kann es sein, dass alle Literatur und Unterhaltung der Welt nur aus diesem verdammten Satz besteht? Es fing alles toll an, aber dann hatten wir uns nichts mehr zu sagen. Nicht einmal ein Streit gab es zwischen uns, nur diese – diese winterliche Trostlosigkeit der Felder, durch die ich nun fuhr. Mein Kopf war leer, ich fühlte eine Gleichgültigkeit in mir, aber ich rauchte eine nach der anderen und meine Wangen waren blass und eingefallen, schwarze Schatten unter meinen Augen.
Ich blätterte nun in meinem Manuskript herum. Ein Essay über Willkie Collins, dem Autor der ersten Romantic-Thriller überhaupt.
Ein guter Autor, was man von seinen zahllosen Nachfolgern nun nicht gerade sagen kann. Vielleicht würde es dieser kleine Verlag in Düsseldorf doch drucken. Und um dies zu besprechen, reiste ich dort hin. Kettwig, Rath und andere Haltestellen rasten am Fenster vorbei. Kurz vorher hatte ich mich erhoben, meinen Koffer gegriffen, wobei ich im Flur einen Mitreisenden anrempelte. »Oh, Verzeihung!«, sagte ich verwirrt. »Kein Problem«, gab er von sich. Ein Mann um die Vierzig. Guter Mantel, gutes Gesicht. Teure Nickelbrille und freundliche, aber durchdringende Augen.
»Sind Sie auch zum ersten Mal in Düsseldorf?« Er versuchte Small Talk, was mir gar nicht gefiel und ich nickte. »Da passen Sie mal gut auf sich auf. Hier herrscht König Karneval. Sie sehen mir eher nach einem Literaten mit Neigung zum Selbstmord aus. Ich weiß nicht, ob das hier Ihr Ding ist.«
Seit langer Zeit schmunzelte ich. »Sie sind ein guter Menschenkenner!«, entgegnete ich. Hauptbahnhof stand auf einem Schild, und der Zug wurde langsamer.
»Und was ist Ihre Profession? So drücken sich nämlich alle verklemmten Autoren aus.« Sein Lächeln war gewinnend und tat gut.
»Früher hätte ich mich als Metaphysiker bezeichnet«, antwortete er grinsend. »Ein reicher Privatgelehrter, den jede Universität zum Teufel geschickt hat Meine Studien sind ebenso abwegig wie unwissenschaftlich. Und genau das macht mir Spaß! Ich übernachte hier am Hafen. Oh, – da sind wir schon.« Der IC hielt elegant an. Auf dem Bahnsteig standen Verkleidete mit Luftballons und schrien ›Helau!‹. Ich ignorierte sie. Der Typ auch. Ich kann damit nichts anfangen, und mein Begleiter wohl auch nicht. »Übrigens«, sagte er. »Herbert Lansky. Vielleicht treffen wir uns heute Nacht noch irgendwo. Man kann ja nie wissen.«
»Heines – Robert Heines«, gab ich mich zu erkennen. Lansky machte einen etwas schwulen Eindruck. Ich griff in meine Tasche und holte eine Schachtel Marlboro heraus. »Darf ich Ihnen eine anbieten?« Er nickte und sagte: »Sagen Sie bloß, Sie rauchen noch.« Mit einem Zippo entzündete er die Zigaretten. »Ja,«, antworte ich. »Ich will mich nicht selbst überleben«
»Der Witz ist gut!«, meinte Herbert. »Ich rauche gerne.«
»Im Wald kommen mir oft Jogger entgegen, die wegen meines Glimmstängels die Nasen verziehen und mich verächtlich anblicken. Aber sie selbst stinken so nach Schweiß, dass die Vögel tot von den Bäumen fallen.«
Die alberne Konversation mit Lansky war für mich Melancholiker wie ein Kamin in einer verschneiten Hütte. Sowas darf ich allerdings niemals in meinen Essay schreiben. Aber es stimmte. Eine Rotte von Karnevalswütigen quoll aus dem Nordtunnel. Luftschlangen und lustige Hüte, die auf versoffenen Köpfen hingen. »Helau!!!« Ein Betrunkener ging in die Hocke, streckte mir die Zunge heraus und zeigte Eselsohren. Dann fiel er vornüber und blieb bewusstlos liegen.
»Leck mich!«, sagte ich leise.
Lansky lachte wieder. »Sie sollten mal Ihr Gesicht sehen«, sagte er. »Heinrich Himmler war dagegen ein Waisenknabe. Wahrscheinlich denken Sie jetzt auch noch seine Gedanken, ha, ha. He, was halten Sie davon, wenn wir uns heute im Park-Hotel treffen!? Da haben wir unsere Ruhe und können bei einem Glas Champagner gepflegte Klaviermusik hören. Und nicht diesen Schwachsinn, von wegen einmal im Jahr ist Karneval!« Neben uns hatte sich ein Jeck aufgebaut, öffnete blöde den Mund und steckte seinen Zeigefinger kreisend in den Mund. Dabei machte er »Lölöllö … Löllööö …«
»Wenn ich dem jetzt mit der Faust eins unters Kinn haue«, sagte Lansky, »hat der nur noch neun Möglichkeiten uns mit dieser ausgefeilten Mimik zu belästigen.«
»Ich glaube«, antwortete ich grinsend, »Ihre Rechnung stimmt. Im Park-Hotel können wir dann die Rolle spielen, die wir am besten beherrschen. Die des arroganten Arschlochs. Arroganz ist ein ausgezeichneter Schutzwall gegen langweilige Leute.«
»Hervorragend, junger Freund«, sagte Lansky begeistert. »Und ich setzte noch eins drauf: Das Ziel des Okkultisten ist, dem Rad des Lebens zu entkommen und nicht von den Zähnen der Zeit belästigt zu werden. Und da ist das Park-Hotel genau der richtige Ort.«
»Sie beschäftigen sich auch mit den dunklen Seiten der Wirklichkeit?«
»Ja«, sagte er. »Wir sollten uns nachher mal mit dem Buch ›Nightworks‹ beschäftigen, oder mit den Werken von LaVey.«
Wir verließen den Bahnhof. Es war Veilchendienstag, dem der Aschermittwoch folgen sollte.
Gegen 19.10 Uhr trennte ich mich von Herbert Lansky. Sein Händedruck war fest und herzlich.
»Also, mein lieber Robert Heines. Nachher im Park-Hotel. Ich werde Ihnen dort von meinen Studien erzählen. Über die Verbindung von Karneval und Chaos. Es wird Sie gewiss interessieren. Ich bin auf erschreckende Tatsachen gestoßen. Wenn Sie wüssten! Und passen Sie um Gottes willen auf sich auf. Gerade heute. In nomine dei nostri satanas luciferi excelsi!« Rasch überlegte ich, was das heißen soll. Ich zuckte zusammen: Im Namen unseres Gottes Satans, den erhabenen Lichtbringer. Nachdenklich sagte ich: »Nachher, im Park-Hotel, bei Rotwein und Chopin. Ich freu mich …«
Der Bahnhofsvorplatz war, wie alle Straßen in Düsseldorf, mit Bierdosen und Konfetti übersät. Aus jeder Kneipe war Karnevalsmusik zu hören. Da ich mich hier nicht auskannte, landete ich nach zwanzig Minuten an der längsten Theke der Welt. Es war ein Italiener, bei dem ich einkehrte. Ich hoffte, in dem noch halb leeren Lokal in Ruhe essen zu können. Nur an der Theke standen Karnevalisten, die gierig um sich blickten. Ich nahm eine Minestrone zu mir, dazu einen guten Wein.
Als die Pasta kam, flog die Tür auf und ein Dutzend Jecken drangen wie Parasiten ins Lokal. Mein Tisch war der einzig freie, und so hatte ich auf einmal drei Cowboys und zwei Teufel am Tisch sitzen.
»He – Itaker!«, schrie ein Teufel den Wirt an. »Mach die Scheiß-Musik aus und leg ’ne lustige Platte auf!« Der Wirt beugte sich der Übermacht mit angewidertem Gesicht.
»He, was guckst denn du so komisch?«, meinte ein Cowboy zu mir gewandt, dem der Rotz aus der schnapsroten Nase lief. »Hast du etwa Probleme damit?« Er grinst herausfordernd, und ich bekam die Wut.
»Ja«, sagte ich giftig. »Wenn ich nichts im Kopf hätte, hätte ich auch mit nichts Probleme.« Der Dicke überlegte, kam dann dahinter und griff mir an den zweitausend Euro Anzug. Früher war ich im Sport ganz gut, vor allem im Karate.
Das ist lange her. Aber so lange auch wieder nicht. Ich schlug ihm die Faust direkt ins Gesicht, und das Blut des Karnevalisten spritzte über die Tischdecke.
»Er hat mir die Nase gebrochen, das Schwein!«, heulte der Spaßvogel. Noch nie in meinem Leben war ich in eine Schlägerei verwickelt gewesen. Bis heute. Meine Einsamkeit, meine Ehe, mein Zustand als Witwer brach aus mir heraus. Teufel Nummer zwei, der mir an die Gurgel wollte, krümmte sich kotzend auf dem Boden, als ich ihm das Knie in die Eingeweide rammte. Doch es waren zu viele. Irgendwelche Schlampenweiber, als Madonna verkleidet, kreischten hysterisch und kamen geordnet auf mich zu. Dazu noch drei Michael-Jackson-Verschnitte mit Messern in den Händen. Ich floh aus dem Lokal in die eisige Kälte der Nacht. Ich rannte wie wahnsinnig durch das Labyrinth der Altstadt und trat von einer angebissenen Pizza auf die andere. Die Blankenese-Polonäse, sowie DJ-Ötzi grölten aus den Kaschemmen. Erst jetzt bemerkte ich, dass es angefangen hatte zu schneien. Dicke Flocken drangen in meine Augen und nahmen mir die Sicht. Ich schwitzte, und mir war es zugleich eiskalt. Plötzlich stockte mir der Atem. Dann prallte ich gegen eine Laterne und blieb stehen. Ich musste erstmal Luft holen. Tatsächlich. An der Ecke der Bolkerstraße löste sich eine Gestalt aus dem Nebel. Ein blutjunges Tanzmariechen rannte auf mich zu. Ihre Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Aus ihren Augen leuchtete Panik, und ihre Zähne klapperten aufeinander. Sie sah schlimmer als jede Heroinsüchtige aus und wirkte wie tot. Auf einmal wusste ich, was mich die ganze Zeit so irritiert hatte.
Die Narren waren zwar alle gut aufgelegt, aber in ihren Augen spiegelte sich die pure Angst wider. Angst – wovor?
»Fliehen Sie!«, rief sie mir zu. Dabei blickte sie ängstlich um die Ecke. »Sie sind nicht maskiert. Deshalb glaube ich, dass Sie niemand von – denen da sind!«
Dann war sie in der Dunkelheit verschwunden. Nur noch ihre High-Heels klapperten durch die Nacht.
Ich setzte mich unter den Arkaden in Bewegung und blickte das Denkmal auf dem Rathausplatz an. Ein Reiter saß auf einem Pferd. Ein Reiter mit einem Clownsgesicht und messerscharfen Zähnen, die bis aufs Kinn reichten. Ich spürte die Angst, die auf den Straßen herrschte. Die Neugier siegte, und ich ging langsam dorthin, woher das Mädchen kam.
Vielleicht sollte ich, wie im Mittelalter, in die Kirche flüchten. Das Viertel, in dem ich mich nun befand, war wenig einladend und ausgestorben. Brachliegende, mit Unkraut überwucherte Grundstücke, in deren Mitte eine Kirche stand. Darüber ein fahler Mond, der sein Licht über den schmutzigen Schnee warf. Es schien, als wolle der Kirchturm den Mond herabziehen. Das Gebäude selbst wirkte so düster wie ein uralter Meteorit. Den Namen der Gasse hatte ich noch nie gehört: Abyssum Mysteriis. Ab hier wird meine Geschichte unglaubwürdig, und Sie sollten sich rüsten.
Das Gotteshaus schien wenig einladend, und ich wusste, dies ist ein gemiedener Ort. Aber warum? Nichts Heiliges ging von den schwarzen Steinen aus. Und ich traute meinen Augen nicht, als ich auf einem verwitterten Stein das Datum der Segnung des Gebäudes las: Die Kirche war älter als das Christentum selbst, was völlig unsinnig ist.
Meine Hand war schwer wie Blei, als sie die quietschende Pforte öffnete. Ich war mir sicher, dass seit Jahrzehnten niemand mehr durch das Portal gegangen war. Der Wind wurde zu einer feuchten Hand, die mich in die Kirche schob.
Eisige Luft kam mir entgegen. Noch kälter, als auf der Straße. Es war beinahe stockdunkel, sah man von Kerzen ab, die auf dem Altar standen. Darüber hing das riesige Kreuz. Der Leichnam daran war kaum zu erkennen. Doch ein Gutes hatte mein Hiersein: Es war totenstill. Ich liebe die Stille. Doch diese hier war intensiver, als der Tod. Sie war greifbar. Hier gab es Symbole, die alles andere als christlich sind und über die ich lieber nicht länger nachdenken wollte. Ein albtraumhafter Geruch entstieg dem Weihwasserbecken und der Krypta.
Über mir hingen Kronleuchter, und das Licht des Mondes schien durch die kunstvollen Fenster. Stille. Mir standen die Nackenhaare zu Berge.
Ich dachte, ich sei in einem stillgelegten Schlachthaus, in dem die Kadaver von Tieren vor sich hinstinken. Ich muss ganz ruhig bleiben, dachte ich. Ganz ruhig. Aber das Grauen hatte mich bereits ergriffen.
Es schien, als ginge von den Wänden ein leiser Gesang aus. Das Loblied auf eine Kreatur, die tief, tief im Boden vor sich hindämmerte.
Durch eine Nervenkrankheit stand ich oft am Rande des Wahnsinns. Dann der Tod meiner Frau. Doch es gibt etwas, das noch schwärzer ist.
»Kann ich Ihnen helfen?«, sagte eine hohle Stimme hinter mir. Ich fuhr schreiend herum und blickte in die hohlen Augen eines alten Priesters. Er legte seine knochige Hand auf meine Schulter. Irgendetwas hielt er in der anderen.
»I – ich weiß es selber nicht«, stammelte ich. »Ich bin völlig am Ende …«
»Das ist gut, das ist so gut, mein Sohn. Deshalb haben wir auch eine Kirche.«
»Ich habe das Gefühl«, setzte ich nach, »dass draußen alles anders ist. Ich meine, es ist kein richtiger Karneval.«
Der Priester nickte ernst und blickte sich ängstlich um. Seine schwarzen Zahnstummel glichen uralten, kleinen Grabsteinen. Sein schwarzer Talar hatte tausend Löcher und roch nach Blut und Schweiß. Vor allem nach Blut. »Ich weiß. Aber wir sollten jetzt, in dieser Nacht, stille sein. Es ist SEINE Nacht; die Nacht zu Aschermittwoch. Wir haben zu dienen, wir haben zu gehorchen – wir beugen uns!« Irgendetwas zwang mich, auf die Uhr zu blicken. Es war kurz vor Mitternacht. Mein Gott, dachte ich. Lansky! Wir sollten seit einer Stunde an der Bar sitzen und bei Rotwein guter Musik lauschen. Wo ist die Zeit geblieben?
Und dann spürte ich, wie etwas zwischen den Kirchenbänken schlurfte. Nein, es glitt, es kam näher, und obwohl es windstill war, schwangen die Ampeln und Kronleuchter hin und her. Ich begriff, was hier nicht stimmte: Aber erst dann, als der Priester die Taschenlampe anknipste, deren gelblicher Schein über die Fenster glitt. Über Kirchenfenster, die alle nur ein einziges Motiv hatten: Den grinsenden Clown mit seinen Haifischzähnen.
Erst jetzt sah ich die schwarzen Kerzen, die Statuen erhellten, die immer nur eine einzige Fratze zeigten.
Das Gleiten, das Vibrieren zwischen den Kirchenbänken wurde intensiver. Mir stockte der Atem: ER war gekommen! Er- König Karneval. Den man woanders Baphomet nennt, den Teufel oder Nyarlathothep. Langsam, entsetzlich langsam, kam er um die Ecke gekrochen. Leere Augenhöhlen, aus denen purer Wahnsinn leuchtete, starrten mich aus einem Totenkopf an. Ich hielt meine rechte Hand vor die Lippen, damit ich mich nicht übergeben musste.
»Ah, ich sehe, Ihnen wird einiges klar, mein Herr. Unser König ist da. Jedes Jahr kämpft er darum, den Aschermittwoch zu überleben. Dominus inferus vobiscum! ER will nicht immer sterben und immer wiedergeboren werden. Vielleicht gelingt es IHM in diesem Jahr?«
Wie von Furien gehetzt rannte ich zum Portal. Es war verschlossen.
»Fliehen Sie nicht, mein Sohn, sondern staunen Sie!«, krächzte der Geistliche.
Vor Angst und Ekel war mir schlecht. Wankend hielt ich mich an den dicken Steinen der Wand fest. Doch sie gab nach – sie fühlte sich wie pochendes, eitriges Fleisch an. Der Luftdruck in der Kirche hatte zugenommen. Ein paar Votivbilder fielen von den Wänden und zwei Beichtstühle kippten um.
»Ich glaube, wir haben die Lösung gefunden!«, triumphierte der Geistliche. »Ich glaube, unser HERR wird dieses Mal den Aschermittwoch überleben! Sehen Sie – sehen Sie, dass es schon nach Mitternacht ist? Er lebt immer noch. Er lebt mehr denn je. Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass es während der Karnevalszeit niemals zu ernsten, bedrohlichen Krisen kommt? Aber – danach! Kriege entbrennen und Ströme treten über die Ufer, und König Karnevals Macht wächst von Jahr zu Jahr …«
Das Geisterauge der Taschenlampe glitt wie Totenfinger über die Gesangsbücher. Auf jedem war das Gesicht des Clowns abgebildet. Die Augen quollen heraus. Und dann kamen sie, die Narren. Aus den hintersten Ecken der Kirche kamen sie wankend auf mich zu. Sie, mit ihren weiß geschminkten Gesichtern und blutroten Lachmündern. Doch ihre Blicke waren tot. Sie trugen Äxte und Keulen und nahmen mich ins Visier. Das war aber nicht der Grund für mich, wie ein Irrer durch die Kirche zu schreien.
Auch nicht, als sich die Tür der Krypta öffnete, und etwas herauswatschelte. Die Schritte hörten sich wie Gummistiefel an, die durch Schlamm stapfen.
Er – Es – hinterließ eine schwarze Schleimspur, die sich quer durch die Kirche erstreckte. Wie kann ich das Wesen beschreiben, das aus der Krypta kroch? Eine Kreatur, von der ich bis zum Ende meiner Tage träumen werde. Der Anfang und das Ende aller Alpträume.
Nein, das alles war kein Grund für mich, fast wahnsinnig zu werden. Der Grund waren die Worte des Priesters, und dessen, was ich erblickte.
Der Geistliche krächzte: »Endlich haben wir die Lösung gefunden! ER, König Karneval – brauchte ein Opfer! Und nun haben wir ein Opfer! Schauen Sie, nun schauen Sie nur!«
Meine Augen folgten widerstrebend dem Schein der Taschenlampe. Hinauf zu dem Kruzifix, von dessen Holz Blut auf die Marmorplatten troff.
Vor Grauen und Ekel zog sich mein Hals zusammen. Und vor unendlicher Trauer. Ich … ich …Oh Gott!
Ich floh schreiend aus der Kirche. Nachdem ich wie ein gefangenes Tier gegen die Tür trat, öffnete sie sich doch. Ich stürmte in die Nacht und rannte hinunter zum Rhein. Auf dem Funkturm am Hafen thronte der Kopf eines riesigen Clowns mit spitzen Zähnen. Das irre Lachen des Priesters drang immer noch aus dem Gotteshaus.
Meine Lungen füllten sich mit siedendem Blei.
Vielleicht werde ich in den Fluten des Rheins Erlösung finden. Erlösung von dem Anblick, der sich mir vor fünf Minuten geboten hatte: An dem Kreuz hing nicht der Leib Christi, sondern der Körper von Herbert Lansky, meinem Reisegefährten. Man hatte ihn dort mit verrostetem Draht aufgehängt. Eine Narrenkappe saß auf dem eingeschlagenen Schädel. Aus seinen Augenhöhlen und blutverschmiertem Mund fielen Konfetti und Luftschlangen auf die heilige Erde.
Ich gehe jetzt hinunter zum Rhein, meine Lieben. Meine Reise und meine Geschichte sind damit zu Ende. Möge Gott euch beschützen und euch seinen Segen geben!
HELAU!
Ende