In dir lebt das Kind, das du warst - Whitney Hugh Missildine - E-Book

In dir lebt das Kind, das du warst E-Book

Whitney Hugh Missildine

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Beschreibung

Entdecken Sie Ihr Inneres Kind - Seit Jahren bewährt, in neuer Übersetzung Viele Menschen leiden unter seelischem Druck und Störungen, weil sie sich von den Verhaltensweisen ihrer Kindheit nicht freimachen können. Sie reagieren immer noch wie damals, wie das Kind, das sie einmal gewesen sind. Und das kann als Erwachsener fatal sein. Missildine hilft uns zu erkennen, welche grundlegenden Verhaltensmuster wir in unserer Kindheit ausgebildet haben und welche Schritte wir unternehmen können, um unsere heutigen störenden Belastungen abzubauen. Ob es uns gefällt oder nicht: In vielen Dingen sind wir immer noch das Kind von früher und handeln dementsprechend. Verhaltensweisen, die wir damals z.B. als ängstliches, streng erzogenes oder verwöhntes Kind gelernt haben, können als Erwachsener kontraproduktiv sein. Der Autor hilft uns zu verstehen, wie sich diese Einflüsse der Kindheit im Erwachsenenalter fortsetzen und wie wir uns angemessen mit dem inneren Kind von früher auseinandersetzen können. Denn nur wenn wir unser Inneres Kind erkennen und uns von dessen Verhaltensmustern freimachen, können wir unsere Probleme wie Erwachsene lösen. Solche Verhaltensweisen aus der Kindheit sind oft Reaktionen auf erzieherische Fehlleistungen unserer Eltern. Das zu erkennen kann uns helfen, diese Fehler bei unseren eigenen Kindern nicht zu wiederholen.

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Seitenzahl: 501

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WHITNEY HUGH MISSILDINE

In dir lebt das Kind, das du warst

Seelische Belastungen bewältigen

Aus dem Englischen von Kurt Neff

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Your Inner Child of the Past«

im Verlag Simon and Schuster, New York

© 1963 by Hugh Missildine

Für die deutsche Ausgabe

© J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659,

Stuttgart 1976/2018

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © shutterstock/Oliver Hitchen 2018

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96300-7

E-Book: ISBN 978-3-608-11503-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

I. TeilErkennen Sie Ihr inneres Kind und akzeptieren Sie es

1 Wer ist das, Ihr inneres Kind von früher?

2 Warum Ihre Gefühle Ihnen manchmal im Weg stehen

3 Wie das innere Kind Einfluss auf das Leben des Erwachsenen nimmt

4 Unsere Einstellung zur Kindheit ist entscheidend

5 Wenn das innere Kind das Ruder übernimmt

6 Sind Sie uneins mit sich selbst?

7 Zur Ehe gehören vier

8 Konflikte: Geld, Sexualität, Vergnügen

9 Was für ein Kind sind Sie gewesen?

II. TeilElterliche Einstellungen – und welchen Einfluss diese noch heute auf Sie haben können

10 Perfektionismus – Wenn Sie alles immer noch besser machen müssen

11 Übertriebene Gängelung – Wenn Sie das Trödeln nicht lassen können

12 Übertriebene Nachlässigkeit – Wenn Sie fordernd und impulsiv sind

13 Übertriebene Verwöhnung – Wenn Sie gelangweilt sind und nicht »dranbleiben« können

14 Hypochondrie – Wenn Sie sich ständig um Ihre Gesundheit sorgen

15 Bestrafungseifer – Wenn Sie fortwährend Rache nehmen wollen für Ihre Erlebnisse von früher

16 Vernachlässigung – Wenn Sie meinen, dass Sie nicht dazugehören oder nicht dazugehören können

17 Ablehnung – Wenn Sie in quälender Selbstisolation gefangen sind

18 Sexuelle Stimulierung – Wenn Sie die Rolle der Sexualität verkennen

III. TeilSich selbst und das eigene Leben ändern

19 Wie Sie für sich selbst neue Wege einschlagen

Vorwort

Dieses Buch möchte Sie so weit wie nötig über Sie selbst aufklären, damit Sie im Umgang mit sich selbst und anderen ein erfüllteres und freieres – auch sorgenfreieres – Leben führen können. Ihnen Aufklärung über sich selbst zu geben, ist wahrlich nicht einfach, denn wer wüsste schon ganz genau über Sie Bescheid? Die Wahrheit ist ein schwer zu erjagendes Wild, besonders wenn es um menschliches Fühlen und Verhalten geht; um es mit dem Apostel Paulus zu sagen: »Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse« (1 Kor 13,12).

Wollte ich hier die ganze Wahrheit über Sie niederschreiben, müsste ich lange Jahre warten, bis Hunderte Wissenschaftler mir die Resultate Tausender Experimente geliefert hätten. Und selbst im Spiegel dieser Versuchsergebnisse würden wir wahrscheinlich »nur rätselhafte Umrisse« erkennen. Darum enthält dieses Buch von der Wahrheit über Sie gerade so viel, wie mir derzeit erreichbar ist. Wir wissen also wenig. Aber dies Wenige reicht, um Ihnen zu besserer Einsicht in die Natur der Störungen Ihres Gefühlslebens und zu einem besser entsprechenden Umgang mit ihnen zu verhelfen. In unserer Zeit leiden wir alle zu sehr an Seelenproblemen der einen oder anderen Art. Da können wir nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisfortschritte warten, sondern müssen schleunigst handeln und aus den Kenntnissen, die wir haben, praktischen Nutzen ziehen.

In diesem Buch treten viele meiner Patienten auf. Um ihre Anonymität zu wahren, habe ich die Fallgeschichten leicht bearbeitet, und dabei habe ich sie hoffentlich in einer Form wiedergegeben, welche den Protagonisten ihre Würde belässt. Ich bin diesen Menschen dankbar, dass sie uns die Chance geben, aus ihrem Beispiel zu lernen.

Danken möchte ich auch Harry Henderson, der meinen gerüstartigen Ausführungen eine vollendete Gestalt gegeben hat.

Meine Hoffnung geht dahin, dass Sie in diesem Buch sich selbst begegnen und im Ergebnis dieser Begegnung, und sei es auch nur ansatzweise, ein Stück Selbstachtung hinzugewinnen.

W. Hugh Missildine

I. TeilErkennen Sie Ihr inneres Kind und akzeptieren Sie es

1Wer ist das, Ihr inneres Kind von früher?

In Ihnen lebt noch immer das Kind, das Sie einmal waren

Es war einmal – wann und wo auch immer es gewesen sein mag – es war einmal ein Kind, und dieses Kind waren Sie. Das ist eine Binsenwahrheit: der scheinbar belanglose, daher oft und scheinbar auch zu Recht vergessene Generalnenner alles Erwachsenenlebens. Dass Sie einst ein Kind waren, ist jedoch von großem Belang für Ihr Leben heute. In dem Bemühen, unsere Rolle als »Erwachsene« zu erfüllen, leisten wir uns den Fehler, von unseren Kindheitserlebnissen nichts wissen zu wollen, die Kindheit überhaupt als quantité négligeable zu behandeln und sie bei Betrachtungen, die wir über uns selbst oder über andere anstellen, außer acht zu lassen. Das ist die primäre Ursache einer Menge Kummer und Elend des erwachsenen Menschen, denn wir tun uns damit selbst eine schlechte Behandlung an.

Ob Sie gegenwärtig reich oder arm sind, ob glücklich und zufrieden mit Ihrem Los oder enttäuscht und verbittert, ob Haus- oder Karrierefrau, verheiratet oder geschieden, ob Gefängnisinsasse oder Eigenheimbewohner, einerlei – Ihre Kindheit und das Kind, das Sie einstmals waren, sind nicht Teile Ihres Lebens, die weit hinter Ihnen liegen. In diesem Augenblick ist Ihre Kindheit in Ihnen gegenwärtig. Sie wirkt sich auf alles, was Sie tun, alles, was Sie fühlen, aus.

Aus der Kindheit übernommene Gefühle und Einstellungen beeinflussen, bestimmen und beherrschen Ihre Beziehungen zu Freunden, Kollegen, Ihrem Ehepartner und selbst zu Ihren Kindern. Sie können Ihre Arbeits- und Ihre Liebesfähigkeit beeinträchtigen. Diese Gefühle sind womöglich in erheblichem Grad an Ihrer Abgeschlagenheit, Ihrer Unfähigkeit, sich zu entspannen, Ihren lästigen Kopfschmerzen, Ihrem Reizmagen mit schuld.

Was geschah mit dem Kind, das Sie einst waren? Ist es verstorben? Hat es überlebt und wurde in die Rumpelkammer verbannt, zu den alten Spielsachen, Überschuhen und Schlitten? Wurde es ausgesetzt, verstoßen? Wurde es irgendwann vom Dunkel der Vergangenheit verschluckt und schließlich vergessen?

Problembehaftete Einstellungen

Meine Position als Kinderpsychotherapeut, der beobachten kann, welche Gefühle sowohl Kinder als auch Erwachsene bei der Auseinandersetzung mit ihren Problemen entwickeln, erlaubt es mir, am Erwachsenen zu erkennen, was mit dem Kind, das er einst war, geschehen ist. Nicht selten nehme ich am Kind bereits das Aufkeimen problemträchtiger Einstellungen wahr. Sie erwachsen aus der Auseinandersetzung des Kindes mit den häufig unvernünftigen Einstellungen und maßlosen Anforderungen, mit denen seine Eltern, die allerwichtigsten Personen in seinem Leben, es konfrontieren. Das Endergebnis dieser kindlichen Reaktionsformen begegnet mir dann im Erwachsenen – Vereinsamung, neurotische Besorgtheit, Probleme mit der Sexualität, Depression, Ängste, Zwietracht in der Ehe und zwanghaftes Erfolgsstreben.

Das Kind, das Sie gewesen sind, lebt in der Haut des Erwachsenen, der Sie heute sind, weiter. Statt »es lebt dort weiter« würde man manchmal vielleicht besser sagen »es lärmt dort weiter«, denn oft ist dieses »innere Kind aus der Vergangenheit« ein lauter Maulheld und Lümmel, der sich Hals über Kopf in jedes Vergnügen stürzt, aber sich mit faulen Ausreden um alles herumdrückt, was ihm keinen Spaß macht, ein Filou, der das Leben anderer aus dem Lot und aus den Fugen bringt. Möglicherweise ist dieses Kind aber auch der ängstliche, zaghafte, schüchterne Teil Ihrer Persönlichkeit.

Ob es uns gefällt oder nicht, wir sind beides zugleich: das frühere Kind, das in der Gefühlswelt der Vergangenheit lebt und sich häufig in unser gegenwärtiges Leben einmischt, und ein erwachsener Mensch, der die Vergangenheit zu vergessen und ganz in der Gegenwart zu leben versucht. Das Kind, das Sie gewesen sind, kann es Ihnen erschweren oder unmöglich machen, im Erwachsenenleben zu Erfüllung und Zufriedenheit zu gelangen, kann Ihnen Knüppel zwischen die Beine werfen, Sie den letzten Nerv kosten und ganz krank machen – es kann aber auch Ihr Leben bereichern.

Wie gehen Sie mit Ihrem »inneren Kind aus der Vergangenheit« um?

Auf die eine oder andere Weise gehen Sie schon längst mit Ihrem »inneren Kind aus der Vergangenheit« um – ein Sachverhalt, der hinter vielen Ihrer Probleme steckt. Praktisch von der Adoleszenzphase an hat sich jeder von uns mit dem »Kind, das er war«, auseinanderzusetzen. Aber weil wir nicht begriffen haben, wie Kindheitseinflüsse im erwachsenen Menschen weiterwirken, arbeiten wir uns nutzlos ab und fördern unsere Frustrationen.

Die meisten Menschen wollen ihre kindlichen Gefühle mit der Wurzel ausrotten. Wir verleugnen sie, achten nicht auf sie, schieben sie beiseite und »überwinden« sie, nachdem wir uns ihretwegen selbst »kindisch« gescholten und als nicht »erwachsen« genug heruntergeputzt haben. Aber alles, was wir da vorhaben, ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn es steht in direktem Konflikt mit der Art und Weise, wie sich das Gefühlsleben des Menschen seiner Natur nach entwickelt.

Wären Sie in die Auseinandersetzung mit Ihrem »inneren Kind aus der Vergangenheit« gar nicht erst eingetreten, würden Sie nicht in innere Konflikte geraten und hätten weder Kummer noch Seelenprobleme. Es gibt Menschen, die befinden sich in genau dieser Verfassung. Sie überlassen in ihrem Erwachsenendasein das Ruder dem »Kind von früher« – was unvermeidlicherweise ernste Konflikte mit den Mitmenschen und vielfach auch mit der Gesellschaft nach sich zieht. So hat ein Kind beispielsweise keinen Begriff von Privateigentum; was immer sein Interesse weckt, es nimmt es sich. Wer diese Praxis im Erwachsenenleben fortsetzt, wird hinter Gittern landen.

Die Bedürfnisse des »Kindes, das Sie gewesen sind« zu erkennen und anzuerkennen, bedeutet für Sie nicht, sich kindlichem Verhalten, kindlicher Impulsivität oder kindlichen Wutanfällen zu überlassen. Dem »inneren Kind« müssen Schranken gesetzt werden – ganz ähnlich wie einem Kind zu seinem Schutz von den Eltern einschränkende Bedingungen für das Überqueren von Straßen diktiert werden.

Ein ernst zu nehmendes Problem

Der Konflikt zwischen dem »inneren Kind« und dem Erwachsenen in der Gegenwart verursacht so schwere emotionale Beeinträchtigungen, dass sich seinetwegen fast ein Zehntel der US-Bürger teils in psychiatrischen Kliniken, teils in Krankenhäusern, teils bei niedergelassenen Ärzten in Behandlung befindet. Im Rest der Bevölkerung schafft sich dieser Konflikt größtenteils in körperlichen Symptomen Ausdruck. Während ungefähr 30 bis 50 Prozent der Zeit, die er seinen Patienten widmet, hat es ein praktizierender Psychotherapeut mit Beschwerden zu tun, die in emotionalen Problemen wurzeln. Alljährlich fließen so Millionen Dollar in die Behandlung solcher Leiden ein, ohne dass damit etwas erreicht würde, denn die emotionalen Wurzeln der Beschwerden bleiben unerkannt und unbehandelt.

Die Probleme, über die wir in diesem Buch sprechen werden, zählen jedoch meistens nicht zu der Sorte, die so tiefgreifende seelische Störungen verursacht, dass die Betroffenen eine psychologische Behandlung nötig haben. Es sind Probleme, die im Alltag gewöhnlicher Menschen auftreten – und zu deren Lösung wir eine Menge aus eigener Kraft unternehmen können, sobald wir ihre Ursachen kennen und wissen, wie wir mit ihnen umzugehen haben.

Seelennot, Erschöpfungssyndrom, Vereinsamung, innere Leere – zu einem großen Teil ließe sich das alles ausräumen, wenn die Menschen mehr Sinn für ein harmonisches Zusammenleben mit ihrem »inneren Kind aus der Vergangenheit« hätten. Dann könnten Verheiratete besser aufeinander eingehen. Eltern könnten ihre Kinder erziehen, ohne sie mit jenen Einstellungen zu konfrontieren, die den Stoff zukünftiger Probleme darstellen. Dieses Buch will dem Leser in verständlicher Sprache sowohl ein Grundwissen über die Primärursachen emotionaler Störungen vermitteln als auch Mittel und Wege aufzeigen, diese Ursachen abzustellen.

Drei zentrale Konzepte

Sie werden in diesem Buch drei zentralen Konzepten begegnen. Sie sind aus meinen persönlichen Erfahrungen erwachsen, Erfahrungen, die ich zunächst als Arzt, dann als Kinderpsychotherapeut, der mit Kindern und ihren Eltern arbeitet, und schließlich als Dozent für Psychiatrie und Psychotherapie bei der Arbeit mit Medizinstudenten und jungen Ärzten habe sammeln können.

Diese Konzepte sind:

Ihr »inneres Kind von früher«

– sprich: das Kind, das Sie einst waren und das in Ihrem Erwachsenendasein weiterlebt

die

Elternrolle gegenüber sich selbst

– dem »Kind von früher« gegenüber treten Sie bereits in der Elternrolle auf, und mit seinen Reaktionen auf Ihre elterlichen Einstellungen bringt es Sie oft in Schwierigkeiten

gegenseitiger Respekt

– ist die Basis, auf der Sie mit Ihrem »inneren Kind aus der Vergangenheit« und mit Ihren Mitmenschen auskommen.

Diese Konzepte entwickelte ich im Rahmen meiner psychotherapeutischen Tätigkeit in einem universitären Zentrum für die psychische Gesundheit von Kindern, wo ich vor der Aufgabe stand, Hunderten von problembelasteten Kindern und Eltern, die in die Klinik kamen, helfen zu sollen. Diese Menschen brauchten Hilfe, und sie brauchten sie schnell – eine Situation, wie sie überall im Land anzutreffen war.

Konzepte für jedermann

Meine Patienten waren meist ernste, hart arbeitende, oft über eine gute Allgemeinbildung verfügende, aber psychisch gestörte Eltern. Ich stellte fest, dass mit einer psychoanalytisch orientierten Therapie bei ihnen nicht viel zu machen war. Sie war nicht das Richtige für ihre Probleme. Sie funktionierte nicht, weil die Patienten entweder die Terminologie oder das theoretische Grundgerüst nicht verstanden – oder wenn sie dann etwas davon verstanden hatten, das Ganze häufig ablehnten. Vor allem aber kam die Therapie zu langsam voran und kostete zu viel Zeit. Angesichts der großen Zahl hilfesuchender Menschen drängte sich mir schließlich die Erkenntnis auf, dass eine andere Therapiemethode als die zeitraubenden psychoanalytisch inspirierten Verfahren gefunden werden musste. Auch schien es mir eine selbstverständliche Pflicht des Psychotherapeuten, jedem Patienten und jeder Patientin in vertrauter Sprache und geläufigen Begriffen eine Vorstellung vom Wie und Warum der ihn oder sie belastenden inneren Spannungen und Ängste zu vermitteln.

Also verabschiedete ich mich allmählich von den Konzepten der Freud’schen wie überhaupt jeglicher therapeutischen Orthodoxie und bemühte mich um ein begriffliches und gedankliches Instrumentarium, mit dem in Händen meine Patienten zu einem besseren Verständnis ihrer emotionalen Probleme und zu einem befriedigenderen Umgang mit ihnen kommen würden. Da ich sowohl mit Kindern als auch mit Erwachsenen arbeitete, konnte ich oft beobachten, wie das Kind mit den elterlichen Einstellungen rang – und ich konnte erkennen, dass der erwachsene Patient sich noch immer mit den Einstellungen seiner Eltern herumschlug, mit denen er aufgewachsen war und mit denen er sich noch immer selbst konfrontierte. Zwar stand nicht mehr die Autorität leibhaftig gegenwärtiger Eltern hinter ihm, aber sie hatten immer noch Macht über ihn – er reagierte auf sie, wie er es als Kind getan hatte. Aus diesen Wahrnehmungen erwuchs das Konzept des »inneren Kindes aus der Vergangenheit«, das im Erwachsenen weiterlebt.

Vom ersten Augenblick an, in dem ich die erwähnten drei Konzepte – inneres Kind aus der Vergangenheit; Elternrolle gegenüber sich selbst; gegenseitiger Respekt – in meiner psychotherapeutischen Arbeit anwandte, haben sie sich als eine große Hilfe für meine Patienten bewährt. Inzwischen sind sie seit Jahren in Gebrauch. Ich habe sie in meinen Lehrveranstaltungen weitergegeben und gesehen, wie sie mit Erfolg angewandt wurden. Viele Menschen haben in ihnen die Brücken zum besseren Verständnis ihrer Seelenot und zu einer Methode, ihr abzuhelfen, entdeckt. Erscheinen Ihnen Ihre eigenen Probleme schwerwiegend und haben Sie nach der Lektüre dieses Buches das Bedürfnis, mit einem Psychotherapeuten zu sprechen, werden Sie unter Umständen feststellen, dass das Buch Ihnen hilft, Ihr genaues Problem anzugeben.

Selbstverständlich sind Ihre Probleme mit der Lektüre des Buches nicht automatisch gelöst. Aber vielleicht sehen Sie sie dadurch in einem anderen Licht, das es Ihnen ermöglicht, sich dem wahren Grund Ihrer Einsamkeit, Ihrer Angst und Ihrer aufreibenden inneren Konflikte zuzuwenden.

Sie können hier lernen, sich selbst und Ihre Kindheit in einem neuen Licht zu sehen.

2Warum Ihre Gefühle Ihnen manchmal im Weg stehen

Unsere unvernünftigen Gefühle …

Unser ganzes Erwachsenenleben lang werden wir von unliebsamen Gefühlen heimgesucht, die uns unvernünftig vorkommen. Vielleicht erröten wir, wenn jemand unsere Kleidung bewundert oder uns ein Kompliment macht. Vielleicht finden wir, dass die Menschen, die uns lieben, uns das Leben vergällen. Ohne dass wir auch nur den Schatten eines Beweises hätten, kommt uns vielleicht der Verdacht, dass der Ladenbesitzer uns heute übers Ohr gehauen hat oder dass unser Nachbar hinter unserem Rücken schlecht über uns redet. Vielleicht ärgert es uns mächtig, wie beiläufig ein Kind das Geschenk von uns angenommen hat, das wir mit so viel Sorgfalt ausgesucht haben.

Solche irrationalen Gefühle sind uns oftmals peinlich und lösen Schuldgefühle in uns aus. Vielleicht lachen wir über eine Hiobsbotschaft, die jemand anders ereilt hat – und werfen uns im nächsten Moment unsere Gemeinheit vor. Vielleicht fühlen wir uns allen Ernstes auf den Schlips getreten, wenn ein Kind uns eine Grimasse schneidet. Es kann vorkommen, dass wir uns im Eifer, mit jemandem Freundschaft zu schließen, den wir bewundern, »den Mund verbrennen« und etwas sagen, wovon wir eigentlich wissen müssten, dass es die Freundschaft ein für allemal verhindern wird. Vielleicht haben wir lange auf ein Ereignis hin geplant und uns darauf gefreut, und wenn es dann stattfindet, erleben wir es in trauriger, gedrückter Stimmung. Und wer kennt nicht den scheinbar unerklärlichen stillen Seufzer des Bedauerns, der sich in unserem tiefsten Innern just in dem Augenblick entbindet, wo wir uns auf einem Höhepunkt von Glück und Zufriedenheit wissen?

Häufig sind unsere Gefühle so stark und so unerwünscht, so unrealistisch und unangemessen, dass wir sie zusammen mit dem inneren Unbehagen, das sie mit sich bringen, versuchen zu unterdrücken. Wir schämen uns solch problematischer Gefühle, nennen sie »dumm« und beschimpfen uns dafür.

Derlei Versuche, die eigenen Gefühle zu unterdrücken oder zu verleugnen, verstärken im Endeffekt unser Ungenügen an uns selbst. Selbstschelte nährt zudem das Gefühl, alleingelassen und isoliert zu sein. Solche Versuche, mit Ihren Gefühlen verachtungsvoll fertig zu werden, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie können nicht gegen sich selbst Position beziehen und dabei selbstsicher bleiben.

Unser Unvermögen, dieser inakzeptablen Gefühle Herr zu werden, kann in uns die Befürchtung wachrufen, wir seien im Grunde unfähig, abartig, zumutbaren Alltagsanforderungen denkbar schlecht gewachsen und womöglich hoffnungslos neurotisch. Noch mehr erschreckt der Gedanke, man könnte Gefühle und Befürchtungen dieser Art ernstlich gegenüber anderen erwähnen. Also schieben viele von uns die Schuld an ihren Gefühlen auf Ermüdung, das Wetter, die Arbeit oder die Rücksichtslosigkeit durch Bekannte, den Arbeitgeber oder die Angehörigen. Während sich der Teufelskreis schließt, bilden wir in unserem Elend ein immer stärker werdendes Gefühl der Isolation, des Entfremdet- und Getrenntseins von den Menschen, die wir lieben, und der Unfähigkeit, voll am Leben teilzunehmen. Das Gefühl, vereinsamt und isoliert zu sein, zählt in unserer Gesellschaft zu den niederschmetterndsten und verbreitetsten Erfahrungen zugleich.

Genau besehen ist unsere Vereinsamung größtenteils einfach nur die Folge unseres Umgangs mit uns selbst. Unsere Einstellung zu uns selbst wurde weitgehend durch die Einstellungen geformt, die wir in der frühen Kindheit innerhalb der Kernfamilie kennenlernten, und durch das Gefühlsklima, das hier herrschte. Ich will damit nicht sagen, jedem von uns sei in der Kindheit ein traumatisierendes Erlebnis mit einer tief wurzelnden Neurose im Gefolge widerfahren. Im Gegenteil, ich meine, dass unsere Einstellung zu uns selbst weniger durch irgendein einzelnes »traumatisierendes« Erlebnis bedingt ist, sondern vielmehr durch das allgemeine Klima und die vorherrschenden Einstellungen in der Kernfamilie, aus der wir kommen.

…sind bei Kindern nicht unvernünftig

Ein jeder von uns trägt sein »inneres Kind von früher« – einen aus der Kindheit mitgenommenen Komplex von Gefühlen und Einstellungen – in sich. Sich an diese Gefühle zu erinnern und sie genau zu bestimmen, kann schwierig sein, denn unsere Kindheitserinnerungen sind teils klar, teils verschwommen, teils flüchtig, teils beharrlich wiederkehrend, und immer scheinbar zusammenhanglos. Alles Mögliche kann Ihnen wieder in den Sinn kommen – das Entsetzen Ihrer Mutter angesichts der umgekippten Kaffeetasse beim geselligen Nachmittag der Kirchengemeinde, das Kleid, das Sie einmal zu einem Kindergeburtstag trugen, oder eine Bestrafung, die Ihnen einmal zuteil wurde, das Aussehen eines Zimmers, ein Spielzeug, das einem anderen Kind gehörte, der sehnliche Wunsch, später einmal Cowboy (oder Krankenschwester) zu werden. Vielleicht sagen Sie: »Oh, das ist lange her, damals war ich noch ein Kind«, und damit ist die Sache für Sie erledigt.

Aber niemand von uns kann sich an den Tag erinnern, an dem er oder sie kein Kind mehr, sondern erwachsen war. Denn das »Kind, das Sie gewesen sind« lebt in Wirklichkeit mitsamt seinen Gefühlen und Einstellungen in Ihnen weiter und bleibt Ihnen bis an Ihr Lebensende erhalten. Jene Gefühle mögen zwar der erwachsenen Person, die Sie sind, unvernünftig vorkommen, aber als Gefühle eines Kindes sind sie das überhaupt nicht – vor allem nicht dem »Kind, das Sie gewesen sind«, und in Anbetracht des Gefühlsklimas, in dem dieses Kind einst lebte.

Ein wesentlicher Unterschied

Bei meiner Tätigkeit in einer psychotherapeutischen Beratungsklinik hatte ich vielfach Gelegenheit zu beobachten, wie die Gefühle von Kindern jeden Alters durch die Einstellungen der Eltern beeinflusst werden. Die Seelennot des Kindes kann sich in auffälligen Verhaltensformen wie Bettnässen, Anorexie (Appetitlosigkeit), Sozialphobie (krankhafte Schüchternheit), Wutanfällen und unprovozierten Angriffen gegen andere Kinder Ausdruck verschaffen. Weil das kindliche Verhalten in erheblichem Maße durch elterliche Einstellungen bedingt ist, verschwindet die Verhaltensstörung des Kindes gewöhnlich, wenn es den Eltern gelingt, die Haltungen zu ändern, die die Probleme schaffen.

Man kann beobachten, wie das Kind sich bemüht, zu einer haltbaren Selbsteinschätzung zu kommen – denn es ist keine Übertreibung zu sagen, dass ein Kind aus den Reaktionen seiner Eltern auf seine Person entnimmt, was für ein Mensch es ist und wie es sich selbst einzuschätzen hat. Wir können so verfolgen, wie Kindheitsprobleme erzeugt werden – und ins Erwachsenenleben hinein überdauern, weil die Betroffenen später von neuem das familiäre Klima ihrer frühen Kindheit um sich herum erzeugen.

In der Klinik, wo der Beobachter es mit Hunderten verhaltensgestörter Kinder und ihren Eltern zu tun hat, kristallisieren sich für ihn früher oder später bestimmte elterliche Einstellungen heraus, die er verallgemeinernd als pathogen (»krankmachend«) einstufen kann – im Einzelfall bedeutet das dann entweder »überzogen« oder »in sich problematisch«. Sie bringen das Kind so gut wie sicher in Schwierigkeiten, und zwar sowohl in der Kindheit als auch später, wenn es erwachsen geworden ist und sich mit den Gefühlen seines »inneren Kindes aus der Vergangenheit« herumschlagen muss. In späteren Kapiteln dieses Buches werden wir eine nach der anderen dieser überzogenen Einstellungen genauer betrachten, damit Sie diejenigen identifizieren können, die hinter Ihren Schwierigkeiten stecken.

Betrachten wir die psychischen Probleme Erwachsener mit den Augen des Kinderpsychotherapeuten, der mit noxischen (»schädigenden«) Eltern-Kind-Beziehungen befasst ist, machen wir sofort zwei aufschlussreiche, so schlichte wie wichtige Beobachtungen:

Im Gefühlsleben besteht zwischen Erwachsenen und Kindern ein wesentlicher Unterschied: Kinder haben Eltern, die auf vielerlei Wegen ihnen nicht nur Orientierung, Beratung und Bestätigung zukommen lassen, sondern ihnen auch das Gefühl des Geschätztwerdens und ihres persönlichen Werts vermitteln; Erwachsene hingegen treten sich selbst in der Elternrolle gegenüber, geben sich selbst Orientierung und Rat, erteilen sich selbst Bestätigung und Tadel – Hilfestellungen und Handreichungen, die Eltern ihren Kindern leisten.

Erwachsene kultivieren in der Elternrolle gegenüber sich selbst die elterlichen Einstellungen weiter, die ihnen in der Kindheit eingeschärft wurden, und erhalten sie im Erwachsenenleben gegenüber sich selbst aufrecht.

Dies zu wissen, ist eine fundamentale Voraussetzung dafür, dass Sie die Herkunft der psychischen Probleme, unter denen Sie als Erwachsener leiden, erkennen können. Die Kindheit gilt gewöhnlich als ein Lebensabschnitt, in dem Wachstum und Schulung im Vordergrund stehen und der endet, sobald man der Obhut und der Anleitung der Eltern nicht mehr bedarf, weil man sein Leben eigenverantwortlich zu führen in der Lage ist. In der Rolle des Erwachsenen wechseln Sie praktisch in die Elternrolle gegenüber sich selbst, und in dieser begegnen Sie sich selbst mit den Gefühlen und der Einstellung, die Ihre Eltern Ihnen entgegengebracht haben.

Wie üben Sie die Elternrolle gegenüber sich selbst aus?

Um einem psychischen Problem, das Sie bedrückt, auf den Grund zu kommen, sollten Sie sich die folgenden Fragen stellen: »Wie übe ich die Elternrolle gegenüber mir selbst aus? Behandle ich mich mit herabsetzender Geringschätzung und Respektlosigkeit? Bestrafe ich mich? Bin ich zu nachgiebig und zu nachsichtig mit mir? Erwarte und verlange ich zuviel von mir? Behandle ich mich genauso, wie meine Eltern mich in der gleichen Situation behandelt haben?«

Während Sie heranwachsen, machen Sie sich nach und nach die Einstellungen zu eigen, die Ihre Eltern zu Ihrer Person haben, man könnte auch sagen: Sie »leihen« sie sich. Ich spreche in diesem Zusammenhang gern – eigentlich sogar am liebsten – von »leihen«, denn die fraglichen Einstellungen sind die Ihrer Eltern und nicht die Ihren. Viele Erwachsene machen sich niemals klar, dass sie sich ihre Einstellung zur Welt im Allgemeinen wie zu sich selbst im Besonderen zum großen Teil nicht selbstständig gebildet haben, sondern dass sie lediglich mit einem Zweitaufguss der Einstellungen ihrer Eltern operieren. Erst wenn Sie begriffen haben, dass diese Einstellungen nicht Ihre Einstellungen sind, können Sie wirklich beginnen, sich Einstellungen zu sich selbst zu bilden, von denen sich behaupten lässt, dass es Ihre eigenen sind.

Ihre sämtlichen kindlichen Gefühle bilden zusammengenommen eine quicklebendige Komponente Ihres erwachsenen Ichs – das in Ihnen weiterlebende »Kind, das Sie gewesen sind«. Wenn Sie im Umgang mit sich selbst die Einstellungen Ihrer Eltern hervorkehren, lösen Sie damit in dem »Kind, das Sie gewesen sind« bestimmte Reaktionen aus.

Möglicherweise bezeichnen Sie dann manche dieser Reaktionen als »kindisches Betragen«. In der Regel bemühen wir uns, unser kindisches Verhalten vor anderen zu verbergen und »reifer« und »erwachsener« zu wirken. Das kann so weit gehen, dass wir uns heftige Vorwürfe machen, weil wir so »kindisch« waren, Schmerzen erkennen zu lassen.

Kindliche Gefühle bleiben lebendig

Wahrscheinlich das anschaulichste Beispiel dafür, wie lebendig im erwachsenen Mann das »Kind von früher« weiterlebt, ist die Tatsache, dass er mit größter Anteilnahme und Begeisterung die Schicksale des Fußballvereins verfolgt, der in Kindheitstagen sein Favorit war. Schon als kleiner Junge, der mit seinen Freunden auf dem Bolzplatz »kickt«, wird er zum treuen Anhänger der örtlichen oder einer regionalen Vereinsmannschaft und überträgt dieses Gefühl der Loyalität früher oder später auf einen Verein der ersten Liga. Und in vielen Fällen nimmt dann auch der Erwachsene noch mit dem Herzen Anteil an den Erfolgen und Misserfolgen »seines« Vereins, freut sich vor dem Fernseher über Siege und grämt sich über Niederlagen. Und wenn er Gelegenheit hat, ein Spiel im Stadion »live« mitzuerleben, kann das Kind, das er war, seinen Gefühlen wieder einmal freien Lauf lassen wie vor vielen Jahren.

Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass alle Gefühle, die aus Kindheitstagen stammen, problemträchtig sein müssen. Tatsächlich ist das »Kind, das wir waren« an allem beteiligt, was uns als Erwachsene beschäftigt, an unseren Vergnügungen ebenso wie an unseren Problemen. Wenn wir in der Lage sind zu begreifen, dass diese Gefühle aus unserer Kindheit stammen, haben wir einen großen Schritt vorwärts getan.

Unser Blick ist von der Vergangenheit getrübt

Unser »inneres Kind« zwingt uns, das Leben gewissermaßen als Doppelbild zu sehen. Der Erwachsene in der Gegenwart liefert uns ein Bild, in dem sich Vernunft, Nüchternheit und Besonnenheit spiegeln mögen. Gleichzeitig betrachtet das »Kind von früher« dieselbe Situation durch den emotional getönten Blick der einstigen familiären Beziehungen. Die zwei Ansichten gehen unter Umständen so weit auseinander, dass wir uns in ein und demselben Augenblick in verschiedene Richtungen gerissen fühlen.

Sagen wir nicht manchmal: »Mein Denken und mein Fühlen sind überhaupt nicht einheitlich«? Oder: »Warum tue ich das, wo ich es doch eigentlich gar nicht tun will?« Das sind vertraute Konstellationen, die sich immer wieder dann ergeben, wenn das »Kind aus der Vergangenheit« und der Erwachsene in der Gegenwart sich nicht einig werden können.

Ich habe in meinen Psychotherapiekursen festgestellt, dass meine Studenten selbst dann, wenn sie das Konzept des »Kindes von früher«, das im Innern des Erwachsenen munter weiterlebt, begriffen und akzeptiert hatten, eine starke Neigung zeigten, die Bedeutung von Gefühlen, die aus der Kindheit stammen, zu bagatellisieren. Sie werden nicht um die innere Mühe herumkommen, die es offenbar kostet, diese Gefühle nicht nur als existent, sondern auch als eine maßgebliche Komponente Ihres Innenlebens anzuerkennen.

Unablässig versucht das »Kind von früher« uns Erwachsene dazu zu bringen, so zu leben, wie wir »daheim« in der Kindheit gelebt haben. Unter seinem Einfluss biegen wir unsere gegenwärtigen Umstände und Verhältnisse immer wieder so hin, dass sie dem ähneln, was wir in der Vergangenheit kannten. Das unterscheidet sich nicht sonderlich von der Art und Weise, wie wir abends im Bett, nachdem das Licht gelöscht ist, das Kopfkissen und die Bettdecke rucken und drücken und verdrehen und stauchen, bis wir unsere gewohnte ganz persönliche Einschlaflage gefunden haben. So schaffen wir die »Sicherheit des Vertrauten«, wie wir sie als Kinder kannten. Die Umstände und Verhältnisse unserer frühen Lebensjahre mögen zwar nicht die allerkomfortabelsten gewesen sein, aber wir machten eben die ersten Erfahrungen mit dem Leben und der Welt als solcher in dieser speziellen Szenerie unserer Kindheit. Wir lernten uns auf das hier herrschende spezielle Gefühlsklima einzustellen und es als »Wirklichkeit« zu verstehen. Als Erwachsene neigen wir dazu, die Dinge weiterhin anhand der »Wirklichkeit« jener frühen familiären Umgebung und ihrer Kategorien zu beurteilen.

3Wie das innere Kind Einfluss auf das Leben des Erwachsenen nimmt

Auf den folgenden Seiten werde ich mit einigen Punkten veranschaulichen, wie das »innere Kind von früher« in der Person des Erwachsenen weiterlebt und welche Rollen es dort spielen kann.

Der Mann, der seine Frau nicht lieben konnte

Ihr »inneres Kind aus der Vergangenheit« kann zeitweise solche Gewalt über Ihr Erwachsenen-Ich erlangen, dass es Ihre Selbstentfaltung und Ihre Lebensfreude radikal beschneidet oder völlig abwürgt. Wer von uns hat nicht schon einmal miterlebt, wie ein jähzorniges und missgelauntes Kind einen gestressten Elternteil terrorisierte? Und genau diese Art Zweikampf findet im Innern vieler Menschen statt, ohne dass die Betroffenen etwas davon ahnen.

Nehmen wir zum Beispiel Fred, einen jungen Geschäftsmann, der erfolgreich sein neu gegründetes eigenes Unternehmen führt. Nach außen hin aufgeweckt und agil, bestimmt auftretend und dynamisch, ist er im Bett mit seiner Frau Helen impotent. Er betrachtet ihr bildschönes Gesicht, ihre schimmernde kastanienbraune Haarpracht, ihre wohlgeformte Figur und fragt sich, warum er nichts für sie empfindet. Es macht ihm Kopfzerbrechen und deprimiert ihn. »Jeder Mann würde voll auf sie abfahren«, sagt er. Und mit Selbstverachtung in der Stimme fügt er hinzu: »Bloß ich nicht.«

Er weiß, dass Helen ihn liebt und wünscht, er würde zärtlich mit ihr werden. Aber es kommt nicht zu Intimitäten zwischen ihnen. Das Eheleben der beiden erschöpft sich gegenwärtig in ritueller Konversation über Belanglosigkeiten. Helen wartet mit aller Geduld, die sie aufzubringen vermag, auf Freds Umarmungen und zerbricht sich unterdessen den Kopf darüber, wo das Problem liegt. Er sagt sich, dass er endlich einmal die Initiative ergreifen müsste, kann sich aber nicht dazu überwinden. Andere attraktive Frauen jedoch, die Fred in dem Gebäude über den Weg laufen, wo sich sein Büro befindet, machen ihn an.

Wenn es zu Hause mit der Konversation nicht läuft, hackt Fred wegen aller möglichen Kleinigkeiten auf Helen herum – einmal hat er ihr sogar eine Ohrfeige verpasst. Hinterher warf er sich vor, dass er seine Frau misshandelt. Trotzdem nimmt seine Reizbarkeit ihr gegenüber zu.

In meinem Sprechzimmer fragte er mich: »Warum passiert mir das? Als wir geheiratet haben, war das noch nicht. Jetzt sieht es so aus, als müsste ich mich gegen die ganze Liebe sperren, die mir angeboten wird, gerade weil mir so viel angeboten wird. Und bei all der Liebe, die mir Helen geben will, fühle ich mich einsam und elend, kann mir selbst nicht helfen und auch für sie nichts tun. Warum?«

Keine Frage, sein Verhalten ergab keinen Sinn. Gab es noch andere Probleme? Nein, keine. Das Geschäft lief prima. Alle Welt mochte ihn. Er konnte es nur nicht über sich bringen, mit seiner Frau zu schlafen. Das war sein ganzes Problem. Unsinn, sagen Sie vielleicht, wer will, der kann, er braucht sich bloß mal einen kleinen Ruck zu geben, kein Mann reagiert so, wie er das beschreibt. Mitnichten, muss ich darauf erwidern, bedauerlicherweise reagieren viele Männer genau so auf ihre Ehepartnerin. Wir haben es mit einem typischen Beispiel für die Art und Weise zu tun, wie das »innere Kind von früher« in die Gegenwart hineinpfuscht.

Die Suche nach dem »Kind, das er einst war« erbrachte Klarheit über Freds Verhalten. Er war in einem familiären Klima aufgewachsen, das durch Schimpftiraden und Wutanfälle des Vaters gekennzeichnet war, in deren Verlauf nicht selten die Ehefrau und Fred Schläge abbekamen.

Nach Freds Heirat war anfangs alles bestens. Doch mit fortschreitendem Einleben ins eigene Heim fing er an, sich selbst mit den aus der Vergangenheit mitgeschleppten Einstellungen seines Vaters zu traktieren. Konkret bedeutete dies, dass er Strenge gegen sich selbst ausübte. Auf diese Strenge reagierte er genauso, wie er als Kind auf die Strenge seines Vaters reagiert hatte. Er baute ein Ressentiment gegen die einzige andere erwachsene Person in seiner gegenwärtigen häuslichen Umgebung, seine Frau Helen, auf. Die Folge: Er konnte nicht mehr erotisch auf Helens Liebe und Attraktivität reagieren. Je strenger er sich ob seines Verhaltens ihr gegenüber ins Gebet nahm, desto mehr steigerte sich sein Ressentiment – als ob er von seinem Vater ausgeschimpft würde – und desto reizbarer wurde er gegenüber seiner Frau. So übernahm das »Kind, das Fred gewesen war« das Ruder in Freds Leben und machte es ihm unmöglich, mit seiner Frau zu schlafen oder ihr auch nur Zuneigung entgegenzubringen.

Das Gefühl, dass er seiner Frau seine Liebe beweisen »müsste«, war nur die Anfangsphase einer Orgie lähmender Selbstkritik. Es löste die streng missbilligende Schelte aus, die er als kleiner Junge zu hören bekommen hatte. Die wiederum reaktivierte das gewaltige Potenzial an Abwehr, die er als Kind in sich aufgebaut hatte. So beherrschte Freds »inneres Kind von früher« sein Erwachsenenleben. Da mochte Helen noch so attraktiv sein, es spielte keine Rolle, denn das Ganze hatte nichts mit Sexualität zu tun.

Derartige Probleme sind fast niemals ausschließlich einseitig gelagert. Helens Vater war der Heimwerker-Typ und stets bereit, sich da oder dort im Haus nützlich zu machen, um ihrer Mutter die Hausfrauenarbeit zu erleichtern. Dass Fred es an dieser Art Hilfsbereitschaft fehlen ließ, interpretierte Helens »inneres Kind aus der Vergangenheit« als mangelnde Liebe – und das zahlte sie ihm mit subtilen Seitenhieben heim. Damit riss sie bei ihm in der Kindheit empfangene Wunden wieder auf und steigerte so sein Ressentiment und seine Reizbarkeit ihr gegenüber.

Nachdem Fred begriffen hatte, dass er noch die strenge kritische Einstellung seines Vaters zu ihm in sich herumtrug, löste sich seine Impotenz langsam in Wohlgefallen auf. Das Interessante dabei war, als er endlich aufhören konnte, sich zu sagen: »Ich müsste Helen meine Liebe beweisen«, da konnte er es – und schüttelte die beengende Zwangsherrschaft alter elterlicher Einstellungen ab. Helen lernte begreifen, dass Fred, auch wenn er jegliche Heimwerker-Geschicklichkeit vermissen ließ, sie deshalb nicht weniger liebte, und stellte ihre Sticheleien ein.

Alexander Flemings »inneres Kind von früher« und das Penicillin

Dank langer Erfahrung in der bakteriologischen Forschung wusste Alexander Fleming im September 1928 gleich richtig einzuschätzen, was es bedeutete, dass der flaumige Überzug, der sich auf dem Nährboden seiner Bakterienkultur gebildet hatte, in seiner Nachbarschaft das Bakterienwachstum zum Stillstand gebracht hatte: Der Schimmelpilz Penicillium notatum musste einen bakterientötenden Stoff enthalten. In der Veröffentlichung, die er seiner Beobachtung widmete, erwähnte er die potenzielle Nützlichkeit des Wirkstoffs bei der medizinischen Behandlung von Infektionen. Wenn es gelänge, den geheimnisvollen antibakteriellen Wirkstoff zu extrahieren und zu reinigen, hätte man zweifellos ein wirkungsvolles lebensrettendes Medikament gewonnen. Aber – um es mit Flemings Worten zu sagen: »Ich kam nicht weiter, weil mir die erforderliche praktische Hilfe eines Chemikers fehlte.«

Obwohl Fleming weiter Schimmelpilzkulturen züchtete, geschah in den nächsten zwölf Jahren nichts. Der Forscher konnte den Leiter des Forschungsinstituts, an dem er tätig war, nicht davon überzeugen, dass die Sache größere Aufmerksamkeit verdiente. Im Jahr 1940 stieß schließlich der Biochemiker Ernst Boris Chain auf Flemings Veröffentlichung über das »Penicillin« und war davon stark beeindruckt. In dem Glauben, Fleming sei verstorben, verfolgte er gemeinsam mit dem Pathologen Howard Walter Florey Flemings Ansatz weiter. Binnen Monaten gelang es dem Tandem, den antibakteriellen Wirkstoff zu reinigen und zu synthetisieren.

Gegen Flemings Wissen um den möglichen Nutzen des Penicillins hatte wie gewohnt sein »inneres Kind von früher« seinen eigenen Willen durchgesetzt, indem es den Forscher hinderte, seinem unmittelbaren Vorgesetzten am Institut für Pathologie und Forschung des Londoner Saint Mary’s Hospital glaubhaft zu machen, dass er aus gutem Grund die Assistenz eines Chemikers benötigte. Flemings großes Handikap war die fast vollständige Unfähigkeit, sich anderen zu eröffnen und mitzuteilen.

Fleming wuchs zusammen mit drei Schwestern und fünf Brüdern auf einem abgelegenen schottischen Gehöft auf. Er war der zweitletzte Sohn der zweiten Frau seines Vaters. Seine Brüder waren zum Teil erheblich älter als er; Tom zum Beispiel studierte zum Zeitpunkt von Alexanders Geburt bereits an der Universität Glasgow. Sein Vater, der mit sechzig zum zweiten Mal geheiratet hatte, erlitt nach der Geburt des jüngsten Sohns einen Schlaganfall. Danach lebte er noch zwei Jahre. Die einzige Erinnerung an ihn, die Fleming im Gedächtnis behielt, war – nach Auskunft seines Biographen André Maurois (Alexander Fleming. Arzt und Forscher, München 1960) – das Bild eines geschlagenen Mannes, der mit gütiger Miene, aber ergraut und invalide beim Kaminfeuer saß und sich sorgte, was nach seinem Tod aus seinen Kindern werden sollte.

Es braucht nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, mit welchem Nachdruck durch das bedrohliche Leiden des Vaters allen besorgten Mitgliedern des Haushalts die Vermeidung jeglichen Lautseins und Lärmens geboten war. Sicherlich wurde das Gebot dann und wann übertreten, denn dass Kinder gelegentlich laut sind, ist nicht zu vermeiden, aber in solchen Fällen dürfte die vielbeschäftigte Mutter rasch wieder für Ruhe gesorgt haben. Ohne Zweifel hat das lange Leiden des Vaters, das der Tod beendete, als Alexander vier Jahre alt war, Flemings außergewöhnliche Unfähigkeit zum Selbstausdruck mitbedingt. Hinzu kam, dass seine Stellung innerhalb der Familie ihn daran gewöhnte, seine Gedanken, Meinungen und Kommentare für längst nicht so wichtig zu halten wie das, was seine älteren Geschwister zu sagen hatten.

Seine Vergnügungen waren die solo betriebenen Unternehmungen, zu denen sich einem Landjungen Gelegenheit bot – das Jagen und Fischen. Allein legte er auch den täglichen Schulweg zurück, vier Meilen Fußmarsch hin und vier nach Hause. Schon früh gewöhnte er sich daran, dass da niemand war, mit dem er sich hätte unterhalten können, wurde schweigsam und begnügte sich damit, die älteren Brüder zu beobachten und ihnen zuzuhören. Als er dreizehn war, zog er nach London um, in eine Wohngemeinschaft mit seinen älteren Brüdern und einer Schwester, die den Haushalt führte, und bei dieser Konstellation blieb es auch, nachdem er seine Stelle als Forscher am Saint Mary’s Hospital angetreten hatte. Im Laufe der gut vierzig Jahre, in denen Fleming an dem Forschungsinstitut täglich mit Kollegen zusammen war, mit ihnen die Mahlzeiten einnahm und an routinemäßigen gemeinsamen Besprechungen teilnahm, gab er selten eine eigene Meinung von sich. Er saß lächelnd mit dabei, ein freundlicher und sympathischer Mensch, aber stets schweigsam, zu keiner Meinungsäußerung fähig. So lebte das schweigsame »Kind, das er einst war« im erwachsenen Fleming weiter, ja führte unangefochten das Ruder in seinem Leben – und obwohl er wusste, dass er in seinem Labor einen lebensrettenden Wirkstoff hatte, war er nicht in der Lage, jemanden von der Wichtigkeit seiner Entdeckung zu überzeugen und so eine einschneidende Veränderung der Situation herbeizuführen. Fleming bewies eine heroische Geduld, indem er während dieser zwölf Jahre des Schweigens seine Penicillium-notatum-Kulturen weiterzüchtete. Das war alles, was sein Handikap ihm erlaubte – aber davon ließ er sich nun auch durch nichts abbringen.

Später, als er schon mit Lorbeeren überhäuft war, hätte das redescheue »Kind, das er einst war« ihn beinahe gehindert, einer jungen Ärztin, mit der er zusammenarbeitete, einen Heiratsantrag zu machen. Beide schwebten sie seiner oratorischen Dauerladehemmung wegen jeder für sich unnötig lange zwischen Hoffen und Bangen. Und als er seinen Antrag schließlich doch noch herausbrachte, geriet der zu einem unverständlichen Murmeln, das womöglich wirkungslos unter den Tisch gefallen wäre, hätte die junge Frau nicht um eine deutlicher artikulierte Wiederholung der Laute gebeten. So gewann Fleming zu den Ehrungen, die ihm zuteil geworden waren, mit einiger Verspätung auch noch die verdiente Liebe und Herzenswärme einer Frau hinzu. Dessen ungeachtet litt dieser engagierte Forscher zeitlebens unter den Einstellungen und Gefühlen seines »inneren Kindes aus der Vergangenheit«, die seine beruflichen und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten stark beschnitten.

Lindas Geschichte

In Lindas Geschichte begegnet uns ein »inneres Kind«, das die Erwachsene daran hindert, sich ihren Lebenswunsch zu erfüllen: zu heiraten und Kinder zu haben. Die attraktive, aber stille, in sich gekehrte junge Frau erzählte mir, dass sie unverheiratet war und in einer Kinderkrippe arbeitete. Sie liebte den Umgang mit Kindern, und die Kinder liebten sie. Ihr größter Wunsch war, zu heiraten und selbst Kinder zu haben. Sie war schon zweimal verlobt gewesen. Beide Male hatte sie in panischem Schrecken die Verlobung gelöst, als der Hochzeitstermin näher rückte.

In den auf das Erstgespräch folgenden Sitzungen brachte Linda kaum noch ein Wort über die Lippen. Die meiste Zeit saß sie nur stumm da. Warum konnte sie nicht reden? Warum musste sie gewaltige innere Widerstände überwinden, um etwas sagen zu können? Stückchen für Stückchen gewann das Verlaufsmuster eines Lebens Kontur.

Als Linda zwei Jahre alt war, starb ihre Mutter. Sie kam in die Obhut ihrer Großmutter, die sich unter der Woche um sie kümmerte. Die Wochenenden verbrachte sie bei ihrem Vater. Als sie vier war, starb die Großmutter, und der Vater stellte eine Haushälterin ein. Mit sechs verlor sie den Vater und kam bei einem kinderlosen älteren Ehepaar unter, entfernten Verwandten, die für sie »Onkel« und »Tante« waren. In den ersten zwei Jahren dort hatte sie des Öfteren nächtliche Alpträume, traute sich aber nicht, Onkel und Tante davon zu erzählen. Sie fügte sich willig in die äußere Ordnung ihrer Umgebung ein, bemühte sich, ihren Pflegeeltern nicht zur Last zu fallen, war eine gute Schülerin und alles in allem ein – wie sie selbst sagte – »braves Mädchen«.

Als sie das Erwachsenenalter erreichte, hatte sich in ihr als Folge ihrer frühen Erfahrungen das vage, aber zwanghafte Empfinden ausgebildet, dass eine starke Bindung zu irgendwem eine Gefahr, gleichsam den »Todeskuss«, für die Person bedeuten würde, der ihre Zuneigung gehörte. Also wahrte sie in allen freundschaftlichen Beziehungen Distanz. Wer ihr zu nahe käme, würde ihr jäh entrissen werden, sagte ihr eine innere Stimme. Sogar dass sie mit mir sprach, war nicht ungefährlich, denn wir unterhielten uns ja über Themen, die ihr sehr nahe gingen. Die innere Stimme sagte: »Sprich mit dem Doktor nicht darüber, wie dir wirklich ums Herz ist, sonst wird er auch sterben.«

Es war die Stimme des »Kindes von früher«, die sie hörte. Die hatte sich, ohne Rücksicht auf ihren Herzenswunsch einer Heirat, auch zu Wort gemeldet, als die enge Verbindung der Ehe zum Greifen nahe war: Wenn sie sich erlaube, für einen Mann so tief zu empfinden, dass sie ihn heirate, werde er ihr gewiss »weggenommen« werden wie ihre Mutter, ihre Großmutter und ihr Vater.

Unlogisch? O nein, im Lichte ihrer Kindheitserfahrungen war das keineswegs unlogisch. Unser inneres Gefühl hält sich tatsächlich an diese Art aus Erfahrungen gewonnener Logik. Nachdem Linda in der Therapiearbeit gelernt hatte, die Befürchtungen ihres »inneren Kindes aus der Vergangenheit« zu respektieren, aber nichtsdestoweniger ihnen auch Schranken zu setzen, war sie irgendwann in der Lage, zu heiraten und Kinder zu haben.

Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft

Statt immer nur die eine Seite, das Heute, zu sehen, können wir uns eine dreidimensionale Ansicht von unseren Einstellungen verschaffen. Manche Menschen scheinen die Kindheit unbeschwert durchlaufen zu haben. Sie standen in jenen frühen Jahren nicht im Brennpunkt schädigender elterlicher Einstellungen und so blieben ihnen tiefe Kränkungen und Verwundungen erspart. Als Erwachsene können sie ihre Einstellung zu sich selbst verhältnismäßig leicht justieren. Andere erlebten Einstellungen, die tiefe Wunden schlugen, und finden es dementsprechend schwer, sich selbst mit der Einstellung eines wohlwollenden Elternteils zu begegnen.

Nach meiner Erfahrung sind viele scheinbar aussichtslos von allen möglichen Formen von Furcht und Angst heimgesuchten Menschen durchaus in der Lage, hinter die wahren Ursachen ihrer Seelennot zu kommen und sie so weit zu neutralisieren, dass diese aus der Vergangenheit übernommenen Einstellungen nicht mehr ihr Leben beherrschen. Und oftmals gelingt ihnen dies ohne große Hilfestellung von anderer Seite.

Der erste Schritt besteht darin, diese problematischen Gefühle als solche zu erkennen und ihre Herkunft aus der Kindheit einzusehen. Der zweite darin, diese Gefühle als Teil des eigenen Ich – der so unvermeidlich ist wie die Kindheit selbst – anzuerkennen und zu respektieren. Der dritte darin, Grenzzäune zu errichten, damit diese alten Gefühle aus der Kindheit nicht in unsere Handlungs- und Leistungsfähigkeit eingreifen und hier den Takt angeben. Alles zusammen erfordert geduldige und harte Arbeit.

Sich grämen, lamentieren oder Schuldzuweisungen verteilen führt zu nichts. Aber wenn wir die skizzierten drei Schritte ausführen, können wir langsam unsere Einstellung zu uns selbst ändern – und, an unserem »Kind von früher« arbeitend, sowohl an der Bewältigung des gegenwärtigen Heute arbeiten als auch Vorarbeit für die Bewältigung des zukünftigen Heute leisten.

4Unsere Einstellung zur Kindheit ist entscheidend

Den wenigsten von uns ist in den frühen Lebensjahren die Bagatellisierung des Kindes und seiner Gefühle erspart geblieben, die zu den Eigenheiten unserer Kultur zählt. Dass Eltern als Träger und Überträger kulturbedingter Einstellungen fungieren, ist unvermeidlich – und wenn Sie das begriffen haben, werden Sie ihnen Einstellungen, bei denen es sich sozusagen um kulturelle Universalien handelt, nicht mehr zum Vorwurf machen wollen. Vernünftiger handeln Sie, wenn Sie in dieser Sache zur Selbsthilfe greifen, und die beginnt mit der Erkenntnis, dass solche Einstellungen oft eine Selbstverachtung begründen und stützen, die im Kind entsteht und im Erwachsenen fortbesteht.

Eine vor zwei oder drei Menschenaltern gern zitierte Weisheit lautete: »Kinder sollte man sehen, aber nicht hören.« In unserer Kultur werden Kinder ständig an irgendeinem sittenstrengen Maßstab gemessen und, je nachdem, als »brav« oder »böse« klassifiziert. Anderen Kulturen ist diese Praxis unbekannt, sie akzeptieren kindliches Verhalten als der kindlichen Natur gemäß. Wenn Sie dem tyrannischen Regime, unter das Sie in der Kindheit gekommen sind, entrinnen wollen, müssen Sie sich ein objektives Bild davon verschaffen, welche Rolle diese kulturspezifischen Einstellungen in dem sozialen Milieu spielten, in dem Sie ihre frühen Jahre verbrachten, und wie weit Ihre Eltern sie übernahmen. Wenn Sie das geklärt haben, werden Sie das Verhalten Ihrer Eltern besser verstehen.

Millionen von uns sind in einem von Sittenstrenge beherrschten Gefühlsklima aufgewachsen, das für Kinder eine – von Erwachsenen freilich selten als solche erkannte – Belastung darstellt. Weil Kinder keine Verantwortung in der für Erwachsene gängigen Größenordnung zu tragen haben, unterstellt ihnen unsere Kultur ein glückliches Leben, unbelastet von Sorgen und Problemen. Um so eher bringt es Erwachsene, die für das Wohlergehen und die Vergnügungen der Familie hart arbeiten, gegen ihre Kinder auf, wenn diese über kleine Verantwortlichkeiten quengeln, die ihnen auferlegt werden. Wer hat nicht schon miterlebt, wie ein Vater oder eine Mutter den Nachwuchs anfuhr: »Kannst du nicht wenigstens deine Sachen ordentlich hinlegen, wenn du dich ausziehst? Ich schufte den ganzen Tag, damit du ein ordentliches Zuhause hast, und du beklagst dich auch noch.« Eine Einstellung wie diese, in der permanentes Enttäuschtsein und Ungenügen zum Ausdruck kommen, pflanzt dem Kind Gefühle der Schuld und der Unzulänglichkeit ein, deren Nachhall dann im Erwachsenen fortbestehen wird.

Unsere Kultur bagatellisiert traditionell die Kindheit und alles, was mit ihr zusammenhängt. Im Umgang mit Kindern, unsere eigenen nicht ausgenommen, wahren und wiederholen wir üblicherweise abschätzige und abwertende Einstellungen, die den Boden für spätere Selbstverachtung bereiten.

Was Erwachsene erwarten

Ich plädiere hier keineswegs für eine grenzenlose Nachgiebigkeit gegenüber Kindern, die den Nachwuchs zu ungehorsamen Blagen und kleinen Tyrannen über die Eltern machen würde. So weit braucht man es auch gar nicht kommen zu lassen, wenn man einen Zustand verbessern möchte, den ein Psychotherapeut mit besonderem Interesse für die emotionale Entwicklung des Kindes einmal folgendermaßen schilderte: »Von der elterlichen Autorität im eigenen Heim bis zu den umfassendsten sozialen Ordnungsstrukturen werden die Regeln des Zusammenlebens von Erwachsenen für Erwachsene gemacht. Das Kind als solches bleibt in diesem Regulierungsschema des sozialen Miteinanders völlig unberücksichtigt. Man erwartet von ihm, dass es die für Erwachsene gemachten Richtlinien versteht und würdigt und sich an sie hält, als ob es ein Erwachsener wäre. Mit viel Anstrengung und gutem Willen gelingt es ihm vielleicht hundertmal, das Richtige zu tun; doch dieses Wohlverhalten bleibt gewöhnlich unbeachtet, indem ein einziger Fall von Fehlverhalten den ganzen Zorn der Götter – der Eltern und älteren Verwandten, der Lehrer und sonstiger Erwachsener – auf das Kind herabzieht. Von dem Kind, dem es von der Natur bestimmt ist, in einem Seelenraum eigener Art zu leben, wird erwartet, dass es sein Denken und Handeln nach den Normen der Erwachsenenwelt ausrichtet.« (Bert I. Beverly, In Defense of Childhood, New York: John Day, 1941).

Erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit wird das Kind als das anerkannt, was es ist – ein Kind. Unser Erbe aus der Tradition umfasst unter anderem wohl auch die Technik, mit unauffälligen Zwängen aus Kindern »kleine Männer« und »kleine Frauen« zu machen, in der Geschichte der Erziehung lag jedoch das Hauptgewicht stets auf strenger Zucht, unbedingtem Gehorsam und mechanischem Drill.

Das Kindische an uns wird niemals abgelegt

In unserer Kultur ist eine der am meisten verbreiteten und einflussreichsten Einstellungen zur Kindheit die Vorstellung, dass man zu einem gewissen Zeitpunkt aufhört, ein Kind zu sein, und fortan unentwegt erwachsen ist. Diese Auffassung steht in krassem Widerspruch zu den Tatsachen des emotionalen Wachstums und der emotionalen Entwicklung des Menschen; sie stiftet deshalb beim erwachsenen Menschen vielfach Verwirrung, ja führt nicht selten zu grundloser heftiger Selbstverachtung. Man sieht sich mit der Forderung konfrontiert, dass man aufgrund von allerlei Umständen und Verantwortlichkeiten immer und jederzeit »erwachsen« zu sein habe: weil man sein Diplom gemacht hat, einundzwanzig Jahre alt geworden ist, geheiratet hat, eine Stelle angetreten hat, Vater (bzw. Mutter) geworden ist. Alle Gefühle und Handlungen und selbst Wünsche, die als »kindisch« bewertet werden könnten, gelten darum als Zeichen der Unwürdigkeit und Verächtlichkeit, als Beweis der Unzulänglichkeit. Menschen, die sich selbst immer wieder in diese Richtung gehende Vorhaltungen machen, sind in vielen Fällen in einem übertrieben strengen Milieu aufgewachsen, wo sie unablässig von den Eltern zu »erwachsenem« Benehmen angehalten wurden. Im Erwachsenenalter sind sie es selbst, die sich zu solchem Benehmen anhalten – und damit den Trotz ihres »inneren Kindes« provozieren, der ihnen dann Anlass zur Selbstverachtung gibt.

Sittenstrenge Eltern, die jener irrigen Auffassung unterliegen, zitieren mitunter den Apostel Paulus: »Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war« (1 Kor 13,11). Paulus übt mit diesen Sätzen jedoch nicht Kritik an der Kindheit oder an kindlichem Verhalten, sondern – darüber sind sich die Bibelwissenschaftler allgemein einig – spricht von seiner Bekehrung und der im Mannesalter vollzogenen Selbstverpflichtung auf ein geistliches Leben in der Nachfolge Christi. Aber oft wird diese Stelle aus dem ersten Korintherbrief als Geringschätzung der Gefühle des »Kindes, das man einst war« missdeutet und als Beleg für die Auffassung angeboten, dass man gut daran tut, zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben die Gefühle, die der Kindheit angehörten, hinter sich zu lassen. Nun kann man sich zwar ernsthaft und aufrichtig um Verantwortungsbewusstsein und Reife bemühen, aber man kann im Umgang mit dem Fühlen, Denken und Handeln des »Kindes, das man war« nicht zu einem guten Ende kommen, indem man das alles einfach »ablegt«. Es ist ein Teil des eigenen Selbst und muss akzeptiert werden, bevor man sich den Zielen zuwenden kann, die man sich als reifer Mensch gesetzt hat.

Gleichwohl setzen sich Erwachsene immer wieder mit Selbstvorwürfen unter Druck, wenn sie sich bei irgendetwas ertappen, das sie für »kindisch« halten. Doch das »Kind, das wir einst waren« lebt in unserem erwachsenen Ich weiter, und wir können uns auf keinerlei Art und Weise seiner Gefühle entledigen. Aber wie Bert I. Beverly bemerkte, lassen wir hundert Fälle von erwachsenem Verhalten unbeachtet, um beim ersten Lebenszeichen des »Kindes, das wir waren« – sei es ein Tun, ein Gefühl oder ein Gedanke – »den ganzen Zorn der Götter« auf es herabzubeschwören und bei diesem Strafgericht selbst die Rolle zu übernehmen, die einst unsere Eltern, älteren Verwandten, Lehrer oder sonstige Erwachsene uns gegenüber spielten.

Solange wir nicht begreifen, dass wir als Erwachsene uns selbst gegenüber die Elternrolle ausüben, sind wir zu dem frucht- und aussichtslosen Bemühen verurteilt abzulegen, »was Kind an uns war«.

Aussichten und Ausdauer

Sie können sich eine Menge Angst, nervöse Unruhe, Gereiztheit und Verärgerung ersparen, wenn Sie die Elternrolle gegenüber sich selbst akzeptieren und lernen, in dieser Rolle mit sich selbst zwar bestimmt, aber auch wohlwollend umzugehen und für die Gefühle Ihres »inneren Kindes von früher« Toleranz zu beweisen. Zudem werden Sie danach Ihr wahres Selbst in einem Ausmaß leben können, wie Sie sich das zuvor niemals gestattet haben. Ihre nervösen Spannungen und Ihre Ängste sind zu einem großen Teil vielleicht einfach nur dem Umstand geschuldet, dass Sie befürchten, Ihre kindlichen Gefühle könnten ans Licht kommen – was Sie zu dem angestrengten Bemühen veranlasst, diese Gefühle zu unterdrücken und zu verstecken, sie vor sich selbst zu verleugnen und nicht wahrhaben zu wollen.

Es wird nicht leicht für Sie sein, die Gefühle Ihres »inneren Kindes aus der Vergangenheit« zu identifizieren, sie zu respektieren und gelten zu lassen, wie ein wohlwollender Vater, eine gütige Mutter die Gefühle des eigenen Kindes akzeptieren würde. Gewohnheiten leisten hartnäckigen Widerstand gegen jeden Änderungsversuch, und Ihr gewohnter Umgang mit Ihnen selbst, den Sie »leihweise« von Ihren Eltern übernommen haben, macht da keine Ausnahme.

Beharrliches Bemühen wird Sie jedoch befähigen, die Gefühle des »Kindes, das Sie einst waren« zu akzeptieren, wo immer sie in Ihrem Alltag auftreten. Diese Gefühle sind ein Stück von Ihnen selbst und sind es schon immer gewesen. Sie sind nichts, wofür man sich schämen müsste. Sie zu akzeptieren bedeutet für Sie, dass Ihr ängstliches Bemühen, sie zu unterdrücken, einer entspannteren Befindlichkeit weicht und Sie beruhigt diese Gefühle auf sich wirken lassen können.

Dies sind die Hauptaussichten, die Ihr neuer Blickpunkt auf das »Kind, das Sie einst waren« Ihnen eröffnet. Wie Ihr »inneres Kind« Ihre Arbeit, Ihre Ehe und Ihre Möglichkeiten sexueller Erfüllung, Ihre Geldsorgen, Ihre Gesundheit und Ihre Beziehungen zu anderen Menschen beeinflusst – das sind wichtige Facetten Ihres Lebens, die Sie von diesem neuen Blickpunkt aus in einem neuen Licht wahrnehmen können.

Das Bild, das Sie von sich selbst haben

Welches Selbstbild Sie haben und wie Sie Ihre Gefühle, Gedanken und Handlungen beurteilen oder bewerten, spielt eine zentrale Rolle in Ihrem Leben. Was Sie tun, und oft auch, was Sie Ihrer Meinung nach auf keinen Fall tun können, ist größtenteils durch Ihr Selbstbild festgelegt.

Das Selbstbild weist im Vergleich mit dem realen Selbst gewaltige Entstellungen auf, die auf die Kindheit zurückgehen und Ursache an sich unbegründeter Seelenqualen sind. Der Mann, der sich für unintelligent und rückgratlos, die Frau, die sich für plump und hässlich hält – sie sind in den seltensten Fällen so unintelligent und so rückgratlos, so plump und so hässlich, wie sie sich fühlen. Meist sind solche Gefühle die Fortschreibung eines vor langer Zeit durch die Einstellung der Eltern bedingten Kindheitserlebens.

Ein Kind bezieht das Gefühl, ein wertvolles, tüchtiges, wichtiges und einzigartiges Individuum zu sein, aus der Zuwendung seiner Eltern. Es »sieht« oder fühlt sich gespiegelt in ihrer Liebe, Bestätigung und Sorge für seine Bedürfnisse; es lernt auch bereits in früher Kindheit, was ihm ihren Beifall einbringt und was ihre Missbilligung.

»Es war ein Kind, das ausging jeden Tag«

Die Einstellungen der Eltern mögen sein, wie sie wollen, das Kind nimmt sie nach und nach in sich auf und verwendet sie zur Selbstorientierung und Selbststeuerung. Infolgedessen sind die Gefühle Ihres »inneren Kindes aus der Vergangenheit« nicht an eine bestimmte Facette der Persönlichkeit gebunden, sondern erfassen alles und beziehen alles in sich ein, was dem Kind begegnet. In seinem einprägsamen Gedicht »Es war ein Kind, das ausging jeden Tag« gibt Walt Whitman eine so präzise wie schöne Schilderung des kindlichen inneren Wachstums durch gefühlsmäßiges Sich-Anverwandeln seiner Umwelt:

Es war ein Kind, das ausging jeden Tag,

Und was es zuerst erblickte, das wurde es,

Und das wurde ein Teil von ihm für den Tag oder für einen Teil des Tages

Oder für viele Jahre oder weite Kreise von Jahren.

Der frühe Flieder wurde ein Teil dieses Kinds,

Und Gras und weiße und rote Winden und weißer und roter Klee und das »Pi-wii« der Lachmöwe […].

Seine eigenen Eltern, der Vater, der es erzeugt, und sie, die es empfangen in ihrem Schoß und es geboren,

Sie gaben dem Kinde mehr von sich selbst als dies,

Sie gaben ihm auch später noch täglich von sich, sie wurden Teil von ihm.

Die Mutter daheim, die die Speisen still auf den Abendtisch setzte,

Die Mutter mit milden Worten, mit sauberer Haube und sauberem Gewand, der frische Duft, der von ihr und ihren Kleidern wehte, wenn sie vorbeiging,

Der Vater, stark, selbstgenügsam, männlich, reizbar, übellaunig, ungerecht,

Der Streit, das schnelle, laute Wort, Rede und Widerrede,

Die häuslichen Gepflogenheiten, die Sprache, die Geselligkeit, der Hausrat, das sehnsüchtig schwellende Herz,

Zärtlichkeit, die sich nicht scheut, sich zu zeigen; die Empfindung der Wirklichkeit und der Gedanke, ob sie am Ende vielleicht unwirklich sei,

Die Zweifel bei Tag und die Zweifel bei Nacht, das wunderliche Ob und Wie,

Ob das, was so erscheint, auch so ist, oder sind es alles nur Blitze und Flecke? […]

(DEUTSCH VON HANS REISIGER)

Diese Ausschnitte aus dem Gedicht machen nachvollziehbar, wie die Erlebnisse, Bilder, Szenen der Kindheit und die Anlässe kindlichen Staunens für alle Zeit in uns verwahrt und regelrecht zu einem Stück von uns selbst werden.

Um die Liebe und Zuwendung seiner Eltern zu gewinnen, ahmt das Kind sogar deren Gestik und Mienenspiel nach und macht sich auch deren Bild von seiner Person und der Welt im Allgemeinen zu eigen. Am allerwichtigsten von dem allen ist selbstverständlich die Einstellung der Eltern zu dem Kind. Sie prägt das Selbstbild des Kindes. Das Kind hat keine andere Informationsquelle, keinen anderen Spiegel, in dem es wahrnehmen könnte, welche Art Person es ist und ob es wert ist, geliebt zu werden.

Mit zunehmender Zahl der Jahre verfestigt sich in dem aufwachsenden Kind das täuschende Gefühl, dass diese elterlichen Einstellungen tatsächlich seine eigenen seien. Und obwohl es in Wahrheit nicht seine eigenen, selbstständig ausgebildeten Einstellungen, sondern die seiner Eltern sind, behält das Kind auch noch lange, nachdem es das Stadium der körperlichen Reife erreicht hat, diese Einstellungen bei und heißt sie »Wahrheit«.

Das »innere Kind von früher« im Erwachsenen hält also nicht nur den kulturspezifischen allgemeinen Einstellungen seiner Eltern zu Ernährung, zum häuslichen Leben, zur Religion, zu Erziehung, Sexualität und Geld die Treue, sondern insbesondere auch der Einstellung,die seine Eltern gegenüber ihm selbst an den Tag legten. Wir haben die hartnäckige Neigung, zusammen mit dem familiären Klima aus der Vergangenheit die Einstellung unserer Eltern zu uns, mögen sie uns auch wehtun, in uns wieder zu erschaffen. So mancher meiner Patienten hat sogar noch, nachdem er das Verfehlte einer herabsetzenden elterlichen Einstellung begriffen hatte, ihr bescheinigt, dass sie einen »gefühlsmäßig richtigen« Eindruck mache. Die gesicherte Existenz des »Kindes, das Sie gewesen sind« beruht auf diesen alten, schädigenden elterlichen Einstellungen. Sobald Sie versuchen, an diesen Einstellungen etwas zu ändern, beginnt das »Kind, das Sie gewesen sind« zu protestieren, und dieser Protest wird für den erwachsenen Teil Ihres Selbst mitunter zu einem solchen Stress, dass er klein beigibt und es hinnimmt, dass das »Kind, das er war« ihm bei seinen erwachsenen Zielsetzungen und Bestrebungen dazwischenfunkt.

Jeder von uns ist in einer Familie aufgewachsen und gewöhnte sich an ihre vielen Facetten: etwa an die »Stimmungslagen« oder auch an die, um es mit Whitmans Worten zu sagen, »häuslichen Gepflogenheiten, die Sprache«, die unserer speziellen Familie eigen waren. Wir nahmen in uns auf, was unseren Vater zum Lachen brachte und was seinen Zorn erweckte, worüber sich unsere Mutter entrüstete und was beide wirklich von diesen oder jenen Leuten hielten, wie sie über alles Mögliche, vom Geld über die Liebe bis zu Ernährungsfragen, dachten und was das Besondere an ihnen war, wodurch sie sich von allen anderen Menschen unterschieden. Auf diese Weise kamen wir zur Vorliebe für oder Abneigung gegen Bratkartoffeln, Soße, Schokoladenpudding und andere Gerichte. Als Erwachsene sind wir bei diesen Vorlieben und Abneigungen geblieben, weil diese Gerichte uns vertraut sind. Auch solcherlei gehört mit zum Fortleben des »Kindes, das wir waren« in der Gegenwart.

Das Leben, wie Sie es heute verstehen und leben, wurde in diesem früheren Ambiente erlernt. Wie immer es da im Einzelnen ausgesehen haben mag, Sie haben von Ihrer Familie das Gefühl des »Zu Hause«-Seins bezogen. Und hinter diesem Gefühl ist das »Kind, das Sie gewesen sind« unablässig her.

Keine Vorwürfe an Ihre Eltern!