In der Gruft und andere makabre Erzählungen - H. P. Lovecraft - E-Book

In der Gruft und andere makabre Erzählungen E-Book

H. P. Lovecraft

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Beschreibung

Lovecrafts wesentlichste Geschichten gehören dem Cthulhu-Mythos an, einem nur lose und keineswegs konsistent entworfenen Konstrukt kosmischen Schreckens, das mehr durch die Kraft der Heraufbeschwörung von Gefühlen des Abscheus und des Ekels als durch logische Konstruktion überzeugt und in seinen äußeren Formen ebenso archaisch ist wie modern in der Totalität der kosmischen Bedrohung.

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Seitenzahl: 362

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H.P. Lovecraft

In der Gruft

und andere makabre Erzählungen

Aus dem Amerikanischen von Michael Walter

Phantastische Bibliothek Band 347

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 8. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 2757.

Originaltitel und Copyrightvermerk der einzelnen Geschichten am Schluss des Bandes.

© 1982, für die deutsche Übersetzung Suhrkamp Verlag AG, Berlin

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-77834-0

www.suhrkamp.de

Inhalt

In der Gruft

Kühle Luft

Der Schreckliche Alte Mann

Die Aussage des Randolph Carter

Polaris

Jenseits der Mauer des Schlafes

Das Verderben, das über Sarnath kam

Vom Jenseits

Der Baum

Das Mond-Moor

Die Anderen Götter

Iranons Suche

Hypnos

Das Unnennbare

Der boshafte Geistliche

Das Tier in der Höhle

Der Alchimist

Das Grab

Gefangen bei den Pharaonen

In den Mauern von Eryx

Originaltitel und Copyrightvermerk

In der Gruft

Es gibt, meiner Meinung nach, nichts Absurderes, als jene landläufige Assoziation des Deftigen mit dem Bekömmlichen, von der die Mentalität der Menge durchtränkt zu sein scheint. Man erwähne nur eine bukolische Yankee-Kulisse, einen stümperhaften und dickfelligen Leichenbesteller und ein achtloses Mißgeschick in einer Gruft, und kein Durchschnittsleser kann dahin gebracht werden, mehr zu erwarten als ein derbes, obgleich groteskes Stück Komödie. Doch bei Gott, die prosaische Geschichte, die mir George Birchs Tod zu erzählen erlaubt, birgt Aspekte, neben denen sich einige unserer dunkelsten Tragödien licht ausnehmen.

Birch zog sich eine Behinderung zu und wechselte 1881 den Beruf, sprach jedoch nie über den Vorfall, wenn er es vermeiden konnte. Und sein alter Arzt, der vor Jahren verstorbene Doktor Davis, auch nicht. Die allgemeine Erklärung lautete damals, daß das Leiden und der Schock von einem unglücklichen Versehen herrührten, wodurch Birch sich selbst neun Stunden in der Leichenkammer des Peck Valley Friedhofs eingeschlossen hatte, aus der er nur durch krude und verheerende mechanische Hilfsmittel entkam; und wenn soviel auch unzweifelhaft stimmte, gab es doch andere und schwärzere Dinge, die mir der Mann im Säuferdelirium seines nahenden Endes zuflüsterte. Er vertraute sich mir an, weil ich sein Arzt war und weil er wahrscheinlich das Bedürfnis verspürte, sich nach Davis Tod jemand anderem anzuvertrauen. Er war Junggeselle und ohne jede Verwandte.

Birch war vor 1881 der Leichenbesteller des Dorfs Peck Valley gewesen und, wie diese Sorte Mensch nun mal ist, ein recht abgebrühtes und primitives Individuum. Die ihm in meinem Beisein zugeschriebenen Praktiken wären heute, zumindest in einer Stadt, undenkbar; und sogar Peck Valley würde ein wenig geschaudert haben, hätte es um die lockere Moral seines Begräbniskünstlers hinsichtlich solcher Fragen gewußt, wie z. B. des Eigentumsrechts an unter dem Sargdeckel verborgener, teurer »Aufbahrungs«-Garderobe und des zu wahrenden Grads an Würde beim Arrangieren und Einpassen der unsichtbaren Glieder lebloser Inwohner in nicht immer mit höchster Akkuratesse berechnete Behältnisse. Birch war ganz unzweideutig lax, empfindungslos und einschlägig unerwünscht; trotzdem glaube ich noch immer, er war kein schlechter Mensch. Er war bloß grob in Art und Amt – gedankenlos, achtlos und verschnäpselt, wie sein leicht vermeidbarer Unfall beweist, und ohne das Quentlein Phantasie, das den Durchschnittsbürger innerhalb gewisser, vom Takt bestimmter Grenzen hält.

Wo genau ich Birchs Geschichte beginnen soll, vermag ich kaum zu entscheiden, denn ich bin kein versierter Geschichtenerzähler. Man sollte vermutlich im kalten Dezember von 1880 einsetzen, als die Erde gefror und die Grubenschaufler merkten, daß sie bis zum Frühling keine Gräber mehr ausbuddeln konnten. Zum Glück war das Dorf klein und die Sterberate niedrig, so daß es möglich war, allen unbeseelten Schützlingen Birchs eine einstweilige Freistatt in dem einen antiquierten Totenhaus zu gewähren. Angesichts des garstigen Wetters wurde der Leichenbesteller doppelt lethargisch und schien in punkto Achtlosigkeit sogar sich selbst zu übertreffen. Nie zimmerte er fippsigere und plumpere Särge zusammen, und nie mißachtete er flagranter die Erfordernisse des rostigen Schlosses an der Grufttür, die er mit so nonchalanter Ungezwungenheit auf und zu donnerte.

Endlich kam das Frühjahrstauwetter, und unter Mühen wurden für die neun stummen Ernten des grimmen Schnitters, die in der Gruft warteten, Gräber vorbereitet. Wiewohl er die Plackerei des Abtransports und der Beerdigung scheute, machte sich Birch doch eines widerlichen Aprilmorgens an seine Überführungsarbeiten, die er aber wegen eines heftigen Regens, der sein Pferd zu irritieren schien, vor Mittag wieder einstellte, nachdem er zuvor nur einen Leib zur ewigen Ruhe gebettet hatte. Nämlich den von Darius Peck, dem Neunziger, dessen Grab nicht weit von der Gruft lag. Birch beschloß, den kommenden Tag mit dem kleinen alten Matthew Fenner zu beginnen, dessen Grab ebenfalls in der Nähe war; verschob indes die Sache um drei Tage und ging erst am Karfreitag, dem fünfzehnten, ans Werk. Da er nicht abergläubisch war, achtete er den Tag überhaupt nicht; obwohl er sich seitdem immer weigerte, an diesem verhängnisvollen sechsten Tag der Woche irgend etwas von Belang zu tun. Ohne Zweifel, die Ereignisse jenes Abends veränderten George Birch gewaltig.

Am Nachmittag des Freitags, des fünfzehnten Aprils also, machte sich Birch mit Pferd und Wagen zur Gruft auf, um Matthew Fenner zu überführen. Daß er nicht völlig nüchtern war, gab er im nachhinein zu; obwohl er sich damals noch nicht dem großmaßstäblichen Suff ergeben hatte, durch den er später bestimmte Dinge zu vergessen suchte. Er war nur eben so unbesonnen und achtlos, sein reizbares Pferd zu traktieren, das, als er es vor der Gruft wüst zügelte, aufwieherte und auskeilte und den Kopf hin und her warf, so wie schon das vorige Mal, als der Regen es scheinbar verdrossen hatte. Der Tag war klar, doch es hatte sich ein starker Wind erhoben; und als Birch die Eisentür aufriegelte und die in den Abhang gebaute Gruft betrat, war er froh, Unterschlupf zu nehmen. Ein anderer hätte an der klammen, übeldünstenden Kammer mit den acht achtlos plazierten Särgen vielleicht keinen Geschmack gefunden; doch Birch war zu jener Zeit unempfindlich und nur daran interessiert, den richtigen Sarg für das richtige Grab zu holen. Er hatte die Kritik nicht vergessen, die laut geworden war, als Hannah Bixbys Anverwandte, die ihren Leichnam auf den Friedhof der Stadt schaffen wollten, in die sie gezogen waren, unter deren Grabstein die Kiste von Richter Capwell fanden.

Das Licht war trübe, doch Birch hatte gute Augen, und er schnappte sich nicht etwa aus Versehen Asaph Sawyers Sarg, obwohl dieser ganz ähnlich aussah. Er hatte diesen Sarg eigentlich für Matthew Fenner gemacht, ihn letztendlich aber doch als zu plump und läppisch verworfen, als er sich in einem merkwürdigen Anflug von Sentimentalität daran erinnerte, wie nett und großzügig der kleine alte Mann während seiner Pleite vor fünf Jahren zu ihm gewesen war. Er gab dem alten Matt sein bestes, mit aller ihm zu Gebote stehenden Kunst verfertigtes Stück, war jedoch sorglich genug, das verschmähte Exemplar aufzusparen und in Gebrauch zu stellen, als Asaph Sawyer an einem tückischen Fieber dahinstarb. Sawyer war kein liebenswerter Zeitgenosse, und es kursierten viele Geschichten über seine schier unmenschliche Rachgier und sein gußeisernes Gedächtnis für wirklich erlittene oder nur eingebildete Kränkungen. Ihm gegenüber hatte Birch keine Gewissensbisse verspürt, als er ihm den achtlos gezimmerten Sarg zuwies, den er jetzt bei seiner Suche nach Fenners Kiste auf die Seite schob.

Just als er den Sarg des alten Matt ausgemacht hatte, da schlug die Tür im Wind zu und ließ ihn in einem noch tieferen Dämmer zurück als zuvor. Das schmale Querfenster ließ nur die allermattesten Lichtstrahlen ein und der Luftschacht oben buchstäblich gar keine; so daß er auf seinem stockenden Weg zwischen den langen Kisten hin zum Riegel die Erniedrigung erfuhr, profan herumtappen zu müssen. In diesem leichenhaften Zwielicht rüttelte er an den rostigen Griffen, drückte gegen die eiserne Türfüllung und wunderte sich, weshalb das massive Portal so plötzlich widerspenstig geworden war. In diesem Zwielicht dämmerte ihm auch allmählich die Wahrheit, und er begann lauthals zu rufen, als brächte sein Pferd draußen mehr zustande als ein teilnahmsloses Antwortwiehern. Denn der lang vernachlässigte Riegel war offensichtlich gebrochen und hielt den achtlosen Leichenbesteller in der Gruft gefangen als Opfer seiner eigenen Unachtsamkeit.

Die Sache muß so gegen halb vier Uhr nachmittags passiert sein. Birch, vom Temperament her ein Phlegmatiker und Praktiker, rief nicht lange; er schickte sich vielmehr an, nach gewissen Werkzeugen herumzutasten, die er sich erinnerte, in einem Winkel der Gruft gesehen zu haben. Es darf bezweifelt werden, ob ihn das Grauen und die überragende Unheimlichkeit seiner Situation überhaupt in irgendeiner Weise anrührten, doch die nackte Tatsache, so fernab aller Alltagswege der Menschen eingekerkert zu sein, genügte, um ihn nachhaltig zu erbittern. Sein Tagwerk war schmählich unterbrochen, und wenn der Zufall nicht alsbald einen Stromer herführte, würde er wohl die ganze Nacht über oder noch länger hierbleiben müssen. Nachdem er den Werkzeughaufen bald erreicht und einen Hammer und Meißel aussortiert hatte, stieg Birch über die Särge zurück zur Tür. Die Luft wurde allmählich hochgradig ungesund, doch diesem Detail schenkte er keine Beachtung, als er sich halb nach Gefühl an dem schweren und korrodierten Metall des Riegels abplackte. Eine Laterne oder ein Kerzenstumpen wären ihm hochwillkommen gewesen; aber da es ihm daran mangelte, fuhrwerkte er eben nach besten Kräften halb blind herum.

Als er merkte, daß sich der Riegel hoffnungslos sperrte, zumindest gegen so magere Werkzeuge und unter den waltenden finsteren Umständen, sah sich Birch nach anderen möglichen Fluchtwegen um. Man hatte die Gruft in einen Abhang hineingegraben, so daß der enge Luftschacht oben durch mehrere Fuß Erde verlief und damit die Inbetrachtnahme dieser Richtung als absolut unnütz entfiel. Über der Tür jedoch verhieß das hohe, schlitzartige Querfenster in der Ziegelfassade einem emsigen Arbeiter die Aussicht auf mögliche Erweiterung; deshalb ruhte sein Blick lange darauf, während er sich das Hirn über Mittel und Wege zermarterte, es zu erreichen. So etwas wie eine Leiter gab es in der ganzen Gruft nicht, und die Sargnischen an den Seiten und der Rückfront, die zu benutzen sich Birch selten die Mühe machte, gewährten keinen Aufstieg zu der Fläche über der Tür. Als potentielle Schrittsteine blieben also nur die Särge selbst, und als er dies erwog, spekulierte er über die beste Art, sie zu arrangieren. Drei Sarghöhen, so schätzte er, würden es ihm erlauben, das Querfenster zu erreichen; aber mit vieren ginge es besser. Die Kisten waren leidlich eben und konnten wie Blöcke gestapelt werden; so begann er zu kalkulieren, wie er die stabilsten der acht verwenden könnte, um eine vier Kisten hohe, erklimmbare Plattform zu errichten. Beim Planen wünschte er sich nichts sehnlicher, als daß die Einheiten seiner ins Auge gefaßten Treppe verläßlicher gefügt worden wären. Ob er über ausreichend Phantasie verfügte, um sie sich leer zu wünschen, muß stark bezweifelt werden.

Schließlich entschied er sich dafür, parallel zur Wand eine Dreierbasis zu legen, darauf zwei Schichten zu je zwei und darauf dann wieder eine Einzelkiste, die als Plattform dienen sollte. Dieses Arrangement könnte mit einem Minimum an Mißlichkeit bestiegen werden und würde die erwünschte Höhe liefern. Noch besser allerdings wäre es, er würde nur zwei Kisten der Basis benutzen, um den Überbau zu stützen, und eine frei lassen, damit sie noch ganz oben aufgetürmt werden konnte, falls das eigentliche Entkommenskunststück eine noch größere Höhe erforderte. Und so schuftete der Gefangene im Zwielicht und hievte ohne viel Federlesens die unempfänglichen sterblichen Hüllen herum, dieweil sein Miniaturturm zu Babel Glied um Glied emporstieg. Mehrere Särge begannen unter der Belastung der Handhabung zu splittern, und er beabsichtigte, sich den robust gezimmerten Sarg des kleinen Matthew Fenner für den Gipfel aufzusparen, damit seine Füße auf einer möglichst soliden Oberfläche standen. In dem Halbdämmer verlegte er sich beim Aufspüren des richtigen hauptsächlich auf’s Fühlen und geriet auch wirklich beinahe zufällig darüber, denn er purzelte ihm wie durch ein unheimliches Wollen in die Hände, nachdem er ihn zuvor unwissentlich neben einem anderen der dritten Schicht plaziert hatte.

Als der Turm zuletzt vollendet war und er seinen schmerzenden Armen eine Erholungspause gegönnt hatte, die er auf der untersten Stufe seiner grimmen Vorrichtung hockend verbrachte, stieg Birch mit seinen Werkzeugen vorsichtig auf und stand dem schmalen Querfenster gegenüber. Die Einfassung der Öffnung war ringsum aus Ziegelstein, und es schien wenig Zweifel daran zu bestehen, daß er binnen kurzem genug davon würde wegmeißeln können, um seinem Körper das Durchschlüpfen zu erlauben. Als seine Hammerschläge zu fallen begannen, wieherte draußen das Pferd in einem Ton, der sowohl aufmunternd wie höhnisch gewesen sein konnte. Gepaßt hätte er in jedem Fall, denn die unerwartete Zähigkeit des nachgiebig wirkenden Mauerwerks war gewiß ein sardonischer Kommentar auf die Eitelkeit menschlichen Hoffens und die Quelle einer Aufgabe, deren Durchführung jeden erdenklichen Ansporn verdiente.

Die Dämmerung brach an und fand Birch noch immer bei seinen Mühen. Er arbeitete jetzt weitgehend nach Gefühl, denn frisch aufgezogene Wolken verbargen die Mondin; und obwohl er nur langsam vorwärtskam, befeuerte ihn das Ausmaß seiner schleichenden Eingriffe ober- und unterhalb des Schlitzes. Er konnte, des war er gewiß, bis Mitternacht herauskommen; wobei es typisch für ihn ist, daß dieser Gedanke nicht von unheimlichen Folgerungen gefärbt war. Unbeängstigt von bedrückenden Betrachtungen über die Zeit, den Ort und die Gesellschaft unter seinen Füßen, meißelte er philosophisch-gleichmütig das steinige Mauerwerk weg, fluchte, wenn ihm ein Bruchstück ins Gesicht spritzte, und lachte, wenn eines das zunehmend erregtere Pferd traf, das nahe der Zypresse auskeilte. Mit der Zeit wurde das Loch so groß, daß er hin und wieder seinen Körper hineinwagte und sich dabei so wand, daß unter ihm die Särge schütterten und kreischten. Er würde, befand er, keinen weiteren mehr auf seine Plattform stapeln müssen, um die richtige Höhe zu schaffen, denn das Loch war auf exakt dem richtigen Niveau, um es zu gebrauchen, sobald seine Größe dies zulassen würde.

Es muß zum wenigsten Mitternacht gewesen sein, als Birch entschied, er käme durch das Querfenster. Müde und schwitzend trotz vieler Ruhepausen stieg er herunter und setzte sich eine Weile auf die unterste Kiste, um Kraft zu sammeln für das entscheidende Winden&Wälzen und den Sprung auf den Boden draußen. Das hungrige Pferd wieherte wiederholt und fast unheimlich, und er wünschte sich vage, es würde damit aufhören. Sein dicht bevorstehendes Entkommen ließ ihn merkwürdig kalt, und er fürchtete beinahe die Anstrengung, denn seine Gestalt hatte die schlaffe Beleibtheit der beginnenden mittleren Lebensjahre. Als er die splitternden Särge wieder bestieg, wurde ihm sein Gewicht bitter bewußt; besonders als er beim Erreichen des allerobersten jenes verschärfte Krachen vernahm, das das bergeweise Bersten von Holz bezeugt. Er hatte scheint’s umsonst geplant, als er sich den robustesten Sarg zur Plattform wählte; denn kaum war sein ganzer Wanst wieder obenauf, da gab der morsche Deckel nach und stieß ihn zwei Fuß tief auf eine Oberfläche hinab, die nicht einmal er sich vorstellen mochte. Toll gemacht durch das Geräusch oder den Gestank, der sogar ins Freie hinauswogte, gab das wartende Pferd ein Schreien von sich, das zu wahnsinnig für ein Wiehern war, und sprang wie toll durch die Nacht davon, hinter ihm her ratterte irrwitzig der Wagen.

Birch befand sich in seiner gräßlichen Situation jetzt zu tief für ein müheloses Durchklettern des erweiterten Querfensters, doch er sammelte seine Energien zu einem entschlossenen Versuch. An die Fensterkante geklammert, wollte er sich eben hochziehen, da bemerkte er ein sonderbares Hemmnis in Form eines eindeutigen Zerrens an seinen beiden Fußknöcheln. Im nächsten Moment packte ihn zum ersten Mal in dieser Nacht die Angst; denn sosehr er auch zappelte, er vermochte den unbekannten Griff nicht abzuschütteln, der seine Füße unbarmherzig gefangenhielt. Fürchterliche Schmerzen wie von grausamen Wunden schossen ihm durch die Waden; und in seinem Geist war ein Strudel von Furcht, in die sich ein unausrottbarer Materialismus mischte, der Splitter, lose Nägel oder irgendein anderes Attribut einer einbrechenden Holzkiste suggerierte. Vielleicht schrie er. Auf jeden Fall strampelte und krümmte er sich rasend und unwillkürlich, während sein Bewußtsein in einer halben Ohnmacht beinahe erlosch.

Der Instinkt leitete ihn bei seinem Geschlängel durch das Querfenster und auch bei dem Krauchen, das seinem mißtönenden Aufprall auf der feuchten Erde folgte. Er konnte nicht gehen, stellte sich heraus, und die hervortretende Mondin muß Zeugin eines entsetzlichen Anblicks gewesen sein, als er seine blutenden Knöchel zum Friedhofshäuschen schleppte, seine Finger krallten in hirnloser Hast die schwarze Krume und sein Körper reagierte mit der wahnsinnigmachenden Langsamkeit, an der man leidet, wenn einen die Phantome des Alptraums hetzen.

Es gab jedoch ganz offensichtlich keinen Verfolger; denn er war allein und am Leben, als Armington, der Friedhofswärter, auf sein mattes Scharren an der Tür reagierte.

Armington half Birch auf ein Gästebett und schickte seinen kleinen Sohn Edwin nach Doktor Davis. Der leidende Mann war bei vollem Bewußtsein, wollte aber nichts von Bedeutung sagen und murmelte bloß solches Zeug wie: »Oh, meine Knöchel!« oder »Loslassen!« oder ». . . in der Gruft eingesperrt«. Dann kam der Doktor mit seinem Arztkoffer, stellte forsche Fragen und zog dem Patienten die Oberkleider und Schuhe und Strümpfe aus. Die Wunden – denn beide Fußknöchel waren an den Achillessehnen entsetzlich zerfleischt – schienen den alten Physikus mächtig zu verblüffen und zuletzt beinahe zu schrecken. Seine straffe Befragung ging über das Medizinische hinaus, und seine Hände zitterten, als er die verstümmelten Glieder versorgte und sie so verband, als wolle er die Wunden so schnell wie möglich dem Blick entziehen.

Für einen unpersönlichen Arzt wurde Davis’ ominöses und von Scheu ergriffenes Kreuzverhör in der Tat sehr sonderbar, als er sich mühte, aus dem geschwächten Leichenbesteller auch noch die letzte Einzelheit seines grausigen Erlebnisses herauszupressen. Er legte eigentümlichen Wert auf die Beantwortung der Frage, ob sich Birch sicher wäre – absolut sicher – über die Identität jenes obersten Sargs des Stapels, wie er ihn ausgesucht hätte, wie er im Dunkeln hatte gewiß sein können, daß dies der Fenner-Sarg war und wie er ihn von dem minderwertigeren Zwillingssarg des boshaften Asaph Sawyer unterschieden hatte. Wäre der feste Fenner-Sarg so rasch eingebrochen? Als altgedienter Dorfarzt hatte Davis natürlich bei den jeweiligen Begräbnissen alle beide gesehen, wie er auch wirklich sowohl Fenner als auch Sawyer während ihres letzten Darniederliegens betreut hatte. Bei Sawyers Begräbnis hatte er sich sogar noch darüber verwundert, wie es der rachsüchtige Farmer geschafft hatte, sich in einer Kiste lang hinzustrecken, die der des winzigen Fenner wie aufs Haar glich.

Nach geschlagenen zwei Stunden ging Doktor Davis, und er drang in Birch, zu allen Zeiten darauf zu beharren, daß seine Wunden ausschließlich von losen Nägeln und splitterndem Holz herrührten. Was sonst, fügte er hinzu, könnte denn auch jemals bewiesen oder geglaubt werden? Doch wäre es gut, so wenig wie möglich zu sagen und keinen Arzt die Wunden behandeln zu lassen. Birch befolgte diesen Rat für den Rest seines Lebens, bis er mir seine Geschichte erzählte, und als ich die Narben sah – uralt und weiß, wie sie es damals waren – stimmte ich ihm zu, daß es weise war, so zu handeln. Er blieb für immer lahm, denn die großen Sehnen waren durchtrennt worden; doch am meisten, glaube ich, lahmte seine Seele. Seine einst so phlegmatischen und logischen Denkprozesse hatten eine untilgbare Schramme bekommen, und seine Reaktion auf manch zufällig Erwähntes wie z. B. »Freitag«, »Gruft«, »Sarg« und auf Worte von weniger deutlicher Verkettung mitzuerleben, war erbärmlich. Sein verschrecktes Pferd war heimgekehrt, doch seine verschreckten Sinne nie so ganz. Er wechselte den Beruf, doch etwas fraß immer an ihm. Es mag nur einfach Furcht gewesen sein, und es mag Furcht gewesen sein, in die sich eine sonderbar verspätete Art von Reue für vergangene Rohheiten mischte. Sein Trinken verschärfte natürlich nur, was er zu lindern suchte.

Als Doktor Davis Birch in jener Nacht verließ, hatte er eine Laterne genommen und das alte Leichenhaus aufgesucht. Der Mond beschien die verstreuten Ziegelbrocken und die entstellte Fassade, und der Riegel der großen Tür gab einer Berührung von außen bereitwillig nach. Durch alte Zerreißproben in Seziersälen gestählt, trat der Doktor ein und sah sich um und unterdrückte die Übelkeit an Geist und Körper, die der ganze Anblick und Geruch ihm erregte. Einmal schrie er laut auf und gab dann ein wenig später ein Japsen von sich, das schrecklicher war als ein Schrei. Dann floh er zum Wärterhäuschen zurück und brach alle Regeln seines Stands, indem er seinen Patienten wach rüttelte und schüttelte und ihm eine Kette schauriger Zuflüsterungen entgegenschleuderte, die in den bestürzten Ohren sengten wie das Zischen von Vitriol.

»Es war Asaphs Sarg, Birch, genau wie ich es mir dachte! Ich erkannte seine Zähne, im Oberkiefer fehlen die vorderen – laß um Gottes willen nie diese Wunden sehen! Der Körper war ziemlich hinüber, doch wenn ich je Rachsucht auf irgendeinem Gesicht gesehen habe – oder auf einem ehemaligen Gesicht!... Du weißt, was für ein Racheteufel er war – wie er den alten Raymond dreißig Jahre nach ihrem Grenzprozeß ruinierte, und wie er auf den jungen Hund trat, der im August vor einem Jahr nach ihm schnappte ... Er war der Satan in Person, Birch, und ich glaube, seine Auge-um-Auge-Raserei könnte Zeit und Tod überdauern! Bei Gott, seinen Zorn – den möchte ich mir lieber nicht aufhalsen!

Warum hast du es getan, Birch? Er war ein Schurke, und daß du ihm einen Ausschußsarg gegeben hast, werfe ich dir nicht vor, aber du hast’s verdammt noch mal immer übertrieben! Schön und gut an dem Ding irgendwie zu knausern, aber du wußtest, was für ein Winzling der alte Fenner war.

Mein Leben lang werde ich das Bild nicht aus dem Kopf kriegen. Du hast mordsmächtig gestrampelt, denn Asaphs Sarg lag auf dem Boden. Sein Kopf war eingedrückt, und alles purzelte durch die Gegend. Ich habe manches gesehen, aber eines war hier zuviel. Auge um Auge! Gütiger Himmel, Birch, aber du hast bekommen, was du verdient hast! Der Schädel drehte mir schon den Magen um, aber das andere war noch schlimmer – diese fein säuberlich abgeschnittenen Knöchel, damit Matt Fenners Ausschußsarg paßte.«

Kühle Luft

Sie baten mich zu erklären, weshalb ich mich vor einem kühlen Luftzug ängstige; weshalb ich beim Betreten eines kalten Zimmers mehr als andere erschauere und angeekelt und abgestoßen wirke, wenn der Abendfrost durch die Wärme eines milden Herbsttages kribbelt. Es gibt Leute, die sagen, ich reagiere auf Kälte so wie andere auf einen üblen Geruch, und ich bin der letzte, diese Wirkung zu bestreiten. Ich werde nur eben die grausigsten Umstände schildern, die mir je untergekommen sind, und es dann Ihrem Urteil anheimstellen, ob dies eine angemessene Erklärung für meine Eigenart liefert oder nicht.

Es ist ein Mißgriff, sich das Grauen als untrennbar mit Dunkelheit, Stille und Einsamkeit verwoben vorzustellen. Es begegnete mir am hellichten Nachmittag, im Getöse einer Metropole und inmitten des Gewimmels eines schäbigen und hundsnormalen Logierhauses mit einer prosaischen Hauswirtin und zwei wackeren Männern mir zur Seite. Im Frühjahr 1923 hatte ich mir irgendeine öde und uneinträgliche Arbeit für ein New Yorker Magazin an Land gezogen; und da ich keine gediegene Miete aufbringen konnte, begann ich von einer billigen Pension in die nächste zu ziehen, auf der Suche nach einem Zimmer, das möglichst die Eigenschaften anständiger Reinlichkeit, erträglichen Mobiliars und eines sehr vernünftigen Preises in sich vereinte.

Es zeigte sich bald, daß mir nur die Wahl zwischen verschiedenen Übeln blieb, doch nach einer Weile stieß ich auf ein Haus in der West Fourteenth Street, das mir viel weniger Widerwillen erregte als die anderen, die ich ausprobiert hatte.

Es war ein viergeschossiges herrschaftliches Wohnhaus aus dunkelbraunem Sandstein, augenscheinlich aus den späten Vierzigern datierend und mit Holzwerk und Marmor ausgestattet, dessen fleckige und beschmutzte Pracht den Niedergang einer geschmackvollen Opulenz von hohem Niveau bezeugte. In den großen und luftigen und mit unmöglichen Tapeten und lächerlichen Zierkarniesen aus Stuck geschmückten Räumen siechte eine deprimierende Dumpfigkeit und ein Hauch obskurer Kochkunst; doch die Böden waren sauber, das Leinzeug leidlich passabel, und das Heißwasser nicht über Gebühr oft kalt oder abgestellt, so daß ich darin zumindest einen erträglichen Ort zum Überwintern erblickte, bis man wieder richtig leben könnte. Die Hauswirtin, eine schlumpige, fast bärtige Spanierin namens Herrero lag mir nicht mit Tratsch oder Genörgel wegen des elektrischen Lichts in den Ohren, das in meinem kleinen nach vorne gelegenen Schlafzimmer im 3. Stock bis spät in die Nacht brannte; und meine Mitbewohner waren so still und unkommunikativ wie man es sich nur wünschen mochte, zumeist Spanier, die ein klein wenig über der gröbsten und gemeinsten Sorte standen. Bloß das Geratter der Straßenbahnwagen auf der Hauptverkehrsader unten erwies sich als ernsthafte Belästigung.

Ich hatte dort wohl an die drei Wochen gewohnt, als sich der erste sonderbare Vorfall ereignete. Eines Abends gegen acht Uhr hörte ich, wie es auf dem Fußboden patschte, und merkte plötzlich, daß ich seit geraumer Zeit den stechenden Geruch von Ammoniak in der Nase gehabt hatte. Ich schaute mich um und sah, daß die Zimmerdecke feucht war und tropfte; das Nässen breitete sich eindeutig von einer Ecke an der Seite zur Straße hin aus. Bestrebt, das Übel an der Wurzel zu packen, hastete ich ins Erdgeschoß, um die Hauswirtin zu informieren; und sie versicherte mir, der Mißstand werde schnellstens behoben.

»Doktärr Muñoz«, rief sie, als sie vor mir die Treppe hinaufrauschte, »ärr hat seinä Chämikalien vergeschüttet. Ärr iss zu krank, zu sein seinä eigen Doktärr – wirrt immär kranker und kranker – aber will von anderä Hilfä nix wissen. Tut ganz särr komisch mit seinä Krankheit – nimmt ganzä Tag so komisch riechändä Bäder und kann nicht aufgärägt oder warm sein. Macht allä Hausarrbeit alleinä – sein kleinä Zimmer sein voll mit die Flaschän und Maschinän und arbeit ärr nix als Doktärr. War abärr einmal einä großä – hat meinä Vattär gehörrt in Barcelona von ihm – und hat ärr eben grad heilgemacht den Arm von Klämpner, der sich verlätzte ganz plötzlich. Er gätt nix aus, nur auf Dach und meinä Jüngä Esteban bringän ihm die Essän und Wäsche und Mädizinn und Chämikalien. Meinä Gott, die vielä Salmiak die diesä Mann braucht um sich zu haltän kühl!«

Mrs. Herrero entschwand die Treppe hinauf in den 4. Stock, und ich kehrte in mein Zimmer zurück. Das Ammoniak hörte auf zu tropfen, und als ich die verbliebene Lache aufwischte und das Fenster öffnete, um Luft hereinzulassen, hörte ich die schweren Schritte der Hauswirtin über mir. Von Dr. Muñoz hatte ich bis auf gewisse Geräusche wie von einer benzingetriebenen Maschine nie etwas gehört; denn sein Schritt war leicht und sanft. Ich fragte mich einen Augenblick, was das seltsame Gebrechen dieses Mannes sein mochte, und ob sein obstinates Abschlagen jeder Hilfe von außen nicht das Ergebnis einer recht grundlosen Exzentrizität war. Mir fuhr der abgedroschene Gedanke durch den Sinn, daß die Lage einer berühmten Persönlichkeit, die heruntergekommen ist, unendlich viel Pathos hat.

Ich hätte Dr. Muñoz vielleicht nie kennengelernt, wäre da nicht die Herzattacke gewesen, die mich eines Vormittags urplötzlich überfiel, als ich in meinem Zimmer saß und schrieb. Die Ärzte hatten mich vor der Gefährlichkeit dieser Anfälle gewarnt, und ich wußte, ich durfte keine Zeit verlieren; deshalb schleppte ich mich dessen eingedenk, was die Hauswirtin über die Hilfe gesagt hatte, die der Invalide dem Handwerker geleistet hatte, die Treppe hoch und klopfte matt an der Tür, die über der meinen lag. Auf mein Klopfen antwortete mir in einiger Entfernung rechts eine eigentümliche Stimme in gutem Englisch, die mich nach meinem Namen und Anliegen fragte; und als ich beides vorgebracht hatte, tat sich eins weiter die Tür auf.

Ein kühler Luftstrom empfing mich; und obwohl es einer der heißesten Tage im Spätjuni war, schauderte ich, als ich über die Schwelle in ein großes Apartment trat, dessen reiche und geschmackvolle Ausschmückung mich in dieser Brutstätte von Schmutz und Schäbigkeit überraschte. Eine Klappcouch versah jetzt ihre Tagesrolle als Sofa, und angefangen von den Mahagonimöbeln über die kostbaren Vorhänge und alten Gemälde bis hin zu den gereiften Bücherregalen, verriet alles mehr das Arbeitszimmers eines Gentleman als einen Schlafraum in einer Pension. Ich sah jetzt, daß das Schlafzimmer über meinem – das »kleinä Zimmer« mit Flaschen und Maschinen, das Mrs. Herrero erwähnt hatte – nur das Laboratorium des Doktors war, und daß sein Hauptwohnquartier in dem geräumigen Nachbarzimmer lag, dessen praktische Nischen und großes anstoßendes Bad es ihm erlaubten, alle Kommoden und aufdringlich utilitaristischen Vorrichtungen zu verbergen. Dr. Muñoz war ganz gewiß ein Mann von Stand, Kultur und Urteilsfähigkeit.

Die Gestalt vor mir war klein, aber von erlesenen Proportionen und gekleidet in einen ziemlich förmlichen Anzug von perfektem Sitz und Schnitt. Ein kurzer eisengrauer Vollbart zierte ein vornehmes Gesicht mit zwar gebieterischem, aber nicht arrogantem Ausdruck, und ein altmodisches Pincenez schirmte die großen dunklen Augen und überragte eine Adlernase, die einer ansonsten überwiegend keltiberischen Physiognomie einen maurischen Anstrich verlieh. Dichtes, gutgeschnittenes Haar bezeugte die pünktlichen Besuche beim Friseur und lag also anmutig gescheitelt über einer hohen Stirn; das Ganze war ein Bild hervorstechender Intelligenz und vortrefflicher Herkunft und Bildung.

Dennoch empfand ich, als ich Dr. Muñoz in diesem kühlen Luftstoß sah, einen Widerwillen, den mir nichts in seinem Anblick zu rechtfertigen vermochte. Einzig sein ins Aschfahle spielender Teint und die Kälte seiner Berührung hätten einen greifbaren Grund für dies Gefühl abgeben können, und selbst diese Dinge hätten in Anbetracht des bekannten Individualismus des Mannes entschuldbar sein sollen. Es mochte auch die eigenartige Kälte gewesen sein, die mich ihm entfremdete; denn eine derartige Frostigkeit war an einem so heißen Tag anomal, und das Anomale erregt immer Aversion, Mißtrauen und Furcht.

Doch der Widerwillen verlor sich alsbald in Bewunderung, denn das ungemeine Können des seltsamen Arztes wurde trotz der Eiseskälte und Zittrigkeit seiner blutlos wirkenden Hände sogleich manifest. Er erfaßte meine Bedürfnisse mit einem Blick und versorgte sie mit meisterlichem Geschick; indes er mir mit einer fein modulierten, wenngleich wunderlich hohlen und tonlosen Stimme versicherte, er sei unter den eingeschworenen Feinden des Todes der erbitterste und habe durch lebenslange bizarre Experimente zu dessen Vereitelung und Austilgung sein Vermögen eingebüßt und all seine Freunde verloren. Ihm schien etwas von einem wohlmeinenden Fanatiker innezuwohnen, und er schwadronierte beinahe geschwätzig fort, während er meine Brust abklopfte und einen geeigneten Trunk aus Arzneien mixte, die er aus dem kleineren Laborzimmer herschaffte.

Er empfand offenbar die Gesellschaft eines Mannes aus gutem Hause als seltene Neuheit in dieser schmutzigen Umgebung und geriet in eine ungewöhnliche Redseligkeit, als ihn die Erinnerungen an bessere Tage überspülten.

Seine verquere Stimme wirkte dennoch beruhigend; und ich bemerkte nicht einmal, daß er atmete, während die flüssigen Sätze weltmännisch dahinrollten. Er versuchte meine Gedanken von meinem eigenen Anfall dadurch abzulenken, daß er über seine Theorien und Experimente sprach; und ich entsinne mich, wie er mich taktvoll über mein schwaches Herz hinwegtröstete, indem er darauf beharrte, daß Wille und Bewußtheit stärker seien als das organische Leben an sich, so daß eine körperliche Gestalt, wofern sie nur ursprünglich gesund und sorgfältig konserviert sei, durch eine wissenschaftliche Ausweitung besagter Eigenschaften eine Art Nerventätigkeit behalten könne, trotz allerschwerster Schädigungen, Defekte oder sogar Ausfälle in der Batterie spezifischer Organe. Eines Tages werde er mich vielleicht, so sagte er halb im Scherz, lehren, ganz ohne Herz zu leben! – oder doch wenigstens eine Art bewußter Existenz zu besitzen. Was ihn anlange, so sei er mit einer Verflechtung von Malaisen geschlagen, die eine äußerst rigide Lebensführung erfordere, was konstante Kälte mit einschließe. Jeder merkliche Temperaturanstieg könne ihm, bei längerem Anhalten, zum Verhängnis werden; und die Kühle seiner Behausung – rund 13°-14° Celsius – werde durch ein Absorptionssystem einer Ammoniakkühlung gewahrt, dessen Benzinmotorpumpen ich in meinem eigenen Zimmer unten oft gehört hatte.

Von meinem Anfall in wunderbar kurzer Zeit erlöst, verließ ich den frostigen Ort als Schüler und Verehrer des begabten Klausners. Danach stattete ich ihm häufig bemäntelte Besuche ab; lauschte, während er von geheimen Forschungen und schier gräßlichen Resultaten erzählte, und erbebte ein wenig, als ich die unkonventionellen und erstaunlich alten Bände in seinen Regalen durchmusterte. Ich darf hinzufügen, daß ich in der Folge durch seine kundigen Dienste von meiner Krankheit beinahe für alle Zeit geheilt wurde. Es scheint, daß er die Beschwörungen der Mediävisten nicht bespöttelte, denn er glaubte, daß diese kryptischen Formeln rare psychologische Stimuli enthielten, die womöglich eigentümliche Wirkungen auf die Substanz eines Nervensystems zeitigen könnten, aus dem organische Pulsationen gewichen waren. Sein Bericht über den betagten Dr. Torres aus Valencia erschütterte mich; derselbe hatte seine früheren Experimente begleitet und ihn während seiner schweren Krankheit vor achtzehn Jahren, von woher seine jetzige Zerrüttung rührte, gepflegt. Kaum hatte der venerable Arzt seinen Kollegen gerettet, da erlag er selber dem Feind, den er bekämpft hatte. Vielleicht war die Belastung zu groß gewesen; denn Dr. Muñoz stellte es im Flüsterton klar – wenn auch nicht im Detail –, daß die Heilungsmethoden außergewöhnlichst gewesen waren und Szenen und Prozesse involviert hatten, die bei älteren und konservativen Galenen nicht gern gesehen würden.

Im Verlauf der Wochen stellte ich mit Bedauern fest, daß mein neuer Freund tatsächlich, so wie es Mrs. Herrero angedeutet hatte, langsam doch unverkennbar körperlich abbaute. Seine Miene verblaßte immer mehr ins Aschfahle, seine Stimme wurde hohler und undeutlicher, seine Muskelbewegungen waren weniger gut koordiniert, und sein Geist und Wille wiesen weniger Spannkraft und Initiative auf. Er schien sich dieser traurigen Veränderung durchaus bewußt, und ganz allmählich nahmen sein Ausdruck und Gespräch eine grausige Ironie an, die in mir wieder etwas von dem leisen Widerwillen aufkommen ließ, den ich ursprünglich empfunden hatte.

Er entwickelte sonderbare Launen und vernarrte sich in exotische Spezereien und ägyptisches Räucherwerk, bis sein Zimmer roch wie die Gruft eines beigesetzten Pharaos im Tal der Könige. Gleichzeitig stieg sein Bedarf an kalter Luft, und mit meiner Hilfe erweiterte er die Ammoniakleitungen in seinem Zimmer und modifizierte Pumpen und Speisung seiner Kältemaschine, bis er die Temperatur auf 3° oder 5° und schließlich sogar auf –2° abgesenkt halten konnte; Bad und Laboratorium waren natürlich weniger frostig, damit das Wasser nicht gefror und chemische Prozesse nicht beeinträchtigt wurden. Sein Wohnungsnachbar beschwerte sich über die eisige Luft bei der Verbindungstür; also half ich ihm, schwere Vorhänge anzubringen, um diesem Problem zu begegnen. Ein wachsendes Entsetzen von outrierter und morbider Schattierung schien ihn zu ergreifen. Er redete unablässig vom Tod, lachte jedoch hohl, wenn solche Dinge wie Beerdigung oder Bestattungsvorkehrungen sacht zur Sprache gebracht wurden.

Alles in allem wurde er zu einem beunruhigenden und sogar grauslichen Gefährten; doch in meiner Dankbarkeit für seine Heilung konnte ich ihn nicht gut an die Fremden um ihn herum ausliefern, und ich war sorgsam darauf bedacht, jeden Tag in seinem Zimmer Staub zu wischen und seine Bedürfnisse zu stillen, immer eingemummt in einen schweren Ulster, den ich mir speziell zu diesem Zweck kaufte. Ich erledigte gleichfalls einen Großteil seiner Einkäufe und schnappte bei manchen der Chemikalien, die er bei Apothekern und Zulieferfirmen für Laboratorien bestellte, entgeistert nach Luft.

Eine zunehmende und unerklärte Panikstimmung schien sich um seine Wohnung aufzubauen. Im ganzen Haus hing, wie schon bemerkt, ein Modergeruch; doch der Geruch in seinem Zimmer war schlimmer, und trotz aller Spezereien und Räucherwerke und der beißenden Chemikalien der neuen Dauerbäder, die er unbedingt ohne Hilfe nehmen wollte, merkte ich, daß es mit seinem Gebrechen zusammenhängen mußte, und als ich darüber nachsann, was dies Gebrechen sein mochte, da erschauerte ich. Mrs. Herrero bekreuzigte sich bei seinem Anblick und überließ ihn vorbehaltlos mir; sie ließ nicht einmal mehr ihren Sohn Ersteban Botengänge für ihn erledigen. Wenn ich vorschlug, andere Ärzte hinzuzuziehen, geriet der Leidende so hitzig in Wut, wie er es sich glaubte leisten zu können. Er fürchtete eindeutig die physikalische Wirkung heftiger Emotionen, dennoch nahm seine Willens- und Triebkraft eher zu als ab, und er weigerte sich, das Bett zu hüten. Die Mattigkeit seiner früheren Krankheitstage machte der Rückkehr seiner feurigen Entschlußkraft Platz, so daß er im Begriff zu stehen schien, dem Todesdämon den Fehdehandschuh hinzuwerfen, gerade als dieser alte Feind nach ihm griff. Den Anspruch auf Essen, das bei ihm immer merkwürdig wie eine Formalität wirkte, gab er buchstäblich ganz auf; und allein Geisteskraft schien ihn vor dem totalen Kollaps zu bewahren.

Er nahm die Gewohnheit an, irgendwelche langen Dokumente abzufassen, die er sorgfältig versiegelte und mit Verfügungen versah, damit ich sie nach seinem Tode an gewisse Personen überstellte, die er mir nannte – es waren dies zumeist gelehrte Ostindier, doch befand sich darunter auch ein einst gefeierter französischer Arzt, der jetzt allgemein als tot galt und über den man sich die unglaublichsten Dinge zugeraunt hatte. Es ergab sich jedoch, daß ich diese ganzen Papiere unzugestellt und ungeöffnet verbrannte. Sein Aussehen und seine Stimme wurden absolut gräßlich und seine Gegenwart schier unerträglich. Einmal im September bescherte sein unvermuteter Anblick einem Mann, der erschienen war, um seine elektrische Schreibtischlampe zu reparieren, einen epileptischen Anfall; einen Anfall, den er wirkungsvoll ärztlich behandelte, wobei er es tunlichst vermied, sich sehen zu lassen. Dieser Mann war merkwürdigerweise durch die Greuel des großen Krieges gegangen, ohne dabei je einen so tiefgreifenden Schrecken erfahren zu haben.

Mitte Oktober kam dann mit betäubender Plötzlichkeit das Grauen schlechthin. Eines Nachts gegen elf Uhr setzte die Pumpe der Kältemaschine aus, so daß binnen drei Stunden der Prozeß der Ammoniakkühlung unmöglich wurde. Dr. Muñoz alarmierte mich, indem er auf den Fußboden bumste, und ich schuftete wie besessen, um den Schaden zu beheben, dieweil mein Gastgeber in einem Ton fluchte, dessen leblose, rasselnde Hohlheit über aller Beschreibung war. Meine laienhaften Bemühungen erwiesen sich jedoch als nutzlos; und nachdem ich von einer Tag&Nacht geöffneten Autowerkstätte in der Nachbarschaft einen Mechaniker herbeigeschafft hatte, erfuhren wir, daß vor dem Morgen, wo ein neuer Kolben besorgt werden müßte, nichts getan werden konnte. Die Wut und Angst des moribunden Eremiten, die zu grotesken Ausmaßen anschwollen, schienen dazu angetan, die Reste seiner versagenden Physis zu zertrümmern; und einmal ließ ihn ein Krampf die Hände vor die Augen schlagen und ins Bad stürzen. Mit straff bandagiertem Gesicht tastete er sich wieder heraus, und ich sah seine Augen nie wieder.

Die Frostigkeit seiner Wohnung verringerte sich jetzt spürbar, und gegen fünf Uhr in der Frühe zog sich der Doktor ins Badezimmer zurück und befahl mir, ihn mit allem Eis zu versorgen, das ich in Tag&Nacht geöffneten Drugstores und Cafeterias bekommen konnte. Wenn ich von meinen bisweilen entmutigenden Ausflügen zurückkehrte und meine Beute vor der verschlossenen Badezimmertür niederlegte, konnte ich drinnen ein rastloses Planschen hören und eine belegte Stimme, die die Anordnung hervorkrächzte: »Mehr-mehr!« Schließlich brach ein warmer Tag an, und die Geschäfte öffneten eines nach dem anderen. Ich bat Esteban, mir entweder beim Eisholen zu helfen, während ich den Pumpenkolben besorgte, oder den Kolben zu bestellen, während ich mit dem Eis weitermachte; doch, instruiert von seiner Mutter, weigerte er sich absolut.

Zuletzt heuerte ich einen abgerissenen Tagelöhner an, dem ich an der Ecke der Eighth Avenue begegnete, um den Patienten mit Eis aus einem kleinen Laden versorgt zu halten, in dem ich ihn vorstellte, und widmete mich selbst emsig der Aufgabe, einen Pumpenkolben zu finden und Handwerker zu engagieren, die fähig waren, ihn zu installieren. Die Aufgabe schien unermeßlich, und ich tobte beinahe ebenso heftig wie der Eremit, als ich sah wie die Stunden vergingen in einer atemlosen, fruchtlosen Runde vergeblichen Telefonierens und mit einer hektischen Suchfahrt von Ort zu Ort, hierhin und dorthin per U-Bahn und Straßenbahn. Gegen Mittag stieß ich weit im Downtown auf eine geeignete Lieferfirma und traf ungefähr um ein Uhr dreißig mit den nötigen Paraphernalia und zwei stämmigen und intelligenten Mechanikern in meiner Pension ein. Ich hatte getan, was ich konnte, und hoffte, ich käme rechtzeitig.

Schwarzes Entsetzen war mir jedoch zuvorgekommen. Das Haus war in höchstem Tumult, und über dem Geschnatter erschreckter Stimmen hörte ich einen Mann in tiefem Baß beten. Teuflische Dinge waren in der Luft, und Untermieter beteten über den Perlen ihrer Rosenkränze, als sie den Geruch erhaschten, der unter der verschlossenen Tür des Doktors hervordrang. Der Faulenzer, den ich angeheuert hatte, war anscheinend nur kurz nach seiner zweiten Eisablieferung kreischend und mit wahnsinnigem Blick geflohen: vielleicht ein Resultat exzessiver Neugier. Er konnte die Tür natürlich nicht hinter sich abgeschlossen haben; trotzdem war sie jetzt verriegelt, vermutlich von innen. Drinnen war nichts zu hören außer einer namenlosen Art langsamen, dicken Tröpfelns.

Nachdem ich mich trotz der Furcht, die mir im Innersten der Seele nagte, kurz mit Mrs. Herrero und den Arbeitern besprochen hatte, riet ich zum Aufbrechen der Tür; doch der Wirtin gelang es, den Schlüssel von außen mit irgendeinem Drahtding umzudrehen. Wir hatten vorsorglich die Türen aller anderen Zimmer auf diesem Flur geöffnet und bis hinauf unters Dach alle Fenster aufgestoßen. Jetzt drangen wir, die Nasen mit Taschentüchern geschützt, bebend in das verfluchte Südzimmer ein, das in der warmen Sonne des frühen Nachmittags flammte.

Eine Art dunkle Schleimspur führte von der offenen Badtür zur Flurtür und von dort zum Schreibtisch, wo sich eine entsetzliche kleine Pfütze angesammelt hatte. Irgend etwas stand dort von furchtbarer, blinder Hand mit Bleistift hingekritzelt auf ein Stück Papier, das wie von eben jenen Klauen, die die letzten hastigen Worte zogen, gräßlich besudelt war. Dann führte die Spur zur Couch und endete unsäglich.

Was auf der Couch war – oder gewesen war –, kann und wage ich hier nicht zu sagen. Doch dies ist, was ich schaudernd auf dem klebrig-beschmierten Papier entzifferte, bevor ich ein Streichholz anriß und es zu einem Ascheflöckchen verbrannte; was ich mit Entsetzen entzifferte, als die Hauswirtin und die beiden Mechaniker wie toll von dem höllischen Ort fortstürzten, um ihre wirren Geschichten auf der nächsten Polizeistation hervorzustammeln. In jenem gelben Sonnenlicht und dem Radau von Autos und Lastwagen, der lärmend von der belebten Fourteenth Street heraufdrang, wirkten die ekelhaften Worte nahezu unglaublich, und doch bekenne ich, daß ich sie damals glaubte. Ob ich sie jetzt glaube, weiß ich ehrlich nicht. Es gibt Dinge, über die man besser nicht spekuliert, und ich kann nur sagen, daß mir der Geruch von Ammoniak verhaßt ist und mir bei einem ungewöhnlich kalten Luftzug die Sinne schwinden.

»Das Ende«, lautete jenes widerwärtige Gekritzel, »ist da. Kein Eis mehr – der Mann schaute hin und rannte weg. Jede Minute wärmer, und das übersteht das Zellgewebe nicht. Ich denke, Sie wissen – was ich über den Willen und die Nerven und den nach dem Aussetzen der Organe konservierten Körper sagte. Es war eine gute Theorie, sie konnte aber nicht unbegrenzt aufrechterhalten werden. Es trat ein allmählicher Verschleiß auf, den ich nicht vorhergesehen hatte. Dr. Torres wußte es, aber der Schock brachte ihn um. Er ertrug nicht, was er tun mußte; er mußte mich an einen seltsamen, dunklen Ort bringen, als er sich an meinen Brief hielt und mich wieder auf die Beine brachte. Und die Organe würden niemals mehr arbeiten. Es mußte auf meine Methode geschehen – künstliche Konservierung – denn sehen Sie, damals vor achtzehn Jahren starb ich.«

Der Schreckliche Alte Mann

Angelo Ricci und Joe Czanek und Manuel Silva hatten die Absicht, dem Schrecklichen Alten Mann einen Besuch abzustatten. Dieser alte Mann wohnt ganz allein in einem uralten Haus in der Water Street bei der See und steht in dem Ruf, sowohl außerordentlich reich wie außerordentlich hinfällig zu sein; was für Männer vom Gewerbe der Herren Ricci, Czanek und Silva eine äußerst reizvolle Situation darstellt, denn dieses Gewerbe war nichts weniger Ehrenwertes als Raubüberfälle.