In der Tiefe der Zeit - Edith Maria Ascher - E-Book

In der Tiefe der Zeit E-Book

Edith Maria Ascher

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Beschreibung

Nele ist 32 Jahre alt und lebt im Bayerischen Wald. Eine Anstellung in einem Blumengeschäft, eine heimelige Wohnung - sie sollte zufrieden sein. Dennoch hat Nele das Gefühl, nicht mit dieser Welt zu harmonieren, im Grunde ihres Wesens einer fremden Melodie zu folgen. Doch Nele hat gelernt, das Flüstern ihrer Seele zu ignorieren. Bis zwei Mysterien sie in Aufruhr bringen: ein Skelett und ein Mann.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Edith Maria Ascher

In der Tiefe der Zeit

Ein lichtdurchfluteter Roman über zwei wilde Seelen

Ich kostete vom Milchkuchen des Mondesund träumte Sterne.Wasserstimmen sangen für mich vom Wandelund die Bäume flüsterten von der Tiefe der Zeit.Mir wuchsen Seelenflügel über dem Sand unserer Täuschung.Der Tod beobachtet mich.

Inhaltsverzeichnis

Die Eibe

Ruth

Onkel Benni

Wochenmarkt

Auf die Freundschaft

Regentänzer

Bennis Sacherl

Waldklänge

Wasserfragen

Ganz und gar

Umbruch

Bertha

Luzifer

Flüche

Nichts bleibt

Waldtiefe

Wenn du den Raben siehst

Lebenstanz

Seelenbilder

Quest

Ruths Kabinett

Sprung

Fia

Edan

Rabenflug

Kinder der Träume

Giftzunge

Wilde Seelen

Cernunnos

Dank und Widmung

Autorenvita

Impressum

Die Eibe

Der Wald war mein Gefährte. War ich ihm fern, so sehnte ich mich nach ihm, wie nach einem Geliebten. Ich brauchte seine Nähe. Seine Zuwendung. Die Geborgenheit, die er mir schenkte. Hatte der Wald meine Seele an diesen Ort gelockt? Oder hatte meine Seele ihn gar gesucht? War es nur ein simpler biologischer Zufall, der mich mitten im bayerischen Wald ins Leben gebracht hatte? Oder eine Fügung des Schicksals?

Der Bayerische Wald - ein langgezogenes Mittelgebirge, das sich von Bayern nach Tschechien ausdehnt. Der im Böhmerwald geborene Dichter Adalbert Stifter nennt ihn eine ruhevolle, schweigsame, ja epische Gegend. 'Waldwoge steht hinter Waldwoge, bis eine die letzte ist und den Himmel schneidet.' Der Bayerische Wald gleicht wahrhaftig einem wogenden Meer aus Hügeln und Tälern, aus Wiesengrün und Baumdunkel. Bis zum wolkenverhangenen Horizont. Nicht nur ich, sondern bereits mein Vater hatte sich von dieser Gegend aus wilden Hügeln angezogen gefühlt. Der wandernde Zimmerer-Geselle aus dem Schwäbischen hatte in der kleinen Stadt Regen Arbeit gesucht und gefunden. Beim Kirta-Tanz hatte er meine Mutter kennengelernt und sich in »seine schwarze Maid vom schwarzen Regen« verliebt. Einige Jahre später kam ich auf die Welt. Ein ebenso schwarzhaariges Geschöpf, das ansonsten die weibliche Ausgabe eines großgewachsenen Naturburschen mit strahlend grünen Augen war. Benannt wurde ich nach meiner Großmutter Cornelia, seit jeher wurde ich aber Nele gerufen.

32 Jahre war ich seither einen Weg gegangen, der den Erwartungen meiner Eltern und unserer Gesellschaft entsprach. Meine Anpassung wurde belohnt mit Geld und Akzeptanz. Ich hätte zufrieden sein können - dennoch hatte ich immer das Gefühl, dass mir etwas fehlte. Wenn ich bei meinen langen Waldspaziergängen darüber nachdachte, schien es mir oft wie eine Art seelische Verelendung. Da ich jedoch bisher keiner Ariadne begegnet war, die mir einen Rettungsfaden überreicht hätte, tappte ich weiter durch mein seelisches Labyrinth. Meinen Kummer, meine innere Unruhe versuchte ich zu ignorieren. Es war ein ermüdendes Scharmützel, denn meine Seele war ein beharrliches und penetrantes Exemplar. Seit meiner Kindheit neigte sie dazu, sich in den unpassendsten Momenten bemerkbar zu machen und so lange zu sticheln, bis ich einem ihrer merkwürdigen Impulse folgte und etwas tat, was möglicherweise ein wenig aus dem Alltag verrückt zu sein schien. In der letzten Zeit jedoch kam es mir vor, als sei sie meiner zunehmenden Missachtung müde geworden. Als hätte sie sich ebenso zurückgezogen, wie ich in meine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Meine Wohnung war mein Hort. Sie lag im ersten Stock eines bescheidenen alten Hauses, direkt oberhalb des Schwarzen Regens. Blaue Fensterläden, das Obergeschoss mit Holz verkleidet, eine Hecke aus Efeu und wilden Büschen drum herum. Von meinen Fenstern im ersten Stock sah ich den Fluss und die kleine verwilderte Halbinsel mit ihren alten Weiden und ihrer bunt blühenden Wiese. Etwas entfernt, am anderen Ufer des Flusses erstreckte sich ein Gewerbegebiet. Wenn ich über diese Ansammlung von fader Betonarchitektur und Lärm hinwegsah, konnte ich meinen Blick über die grünen Hügel und den Wald wandern lassen. Direkt unter meinem Balkon lag der Garten. Ein verwilderter Urwald, den meine Vermieterin so ließ, wie er war: ein Zauberreich aus alten Sträuchern, hartnäckigen Stauden und verwunschenen Ecken. In einer dieser düsteren Nischen stand ein kleeblattförmiger alter Brunnen. Sein Wasserzufluss funktionierte nicht mehr, in seinem flachen Becken tanzten Wasserkäfer über Fliegenlarven und Algen. In dieser Oase konnte ich sitzen, lesen oder von einem Leben träumen, das mir fern und doch zum Greifen nah erschien. Wie die Sterne, deren Glanz vom Tag verhüllt waren. Und dennoch waren sie da! Sinnbilder einer größeren Weite, einer größeren Weisheit über der Achtlosigkeit unserer Welt. Meine Alltagsseele ließ sich viel zu oft vom oberflächlichen Schein blenden. Meine Sternenseele aber lächelte milde darüber; sie wusste um die Magie, um den Zauber hinter den Schleiern.

Es war Herbst geworden, der Garten kräuselte sich wie ein sterbendes Blatt zusammen und bereitete sich auf den kalten Schlaf des Winters vor. Die Samen kehrten heim in die Erde, um zu schlafen und neue Kräfte zu schöpfen. Was für ein unzeitgemäßes Verhalten in der heutigen Zeit! Rückzug und Seelenruhe entsprachen nicht mehr der Norm, waren anachronistisch, ja asozial.

Auch ich fügte mich diesem Tretrad. Im Blumengeschäft, in dem ich arbeitete, waren Grabgestecke für Allerheiligen zu fertigen. Tag für Tag steckten wir Palmspeer und andere trockene Exoten in Moosherzen, dekorierten sie mit Plastikrosen und kitschigen Engeln. Meiner Chefin gefiel es und den meisten Kunden ebenso. Fleißig dekorierten wir Auslagen, erfüllten Aufträge, schmückten Kunden-Gräber auf den beiden Friedhöfen. Auch an Allerheiligen hatte ich Dienst; der Besuch beim Grab meiner Eltern wurde zur hastigen Nebensache. Ich hatte keine Zeit für sie.

Der Sonntag nach Allerheiligen war ein strahlender Tag. Die Wolken hatten sich zur Böhmerwaldkette zurückzogen, der Himmel leuchtete in sattem Blau. Die Last der heißen Tage war vorbei, ich und die ganze Natur öffneten sich aufatmend der Weite des offenen Himmels. Spontan beschloss ich eine Wanderung durch meinem Lieblingsforst zu machen. Das erste Stück fuhr ich mit dem Auto, bog gut gelaunt von der Bundesstrasse in den kiesigen Forstweg ein und parkte meinen Fiat am Waldrand. Einen kleinen Rucksack auf dem Rücken marschierte ich los. Die kühle Luft schien mir wie Lebensnektar. Ich hätte weinen mögen vor Glück, wieder Zeit zu haben: für mich und meinem Wald. Summend stapfte ich über den matschigen Forstweg. Als ich das verwitterte Wegkreuz erreichte, hielt ich inne. Der Trampelpfad, der hinter dem Kreuz ins Gestrüpp stach, hatte mich schon immer gelockt. Zielstrebig bog ich ab. Der Pfad wurde selten genutzt, dichte Brombeerranken machten das Fortkommen schwierig. Erleichtert trat ich bald danach auf eine Lichtung. Ein verschwiegener Ort, der den Waldtieren wahrscheinlich zum Äsen diente. Gegenüber von mir stand ein windschiefer Jägersitz, hinter ihm erhoben sich mächtige Laubbäume. Ich überquerte die Lichtung und tauchte wieder ein, in den Wald. Ich liebte diesen moosig grünen Dschungel aus kreuz und quer liegenden Stämmen, Granitfindlingen, feuchten Senken und sprudelnden Bächen. Der Herbst öffnete den Himmel. Sein klares Blau verband sich mit den Blättern zu einem leuchtenen Dach. Der Boden roch herb nach Zerfall und Abschied. Langgezogene Schreie eines Greifvogels kreisten über den Bäumen.

Als der Weg plötzlich endete, sah ich mich unschlüssig um, bis ich einen unscheinbaren Tierpfad entdeckte. Es war ein merkwürdiger Impuls, eine Art erregtes Kribbeln, das mich dazu trieb, weiter zu gehen. Der Tierpfad war anders als der Weg der Menschen. Nicht zielgerichtet, nicht zweckmäßig. Er wand sich über Abhänge und durch Täler und passte sich an, so feinfühlig, als wären die Wege der Tiere und die Wege der Erde dieselben. Als wären sie eins. Schweigend folgte ich den dunkelgrünen Faltenwürfen des Waldes. Das sterbende Laub raschelte sanft, Sonnenflecken tanzten um mich herum, während der Pfad mich weiter in die tiefe Stille und Einsamkeit des Waldes brachte. Ich lief und lief und hielt erst inne, als ich vor einer kleiner Talsenke stand. Ein Bach schlängelte sich hindurch. Wie ein gestrandetes Schiff lag ein Hügel darin, etwa eineinhalb Meter hoch, vier Meter lang und schräg. Ein wuchtiger Baum stand darauf. Nicht groß, nur etwa fünfzehn Meter hoch, aber massiv wie ein grauer Fels. Ein Epos aus zahlreichen knorrigen Stämmen, die sich wie Finger in den Boden gruben und dabei den Erdhügel umschlangen, als wollten sie ihn festhalten. In den zerzausten Ästen und Nadeln entdeckte ich rote Beeren. Eine uralte Eibe! Was für eine außergewöhnlicher Entdeckung! Es war die einzige Eibe, die ich in diesem Wald gesehen hatte und sie war älter, als alle anderen Bäume. Der Ort, an dem sie lebte, schien mir völlig von der Welt abgeschieden. Ich stand und starrte, während Eibe und Hügel mich anschauten, als hätten sie auf mich gewartet. Schließlich rutschte ich den Hang hinab, überquerte den kleinen Bach, kletterte den Erdhügel hinauf und umrundete die Eibe ehrfürchtig. Ihr Stamm war ein Bündel aus knorrigen Strängen. Sie war so alt, dass sich in seiner Mitte eine kleine Höhle gebildet hatte. Die Eibe zu berühren, fiel mir nicht leicht. Eine Scheu, die ich mir nicht erklären konnte. Als ich meine Hand auf ihre rissige Rinde legte, fuhr ein Windstoß durch ihre Äste. Erschrocken sah ich mich um. Es war windstill, kein einziges Blatt trudelte zu Boden - als ob der Wind nur in den alten Baum gefahren wäre. Es war unheimlich! Beklommen wich ich zurück. Der Wald erschien mir nicht mehr licht, sondern bedrohlich, die Äste der Eibe wie Krallen, die nach mir greifen wollten. Ich versuchte zur Ruhe zu kommen. Dabei erkannte ich, dass die Sonne bereits sank und ein Blick auf mein Handy machte mir klar, dass seit meinem Aufbruch vier Stunden vergangen waren! Hastig machte ich mich auf den Rückweg. Als ich mich noch einmal umsah, hatte ich den Eindruck, als würden die Blicke von Baum und Hügel mir traurig folgen.

Der Montagmorgen begrüßte mich mit einem gleichmütigen Strahlen. Nach dem Frühstück trat auf den Balkon und widmete mich meinem morgendlichen Ritual: in die Weite sehen. Weißer Dunst lag über der Halbinsel, ein einsamer Vogel sang im Garten, der Verkehr auf der gegenüberliegenden Flußseite brauste. Ich breitete meine Arme aus und atmete den Morgen ein. Danach wandte ich mich schicksalsergeben von der Größe der Kosmos ab, schloss die Balkontür, zog Schuhe und Jacke an und schulterte meinen Rucksack. Mein Arbeitsweg führte den sogenannten Felsweg, oberhalb des Schwarzen Regens, entlang. Gedankenversunken erreichte ich die Ortsmitte. Um halb zehn sperrte das Blumengeschäft auf, und ab da drehte der Laden sich wie ein perfektes Laufwerk im Laufe der Jahreszeiten. Und wie kleine Zahnräder fügten wir uns ein: in seinen eisernen Takt, seinen fremden, entseelten Rhythmus. War der Oktober der Monat der Grabgestecke gewesen, war der November die Zeit, Kränze für den Advent zu binden. Während ich Hagebutten in Kiefernzweige steckte, dachte ich an die Beeren der Eibe. An ihre knorrigen Stämme mit den Löchern und Höhlen. An den mysteriösen Ort tief im Wald. Ich war nur kurz dort gewesen und dennoch hatte er mich seltsam berührt. Ob der Hügel etwas verbarg?

Der geheimnisvolle Platz im Wald verfolgte mich so sehr, dass ich eine Woche später, beladen mit Schaufel und Proviant, zu ihm zurückkehrte. Der Himmel war nicht mehr so klar, der Wald düster, die Geräusche dumpf. Als ich endlich mein Ziel erreichte, begrüßte mich ein Specht mit müdem Klopfen. Ich stellte meinen Rucksack ab, steckte mit einer geübten Drehung meinen Zopf im Haar fest und betrachtete noch einmal die Szenerie. Eibe und Hügel wirkten auf ewig miteinander verbunden. Ihren Frieden zu stören erschien mir frevelhaft. Dennoch stieg ich hinauf und begann, nach einer kurzen Entschuldigung, mit meiner kleinen Gartenschaufel gegenüber des Baumes zu graben. Problemlos entfernte ich Nadelreste und Humus, darunter wurde der Boden dichter. Dicke Wurzeln der Eibe drängten hartnäckig durch die Erde und ließen mir keinen anderen Weg, als um sie herum zu graben, wenn ich dem alten Baum nicht schaden wollte. Die Wurzeln lenkten den Weg meiner Schaufel und das Loch wurde tiefer. Jedes Fundstück nahm ich in die Hände, reinigte es, drehte und wendete es. Erst als mein Rücken weh tat, richtete ich mich auf und sah nach oben. Wie Seen ferner Welten blinzelten Himmelssprenkel durch das Dach aus grünen Nadeln. Das Graben und Suchen hatte mich zum Nachdenken gebracht. Was suchte ich eigentlich? Warum machte ich das? Was hatte mich dazu getrieben, wild entschlossen eine Schaufel einzupacken, um in diesem Hügel zu buddeln? Ich seufzte. Hatte ich mich selbst eigentlich je richtig verstanden? Aber wiederum: Wer tut das schon? Wer kapiert schon, warum er so handelt, warum er so reagiert und nicht anders. Warum man sich zu einem Ort, einer Person hingezogen fühlt. Warum jemand anders einem gegen den Strich geht. Die Chemie stimmt nicht, so heißt es. Die gestrige Kundin fiel mir ein, eine Touristin, eine Frau um die fünfzig. Diese Rose, nein die andere, ach geben sie mir doch die erste, wissen sie für meinen Mann, zwanzig Jahre verheiratet. Dann noch ein paar Anemonen, nein die nicht, die ist schon angewelkt, lieber die, nein, die ist auch nicht perfekt, rote Nagellackfinger mit eleganten Goldringen, teures Was-weiß-ich-Designer-Kostüm. Kann ruhig etwas mehr kosten, halten sie wirklich auch lange? Jedenfalls hatte die Chemie zwischen uns in keinster Weise gestimmt. Trotzdem sollte ich mich das nächste Mal davor hüten, eine Kundin an meine Kollegin weiterzugeben, mit der schnippischen Bemerkung: »Die wahre Schönheit von Blumen zeigt sich, wenn sie in Würde welken.« Die Kundin hatte meine Bemerkung verstanden und hatte den Laden wortlos verlassen.

»Was soll‘s?«, murmelte ich und grub weiter. Kurz danach stieß ich erneut auf den Widerstand einer Wurzel. Ich schabte eine Kurve darum, so wie ein Kind einen Sandtunnel anlegt. Kind sein. Im Sand spielen. Italien. Die Adria. Zelten unter Pinien, Sandburgen bauen, klebrige Sonnencremefinger, Muscheln suchen. Eigentlich waren es ja keine Burgen, eher Tropf-Gebilde gewesen. Fantastische Türme, hohe Wälder, Flüsse und Felsen - aus meiner gedrehten Faust hatte ich ganze Welten über die Daumenspitze fließen lassen. Muscheln waren zu Fenstern und Türen geworden, zu Brunnen und Teichen. Mit Wasser hatte ich die Teiche zu Heiligtümern in einer Landschaft aus Sand verwandelt. Kleine Krebse hatte ich darin geopfert, sie solange fest mit dem Daumen in die Muschelschale gedrückt und dazu merkwürdige, fremde Worte gesprochen, bis sie starben. Danach hatte ich um sie geweint; ich hatte sie nicht töten wollen. Meine Eltern konnten meinen eigenartigen Spielen nicht folgen. Auch den Inszenierungen nicht, bei denen ich mich in den kleinen Bach in der Nähe unserer Haus legte, mein Gesicht unter Wasser hielt und ‚tote Leiche‘ spielte. Ich war wahrhaftig ein sonderbares Kind gewesen. In der Schule hatte ich mich schreiend geweigert, beim Schwimmunterricht ins Becken zu springen, weil das Wasser vergiftet sei. Meine Beliebtheit unter meiner Mitschülern wurde nicht besser, als ich erzählte, der Geist eines bösen Mannes würde durch unsere Schule schleichen. Wo andere gerne auf den Spielplatz oder später in Jugendtreffs gingen, ging ich gerne auf den Friedhof. Die einzige Freundin, die ich damals hatte und die mich verstand, war die verschrobene Ruth. Merkwürdig, dass ich mich jetzt daran erinnerte. Anscheinend grub ich nicht nur in diesem Hügel, sondern auch in meiner Kindheit herum. Dennoch waren meine Eltern für mich da gewesen und hatten mir Halt geschenkt, wie diese Wurzeln. Gleichzeitig hatten sie mich daran gehindert, in meine Tiefe vorzustoßen. ‚Was machst du da wieder, Nele? Was für ein Blödsinn fällt dir wieder ein? Hör endlich auf, in dieser abartigen Sprache zu reden. Red vernünftig mit uns. Mach deine Hausaufgaben, damit etwas aus dir wird.‘ Damit etwas aus dir wird! Was für ein Schwachsinn! Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Und? Was ist aus mir geworden? Eine unglückliche Floristin, die in ihrer Freizeit einsam im Wald hockt und in der Erde buddelt, um einem verrückten Impuls zu folgen. Meine Eltern wollten sicher immer nur das sogenannte Beste für mich. Trotzdem - obwohl ich mich wirklich bemüht habe, ihren Ansprüchen gerecht zu werden - glücklich geworden bin ich nicht. War es nie. Ständig hatte ich das Gefühl, dass mir etwas fehlte. Dass ich den falschen Weg ging. Dass ich nicht ganz war. Getrennt von dem, was ist und was sein soll. »Du brauchst einen Mann«, war Ruths Meinung dazu. Ja freilich, einen Mann brauchte ich. Er würde mein Glück sein, die Erfüllung all meiner Träume und Sehnsüchte. Er würde die Leere meines Lebens und meiner Seele füllen. Er würde der Gott meines Lebens werden. Zack! Die Schaufel drang tief in die Erde. Männer! Unsensible Soziopathen! Nein, ich war ungerecht. Es gab durchaus nette Vertreter dieser Gattung. Udo, mein erster und einziger Freund. Ich mochte ihn, es machte mir Spaß, mit ihm in den Urlaub zu fahren, abends ins Kino zu gehen, ein Weinchen zu trinken. Aber irgendwann - ich schabte den lehmigen Dreck von der Schaufel und schleuderte ihn zur Seite - hatte ich das Gefühl, dass er mich von dem abbrachte, was ich wollte, was ich suchte. Was ich suchte? Es war lächerlich! Was suchte ich denn? Einen unsichtbaren Schatz im Dreck? Wem wollte ich näher kommen? Mir? Der Irren, als die er mich bei unserer Trennung bezeichnet hat? Nur weil ich nackt im Regen getanzt habe? Ein Sommerabend, ein Gewitterregen war niedergeprasselt. Der Garten unseres kleinen Mietshauses war geschützt, also wen sollte es stören? Außer Udo, dessen Engstirnigkeit mir an diesem Abend endgültig bewusst wurde. Was für ein Kleinkrämer, für ein erbärmlicher Spießbürger er doch war. ‚Komm doch raus!, hab ich ihm zugerufen, ‚Mach doch mit!‘ Er hatte jedoch kopfschüttelnd hinter der geschlossenen Scheibe verharrt, während ich nackt im prasselnden Gewitterregen tanzte. Ob der Blitz mich erschlug, war mir völlig egal. Das Wasser war wie kühler Balsam auf meiner Haut. Weit habe ich meine Arme gegen den grauen Himmel und zu den düsteren Wolken gereckt, als wolle ich sie fangen. Wild habe ich zu dem aufflackernden Licht, den grollenden und krachenden Schlägen gehüpft und getanzt. Ein Geschehen, in das ich mich völlig hingab. Es machte mir nicht nur Spaß, ich war glücklich, während ich mich drehte und in dieser fremden Sprache sang, die aus den Ursprüngen meiner Kindheit, aus der Tiefe meines Brustkorbes zu kommen schien. Rau. Und ehrlich. Wahrhaftiger, als alles andere. Endlich wieder, nach langer Zeit, war ich einem völlig verrückten Einfall gefolgt! Die Konsequenz meiner Spontanität war, dass Udo mich verließ. Ich erinnere mich noch an seinen Blick, als ich ausgestreckt im Garten lag, meine Arme und Beine über das nasse Gras rieb, mich wie die Erde selbst fühlte und dabei in mir und bei mir war. Sein Blick war Entsetzen und Abscheu. Völliges Unverständnis. Es war wohl der Moment, an dem er beschloss, mich zu verlassen. Als er dann wirklich ging, litt ich, obwohl ich wusste, dass wir nicht zusammen passten. Und was ich jetzt machte, hier im Wald, ich fürchte, mein lieber Udo, das würdest du auch nicht verstehen.

»Also geht mir weg mit Männern!«, sagte ich laut.

Die Amsel, die mich schon seit einer Weile aus einem nahen Laubhaufen heraus beobachtet hatte, schaute überrascht auf.

»Zwei Ausgräber!« Ich lachte. »Zwei einsame Sucher im Wald. Du nach Würmern und Insekten und nach was suche ich?« Die Amsel flog auf und betrachtete mich von einem sicheren Ast herab. »Nach mir? Ich weiß es nicht, Amsel.«

Meine Grabung hatte mich erschöpft, meine Arme schmerzten, so brach ich schließlich ab.

Der Weg nach Hause wurde zur Qual. Glitschig bemooste Steine, Spalten von alten Steinbrüchen, wirres Gestrüpp in zunehmender Dämmerung. Der Wald verlor seine Substanz und begab sich ins Zwielichtige. Das Laufen war unangenehm, aber ich hatte keine Angst. Weder vor der Dämmerung, noch vor dem Wald. Vor dem Wald empfand ich eher Ehrfurcht. Ein Empfinden, das mich manchmal inne halten ließ, bevor ich ihn betrat. Darf ich? Darf ich zu dir kommen? Die Seele dieses Waldes erschien mir alt. Uralt und ein wenig misstrauisch. Ein Wesen der Jahrhunderte, nicht der Jahrzehnte, das langsamer lebte und atmete als ich. Das Geheimnisse barg. Unsichtbare Wesen. Kannte ich seine Nächte? Seine Schatten? Seinen Schmerz? Die Stille des Waldes war nie still. Sie war ein Flüstern, ein Chor aus Tönen, Geräuschen und Stimmen. Der Wald war mir Ankerplatz. Für meine Sehnsucht. Und er war mir Pforte. Für meine Träume.

Meine kurzen Verbeugungen vor dem Wald hatten Udo auch nicht gefallen. Obwohl ich es nur bei besonderen Wäldern mache. Wäldern, die ich als Wesen empfinde. Die mich anschauen und prüfen wollen. Mir begegnen, mit mir sprechen, meiner Seele Geschichten erzählen wollen, wenn ich bereit bin, mich ihrem Rhythmus anzupassen. Vor solchen, die benutzt sind, verneige ich mich nicht. Wälder, die enttäuscht sind, wie viele Menschen auch. Oft sieht man es ihnen schon von außen an. Ihre Seele ist gekränkt. Sie haben ihre Fragen verloren. Ihre Wünsche. Sie begegnen dir nicht mehr, du bist ihnen egal, so wie sie sich selbst egal sind. Dieser Wald jedoch hatte eine Seele. Und sie war groß und manchmal düster.

Zuhause angekommen, spülte ich die Reste der Erde ins Waschbecken. Gluckernd verschwanden sie im Abfluss. Dabei sah ich in den Spiegel und einen Moment lang hatte ich den Eindruck, in das Gesicht einer Fremden zu schauen. Als ob meine Züge verschwimmen, als lauere ein anderes Gesicht hinter einer dünnen Maske. Verschreckt wandte ich mich ab und fragte mich, wer ich wirklich war. Die Frau, die im Gewitter tanzte? Oder die, die sich an das Leben anpassen möchte, die morgens ergeben zu ihre Arbeit ging und sich abends nach einem Bad sehnte. Mein Blick fiel auf die Wanne. Ach, noch ein warmes Bad an diesem kühlen Sonntagabend!

Brausend floss das Wasser; ich hielt meine Zehen unter den Strahl und schloss die Augen. Meine Fragen jedoch bohrten weiter. Sollte ich nicht endlich zufrieden sein? Ich hatte eine Wohnung und einen Job. Morgen würde ich wieder ins Geschäft gehen, Ware annehmen, dekorieren, die Kunden bedienen. So furchtbar war das nicht. Und dabei immer freundlich bleiben! Auch wenn ich mir dabei vorkam wie eine Schauspielerin in einem Film, der mit meinem wahren Leben nichts zu tun hatte und die Wirklichkeit würde sich irgendwo anders abspielen. Dennoch, ich brauche das Geld, ich wollte nicht von irgendwelchen Ämtern abhängig werden. Aufseufzend tauchte ich unter. Beim nächsten Mal sollte ich etwas Effektiveres mitnehmen, als diese winzige Schaufel.

Am Donnerstag begann es zu regnen, es schüttete vom Freitag übergangslos in den Samstag hinein. Typisch November. Ich hatte mich nach Regen gesehnt, nach diesen quälenden Wochen der Trockenheit. Aber musste es genau an diesem Wochenende sein? Am Sonntag schlurfte ich unruhig durch die Wohnung, kurz davor aufzubrechen und mich doch zum Hügel durchzukämpfen. Mit einer Tasse Tee stellte ich mich schließlich ans Fenster und starrte auf die wiegenden Äste der Bäume. Es regnete kaum noch, nur der Wind fuhr noch in kühlen Böen über das Land. Ich nahm einen warmen Schluck. Was war ich doch für ein Weichei! Vergrub mich feig wie Bodo Beutlin in meiner Hobbithöhle. »Die Welt ist da draußen!«, tadelte ich mich. »Du besitzt Stiefel und eine warme Jacke!« Mein innerer Schweinehund gewann.

Als ich dann endlich, eine Woche später, bewaffnet mit einem Klappspaten aufbrach, rannte ich fast durch den Wald, getrieben von der Angst, dass ein anderer meine Ausgrabung entdeckt haben könnte, mir meinen Schatz, was auch immer es sein sollte, genommen haben könnte. Meine Verlustangst war nicht unbegründet. Einen Tag nach meiner ersten Grabung hatte ich geträumt, mein Herz wäre gestorben. Tot und grau war es in meinem Brustkorb gesteckt. Dann war ein mächtiger Hirsch erschienen und hatte es aufgespießt. Mit seinem Geweih hatte er in meinen Körper gestochen und es mit sich genommen. Ein Hirsch hatte mir mein Herz weggenommen. Und ich? Ich hatte einfach weitergelebt. Ohne Herz. Der Traum war immer noch nahe. Mitten im Lauf hielt ich inne und legte die rechte Hand auf meine Brust. Es schlug, und zwar kräftig. Was für ein seltsamer Traum. Der Hirsch war ein schönes und imposantes Tier gewesen. Mit klugen Augen und einem eindringlichen Blick. Doch welche Erinnerung hat man schon an einen Traum? An die Schemen der Gestalten, die einen besuchen. In irgendeiner Weise spürte ich ihn noch in mir, empfand seine eigentümliche Nähe. So intensiv, dass ich stehen blieb und fragte: »Du willst mir also mein Herz nehmen? Und was gibst du mir dafür?«

Niemand antwortete.

Was für eine seltsame Frage! Was für ein aus dem Leben verrücktes Wesen ich doch war.

Das Loch war unberührt! Erleichtert atmete ich durch, begrüßte die alte Eibe wie einen Freund und klappte den Spaten auseinander. Der Regen hatte die Erde lehmiger und dichter gemacht. Ich grub, stocherte, schabte und kämpfte mich mühsam weiter. Dabei schien es mir, als lenke der Baum meine Grabung, als würden die dicken Wurzeln mir keinen anderen Weg lassen, als genau an dieser Stelle nach unten zu stoßen. Gegen Mittag fand ich ein rundes, dreckiges Gebilde. Fast hätte ich es zur Seite geworfen, nur ein kurzer Impuls hielt mich zurück. So rieb ich darüber und unter meinen Fingern wurde es glatter. Bald hielt ich eine gläserne, kreisrunde Perle mit einem Loch in der Mitte zwischen den Fingern. Sie sah aus wie ein dicker Ring. Feine Linien waren darin zu sehen. Obwohl ein Bach in der Nähe war, nahm ich sie zum Reinigen in den Mund, als wolle ich sie verkosten. Sie schmeckte sauer und war nicht so glatt, wie sie aussah. Ich betrachtete sie erneut. Die hellen Linien im schwarzen Glas waren unregelmäßig und spiralförmig gezogen. Anscheinend eine Art Schmuckstück. Mit einem Lederriemen um den Hals getragen, mochte sie ganz schön aussehen. Wie alt war dieses Kleinod wohl? Seit wann wurde Glas hergestellt? Ich wusste es nicht. Je länger ich die Glasperle ansah, umso mehr berührte sie mich. Ein eigentümliches Gefühl, als hätte ich ein geliebtes Spielzeug aus meiner Kindheit wieder gefunden. Ich schob sie in meine Jackentasche und grub hastig weiter.

Rechtzeitig, bevor es dämmerte, machte ich mich auf dem Rückweg. Ich wollte auf keinen Fall wieder im Dunklen durch das Unterholz stolpern. Ein Grünspecht schrie klagend, der Wind frischte auf und es regnete kleine Ästchen, Blätter und Lärchennadeln. Der Wald knarrte, ächzte und seufzte. Auf der Lichtung mit dem Jägersitz blieb ich abrupt stehen, denn ich hatte Geräusche vernommen. Ein großes Tier? Verunsichert ging ich weiter und meinte dabei fortwährend, Geraschel zu hören. Als ich endlich den Waldrand erreichte, sah ich mich erleichtert um. Die Dämmerung raubte den Bäumen bereits ihre Konturen, der Weg verlor sich im Dunst. Es war still. Merkwürdig still. Und dann hörte ich jemanden lachen. Hell. Fröhlich. Augenblicklich rannte ich los, schloss mit zittrigen Händen mein Auto auf, sprang hinein und startete den Motor.

Im Davonfahren hörte ich den Wald in mir flüstern: ‚Warum fliehst du vor mir?‘

Er klang so betrübt, dass ich weinte.

Ruth

Am nächsten Abend folgte ich einer Einladung meiner Freundin Ruth. Sie wohnte in einer Neubausiedlung der Stadt. Dankbar um die abgetretenen Holzstufen unseres Hauses, stieg ich die kalten Marmortreppen hinauf. Plastik-Ranken hingen leblos von Edelstahlbrettern.

»Komm doch rein, Nele. Schön, dass du da bist! Ich bin noch nicht ganz fertig, setz dich zu mir in die Küche.«

Es war, als träte man aus einem nüchternen Bürogebäude in ein Gemälde von Hieronymus Bosch. Ruths Wohnung war eine Menagerie der Skurrilitäten: Kerzen, Spiegel, Schalen mit Räucherwerk, funkelnde Steine, Statuen und Figürchen, Bilder verschiedenster Gottheiten, Silberschalen, esoterische Bücher und Kartensets, Glaskugeln, Federn, Hölzer, Schnüre, seltsame Päckchen - alles, was eine moderne Hexe so brauchte. Ich zog meine Schuhe aus, hängte meine Jacke neben das Silberglöckchen-Klangspiel und folgte ihr, an afrikanischen Plastiken vorbei, in die Küche. Dort stellte ich die beiden Weinflaschen auf den kleinen Holztisch, direkt unter das bunte Bild einer sitzenden vierarmigen Gottheit.

Ruth drückte Pizzateig auf‘s Blech. »Magst du Salat machen?«

»Erst gratulieren!«, sagte ich und hielt meine Arme auf.

»Ach ja.« Ruth grinste und ich schloss sie in die Arme. Sie war meine beste Freundin, ich hatte keine andere. In der Schule waren wir die beiden Außenseiter gewesen und hatten wahrscheinlich auch deswegen zusammengefunden. Ruth hatte keine leichte Kindheit gehabt: Ihre Eltern waren Mitglieder einer religiösen Sekte gewesen. Abgekapselt von den anderen, überzeugten sie Ruth davon, ihre Freunde zu verteufeln, Engel anzubeten und sich dem Kampf gegen Dämonen zu weihen. Begehrte sie auf, schlugen sie sie. Als Ruth 13 Jahre alt war, rettete sie sich zum Jugendamt. Die Behörde brachte sie, auf ihren eigenen Wunsch hin, weit entfernt von ihren Eltern in einem Heim in unserer Nähe unter. Ruth hat mir ihren Geburtsort nie verraten, doch ich hörte an ihrer Sprache, dass sie eher aus dem Norden Deutschlands stammte. Als sie in meine Klasse kam, besetzte sie sofort meinen Platz als Sonderling. Erst genoss ich es, dann tat sie mir leid. Schließlich freundeten wir uns an und schlossen gemeinsam die Realschule ab. Und während ich seither vor mich hin dümpelte, wurde sie eine erfolgreiche Werbekauffrau und widmete sich, als späte Rache an ihren Eltern, der Esoterik und der freien Liebe.

»Herzlichen Glückwunsch zur Schnapszahl, Ruth!«

»33, ach Gott, 33 schon.« Sie seufzte schwer.

»Eine junge und zielorientierte Frau!«

Sie schmunzelte. »Na ja, es geht.«

»Eure Werbeagentur läuft doch prima!

»Ich kann reden, mehr nicht.«

»Apropos, was machen deine anderen Kunden?«

»Es sind keine Kunden, nur Menschen, die einen Rat brauchen.« Ruth verteilte die Tomatensoße über dem Teig. »Ich nutze meine Fähigkeiten. Außerdem verlange ich nicht viel. Jeder gibt, was er möchte.«

»Was siehst du da eigentlich? In den Händen, den Karten und was du sonst noch machst?«

»Ihr Inneres! Die Zukunft!« Melodramatisch wedelte sie eine Zucchinischeibe durch die Luft. »Die Leute sind süchtig nach Zukunftsvisionen. Und nach Erklärungen ihres Daseins. Das Vokabular meiner Prophetien entnehme ich dem reichhaltigen Schatz meiner Kindheit, dann siebe ich es ein wenig und voilà, entsteht eine perfekte Heilsberatung. «

Ich schwieg. Diese Menschen taten mir leid. Sie suchten nach Antworten und vertrauten sich so jemandem wie Ruth an. Ob sie wussten, dass Ruth in einer Werbeagentur arbeitete? Dass sie es gelernt hatte, Leuten etwas aufzuquatschen? Ihnen Ammenmärchen zu erzählen? Als ich Ruth das erste Mal in ihrer Verkleidung gesehen hatte, war ich fassungslos gewesen. Roter Lippenstift, dicker Goldschmuck und ein orientalischer Umhang. Wie blöd war die Menschheit, dass sie auf diese billige Maskerade hereinfiel? Auf die Show, die sie abzog? Ruth praktizierte ihren Hokuspokus in einem verborgenen Hexenschuppen in der Stadt. 'Lebensberatung‘, stand an der Tür. Es war ein Club der Verschwiegenen. Man nahm ihre Hilfe an und sprach nicht darüber. Empfahl sie hinter vorgehaltener Hand. Ruth erschien mir manchmal wie eine Drogendealerin.

»Ich lüge sie nicht an!«, sagte Ruth, die mein Schweigen richtig gedeutet hatte. »Ich spüre wirklich etwas!«

»Ich hab dir einen Qualitäts-Wein mitgebracht«, lenkte ich ab.

Ruth sah kurz zu den Flaschen, dann klatschte sie die Champignons auf die Pizza.

»Hast du auch schon Vodoo versucht?«

»Nein, aber Seancen.«

»Geisterbeschwörung? Tischerücken und so was?« Ich grinste.

»Hör endlich auf damit, Nele! Du hast kein ...«

»Was habe ich nicht?«

Ruth wandte sich um und sah mich scharf an. »Dir fehlt jegliches Einfühlungsvermögen, weißt du das?« Sie seufzte schwer. »Du kommst mir manchmal vor wie ...« Sie suchte nach einem Vergleich, ihr Blick fiel auf einen chaotischen Haufen der Anrichte. »Ein Hustenbonbon.«

»Ein Hustenbonbon?«, wiederholte ich erheitert.

Mit der Packung Käse in der Hand holte sie zu einer Erklärung aus: »Ja, du kommst mir vor wie eines von diesen Lutschbonbons. Innen eine weichen Füllung, außen hart und manchmal ungenießbar. Spürst du eigentlich nicht, wie sehr du versuchst, deinen Kern zu verbergen? Du hast ihn immer vor mir verborgen!«

Ich schwieg. So ein blöder Vergleich. Was für eine erbärmliche Hexe sie doch war. »Ist schon gut. Ich wollte dich nicht provozieren.«

»Ich bin nicht blöd. Ich weiß genau, dass du nichts von meiner Gabe hältst.«

»Nicht viel«, gestand ich ehrlich.

»Dann höre mir jetzt gut zu!« Sie schaltete den Backofen aus, sah mich durchdringend an und sagte mit leise Stimme: »Ich sehe, dass dein Geist unruhig ist. Er wandert. Dich beschäftigt etwas.«

»Das tut mein Geist immer«, sagte ich.

»Sei still!«, fuhr sie mich an. Dann holte sie tief Luft, schloss die Augen, öffnete sie wieder und sagte: »Du trägst etwas bei dir! Etwas, das dir wichtig ist.«

Den Wein, wollte ich sagen, dann fiel mir der Glasstein ein.

Triumphierend sah sie auf mich herab. Mein Blick musste eindeutig gewesen sein. »Gib es mir!«

Scheu zog ich den Glasring aus dem Pulloverausschnitt. Seit ich ihn gefunden hatte, trug ich ihn an einem Lederband um den Hals.

Sie griff danach.

Ich zuckte zurück.

»Jetzt gib schon her. Es ist nicht der eine Ring!«

»Mein Eigen! Mein Schaaatz«, zitierte ich Gollum. Widerstrebend schüttelte ich meine irrationale Empfindung ab und überreichte Ruth mein Fundstück.

Sie betrachte den Glasstein lange. Und ich betrachtete sie. Ruth und ich hätten nicht unterschiedlicher sein können. Sie rundlich und klein - ich einen Kopf größer und schlank. Ihre krausen Haare blond mit einem rötlichen Stich - meine Haare tiefschwarz. Sie trug die Haare offen - ich meistens zum dicken Zopf gebunden. Sie war immer in Bewegung - ich neigte zum Starren und Träumen. Dickes Wiesel trifft träge vor sich hin starrenden Raben.

»Mach Salat oder schau aus dem Fenster«, befahl Ruth. »Deine Blicke stören mich. Ich brauche Ruhe dazu. Ich gehe besser ins Wohnzimmer.«

Während ich Gurken schälte, sah ich sie vor mir sitzen. Mit dem Stein an der Stirn oder am Herzen. Völlig konzentriert auf dieses Objekt. Obwohl ich es für Humbug hielt, erhoffte ich von ihrer magischen Inszenierung eine Antwort. Ich nahm mir ein Messer und begann zu schnibbeln. Ruths Worte hatten mich getroffen. Der Vergleich mit einem Hustenbonbon mochte hinken, aber war meine Schale wirklich so hart? Und was wollte ich darunter verbergen?

»Ist er alt?«, fragte ich Ruth, als sie zurückkam.

Sie seufzte dramatisch. »Ich bin kein Archäologe. Ich habe keine Ahnung, wie alt er ist, obwohl … nein, eigentlich weiß ich es nicht.« Sie ließ sich mir gegenüber nieder und hielt mir die Glasperle hin.

Ich nahm sie und verschloss sie in meiner Hand.

»Was empfindest du?«, fragte sie mich.

»Ich? Du bist die Hexe!«

»Sag, was dir durch den Kopf geht. Und lass dir Zeit!«

Gehorsam schloss ich die Augen und versuchte zu spüren. Dann öffnete ich meine Faust wieder. »Er ist aus Glas, nicht ganz glatt, die Linien eher per Hand als maschinell eingearbeitet. Ich denke er hat ein gewisses Alter.«

Ruth antwortete nicht.

»Du weißt, dass ich mit dem ganzen esoterischen Getue nichts anfangen kann«, verteidigte ich mich. Es war eine glatte Lüge. Seit jeher empfand ich Einiges, das über das sogenannte Normale hinausging. Nur redete ich nicht gerne darüber. Ich verbarg es lieber in mir. Wahrscheinlich, weil es mir zu kostbar war.

»Ich weiß«, sagte Ruth. Du bist ein Erdtyp. Null Gespür für das Magische. Niente!«

Ich zuckte mit den Schultern und versuchte mich unter Ruths Blick zu entspannen, mich auf das Glasstück einzulassen und ehrlicher zu antworten. »Ich mag ihn. Er ist schön und warm. Von Anfang an hat er sich warm angefühlt. Und gleichzeitig macht er mir irgendwie Angst. Ich fürchte mich vor ihm. Und vielleicht auch vor dem Hügel ihm Wald, in dem ich ihn gefunden habe.«

»Er macht dir Angst?«

»Nicht direkt. Eher ein Schauer.«

»Sonst nichts?«

'Trauer', dachte ich. 'Der Glasstein macht mich traurig. Und er berührt mich. Zutiefst!' Doch ich sprach es nicht aus, sondern fragte stattdessen: »Und du? Was hast du gesehen, Ruth? Gespürt?«

»Dich. Ich sah und empfand dich in diesem Glas-Stein.«

»Mich? Was soll das heißen?«

»Ich habe keine Erklärung dafür, Nele. Gar keine! Die musst du selber finden. Das einzige, was ich spüre ist, dass er in irgendeiner Weise zu dir gehört. Und noch was, Nele. Es war wie ein Windhauch. Ein kurzer Schatten, der durch meinen Geist gehuscht ist. Etwas oder jemand kommt näher! Vielleicht ist deine Angst ja nicht unbegründet.«

Mein Traum fiel mir ein und ich offenbarte ihn ihr: »Ich habe von einem Hirsch geträumt. Davon, dass er mein totes Herz aufgespießt hat.«

»Der Hirsch ist ein wildes und weises Tier«, erwiderte Ruth.

»Er hat es aus meiner Brust gerissen und mit sich genommen.«

»Mmmmhh.«

»Keine Erklärung?«

»Vielleicht später«, schloss sie das Gespräch ab und schaltete den Ofen wieder ein. »Lass uns die Pizza fertig machen. Gut, dass du eine zweite Flasche Wein mitgebracht hast!«

Der Montag war regnerisch, wenige Kunden verirrten sich in den Blumenladen. Mit wärmenden Teetassen in den Händen lehnten meine Kollegin Rosa und ich an unserem großen Arbeitstisch. Ursprünglich hatte ich niemanden von meinem Waldausflug erzählen wollten, aber nachdem ich schon Ruth etwas gesagt hatte, war es eh egal. So erzählte ich Rosa nicht nur vom Hügel, sondern auch von den Geräuschen und dem Lachen, das ich gehört hatte. Was für ein Fehler! Rosa war Anfang sechzig und fühlte sich seit dem Tod meiner Eltern dazu berufen, deren Rolle einzunehmen. Unter der Androhung, mir nie mehr die nervigen Kundinnen, diese »damischen Drutschn«, abzunehmen, beschwor sie mich, Märsche in die verlassenen Waldtiefen für immer und ewig zu unterlassen. Ihre Angst verunsicherte mich derart, dass ich mir am Ende einredete, bereits alles gefunden zu haben. Die Geräusche, das Lachen bauschte ich zu einer realen Verfolgung auf. Was für ein elender Feigling ich doch war. Abenteuer wie Humboldt sie erlebt hatte, würden für mich immer Science Fiction bleiben. Bloß nichts riskieren, sondern alle Ängste wichtig nehmen und darin versinken. Ich verachtete mich dafür.

Die Tage vergingen, der erste Schnee fiel und das laufende Weihnachtsgeschäft ließ mich alles andere vergessen. Zwischen den Feiertagen blieb unsere ‚Blumen-Boutique‘ offen. Meine Chefin machte nie Urlaub und sie erwartete das auch von uns. Artig widmete ich mich meinem opportunen Leben, steckte Plastikdekoration und Glitzer zwischen Blüten und Moos, drückte Schneeglöckchen in Gläser, band Sträuße aus Osterglocken und Hyazinthen, warf lebende Pflanzen in den Müll, nur weil sie nicht mehr den Ansprüchen der Kunden entsprachen. Ich bemühte mich wirklich! Bis zu diesem sonnigen Samstag im März, als Ruth erschien und mir verkündete, einen Ausflug mit mir machen zu wollen. Sie trug Jeans und eine alte Jacke und hatte einen großen Rucksack auf dem Rücken.

»Schaufel dabei?«, fragte ich.

»Außerdem eine Thermoskanne Kaffee und Rührkuchen.«

Ein kühler Wind wehte von Osten, als wir den Forstweg entlang marschierten. Am vermoderten Kruzifix bog ich in den kleinen Pfad, Ruth folgte mir. Wir überquerten die Lichtung und kämpften uns hinein in die Hügel und Senken des wild wuchernden Waldes. Es war Frühjahr, der Schnee war endlich geschmolzen, Baumtriebe, Farne, Lerchensporn und Leberblümchen schoben sich aus dem Boden, es roch würzig unter unseren Füßen, über uns jubilierte ein vielstimmiger Chor von Waldvögeln. Der Weg war lang und je weiter wir gingen, umso mehr änderte sich das Wetter. Der Wind frischte auf, die Bäume rauschten über unseren Köpfen. Als in der Nähe ein Ast zu Boden krachte, wurde uns klar, wie gefährlich es war, bei solchen Windböen durch den Wald zu gehen.

»Vielleicht sollten wir umkehren«, sagte Ruth. »Es war ja nur so ein blöder Einfall von mir, weil ich diesen Erdhügel mal sehen wollte.«

Ich blieb stehen und während ich ihrem unsicheren Blick begegnete, kam mir ihre Furcht auf einmal lächerlich und klein vor. Jegliche Furcht! Die ständige Angst davor, dass etwas geschehen konnte. Die Angst anzuecken und etwas Falsches zu tun. Die Furcht vor einem Unfall oder sogar vor dem Tod. Diese unfassbare und irrationale Angst, die mich so oft davon abgehalten hatte, genau das zu tun, was ich tun wollte. Ich zog meinen Anhänger heraus, schloss meine Faust um den Glasstein und sagte entschlossen: »Lass es uns einfach tun!«

So gingen wir weiter und fast unmerklich ließ der Wind nach.

»Wow, ist das hier abgelegen!«, bemerkte Ruth beeindruckt, als wir den Hügel erreicht hatten. »Ich frage mich ernsthaft, wie du hierher gefunden hast?«

»Magie!«, sagte ich mit dramatischer Stimme und lies mich auf einem Baumstamm nieder. Der starke Sturm, der im Januar über das Land gefegt war, mochte ihn gefällt haben. Ein Teil seiner Wurzeln steckte noch in der Erde, einer seiner Äste war dicht neben dem Hügel mit der Eibe niedergeschlagen. Der Hügel, auf dem die Eibe stand, hatte sich verändert: Jetzt war er saftig grün, Bärlauch, fein duftende Buschwindröschen und andere Triebe drängten zum Licht. Über uns begrüßten die Spechte trommelnd das aufblühende Jahr.

Ruth holte ihre Schaufel aus dem Rucksack, stieg auf den Hügel und sah in das Loch. »Weit bist du nicht gekommen.« Übergangslos begann sie damit, zu graben. Ich sah ihr zu und merkte, dass ich mich darüber ärgerte, dass sie hier war und mein Geheimnis kannte.

Am Mittag machten wir Pause auf dem Baumstamm, tranken Kaffee und aßen Kuchen.

»Was hoffst du hier eigentlich zu finden?«, fragte Ruth.

»Ich weiß es nicht. Es war eine komische Ahnung.«

Ruth nahm einen weiteren Schluck Kaffee und musterte den Hügel. »Er schaut merkwürdig aus, findest du nicht? Aber wahrscheinlich haben sich nur Äste und Schlamm an dieser Stelle gefangen, dann ist der Baum darauf gewachsen und der Bach ist weiter drum herum geflossen. Vielleicht ein alter Abfallhügel.«

»Mitten im Wald?«

»Es kann ja sein, dass hier früher ein Hof gestanden ist.«

»Hier? Das glaub ich nicht. Ich habe in alte Karten im Internet geschaut.«

»Du hast nachgeforscht? Das hast du mir gar nicht erzählt.«

»Karten aus dem 18. Jahrhundert. Jedenfalls war hier nichts. Hier war schon immer Wald.«

»Mmmh.«

»Ruth?«

»Ja?«

»Hast du noch was in dem Stein gespürt? Hilfst du mir deswegen?«

Ruth verstaute die Flasche, sah mich an und nickte: »Ich habe die Geistwesen gerufen und sie danach gefragt.«

»Geister?«, fragte ich argwöhnisch.

»Als du weg warst. Und dabei hab ich wieder diesen dunklen Schatten gesehen. Ganz nahe! Deswegen helfe ich dir. Seit du mir die Perle gezeigt hast, habe ich Angst, Nele. Und ich weiß nicht, wovor.«

Wir hatten etwa einen halben Meter tiefer gegraben, als wir auf einen Wall aus Granitplatten stießen.

»Hausreste?«, überlegte ich. »Vielleicht ist hier früher doch eine Hütte gestanden. Einsam im Wald.«

Ruth rüttelte an den Steinen. »Wir brauchen ein Stemmeisen!«

»Du willst weitergraben? Wahrscheinlich nur ein Haufen Steine.« Ich versuchte Überzeugung in meine Stimme zu legen, doch es gelang mir nicht. Mir war übel vor Erregung. Ich spürte, dass in diesem Hügel etwas wartete und dass erst, wenn ich es gefunden hatte, meine Rastlosigkeit enden würde. Fast schien es mir, als würde mein Seelenheil unter diesen Steinen begraben liegen.

Ruth ließ sich erschöpft auf dem Baumstamm nieder. Ihren kleinen Spaten in der Hand, starrte sie auf unser Ausgrabungsergebnis. Ich setzte mich neben sie.

Wenn ich an diesen stillen Moment zurückdenke, erscheint es mir wie der Wendepunkt unserer Freundschaft. Diese Minuten des gemeinsamen Schweigens, in denen ich empfand, dass sich etwas verändert hatte, dass der Fund unser Schicksal berührte. Ich weiß nicht, wie Ruth es erlebte, ich habe nie mit ihr darüber gesprochen. Doch selbst heute noch, meine ich nicht nur diese Distanz zu Ruth zu spüren, sondern auch den Aufruhr meiner Gefühle: Als ich zum Hügel schaute, wurde mir übel vor Trauer und Schmerz! Er zerriss mein Herz, es war kaum zu ertragen. Damals wusste ich noch nicht, um wen ich trauerte. Wen ich vermisste. Nach wem ich mich derart sehnte, dass ich meinte, mein Herz würde sterben.

»Nun denn«, unterbrach Ruth das Schweigen und erhob sich vom Baumstamm. »Ich denke, ich gehe jetzt erst einmal heim. Morgen leihe ich mir bei meinem Nachbarn ein großes Stemmeisen. Und dann grabe ich aus, was hier verborgen liegt.«

»Wir«, verbesserte ich sie.

»Wir!« Sie sah auf und entschuldigte sich mit einer Umarmung. »Wir! Sicher! Gemeinsam sind wir stark? Nicht wahr, Nele?«

Es war, als ob eine Fremde zu mir sprach. Eine Feindin mich umarmte. Was war nur los mit mir? Mit Ruth? Was geschah hier?

»Sollten wir es nicht eher ruhen lassen, Ruth? Mir ist plötzlich nicht mehr wohl bei dem Ganzen.«

»Die feige Nele«, spöttelte sie.

»Gut! Ich bringe den Hammer mit!«

Das Wetter hatte sich über Nacht völlig geändert. Die Luft war schwül, wie vor einem Gewitter. Der Himmel trüb, die Bäume milchig, der ganze Wald wirkte wie ein surrealer Traum. Selbst die Frühlingsvögel hielten sich zurück, ihr Gesang war leiser geworden, als fragten sie sich, ob es sich lohne in einer solch undurchsichtigen Welt zu balzen und Nachkommen in sie zu setzen. Wie Spukgestalten huschten Ruth und ich durch den Wald. Erst der feuchte Geruch der Erde und die Anstrengung des Grabens brachten mich in die Wirklichkeit zurück. Ein Loch in dem Verbund der Granitsteine zu schaffen, kostete mehrere Stunden Arbeit. Zentimeterweise stemmten wir sie mit dem Stemmeisen nach oben.

Unter den Steinen kam lehmiger Boden zutage, in dem mürbe Fragmente verrotteten Holzes steckten. Keine Äste oder Wurzeln, sondern schwarze Reste von geschlagenen Brettern und Hölzern. Die Last der Granitsteine hatte sie wahrscheinlich irgendwann eingedrückt. War das ein Viehstall mit einer Holzdecke gewesen? Aber warum befanden sich dann Steine über dem Holz? Während ich vorsichtig tiefer grub, suchte ich nach Antworten, nach einer einfachen Lösung. Im Innersten jedoch ahnte ich längst, was wir finden würden. Als meine Finger ein kleines Loch unter einem langen, quer liegenden Brett ertasteten, griff ich hinein und fühlte etwas Festes, Raues.

»Pack an!«, wies ich Ruth an.

Unendlich achtsam hoben wir das morsche Holzbrett zur Seite. Es zerbröselte unter unseren Fingern. Zum Vorschein kam ein Schädel. Er war zur Seite gedreht, unter dem Kopf waren noch einige Fragmente von Wirbeln zu erkennen. Der Rest des Körpers verschwand im lehmigen Boden. Der Schädel schien alt zu sein, er war dunkel wie die Erde selbst. Einige Zähne steckten noch im Kiefer, andere waren verschwunden. Ruth und ich knieten am Rande des Loches im Dreck und starrten auf unseren Fund. Ich war nicht erschüttert, eher erleichtert. Längst hatte ich gespürt, dass der Hügel ein Grab war. Ich beugte mich tiefer und betrachtete es genauer. Wie alt mochte dieses Skelett sein? Wie lange ruhte dieser Mensch schon hier? Ruth holte eine Taschenlampe aus ihrem Rucksack und begann routiniert, den Schädel zu untersuchen. Ohne Scheu wischte sie über die Schädeldecke.

»Schau!«, sagte sie und wies mich auf den langen Spalt hin.

Das war keine Bruchstelle, das war eine Verletzung. Dieser Mensch war möglicherweise erschlagen worden. Mit einer Axt. Oder einem Schwert. Kurz danach entdeckten wir ein kleines Seil, ein fast vermodertes Band aus Hanf oder Leder, das wie eine Kette über den Halswirbeln lag.

---ENDE DER LESEPROBE---