In Dreams - Pia Lüddecke - E-Book

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Pia Lüddecke

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Beschreibung

Mysteriöse Dinge ereignen sich im Dunstkreis der Ruhr-Universität: Menschen verschwinden. Bei Nacht werden dämonische Tiere mit glühenden Augen gesichtet. Eine zwielichtige Firma wirbt für ein ominöses Wellnessprogramm. Und ständig diese Stromausfälle… Die junge Literaturstudentin Indra und der neurotische Psychologie-Doktorand Arno Löwenherz widmen sich der Erforschung luzider Träume, als sich ihr beschauliches Leben in einen Alptraum verwandelt. Unversehens wird Indra in die unheimlichen Vorgänge rund um das angebliche Wellness-Institut verwickelt. Doch wer zieht die Strippen? Die Frage quält nicht nur ihren Freund und Mentor, der ohnehin hinter allem eine Verschwörung wittert. Sollte er diesmal Recht behalten? In Dreams ist Pia Lüddeckes packendes Plädoyer für das Träumen – und eine Warnung: "Das Schlimmste, was dir zustoßen kann, ist zu früh aufzuwachen – oder gar nicht."

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Pia Lüddecke

In Dreams

Impressum

„InDreams“

Pia Lüddecke

1. Auflage: November 2021, Pia LüddeckeAlle Rechte vorbehalten.

© Edition Outbird, Gera

Haeckelstraße 15, 07548 Gera

www.edition-outbird.de

Covergrafik: Holger Much

Lektorat: Alexandra Wenzel, Tristan Rosenkranz

Buchsatz: Benjamin Schmidt

Herausgeber: Tristan Rosenkranz & Peter Peukert

ISBN: 978-3-948887-22-3

Preis: 6,99€

Der Mitternachtsmarkt

*** Die Morgendämmerung taucht den Sumpf in verwaschene Sepiatöne. Rostige Strommasten schießen aus dem Nebel empor wie die Überreste einer versunkenen Zivilisation. Noch zeichnen sich die Umrisse des Mondes am Himmel ab. Doch schon geht über den Baumwipfeln im Osten die Sonne auf.

Indra blinzelt gegen die Helligkeit an. Die Hochspannungsleitungen wirken im Licht wie monströse Spinnweben. Sie führen zu einem kuppelförmigen Bauwerk in der Mitte des Tals. Es besteht aus spiegelndem Metall und wird von gebogenen Pfeilern gestützt. Über dem Eingangstor sitzen zwei runde Fenster wie Bullaugen. Weitere schießschartenähnliche Luken säumen die seitliche Fassade.

Indra hat nicht die leiseste Ahnung, wie sie hier gelandet ist, an diesem vergessenen Ort, der ihr seltsam bekannt vorkommt. Nur eines spürt sie mit jeder Faser: Gefahr. Eine unbestimmte Bedrohung durchdringt die Luft wie der Geruch nach Moder und Fäulnis, der von den Tümpeln aufsteigt. Sie sollte schleunigst verschwinden.

Vom Wald aus brandet der Wind über das Gelände hinweg. Geisterhaft streicht er durch die Wipfel, wellt Gräser und Farne, verwirbelt das Blätterdach ihres Verstecks. Indra rollt sich in ihrem Schlupfloch zusammen. Sie wird zu einer winzigen Fellkugel, kaum größer als eine Kinderfaust, für das menschliche Auge nahezu unsichtbar. Der Geist rauscht weiter.

Das war knapp!

Ihr Instinkt rät ihr wegzulaufen, solange sie kann. Doch das kuppelförmige Bauwerk zieht sie magisch an. Und der Nebel bietet ausreichend Deckung.

Es ist ein Test.Deshalb bin ich hier!

Im Schutz der Böschung wagt sie sich vor, als hinter ihr ein Rascheln ertönt. Indra schnellt herum. Bernsteinfarbene Augen leuchten ihr entgegen. Sie gehören zu einem pelzigen Tier, einem Fuchs. Er neigt sachte den Kopf. Sie hat den Eindruck, dass er mit ihr spricht. Aber das ist Unfug, Füchse können nicht sprechen, höchstens in …

„Es ist nur ein Traum”, raunt er.

Nun, denkt Indra, das würde die Sache erklären.

„Wach auf und rette dich!”

Ein neuerlicher Windstoß fegt über das Tal. Die Sträucher bauschen sich zur Seite, geben sie feindlichen Blicken preis. Der Fuchs hüpft davon. Und in den Bullaugen der Kuppel springen violette Lichter an. ***

__

Zur selben Zeit, als die Literaturstudentin Indra Scurini von ihrer Begegnung mit dem Fuchs träumte, war der Bochumer Jungunternehmer Martin Brauner bereits putzmunter. Er absolvierte sein tägliches Fitnessprogramm, gönnte sich eine ausgiebige Morgentoilette und verzehrte ein großes Glas Gemüsesaft. Dann setzte er sich in seinem Loft im dreizehnten Stock an den Schreibtisch.

Derweil stand ein unrasierter junger Mann namens Fox im rund fünfzehn Kilometer entfernten Herne barfüßig in der Tür seines Wohnwagens und atmete die taufrische Morgenluft ein. Er hatte ebenfalls geträumt. Nicht von einem Fuchs, sondern von einem Eichhörnchen. Und er genoss den Nachhall dieses Traums. Der Duft von Abenteuer lag in der Luft. Das war gut, weil es seinem unsteten Schaustellerleben Bedeutung verlieh.

Dagegen hätte Arno Löwenherz, Psychologiedoktorand mit dem Schwerpunkt Traumdeutung an der Bochumer Ruhr-Universität, sein letztes Hemd verpfändet, um das drohende Wagnis abzuwenden: Freitag war Vorlesungstag. Er hasste Vorträge, wenn er sie selbst halten musste. (Was er in seiner Albtraumschleife letzte Nacht schon siebenmal getan hatte, und immer war irgendetwas Furchterregendes passiert: vom Klassiker, bei dem man feststellte, dass man keine Hose trug, über Studenten, die sich als seelenlose Roboter entpuppten, bis hin zu einem verstörenden Endzeitszenario mit kleinen schwarzen Spinnen, aus denen tintenblaues Blut spritzte, wenn er mit seinem Lexikon der Psychoanalyse auf sie einschlug). Warum konnten sie ihn nicht in Frieden forschen lassen? Er war Wissenschaftler, kein Alleinunterhalter. Schon der Gedanke an den Hörsaal ließ Arno den Angstschweiß von der Stirn perlen. Mit einer fahrigen Bewegung langte er nach seiner Hornbrille und der auf dem Nachttisch platzierten Bioschokolade – die einzige Droge, die ihn die Bürde seines irdischen Daseins vergessen ließ und ihm die Kraft verlieh, sich aus den Federn zu quälen.

Eine zarte junge Dame namens Melanie Schlüter dachte indessen gar nicht daran, aufzustehen, was daher rührte, dass sie eben erst nach Hause gekommen war. Im Moment saß sie lässig rauchend in ihrem hautengen schwarzen Motorradoutfit auf der silbernen Satinbettdecke und betrachtete den schlummernden Adonis an ihrer Seite. Mike war ein wortkarger Typ, hatte es aber dennoch fertiggebracht, ihr derbes Rockerherz zu erweichen. Außerdem war er erstaunlich muskulös und trug diese cool verspiegelte Sonnenbrille, sogar jetzt. Sie hätte den lieben langen Tag so sitzen und ihn betrachten können.

Inzwischen war die junge Studentin Indra Scurini ein paar Häuser weiter durch das Schrillen ihres Weckers aufgewacht. Sie hatte sich fest vorgenommen, ausnahmsweise einmal nicht zu spät ins Seminar zu platzen. Und sie hatte es immerhin bis zur Kaffeemaschine geschafft. Nun lag sie wieder im Bett, nippte an dem schwarzen Sud und wackelte unter der Decke mit den Zehen. Wie so oft bei Vollmond hatte sie wirres Zeug geträumt, an das sie sich lieber nicht zu genau erinnerte. Sie brauchte das Koffein und zehn Minuten Gemütlichkeit.

Wenn Indra geahnt hätte, dass ihr Überleben im Zuge der folgenden Ereignisse von einem paranoiden Wissenschaftler, einer kriminellen Rockerbraut und einem schmuddeligen Schausteller abhängen würde, sie hätte die verbleibende Zeit anders genutzt: die Uni geschwänzt und einen Ausflug ins Grüne unternommen. Oder ihre Notgroschen zusammengekratzt, um unauffällig das Land zu verlassen. Aber sie hatte ja keinen Schimmer. Sie wusste nichts von der Katastrophe, die lawinenartig auf Bochum zurollte und dabei alles mit sich riss, was nicht bei drei auf den Bäumen war.

__

„Platz da, dies ist ein Notfall!”

Die Knirpse stoben auseinander wie ein Schwarm Spatzen, gerade rechtzeitig. Indra sauste knapp an ihnen vorbei, die gemauerte Brücke hinab. Ein blasser Familienvater, der mit seinem Wanderstab verdächtig an den Rattenfänger von Hameln erinnerte, schimpfte ihr hinterher: „Das ist ein Fußweg, keine Rennstrecke!”

„Ja, ja, danke!”, rief Indra über die Schulter und wich einem Hundehaufen aus.

Links von ihr warfen die im Wind wogenden Buchen tanzende Schatten auf den Teich. Im Wasser schaukelten drei Entchen und ein zerknülltes Butterbrotpapier. Das Ufer war mit Brotkanten übersät.

„Entenfüttern ist auch verboten!”, schrie Indra, doch der Rattenfänger hörte sie nicht mehr, oder er stellte sich taub.

Der Punkt war: Sie wäre bei dem Gefälle und beladen mit Jutebeuteln voller Bücher gar nicht in der Lage zu bremsen. Ihr alter Drahtesel benötigte dringend eine Generalüberholung. Aber erstens fehlte ihr dafür die Knete. Und zweitens ging es ja auch so. Meistens. Wenn ihr nicht gerade eine Bande Rotzlöffel zwischen die Speichen sprang.

Indra riss den Lenker herum und nutzte den Schwung der Abfahrt, um hinter dem Park in das Wohnviertel einzubiegen. Vor der Trinkhalle materialisierte sich ein neues Hindernis: Vier düster gekleidete junge Damen flanierten unvermittelt auf die Straße. Damit beschäftigt, das Quartett nicht über den Haufen zu fahren, registrierte sie die quer auf dem Bürgersteig parkende silber-schwarze Ducati Monster erst, als es kein Entrinnen mehr gab. Das Schicksal war heute einfach nicht fair.

„Ey! Äffchen! Stopp!” Die ranzige Reibeisenstimme zerschnitt den Oktoberabend wie das Aufjaulen eines zweihundert PS starken Naked Bikes.

Wer Danger Mouse nur hörte, rechnete mit einem brachialen Zweizentnermann, der Kette rauchte, zum Spaß mit Benzin gurgelte und Fledermäuse zum Frühstück verspeiste. Das platinblonde Persönchen mit den langen Wimpern war für die meisten eine Überraschung. Jedoch keine gute. Ihre grazile Erscheinung hatte die Martial-Arts-Kämpferin Melanie Schlüter aus Bochum-Süd nicht daran gehindert, eine Reihe halblegaler Fights in zwielichtigen Bikerbars für sich zu entscheiden und sich zur Chefin des örtlichen Rockerklubs aufzuschwingen. Mit aufgemotzten Maschinen und Gangsterallüren versetzten die Black Devilrider’s of Hell das gesamte Viertel in Angst und Schrecken. Niemand wagte es, auf das fehlerhafte Apostroph im Namenszug hinzuweisen oder auch nur um ein wenig Rücksichtnahme zur Mittagszeit zu bitten.

Es war also nachzuvollziehen, dass Indra gehorchte, als sie mit ‚Ey! Äffchen! Stopp!’ zum Anhalten aufgefordert wurde und Melanie sich vor ihr aufbaute. Die Rockerkönigin ließ ihren Nacken knacken. Seit Kurzem trug sie einen aggressiven Sidecut, was den entflammten Engel, der sich über ihren Hals bis zur rasierten Schläfe emporschlängelte, noch besser zur Geltung brachte. In ihrem Gefolge schälten sich weitere Gestalten aus dem Schatten des verfallenen Trinkhallengebäudes. Im Nu war Indra von neun Personen in Lederkutten eingekreist.

Jeder normale Mensch hätte in einer vergleichbaren Situation die Stationen seines bisherigen Lebens an sich vorbeiziehen sehen. Indra suchte mit der Fußspitze Halt an einem Betonpoller. „Was gibt’s, Melle?”

Ihre relative Gelassenheit rührte daher, dass die Biker-Queen ihr neuerdings mit einem gewissen Respekt begegnete. Über die Gründe ließ sich nur spekulieren. Offenbar glaubte Melanie, ihr einen Gefallen zu schulden, und Indra hütete sich, das Missverständnis aufzudecken. Gleichwohl war ihr jedes Mal mulmig zumute, wenn sie von den Krawallschwestern umringt wurde.

„Was geht, Äffchen? Haste heute noch was vor?”

„Öhm. Nichts Besonderes.” Wollte die sich etwa verabreden?

Melanie Schlüter nickte zu der Tasche mit den Büchern in Indras Fahrradkorb. „Man hört so Gerüchte. Es heißt, du studierst. An der Uni.”

Ja, wo denn sonst, du Leuchte?!, dachte Indra. Was sie laut sagte, war: „Und?”

„Dann gehste nachher bestimmt auch in den Hades.”

„Also … eigentlich nicht.”

„Doch, du gehst.” Die Platinblonde fixierte sie unter tiefschwarz getuschten Wimpern hinweg mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete. „Und ich begleite dich!”

„Ähm”, druckste Indra. „Ich bin nicht so für Partys.”

„Nix Party! Heute ist Mitternachtsmarkt.”

„Ach ja?” Sie hatte davon gehört. Der Hades war das schäbigste Wohnheim in Bochum und ein beliebter Tummelplatz für Pseudostudenten – Leute, die ihren Studentenstatus als Vorwand für ein ausschweifendes Lotterleben missbrauchten. Doch einmal im Jahr wurden die Türme zur Kulisse für ein mysteriöses Ereignis. Dem Mitternachtsmarkt. Die Pforten zu dieser Eliteveranstaltung öffneten sich nicht für jedermann. Man musste schon jemanden kennen, der jemanden kannte.

„Ich habe gehört, es sei nur für geladene Gäste.”

„Keine Sorge, Äffchen! Ich hab’ Kontakte.”

„Aha. Toll.”

Langsam wurde Indra ungeduldig. Sie kam zu spät zu ihrem Termin. Und so sehr der berüchtigte Indoormarkt ihre Neugier reizte: Bei der Vorstellung, den Freitagabend mit Danger Mouse und ihren Handlangern zu verbringen, kringelten sich ihr die Fußnägel hoch. Sie sollte längst auf dem Sofa des Doktoranden herumlümmeln und konfuse Fragen zu ihrem Traumtagebuch beantworten. Als Psychologe war Arno Löwenherz eher unkonventionell. Dafür kochte er den zweitbesten Kaffee der Welt. Und die Kristallkaraffe auf seinem Wohnzimmertisch gab immer was zum Naschen her. Ein Paradies für jemanden wie Indra, die Koffein und Süßigkeiten aus persönlichen Gründen erst mit Anfang zwanzig entdeckt hatte.

Dummerweise kesselten die Black Devils sie immer mehr ein. Indra glaubte, die Töchter des ortsansässigen Kfz-Meisters, Mandy und Sandy, unter den ledernen Gestalten zu erkennen.

„Wenn du so gute Kontakte hast, bin ich ja wohl überflüssig”, startete sie einen letzten Versuch, das Verhängnis abzuwenden.

„Nicht überflüssig”, erklärte Melanie. „Unscheinbar.”

„Bitte?” Indra schnallte immer noch nicht, was die Frau von ihr wollte.

„Du wirkst so harmlos und normal und unscheinbar mit deinen spießigen Klamotten und diesem Nullachtfuffzehn-Pferdeschwanz. Ich hätte dich eben fast nicht bemerkt, wenn Mike nicht gewesen wäre.”

Der einzige Mann der Runde, ein gedrungener Typ mit verspiegelter Sonnenbrille, der reglos in Melanies Schatten verharrt hatte, trat einen halben Schritt vor.

„Hi”, sagte Indra.

Der Typ deutete ein Nicken an.

„Nun ist es so, dass deine Unscheinbarkeit sehr wertvoll für mich sein könnte”, fuhr die Bandenchefin fort. „Du musst mir noch einmal helfen, Äffchen. Würdest du das für mich tun? Ich brauche Geleitschutz, aber ich darf kein Aufsehen erregen. Das kann ich mir nicht leisten. Bei meinen Geschäften.”

„Geschäfte?”

„Nix Wildes. Ich benötige ein paar Ersatzteile. Und die hat mir eine Bekannte im Hades versprochen. Aber du verstehst, dass wir da nicht mit der ganzen Mannschaft vorfahren können. Das gibt nur Gerede. Deshalb werde ich heute Nacht inkognito unterwegs sein. Mit dir als Leibwächterin. Wir nehmen die U-Bahn. Wie zwei alte Freundinnen.”

„Ähm. Ja. Klingt nach einem … ausgeklügelten … Plan.”

Der wortkarge Freund zupfte an Melanies Ärmel und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte.

„Ich hol’ dich ab, Äffchen. In zwei Stunden. Kapiert?”

„Ist gut.”

Melanie Schlüter durchbohrte sie mit einem letzten nachtschwarzen Blick, dann gab sie endlich den Weg frei.

„Bis gleich.” Indra stieß sich hastig vom Poller ab. Ihr Drahtesel protestierte mit einem blechernen Quietschen.

„Wir wissen, wo du wohnst!”, rief die Rockerbraut ihr nach.

Indra parkte das Rad im Hinterhof und eilte die wackelige Feuerleiter hinauf. Ihre Wohnung befand sich unter dem Dach eines superschmalen, verwinkelten Altbaus, der wie ein abgebrochenes Streichholz zwischen den Nachbargebäuden klemmte. Ein separates Treppenhaus existierte nicht. Nahm sie den Vordereingang, musste sie den Strickwarenladen im Erdgeschoss und die Wohnküche ihrer Vermieterin im ersten Stock sowie das niedrige Zwischengeschoss mit dem gemeinsamen Badezimmer durchqueren. Dafür war die monatliche Miete hier in der Haselnussgasse ein Fliegenschiss. Und für Indras Bedarf – schlafen, lesen, Kaffee trinken – reichte es völlig. Durch die Schwalben und Mäuse, die im Gebälk nisteten, fühlte sie sich weniger allein.

Sie warf ihre Taschen in den Flur und rannte zum Telefon – ein altmodischer grüner Apparat mit Wählscheibe, der noch vom Vormieter stammte. Es klingelte sechs- oder siebenmal, bis der Doktorand zwei Straßen weiter den Hörer abnahm.

„Herr Löwenherz? Ich bin’s.”

„Ich weiß – wer sonst? Wo bleiben Sie, Indra?”

„Ich beantrage eine Änderung der Tagesordnung!”

„Großer Gott!” Arno Löwenherz stand gebückt in der Tür. Dank seiner runden Hornbrille und dem vom Herbstwind zerzausten Haar wirkte er wie ein verrückter Wissenschaftler (der er in gewisser Weise ja auch war). „Was haben die Ihnen angetan?”

Indra schnaubte. „Nichts! Ich wurde freundlich gebeten.”

„Sie sind jetzt also Freunde? Sie und Danger Mouse?”

„Und wenn es so wäre?”

„Die Frau ist grob und ungehobelt! Unter normalen Umständen hätte ich Angst, ihr nachts auf der Straße zu begegnen. Und was sind das überhaupt für obskure Geschäfte? Geht es um Drogen?”

„Kommen Sie rein, Herr Löwenherz. Es zieht!”

Indra zog ihn vom Absatz der Feuerleiter ins Warme. Sie dachte lieber nicht darüber nach, welche Konsequenzen es haben könnte, in der Öffentlichkeit mit Melanie Schlüter gesichtet zu werden, geschweige denn, sich in deren illegale Machenschaften verstricken zu lassen. Andererseits stand das Stöbern nach Motorrad-Ersatzteilen auf keiner Verbotsliste. Sie würde das Beste daraus machen: sich ein wenig umschauen und nebenbei so unscheinbar wie möglich sein.

„Sie holt uns ab. Melle sagt, wir nehmen die U-Bahn. Ist am unauffälligsten.”

„Na, wenn Melle das sagt.” Der Traumforscher warf einen Blick in den kleinen Wandspiegel neben der Garderobe und glättete hastig seine Frisur.

„Setzen Sie sich doch, Herr Löwenherz. Ich suche noch ein paar Sachen zusammen.”

Wo hatte sie nur ihr Handy gelassen? Indra öffnete das untere Fach der Kommode. Imbissprospekte, kaputte Glühbirnen und Schuhcreme segelten ihr entgegen. „Sie haben nicht zufällig mein Mobiltelefon gesehen?”

Herr Löwenherz spähte ihr über die Schulter. „Sagen Sie nicht, Sie haben es schon wieder verloren!”

„Verlegt.” Indra drückte die Schranktür zu, ehe sich der Schwall auf die Dielen ergießen konnte. „Das ist was anderes. Ach, was soll’s, mich ruft ja eh keiner an. Ich brauche nur meinen Schal.” Sie klaubte das purpurrote Strickteil, ein Geburtstagsgeschenk ihrer Vermieterin, vom Boden auf.

Der Psychologe folgte ihr wie ein Haushund. „Sind Sie sicher, dass ich Sie begleiten soll? Wenn ich nicht unbedingt gebraucht werde, könnte ich, rein theoretisch, auch einfach hier warten.”

Indra sah entgeistert zu ihm hoch. „Das kann ja wohl nicht wahr sein! Sie sind mein Therapeut!”

Er hob beschwichtigend die Hände. „Schon gut. Ich dachte nur, ohne mich sind Sie vielleicht besser dran. Die Bochumer Unterwelt ist nicht direkt meine Liga.”

„Der Hades ist ein ganz normales Studentenwohnheim.”

„Umso schlimmer! Diese Leute sind übel drauf, Indra! Warum sollen Sie überhaupt dabei sein? Welchen Nutzen hat es für Danger Mouse?”

„Sie braucht jemanden, der normal und harmlos wirkt.”

„Normal?” Er stieß ein Bellen aus.

„Sie kann nicht wissen, dass ich traumatisiert bin, weil ich als Baby in einem Binsenkörbchen auf der Ruhr ausgesetzt und von Nonnen aufgezogen wurde”, scherzte sie. „Sehen Sie es als Chance, Herr Löwenherz. Sie könnten einen Feldversuch starten: die Abgründe der menschlichen Seele in freier Wildbahn erforschen. Interessiert es Sie denn gar nicht, was da hinter verschlossenen Pforten vor sich geht?”

„Gott, nein! Und ich wundere mich sehr, dass Sie auf einmal …” Er stutzte. „Melanie musste Sie gar nicht überreden, oder? Sie wollen dahin, selbst wenn Sie dafür unsere Prinzipien verraten.”

„Welche Prinzipien?”

„Partys sind Gift für den Biorhythmus.”

„Es ist keine Party.”

„Wenn sich Horden von Pseudostudenten auf engstem Raum zusammenrotten und Alkohol in sich hineinschütten, ist es eine Party – egal wie man es nennt! Überdies haben wir Wichtigeres vor.”

„Mein Traumtagebuch können wir auch morgen besprechen. Heute möchte ich etwas unternehmen. Ausnahmsweise!”

Arno Löwenherz tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Unterlippe. Musterte sie nachdenklich von oben herab. Seufzte. „Ihre Unternehmungslust wird uns noch umbringen.”

„Also kommen Sie mit?”

„Natürlich. Sie sind meine wichtigste Probandin. Jemand muss aufpassen, dass Sie nicht an Ihrem Leichtsinn zugrunde gehen. Ich opfere mich!”

Indra grinste. „Zu großzügig. Aber so leichtsinnig bin ich gar nicht.”

„Sie sind der Inbegriff des Leichtsinns! Hätte Homer Sie gekannt, hätte er Ihnen ein schmückendes Beiwort verliehen: Sie wären neben dem listenreichen Odysseus und der weißellbogigen Hera in die griechische Geschichte eingegangen.”

Er spazierte durch die Wohnküche und nahm in Indras senfgrünem Ohrensessel Platz.

„Das wäre ich wohl”, schmunzelte Indra, die keine Ahnung hatte, was er meinte. Mythologische Figuren der Antike wurden im Literatur-Grundkurs allenfalls gestreift.

Sie zupfte ihren knielangen, geblümten Wickelrock über der Baumwollstrumpfhose glatt, erneuerte ihren kastanienbraunen Pferdeschwanz und schlang sich den purpurnen Schal mehrfach um den Hals. Zum Binden der Schnürsenkel hockte sie sich auf die Couch, die zwischen dem Geschirrschrank und dem Gasherd stand. Ihre Wohnung war zu klein, um einen Küchentisch mit Stühlen und eine gemütliche Sofaecke unterzubringen. Indra hatte sich für die Sofaecke entschieden, welche somit als Essplatz diente und diverse Tomatensoßenkleckse aufwies.

„Es ist schon erstaunlich”, bemerkte sie. „Alle reden über den Mitternachtsmarkt, aber niemand weiß was Genaues. Offiziell wird die Veranstaltung nirgendwo angekündigt. Sehr mysteriös.”

Herr Löwenherz schlug professionell seine langen Storchenbeine übereinander. „Was glauben Sie, Indra, woher kommt es, dass Sie von Rätseln und Gefahren angezogen werden?”

„Hören Sie auf, mich ständig zu analysieren!”, grummelte sie. „Ich hasse das!”

In Wahrheit fühlte sie sich geschmeichelt, auch wenn sie das nie laut zugegeben hätte. Der junge Wissenschaftler war offiziell merkwürdig. Und das rührte nicht nur daher, dass er eine Vorliebe für Tweedkrawatten und Pullunder mit Rautenmuster pflegte und das dunkle Haar akkurat gescheitelt trug. Im Gegensatz zu Indra witterte er das Unheil hinter jeder Ecke. Ferner war er besessen von seiner Forschung – nur deshalb hatten sich zu Beginn des Sommersemesters ihre Wege gekreuzt. Arno Löwenherz benötigte Probanden für seine Dissertation: Lucid Dreams – Träumen und Traumdeutung als Strategie zur psychologischen Traumabewältigung. Indra brauchte die Kohle. So hatte sie kurzentschlossen die Telefonnummer gewählt, die in dem vergilbten Aushang am schwarzen Brett angegeben wurde. Wie sich herausstellte, war sie das ideale Versuchsobjekt.

„Hass ist so ein starkes Wort”, sagte er. „Und sich analysieren zu lassen, ist Ihr Job, liebe Indra. Schließlich entlohne ich Sie dafür.”

„Ja. Warum eigentlich? Es ist doch eh jede Nacht das Gleiche. Mehr oder weniger.”

„Waren Sie etwa wieder in diesem fürchterlichen Sumpf? Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie träumen?”

„Ich habe nicht auf die Uhr gesehen”, entgegnete sie ironisch.

„So oder so, Sie sind ein seltenes Phänomen, Indra. Nur wenige Menschen beherrschen die Technik des luziden Träumens. Seine geistige Klarheit wiederzuerlangen, während die Schlafparalyse den Körper lähmt, erfordert ein hohes Maß an Willenskraft. Wussten Sie, dass diese Praxis schon von den alten Schamanen angewandt wurde, um Seelenreisen in die Welt der Toten zu vollziehen? Ach, ich schweife ab. Ihr Talent ist aus wissenschaftlicher Sicht höchst faszinierend – und eröffnet für unsere Studien ungeahnte Möglichkeiten.”

„Tut es das?”

„Die Tatsache, dass Ihre Träume Sie in letzter Zeit immer wieder zum selben Ort führen, muss etwas zu bedeuten haben. Das Geheimnis Ihrer Vergangenheit könnte sich in dem Kuppelgebäude verbergen, von dem Sie mir erzählt haben. Es liegt in Ihrer Hand, dem aktiv auf den Grund zu gehen.”

„Sie haben recht. Der Fuchs hat mich zwar gewarnt, aber ich lasse mich nicht gerne auf die Folter spannen.”

„Der Fuchs?”

„Abweichendes Detail. Er hat mir etwas zugeraunt: ‚Wach auf und rette dich!’”

„Und das sagen Sie mir erst jetzt? Das könnte ein Zeichen sein. Der Durchbruch steht kurz bevor! Wir könnten endlich entschlüsseln, welches traumatische Ereignis in Ihrer Kindheit für Ihre Situation verantwortlich ist. Beim nächsten Mal möchte ich, dass Sie in die Kuppel hineingehen und …”

„… und das werde ich. Aber nicht heute Abend. Heute möchte ich hinausgehen. Ins echte Leben.”

Er schnaufte. „Sie werden Ihre Meinung noch revidieren, wenn ich uns vor den wild gewordenen Studentenhorden in Sicherheit bringe.”

„Keine Bange! Wir haben doch Danger Mouse an unserer Seite. Die macht sie alle kalt.”

„Wie Sie es sagen, klingt es gar nicht so schlimm.”

In diesem Moment läutete die Schelle.

„Wenn man vom Teufel spricht …” Indra eilte zur Hintertür.

„Scheiße, Äffchen, mir war nicht klar, dass du ganz oben wohnst!”, raunzte Melanie Schlüter ihr anstelle eines Hallos entgegen. „Und was soll der Waldorf-Look? Findest du das etwa unauffällig?”

Der coole Mike sagte nichts, aber er bewegte das Kinn, was man mit gutem Willen als grüßendes Nicken interpretieren konnte. Das Duo Infernale enterte die Stube, ohne dass es einer weiteren Einladung bedurft hätte.

„Ja, lasst die Schuhe ruhig an. Was meinst du mit Waldorf-Look?”

Melanie starrte sie an, als wäre Indra schwer von Begriff. „Dieses Strickteil da.” Sie zeigte mit dem Finger auf Indras Wollschal. „Und dann auch noch rot. Signalfarbe, Mann! Hast du in der Schule gar nichts gelernt?”

Indra fehlten kurzzeitig die Worte. „Quatsch!”, ächzte sie. „So was hat doch jeder Zweite.”

„Außerdem ist es hässlich!”

„Indra sieht hinreißend aus!”, krähte es zu ihrer Verteidigung aus der Sitzecke.

Melanies Kopf zuckte herum. Ihre nachtschwarz geschminkten Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Was hat der Nerd hier verloren?”

„Er … will … mitkommen”, druckste Indra.

„Nee!”

„Wieso nee? Ich meine, ähm, dein Freund kommt doch auch mit.”

„Ja. Aber meiner ist cool. Deiner ist voll komisch!”

„Ich kann Sie hören!”, tönte es aus dem Ohrensessel.

„Siehste! Das meine ich. Er ruft komische Sachen rein.”

„Er … ähm … meint es nicht böse.”

Melanies Augen wurden noch schmaler, wenn das überhaupt möglich war.

„Herr Löwenherz begleitet uns!”, bekräftigte Indra und hoffte, dass es bestimmter klang, als sie sich fühlte. „Und der Schal bleibt an. Das sind meine Bedingungen, wenn ich euch helfen soll.”

Sie sah zum coolen Mike, der die Auseinandersetzung mit Pokermiene verfolgte. Die verspiegelten Sonnenbrillengläser verschleierten jegliche Regung. Er neigte den Kopf und flüsterte seiner Freundin etwas ins Ohr. Es klang wie „Maus, sei doch nicht so”, aber sicher war Indra sich nicht.

Melanie pustete sich eine platinblonde Strähne aus der Stirn und ließ ihre Gelenke knacken. „Scheiße, Mann!” Dann marschierte sie auf klackernden Lederabsätzen die anderthalb Schritte zum Garderobenspiegel, um ihre Frisur zu richten.

Als sie aus der U-Bahn-Station ins Freie traten, herrschte pechschwarze Nacht. Sie folgten dem Waldweg, der sich vom Technischen Zentrum aus unter rauschenden Eichenbäumen hinauf zum Hades schlängelte, jenem kalten Betonklotz, der wie eine altertümliche Festung über dem Universitätsgelände thronte und den Indra schon oft aus der Ferne gesehen hatte. Die Unterwelt auf dem Gipfel. Sie konnte ihre Neugier nur schwer im Zaum halten.

„Wie weit ist es denn noch?”, maulte Arno Löwenherz, der auf den Rändern seiner rahmengenähten Schuhe neben ihr her stakste. „Der Boden ist voller spitzer Steine.” Er aktivierte die Taschenlampenfunktion seines Smartphones, mit dem Effekt, dass sich die Umgebung jenseits des Lichtkegels weiter verdunkelte. „Woher wissen wir, dass dieser Trödelmarkt des Grauens heute Nacht stattfindet? Hier ist doch nichts los. Keine Menschenseele.”

„Der Schwachkopf soll die Klappe halten!”, befahl Melanie. „Niemand hat ihn gezwungen, mitzukommen.”

„Warum redet die Frau ständig über mich in der dritten Person?”, echauffierte er sich leise.

„Wir sind gleich da”, beschwichtigte Indra. „Oder, Melle?”

„Ich denke schon.”

„Sie denkt?”, sagte Arno Löwenherz. „Was heißt das: Sie denkt?”

Der coole Mike, der bislang keinen Ton von sich gegeben hatte, zupfte an Melanies Arm und flüsterte: „Maus! Dort!”

Sie hatten den höchsten Punkt und das Ende des Waldes erreicht. Voraus schimmerte ein diffuses Licht. Es war der Vollmond, der seinen Schein auf die Stadt unterhalb des Hügels warf. Rechts ragte die Festung mit den zwei Türmen – der Hades – in den Nachthimmel empor. Ein Bild wie aus einem Schauermärchen. Nur die Fledermäuse fehlten.

„Ich habe es geahnt!”, rief der Traumforscher. „Hier ist überhaupt nichts! Wir sollten umkehren!”

„Meine Fresse!”, entgegnete Melanie schroff. „Natürlich ist hier was! Ich hab’ erst gestern eine Nachricht von meiner Kontaktfrau, der Schwarzen Witwe, erhalten.”

Sie stiegen die Stufen zum Eingang hinauf. Hinter dem dicken Milchglas der Türflügel war alles dunkel. Melanie rüttelte. Verschlossen. Sie studierte angestrengt die Klingeln von über einhundert Studentenwohnungen, verteilt auf dreizehn Etagen.

„Und, wissen Sie auch, wie diese ominöse Schwarze Witwe in echt heißt?”

„Klappe, Nerd!”

Melanie drückte wahllos auf einigen Knöpfen herum. Kein Klingelton war zu hören.

Dafür ertönte links von ihnen ein schrappendes Geräusch. Anstelle der Tür öffnete sich das nächste Fenster im Erdgeschoss wie die Luke an einem mittelalterlichen Burgtor.

Ein blasses Gesicht erschien. „Yoo!”

„Hi”, antworteten Indra und Melanie wie aus einem Munde.

„Guten Abend”, sagte Arno Löwenherz.

Der coole Mike deutete ein Nicken an.

„Sorry”, entschuldigte sich das Gesicht. „Steht ihr schon lange da?” Ein orangener Glutpunkt glomm auf. Rauchkringel entschwebten in den Nachthimmel. Indra erschnupperte süßlich würzigen Tabakduft. „Wir haben Stromausfall. Kommt häufiger vor. Was wollt ihr denn?”

„Wir wollen zum Mitternachtsmarkt”, antwortete Melanie. „Rein geschäftlich. Nichts Illegales! Die Schwarze Witwe hat uns eingeladen.”

„Die alte Gaunerin!” Der Fremde im Fenster gluckste. „Darf ich eure Studentenausweise sehen?”

„Was?”

„Einlass nur für Geisteswissenschaftler.” Der Fremde zog genüsslich an seinem Joint.

„Nicht dein Ernst, Mann!”

„Nee, Quatsch, ich nehm’ euch bloß auf die Schippe. Hier ist jeder willkommen, der verrückt genug ist. Und manche bleiben sogar länger als geplant. Ich bin jetzt schon seit sechsundvierzig Semestern hier. Das macht dann dreißig Euro pro Nase.”

„Du spinnst wohl, Mann!”

„Schon wieder reingefallen.” Er kicherte. „Bleibt, wo ihr seid!”

Er verschwand von seinem Platz im Fenster. Wenige Herzschläge später schwang die Eingangstür endlich auf. „Hereinspaziert, ihr verrückten Menschen!”

Indra brauchte ein paar Sekunden, um sich an die Dunkelheit im Inneren zu gewöhnen. Sie gewahrte einen schmucklosen Sitzbereich, Topfpflanzen und ein verglastes Kabuff für den Hausmeister. Der Fremde zeigte nach rechts, wo sich das Foyer in Schatten verlor. „Zur Markthalle geht ihr dort die Treppe runter. Folgt dem langen Korridor bis in den Waschkeller. Durch die blaue Tür, vorbei an den Toiletten, dahinter links, dann hört ihr schon die Musik. Und haltet euch von den Zombies fern. Ich komme später nach. Möchte hier noch in Ruhe fertig rauchen.”

Der Korridor nahm kein Ende. In unregelmäßigen Abständen warfen Halloweenkürbisse ihr gespenstisches Licht an die Wand. Dazwischen war es dunkel wie in einem Bergmannsstollen.

„Scheiße, der Typ eben hatte ja wohl ’nen Lattenschuss!” Melles raue Stimme hallte unnatürlich laut durch den Gang, unterlegt vom Geklacker ihrer Motorradstiefel. „Zombies! Alter! Man hat mich vorgewarnt, aber das … Ich glaube, die sind hier alle voll dicht.” Sie stieß ein heiseres Lachen aus. „Na ja, ich muss zugeben, die Location hat was”, fuhr sie im Plauderton fort. „Man kann tun und lassen, was man will. Keine nervigen Nachbarn, die sich wegen jedem Furz beschweren. Und selbst wenn: Ich hörte, die Spießer vom Ordnungsamt trauen sich sowieso nicht her.”

„Wie beruhigend”, murmelte Arno Löwenherz, der seit dem Abstieg in die Katakomben des Wohnheims ungewöhnlich still geworden war. Offensichtlich konnte er tunnelartige Kellerräume noch weniger leiden als steinige Waldwege.

Vor ihnen endete der Korridor an einer mächtigen Brandschutztür. Dahinter lag ein stockfinsterer Raum. Ein Flüstern kam aus Mikes Richtung. Aber vielleicht hatte auch bloß eine Ratte gehustet.

„Licht!”, befahl Melanie.

„Ich lebe, um zu dienen”, murrte Arno Löwenherz und aktivierte die Handytaschenlampe. Der Strahl irrlichterte über eine monströse Uraltwaschmaschine, kahlen Beton und drei kleinere blaue Türen.

Melanie drückte die Klinke der mittleren und spähte durch die Öffnung. „Kann nix erkennen.” Sie schnippte mit den Fingern.

Der Traumforscher leuchtete in den Spalt. „Ich kann ehrlich gesagt auch nichts erkennen.”

„Lassen Sie mich mal!” Indra schob ihn zur Seite und spitzte die Ohren. „Hört ihr das nicht?” Sie marschierte voraus in die Dunkelheit.

„Was soll denn da sein?”, vernahm sie Arno Löwenherz hinter sich. „Ich höre gar nichts.”

„Ausnahmsweise muss ich dem Schwachkopf beipflichten”, sagte Melanie. „Das dauert alles viel zu lange. Wenn ich geahnt hätte, dass wir so ewig unterwegs sind, hätte ich Dosenbier eingepackt. Es ist Freitagabend, Mann! Die Schwarze Witwe kann sich auf was gefasst machen …” Sie verstummte, weil vor ihnen eine weitere Stahltür aufschwang und eine Horde Studenten aus dem dahinter liegenden Saal in den Flur strömte. „Krasse Scheiße!”, entfuhr es ihr.

„Irre!”, staunte Arno Löwenherz.

Mike schwieg. Es war ein ehrfürchtiges, dem Moment angemessenes Schweigen.

Der Geräuschpegel, den Indra gedämpft und wie aus weiter Ferne vernommen hatte, war beim Öffnen der Tür jäh angeschwollen. Sie stolperten in eine große Markthalle. Wortfetzen, Gelächter und Trommelmusik tanzten unter der gewölbten Kuppeldecke wie das Echo von Geistern einer vergangenen Zeit. Auf langen Tischen wurden unzählige kuriose Waren feilgeboten: glitzernde Edelsteine in allen Farben des Regenbogens, handgeschnitzte Schmuckkästchen und Flakons mit Sternenstaub. Alte Schallplatten, antiquarische Bücher und Filme auf VHS-Kassette. Taschenuhren aus angelaufenem Silber. Nostalgie-Kaffeemühlen und hölzerne Spinnräder von anno dazumal. Schmetterlinge hinter Glas. An einem Stand drehte ein Knabe Zuckerwatte, an einem anderen schenkte eine orientalisch gewandete Frau heiße Schokolade aus. In den schmalen Gängen dazwischen herrschte Betrieb wie auf einem Rummelplatz. Der Duft nach gebrannten Mandeln, Zitrusfrüchten, frittierten Kartoffeln und exotischen Gewürzen benebelte Indra die Sinne.

„Herzlich willkommen in der Unterwelt!”, raunte eine fremde Stimme an ihrem Ohr.

Sie fuhr herum und schaute in das vernarbte Antlitz eines Mannes, der einen weißen Overall trug und durch ein Übermaß an dunklem Lippenstift wie eine traurige Mischung aus Clown und Zombie anmutete.

„Darf ich dir ein Glas Gemüsesaft anbieten?” Er schwenkte einen Becher, dessen Inhalt die bräunlich blaue Färbung einer Ölpfütze aufwies, und verzog die tintenschwarzen Lippen zu einem dämonischen Grinsen. „Frisch gepresst.”

„Nein, dürfen Sie nicht!” Arno Löwenherz zog Indra zur Seite. „Das ist ja widerlich! Verziehen Sie sich, Sie Schelm!”

Der Zombie knurrte und tauchte in der Menge unter. Indra starrte ihm verwirrt nach.

„Gut, dass der Junkie uns vorgewarnt hat”, wisperte ihr Therapeut, während sie sich im Pulk der Menschen Schritt für Schritt in die Markthalle hineinschoben. „Ich war kurz in Versuchung. Hier liegt irgendwas in der Luft, das einen fahrlässig werden lässt. Wir sollten vorsichtshalber nichts anrühren. Ach, schauen Sie mal, ist das Elfenbein?”

Auf dem Verkaufstisch waren Schmuckkästchen in unterschiedlichsten Farben, Formen und Größen drapiert. Die cremeweißen, mit Gold verzierten sprangen einem zuerst ins Auge, doch es gab auch solche aus schlichtem Holz, in die kaum eine Centmünze hineingepasst hätte.

„Echtes Mammutelfenbein aus dem sibirischen Permafrost”, verkündete der Händler, ein hagerer Kerl, der mit seinen buschigen Brauen an einen schottischen Landadeligen erinnerte.

„Und, wie teuer ist so was?”, erkundigte sich Arno Löwenherz.

„Zwölf Euro plus.”

„Was soll das heißen: ‚zwölf Euro plus’?”

„Zwölf Euro für das Kästchen, plus den Betrag für den Schatz, der sich darin verbirgt.”

„Da ist was drin? Was denn?” Der Traumforscher wog die Schatulle in der Hand, machte Anstalten, den Verschluss zu öffnen.

„Untersteh dich, Bursche! Du ruinierst mir noch das Geschäft!”

Arno Löwenherz stellte das Kästchen pikiert zurück. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Meister, aber woher soll ich wissen, was …”

„Darum geht es doch gerade!“, erklärte der Händler. „Solange ihr nicht hineingesehen habt, kann alles darin sein, was ihr euch nur vorstellen könnt.”

„Hä?”, meldete sich Melle. „Raff’ ich nicht!”

Der coole Mike flüsterte ihr etwas ins Ohr.

„Ich bin ja nicht gehirnamputiert”, sagte sie. „Aber ich raff’s immer noch nicht!”

Der Hagere tippte auf die Elfenbeinschatulle. „Vielleicht hat jemand ein handgeschriebenes Gedicht für seine Liebste hineingelegt. Oder einen ausgefüllten Lottoschein mit sechs Richtigen – wer weiß das schon?” Seine knochige Hand wanderte weiter zu einem ebenholzschwarzen Kästchen an einer Schnur. „In dem hier könnte sich eine seltene Münze verbergen. Oder ein schmackhaftes Sahnebonbon. Und dieses gute Stück”, er deutete auf eine große vergoldete Truhe, „dieses gute Stück enthält womöglich Hamlets Schädel. Alles ist denkbar, solange eben keine Gewissheit besteht.”

Indra schmunzelte. Die Idee gefiel ihr.

„Willst du uns verarschen, oder was?”, wetterte Melle. „Was sollen wir denn mit Hamlets Schädel? Und überhaupt, du kannst uns ja viel erzählen, Alter! Bestimmt ist da gar nichts drin.”

„Aber genau das sage ich doch.” Der Händler seufzte schwer wie jemand, der sich von der Welt missverstanden fühlt. „Es liegt bei euch.”

„Wissen Sie was?” Arno Löwenherz zückte sein Portemonnaie. „Ich nehme das mit dem Sahnebonbon.”

Die Augen des Hageren blitzten triumphierend. „Das macht dann drei Euro für die Schatulle plus das, was du bereit bist, für ein Bonbon auszugeben. Aber bedenke, mein Sohn: Es könnte auch eine kostbare Perle drin sein. Oder ein Chip mit einem Code, der dir irgendwann das Leben rettet.”

„Nein!” Arno Löwenherz schüttelte den Kopf. „Für mich ist es ein Sahnebonbon!” Er steckte dem Mann einen Fünfer zu und verstaute das ebenholzschwarze Kästchen in seiner Manteltasche. „Auf Wiedersehen und einen schönen Tag noch!”

Der Verkäufer lächelte ihnen nach.

„Der hat sie wohl nicht alle!”, knurrte Melle. Es war nicht ersichtlich, ob sie den Händler oder Herrn Löwenherz meinte. Indra setzte zu einer Verteidigung an, als sich die Platinblonde auf die Zehenspitzen stellte und ihren tätowierten Schwanenhals reckte. „Ey! Ich glaube, da hinten ist der Assistent meiner Kontaktfrau. Den Schnösel krall’ ich mir. Ihr bleibt auf eurem Posten! Verhaltet euch unauffällig!” Sie verschwand im Gewühl.

Mike blickte seiner Braut hinterher. Wegen der verspiegelten Sonnenbrille konnte man nicht erkennen, ob hinter seiner Stirn Gedanken rotierten oder sein Hirn vorübergehend auf Stand-by geschaltet hatte. Doch dann ging ein Zucken durch seinen Körper und er spazierte ohne ein Wort in dieselbe Richtung davon.

Arno Löwenherz wirkte besorgt. „Glauben Sie, er ist ein Androide?”

Indra kicherte. „Alles deutet darauf hin.”

„Es ist mein Ernst. Bei den heutigen technischen Möglichkeiten …”

„Entspannen Sie sich!”

„Tu ich ja.” Er schielte zum Getränkestand, wo Fassbier und Punschvariationen mit kreativen Namen auf Kreidetafeln angepriesen wurden. „Dieser Mitternachtsmarkt ist gar nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte.”

„Und, wollen Sie nachsehen, ob wirklich etwas in dem Kästchen ist?”

„Zuerst, liebe Indra, spendiere ich uns eine heiße Schokolade. Vorsicht ist besser als Nachsicht, aber ein Becher Kakao hat noch keinem geschadet. Damit kann man nichts falsch machen, denke ich.”

Die Frau am Ausschank hatte etwas von einer orientalischen Märchenprinzessin: Eine Flut aus mitternachtsblauer, mit Pailletten bestickter Seide umwogte ihren fülligen Leib. Ihr rundes Gesicht wurde von rabenschwarzen Locken eingerahmt.

„Was darf ich den Herrschaften anbieten?”, fragte sie.

„Wir nehmen zweimal das, ähm, Höllenfeuer, bitte!”, sagte Arno Löwenherz.

„Nein!” Die Verkäuferin schüttelte den Kopf, eine Geste, die nicht zu ihrem freundlichen, bejahenden Gesichtsausdruck passte. „Nehmt ihr nicht.”

„Nehmen wir nicht?”

„Für den Gang durch die Hölle muss man gemacht sein, mein Freund. Aus solchem Holz bist du nicht geschnitzt. Deine kleine Freundin schon eher. Wobei, nein, die drei Chilischoten pro Becher kann man eigentlich niemandem zumuten.”

Der Psychologe war sprachlos, was nicht oft vorkam.

„Okay.” Indra überlegte. „Können Sie uns was empfehlen?”

„Nichts lieber als das.” Die Frau machte sich an einer mobilen Kochstation zu schaffen. Heiße Flüssigkeit zischte. Ein Schneebesen klackerte gegen Porzellan. Als sie sich wieder umdrehte, hielt sie zwei dampfende Tassen in den Händen.

„Nun denn: einen Vanilla Sky als Mutmacher für den zartbesaiteten jungen Herrn.” Sie reichte ihm den Becher, dessen Inhalt unter einer Haube aus weißer Sahne verschwand. „Und für die Dame: Arabian Nights. Stärkt Leib und Seele für neue Abenteuer!”

Aromen von Pfeffer und Zimt stiegen Indra in die Nase. Sie stellten sich mit ihren Tassen in eine ruhige Ecke.

Arno Löwenherz zog einen Schmollmund. „Ich bin gekränkt. Was erlaubt sich diese Person? Zartbesaitet? Sie kennt mich doch gar nicht! Ich brauche doch keinen Mutmacher!” Er schnupperte zögerlich an seinem Getränk. „Oha!” Nippte. „Diese Vanillenote mit einem Hauch Kardamom ist wahrlich … deliziös!” Als er den Becher zum zweiten Mal absetzte, waren seine Brillengläser vom Dampf beschlagen und er trug einen weißen Sahnebart. „Ich würde fast sagen: Das ist der beste Gewürzkakao, den ich je gekostet habe. Und ich habe schon einige Sorten durchprobiert.”

„Lecker!”, bestätigte Indra. Sie schloss die Augen und genoss die feurige Wärme, die sich beim Trinken in ihrem Körper ausbreitete, bis in die Finger und Zehenspitzen.

„Wollen wir jetzt endlich einen Blick in das Schatzkästchen werfen?”

Der Traumforscher kicherte. „Netter Versuch. Aber: nein!”

„Och, kommen Sie, Herr Löwenherz!” Sie fühlte sich mit einem Male ganz kribbelig. Ameisen tanzten in ihrem Bauch – ob das mit der Schokolade zusammenhing?

„Arno, wenn ich bitten darf.”

„Wie?”

„Wir kennen uns jetzt seit über einem Semester, Indra”, sagte er feierlich. „Was halten Sie davon, unsere professionelle Beziehung auf eine etwas persönlichere Stufe zu heben? Mein Name ist Arno.”

„Öhm. Gut. Arno.”

Er nickte zufrieden, fischte die ebenholzschwarze Schatulle an der Schnur aus seiner Manteltasche, hielt sie prüfend zwischen Daumen und Zeigefinger, rüttelte sie neben seinem Ohr. „Er hat recht!”, verkündete er. „Der gottlose Mistkerl hat recht! Alles ist denkbar. Und gerade deshalb … sollten wir das Kästchen niemals öffnen.”

„Was?” Das konnte er ihr nicht antun. „Wieso haben Sie – wieso hast du das Ding überhaupt gekauft, wenn du gar nicht vorhast reinzuschauen?”

„Dann entscheide du, Indra!” Er ließ die Schatulle an der Schnur vor ihrer Nase baumeln.

„Wie jetzt?”

„Ich schenke sie dir. Verlier sie bloß nicht!”

„Echt? Was, wenn tatsächlich etwas Wertvolles darin ist? Der Lottoschein!”

„Das werden wir nie erfahren. Oder doch?” Er grinste. „Kann meine Probandin der Versuchung widerstehen? Würde sie das Geheimnis lüften, auch wenn das hieße, den Zauber für immer zu zerstören?”

„Ich hasse dich, Herr Löwenherz! Diesmal meine ich es ernst. Das kannst du mir nicht aufbürden. Du weißt genau, dass ich das nicht aushalte. Und hör bloß auf, so überheblich zu grinsen …!”

Ihre letzten Worte wurden von der Stimme eines hochgewachsenen, schwarz gekleideten jungen Mannes mit einem Megaphon verschluckt: „Achtung, Achtung, meine Damen und Herren! Erleben Sie ein Meisterwerk der Flammenkunst. Seien Sie live dabei, wenn unsere Feuerteufel das Atrium in ein loderndes Inferno verwandeln, Feuerbälle gen Himmel schleudern und für Sie die Dämonen der Hölle beschwören, in einer Show, die ihresgleichen sucht. Atemberaubend! Magisch! Mystisch! Und absolut unvergesslich! Kommen Sie jetzt ins Atrium, meine Damen und Herren!”

Unruhe brach aus.

„Habe ich richtig gehört: Dämonen der Hölle?” Herr Löwenherz – Arno – leerte seinen Becher. „Die Märchentante kann behaupten, was sie will. Von wegen, ich sei nicht für so was gemacht. Das möchte ich nicht verpassen!” Er wischte sich die Sahne vom Kinn.

Kurz blinkte Melanies Anweisung am Rande von Indras Bewusstsein auf. Ihr bleibt auf eurem Posten! Und wenn schon? Sie waren ja keine Leibeigenen! Die Besucher setzten sich in Bewegung. Alles drängte zu einem Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite der großen Markthalle. Indra und Arno spazierten in der Menge mit.

__

Fox lehnte im Schatten der Mauer und beobachtete, wie der Menschenstrom aus dem Treppenhaus ins Freie schwappte. Das Atrium war wie der Grund eines tiefen Brunnens. Zu allen Seiten wurde es durch hohe Gebäudeblöcke eingekerkert. Der Ausschnitt des sternenklaren Nachthimmels lag in unerreichbarer Ferne.

Die meisten Gäste waren zu betrunken oder zu aufgeputscht, um es zu registrieren. Und als die Trommeln einsetzten, war es ohnehin um sie geschehen. Fox stieß sich von der Wand ab und schlenderte auf den Pulk aus Zuschauern zu. Das geballte Interesse galt den Artisten, die im dumpfen Rhythmus der Bongos mit brennenden Fackeln jonglierten, glühende Lavafontänen in die Nacht spien und bunte Flammenringe auflodern ließen. Niemand achtete auf den Jungen in Schwarz. Bei Tageslicht würde sein fuchsroter Haarschopf Aufmerksamkeit erregen, doch selbst das wäre für einen Profi wie ihn kein wirkliches Hindernis. Eher eine willkommene Herausforderung. Zu dieser unchristlichen Stunde verschmolz er förmlich mit seiner Umgebung. Fox wusste genau, wie man in einer Menschenmenge untertauchte. Während seine Wahlverwandten das Feuerspucken trainierten, hatte er die Kunst des Versteckspielens perfektioniert. Wer ihn überhaupt bemerkte, hielt ihn in der Regel für einen harmlosen Hutgeldsammler. Nun ja: ‚Sammeln’ war ein dehnbarer Begriff.

Allein vor den Zombies nahm er sich in Acht. Das waren unangenehme Zeitgenossen, Langzeitstudenten, die komisch rochen und ihre Träume verloren hatten. Bei denen gab es sowieso nichts zu holen.

„Hi!” Eine Blondine, der das gutbürgerliche Elternhaus am Designerhandtäschchen abzulesen war, lächelte ihn gönnerhaft an. „Tolle Show!”

Er hielt ihr mit einer Verbeugung den Hut hin.

Das Lächeln erstarb. „Zu dumm, dass ich ausgerechnet heute mein Portemonnaie vergessen habe”, log sie, ohne rot zu werden.

„Wirklich?”, fragte Fox (ebenfalls ohne rot zu werden) und fixierte sie mit seinem Räuberblick (eine weitere antrainierte Fähigkeit, die ihm den Job erleichterte, weil andauerndes Starren die Leute für gewöhnlich nervös machte). „Wenn du dein Portemonnaie vergessen hast: Wo kommt dann die hier her?” Er zauberte eine Euromünze hinter ihrem Ohr hervor.

Das Mädchen wurde jetzt doch ein wenig rot. „Die Münze hast du aus deinem eigenen Hut genommen. Oder?”

Er zuckte mit den Schultern, zwinkerte ihr verschwörerisch zu und ließ sie stehen. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sie ihm verzückt nachsah. Tagsüber hätte diese Blondine aus gutem Hause über jemanden wie ihn die Nase gerümpft. Der Zauber der Nacht (und nicht zuletzt die berauschende Wirkung gewisser exotischer Getränke) vernebelte ihre Wahrnehmung. Es klappte immer. Ein Kinderspiel.

In der Mitte liefen Leo, Cat und die anderen Feuerteufel zur Höchstform auf. Ein Trommelwirbel untermalte den Bengalischen Tiger, einen imposanten und nicht ungefährlichen Stunt, der brennende Reifen und Saltos beinhaltete. Ehrfurchtsvolle „Ahs” und „Ohs” spülten über die Menge hinweg. Fox hielt nach seinem nächsten Opfer Ausschau.

„Hey, du!”

Ein spitzer Finger bohrte sich zwischen seine Schulterblätter. Er schnellte herum, halb verblüfft, halb erschrocken. Im Verlaufe seines fünfundzwanzigjährigen Lotterlebens hatte es noch niemand fertiggebracht, sich von hinten an ihn heranzuschleichen.

Der Finger gehörte zu einem fremden Mädchen, dessen herzförmiges Gesicht wie eine Rosenknospe aus einem Ungetüm aus purpurroter Wolle hervorlugte. Sie war jung, verstrubbelt und mindestens einen Kopf kleiner als Fox. Was sie aber nicht davon abhielt, ihn herausfordernd anzufunkeln. Diese großen dunklen Augen … Es kam ihm so vor, als wären sie sich schon einmal begegnet.

„Kennen wir uns?”

„Ich hoffe nicht! Ist das eure Masche, hier die Leute abzuzocken?” Ihr kastanienbrauner Pferdeschwanz wippte vor Empörung.

„Ähm, was?”, entgegnete er lahm.

„Du hast etwas, das ihr gehört!” Das Mädchen zeigte ins Gewühl, wo die Blondine hinter vorgehaltener Hand mit ihren Freundinnen kicherte. „Helles Leder, Strasssteinchen!”, half sie ihm auf die Sprünge.

„Das ist ein Missverständnis.” Fox spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen schoss. Irgendetwas lief hier völlig falsch.

„Von wegen”, sagte das Mädchen mit dem roten Schal und wischte sich eine im Wind flatternde Strähne aus dem Gesicht.

Fox wunderte sich, wie ein so zartes Geschöpf gleichzeitig so taff wirken konnte.

„Du hast diesen Münztrick gemacht und ihr dabei die Geldbörse aus der Handtasche gezogen”, fuhr sie fort. „Ich hab’s gesehen.”

„Soso. Hast du das?” Er probierte seinen Räuberblick.

Keine Chance. Die Kleine ließ sich weder erweichen noch einschüchtern. Im Gegenteil: Sie starrte unbeeindruckt zurück. Ihre großen Augen glänzten im Schein des Feuers wie schwarze Obsidiane.

„Wir haben zwei Optionen”, sagte sie. „Entweder ich verpetze dich bei der Polizei – was ich gerne vermeiden würde, denn ich hasse es zu petzen –, oder du gehst jetzt da rüber und steckst das Portemonnaie zurück. Sie braucht nichts davon mitzubekommen. Ich bin sicher, du kriegst das hin.”

Fox öffnete den Mund, hangelte erfolglos nach einer schlagfertigen Antwort. Sein Kopf war wie leer gefegt.

„Also?”

Er verzog den Mund zu einem schuldbewussten Lächeln. „Erwischt.”

„Gib es einfach zurück, und wir vergessen die Sache. Ach, warte mal …” Als hätte sie ihn nicht genug gedemütigt, warf sie zwei Euro in den Hut. „Für die Show.”

Fox drehte sich steif herum und steuerte auf die Blondine zu.

Er musste nicht über die Schulter blicken, um zu wissen, dass die Kleine ihm aus ihren obsidianschwarzen Augen hinterhersah.

__

Das Spektakel endete, wie es begonnen hatte: mit einem bombastischen, funkensprühenden Knall. Die Menge verstreute sich, kaum dass die Trommeln verhallt waren.

Indra reckte den Hals und hielt Ausschau nach Arno, der vor gefühlten Ewigkeiten zur Toilette gegangen war. Melle und Mike waren auch nicht wieder aufgetaucht. Man konnte nur hoffen, dass die Biker-Queen gute Laune hatte, wenn sie sich das nächste Mal über den Weg liefen.

Verhaltet euch unauffällig!

Das hatte ja toll geklappt. Nicht genug, dass sie sich mit scheinbar harmlosem Kakao einen Schwips angetrunken und ihren Posten verlassen hatten. Nein, zu allem Überfluss hatte Indra – ob im Schokorausch oder in einem unerfindlichen Anfall von Gerechtigkeitswahn – einen Taschendieb gestellt und mit der Polizei bedroht. Ob der Rotschopf das Portemonnaie zurückgegeben hatte? Nicht mehr ihre Sache. Der Typ sah nicht wie jemand aus, auf dessen Wort man bauen konnte. Mit seinen zerlöcherten Jeans, dem schwarzen Kapuzenpulli und den wilden Haaren, die im Nacken eine Idee zu lang waren, wirkte er eher wie ein Straßenjunge. Überdies war er barfüßig unterwegs. Womöglich brauchte er das Geld dringender als die Studentin, der er es entwendet hatte. Für ein Paar Schuhe. Oder den Friseur.

Der Zeiger von Indras Armbanduhr bewegte sich auf die Drei zu. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Mit etwas Glück erwischten sie den nächsten Nachtexpress. Wenn Arno Löwenherz sich denn endlich her bequemte. Inzwischen hatten sogar die Feuerkünstler eingepackt und waren ins Haus verschwunden. Mit ihnen löste sich der Duft von Spiritus und Schwarzpulver in der Nachtluft auf. Zerknautschte Plastikbecher wehten über den Asphalt. Das Atrium hatte sich binnen weniger Herzschläge aus einem magischen Ort in einen dunklen, zugigen, von Hochhausbauten eingekesselten Innenhof zurückverwandelt.

Indra verschränkte die Arme und trat fröstelnd von einem Fuß auf den anderen. Sie hätte gerne drinnen im Warmen gewartet, wollte aber nicht riskieren, Arno zu verpassen. Der Himmel über den Wohnheimtürmen glänzte sternenklar. Dafür war die Temperatur abrupt gesunken. Zwischen den Gebäudetrakten kroch Nebel heran.

Indra scannte die dunklen Nischen des Gemäuers, weil sie sich unvermittelt beobachtet fühlte. Wie zur Bestätigung klirrte dort im Schatten bei den Mülltonnen auf einmal Glas. Sie ärgerte sich, dass ihr Herz sofort schneller schlug.

Das ist nur der Wind, der eine leere Flasche über den Boden rollen lässt. Oder eine Ratte, die im Abfall nach Essensresten stöbert.

Sie hatte den Gedanken kaum beendet, da vernahm sie aus derselben Ecke ein leises „Pssst”.

Indra erstarrte. „Wer ist da?”

Ein Glucksen ertönte. „Ich bin’s.”

Aus unerfindlichen Gründen jagte ihr die Stimme einen Schauer über den Rücken. Jemand spielte ihr einen Streich, das stand fest. „Arno?”

Ein bleiches Narbengesicht schälte sich aus der Finsternis, gefolgt von einem spindeldürren weißen Leib. Der Zombieclown. Er hatte dort auf allen vieren im Abfall gekauert. Jetzt faltete er sich wie eine Marionette auseinander. Der Wind aus seiner Richtung trug einen faulen, moderigen Geruch mit sich.

„Komm mal her, na komm!” Der Zombie wedelte mit der Hand, verzog die tintenschwarzen Lippen zu einem halbseitigen Grinsen. „Komm schon! Ich muss dir was zeigen.”

Indra wich instinktiv einen Schritt zurück, als sie im Augenwinkel ein Flattern wahrnahm: Ein Vogel kam zwischen den Türmen hervor und schoss mit gespreizten Schwingen über das Narbengesicht hinweg. Erst glaubte sie, dass es sich um eine Taube handelte, dafür war das Tier aber zu groß. Der Zombie taumelte, verlor die Balance und plumpste zurück in den Unrat, dem er entkrochen war. Parallel ging am Gebäude eine Tür auf und Schritte näherten sich über den Asphalt.

„Bei allen guten Geistern! Ist der Spuk schon vorbei?”

Indra war noch nie so erleichtert gewesen, die Stimme ihres Therapeuten zu hören. Allerdings wirkte Arno ein wenig abgehetzt. Sein sonst gekämmtes Haar stand wirr vom Kopf ab, der Schlips hing schief, und auf dem Kragen seines offenen Mantels schimmerten Glitzerpartikel.

„Die sind hier wirklich komplett irre! Eine Dame hat versucht, mir Sternenstaub aufzuschwatzen.” Er tippte sich gegen die Stirn. „Drei zum Preis von einem! Als ob ich darauf reinfallen würde. Dann fiel mir ein, wohin ich eigentlich wollte. Leider gab es auf dem Herren-WC nur diese unsäglichen Pissoirs. Wir sind doch nicht bei den Neandertalern! Ich musste bis in den dritten Stock stiefeln, um eine ordentliche Toilette zu finden. Als ich zurückkehrte, waren die Stände abgebaut …” Er stoppte seinen Redeschwall. „Ist was?”

„Nein.” Indra schaute verwirrt zu den Müllcontainern. Das Narbengesicht hatte sich aus dem Staub gemacht. Ätzender Kerl. „Mir ist bloß kalt, Herr Löw… ich meine Arno. Hast du Melle und Mike gesehen?”

„Bedauerlicherweise: ja. Deine Rockerfreundin sprach von verpatzten Geschäften und dass du dich warm anziehen sollst. Dann forderte sie diese bärtigen Wrestlertypen zum Armdrücken auf. Ihr Androide stand daneben und schwieg. Ich hatte aber das Gefühl, dass er mir etwas sagen wollte. So was wie: Verschwindet, wenn euch euer Leben lieb ist!”

Indra kicherte. „Dann mal los!”

Hoch über ihren Köpfen hatte jemand das Sternenlicht gedimmt. Fahlgraue Tupfer schienen den schwarzen Himmel aufzuweichen, obwohl es noch mitten in der Nacht war. Sie hakte sich bei Arno ein.

„Irre!”, wiederholte er und schüttelte ungläubig den Kopf. „Komplett irre!”

*** Ein verwildertes Sumpftal. Hochspannungsmasten. Die fahle Stunde zwischen Nacht und Tagesanbruch. Der Mond zeichnet sich als blasses Oval am Firmament ab. Nebel schwebt über den Tümpeln.

Indra kauert im Geäst einer knorrigen Trauerweide oberhalb des Geländes.

Ich bin zurück, denkt sie, denkt es mit einer Selbstverständlichkeit, die man nur in Träumen empfindet, wenn die wundersamsten Begebenheiten gegen jeden Zweifel erhaben sind. Ich träume in Fortsetzung. Schon wieder. Abgefahren!

Gleichzeitig wird sie von einem altbekannten Gefühl eingeholt: dem irrationalen Gefühl drohender Gefahr. Der Fuchs mit den leuchtenden Bernsteinaugen ist verschwunden. Dafür sitzt ein anderes Tier im Gras: ein Wildkaninchen. Erst lugen nur seine Löffel hervor. Dann stellt es sich auf die Hinterläufe, und Indra erkennt, dass es gar kein Kaninchen ist, sondern ein großer, schlanker Feldhase. Und plötzlich ist auch der Fuchs wieder da. Zunächst erweckt es den Anschein, dass er sich an seine Beute heranpirscht. Aber nein, das Langohr hat den Räuber längst bemerkt und macht doch keine Anstalten, die Flucht zu ergreifen. Im Gegenteil: Man könnte meinen, Fuchs und Hase seien gemeinsam unterwegs. Geduckt schleichen sie auf das kuppelförmige Bauwerk zu, dessen spiegelnde Metallstruktur mit der algengrünen Patina im Licht der Morgendämmerung flimmert.

Ein kaltes Zischen ertönt: Die beiden Bullaugen über dem Eingangstor erwachen zum Leben. Aus den geöffneten Luken schießen violette Lichtkegel hervor. Im Nu ist eine wilde Verfolgungsjagd im Gange. Die Tiere sprinten im Zickzack davon, den laserartigen Lichtschneisen ausweichend, welche ihnen dicht auf den Fersen sind. Indra bildet sich ein, verkohltes Fell zu riechen. Die Fliehenden preschen panisch auseinander. Der Fuchs verschwindet oberhalb der Kuppel zwischen den Hügeln. Der Hase schlägt einen Haken in die entgegengesetzte Richtung, hetzt jetzt mit langen Sprüngen direkt auf Indra zu. Kurz bevor er den Schutz der Weide erreicht, knickt seine Vorderpfote weg. Er überschlägt sich, grätscht wie ein Fußballspieler durch den Morast, die Augen vor Todesangst weit aufgerissen. „Hilf mir!”

Indra reagiert intuitiv. Sie flitzt wieselflink den knorrigen Baumstamm hinunter, wundert sich nur ein kleines bisschen, dass sie dazu in der Lage ist, durchbricht den Vorhang der Weidenzweige, springt aus ihrer Deckung ins freie Feld.

Und warum nicht? Dies ist ein Traum, richtig?

Die violetten Lichtkegel stoppen wie ein denkendes Wesen mitten in ihrer Bewegung, wechseln den Kurs. Ein klaffender, rauchender Riss tut sich in der Erde auf. Und Indra fällt.***

Das Schatzkästchen

 

 

Als Indra gegen Mittag die Augen aufschlug, war die Erinnerung an den Traum nicht mehr als ein Schatten, der sich in die Höhlen ihres Unterbewusstseins zurückgezogen hatte. Dafür kehrten die Eindrücke des Mitternachtsmarktes umso deutlicher zurück: Gewürzschokolade. Sternenstaub. Die Feuershow. Rückblickend fühlte es sich an wie … Magie.

Sie schälte sich aus dem Bett und hangelte mit der Zehenspitze nach ihren Pantoffeln. Sonnenstrahlen sickerten durch die Vorhänge ihrer kleinen Dachgeschosswohnung. Von der Wendeltreppe stieg Kaffeeduft herauf, vermischt mit dem Aroma aufgebackener Brötchen. Die Aussicht, ein Frühstück bei ihrer Vermieterin abzustauben, weckte Indras Lebensgeister.

Während Arno ihr Freund und Mentor war, betrachtete sie Olga als die mütterliche Vertraute, die sie sich immer gewünscht hatte. (Zwölf weltfremde Nonnen konnten eine richtige Familie nun mal nicht ersetzen. Zudem hatte Indras Beschluss, sie werde in die Stadt ziehen, um Literaturwissenschaften zu studieren, hinter den Klostermauern eine mittelschwere Katastrophe ausgelöst. Aber das war eine andere Geschichte.) Im Gegensatz zu den Ordensschwestern, die Bochum als Sündenpfuhl und mittelalterliche Artusromane als Werke des Teufels verurteilten, war Olga erfrischend pragmatisch. Sie hielt Beten (und Fensterputzen) für Zeitverschwendung, öffnete Paketboten bis vormittags um elf im Bademantel und duftete stets nach Rosenwasser. Außerdem brühte sie den besten Kaffee des Universums. Ihre Begegnung vor einem halben Jahr war Indra wie eine günstige Fügung erschienen. Sie hatte eine billige Bleibe gesucht. Und Olgas Dachgeschoss stand seit Langem leer. (Weil kein normaler Mensch in ein Mauseloch ohne eigenes Bad und WLAN einziehen wollte. Aber Indra redete sich gerne ein, dass diese Wohnung nur auf sie gewartet hatte.)

Sie verließ ihr Quartier über die steile Wendeltreppe, die direkt in Olgas Wohnküche mündete. Schon auf halber Strecke wurde sie von den typischen Samstagmorgengeräuschen empfangen: Die Holzstufen knarrten unter ihren Füßen, die Kaffeemaschine gluckerte, das Radio spielte einen alten Beatles-Song.

Ihre Vermieterin saß an dem kleinen Tisch am Küchenfenster, der genau Platz für zwei Personen mit bestem Ausblick auf den gemauerten Hinterhof bot, und strickte. Indra konnte nur spekulieren, woran. Solange sie sich kannten, schneiderte Olga immer an irgendetwas herum. Im Laufe der Jahre waren so massenweise Socken, Mützen, Stulpen, Ponchos, Decken und Strickjacken entstanden, welche sie – neben Wolle, Stoffen und Zubehör – unten im Laden verkaufte. Zumindest theoretisch. Praktisch bestand die Stammkundschaft aus vier, fünf Nachbarinnen, die hauptsächlich zum Kaffeetrinken vorbeikamen. Zahlende Käufer für die Textilien fanden sich selten, was daher rührte, dass Olga bei der Auswahl ihrer Farben und Muster einen recht eigenwilligen Geschmack an den Tag legte. Das aktuelle unvollendete Werk in ihrem Schoß, ein fransiger Sack, changierte zwischen neongelb und schweinchenrosa. Indra war sich bewusst, dass sie es mit ihrem roten Schal gut getroffen hatte.

„Lass mich raten”, sagte Olga. „Madame ist wieder mal am Verhungern?”

„Wenn du so fragst: ja.” Indra fabrizierte ein Grinsen, das in ein Gähnen überging, und zog sich einen Stuhl heran.

Olga schnaubte, was nie richtig streng wirkte, ließ die Stricknadeln sinken und langte nach der Kaffeekanne. Im Radio schlug George Harrison seine letzte Saite an. Ein Werbespot für ein neues Wellnessresort ertönte, gefolgt von Katzenfutterreklame. Dampfender, pechschwarzer Sud ergoss sich in weißes Porzellan.

„Meine Schwägerin hat vorgeschlagen, dass wir das auch mal probieren.”

Indra warf ein Stück Zucker in ihren Becher. Rührte. Allein der Duft der frisch gemahlenen Arabica-Bohnen ließ einen senkrecht sitzen. Es gab nichts Besseres!

„Entschuldigung, was wollt ihr ausprobieren?”

„Na, dieses neue Wellnesszentrum.”

„Hä?”

„Hast du Wachs in den Ohren? Aus der Werbung! War doch eben im Radio. Und den Gutschein hier hatten wir letztens im Briefkasten.” Olga wedelte mit einem weißen Hochglanzflyer. „Tja, ich weiß nicht so recht, ob das was für mich alte Schachtel ist. Andererseits … Man kann ja nicht immer nur stricken.”

„Hm.” Indra nippte an ihrem Kaffee.

In den Nachrichten warnten Wissenschaftler vor klimawandelbedingten Herbststürmen. Ein Promi-Koch wurde mit den Worten zitiert, man solle nicht jammern, es gehe doch allen gut. Wetterveränderungen habe es immer schon gegeben.

Indras Magen knurrte.

„Mädchen, du frisst mir die Haare vom Kopf”, brummte Olga und schob ihr den Brötchenkorb, die Brombeermarmelade und den selbst gemachten Wurstsalat rüber.