In Sippenhaft - Annette Hurrelmann - E-Book

In Sippenhaft E-Book

Annette Hurrelmann

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Beschreibung

"Ich ziehe den Kopf wieder zurück und lausche. Nichts. Nur ein paar Blätter rascheln, als der aufflackernde Wind sie über den Hof fegt. Dann kracht ein Schuss." Zwei Männer, erschossen an einer Autobahnraststätte. Der eine: Klempner. Der andere: hochdotierter Unternehmensanwalt. Was verband die beiden? Was führte sie diesen Ort? Warum mussten sie sterben? Hannah Vogelsang, unangepasste Bielefelder Kriminalpolizistin, tappt zunächst völlig im Dunkeln. Und als wäre der knifflige Fall nicht schon genug, ist da auch noch die neue Kollegin Nicola - undurchdringlich, ambitiös, viel zu attraktiv - die Hannah völlig durcheinander bringt. Die atemlose Suche nach dem Täter führt Hannah tief ins Umfeld der beiden Opfer – und fördert einiges zu Tage, was mächtig stinkt. Außerdem tritt sie mal wieder Leuten auf die Füße, mit denen man sich lieber nicht anlegt. Und nebenbei kommt sie auch noch Nicolas traurigem Geheimnis auf die Spur. Beim Showdown mit einem unerwarteten Gegner muss Hannah ihre Fehler teuer bezahlen ...

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Seitenzahl: 391

Veröffentlichungsjahr: 2014

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In Sippenhaft

Impressum

In Sippenhaft - Ein Hannah Vogelsang Krimi

Annette Hurrelmann

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2014 Annette Hurrelmann

ISBN 978-3-8442-9339-5

Kapitel 1 Auf dem Parkplatz

Ich habe nie gut schlafen können, schon als kleines Kind nicht. Über die Jahre habe ich mich damit abgefunden, dass ich mich jeden Abend ein, zwei Stunden in den Kissen herumwälze, bevor ich Schlaf finde. Dadurch habe ich zumindest am Ende des Tages etwas Zeit für mich und meine Gedanken.

Trotzdem, als mich an diesem Montagmorgen das Telefon weckt und die Anzeige an meinem Radiowecker 2:37 Uhr blinkt, würde ich viel darum geben, diese zwei zusätzlichen Stunden Schlaf gehabt zu haben. Ein Anruf um diese Zeit bedeutet unweigerlich, dass es mit der Nachtruhe vorbei ist. Ich taste schlaftrunken nach dem Hörer und führe ihn zum Ohr.

„Raststätte Bielefeld“, sagt Müller, bevor ich es überhaupt geschafft habe, mich zu melden. Eindeutig steht ihm der Sinn nicht nach langen Einleitungen oder Höflichkeiten.

„Bin gleich da“, sage ich und lege auf. Mehr Worte braucht es zwischen mir und meinem Chef nicht.

Ich muss mich unter Shabas langen Gliedern herauswinden, um aus dem Bett zu steigen. Für sie ist das Wort ‚Schlafprobleme’ ein Fremdwort. Sie taucht ins Land der Träume ab, sobald das Licht gelöscht ist, und dann können weder Telefon- oder Weckerklingeln noch Schütteln und Anschreien sie wieder zurückholen bis genau zu der Zeit, wo  ihre innere Uhr sagt, dass sie aufstehen muss. Ohne Zweifel ist Shaba, eigentlich Shabnam Bahrami, ihres Zeichens Bielefelds wagemutigste Taxifahrerin und außerdem die größte Herzensbrecherin der lokalen Szene, ein ganz besonderer Mensch.

Sie schläft ungerührt weiter, während ich aus dem Bett steige, mir Unterwäsche, Jeans, Socken und Pullover überstreife, und kurz im Badezimmer verschwinde, um zumindest schnell die Zähne zu putzen und vor dem Spiegel die dunkelblonden Dreadlocks zurechtzuschütteln. Dann schlüpfe ich in Stiefel und Lederjacke, ziehe die Wohnungstür hinter mir zu, bin auf dem Weg.

An der Autobahn A2, die sich im Osten an Bielefeld vorbeischwingt, liegt die Autobahnraststätte Bielefeld kurz vor der Abfahrt Zentrum. Das ist an sich nicht weit, nur muss ich erst ewig die Herforder Straße nach Norden fahren, um die richtige Auffahrt zu erreichen. Zum Glück ist um diese Zeit praktisch kein Verkehr, so brauche ich trotzdem nicht mehr als 20 Minuten, bis die Hinweisschilder zur Raststätte aus der Dunkelheit auftauchen.

Ich glaube nicht, dass ich schon einmal hier war. Die Orte, die vor der eigenen Haustür liegen, kennt man oft am wenigsten. Zuerst sehe ich eine Tankstelle, hell erleuchtet und offensichtlich geöffnet. Da dort aber keine Menschenseele zu erkennen ist, folge ich weiter der Fahrspur, die hinter dem Tankstellengebäude vorbei zum Parkplatz führt. Dann gabelt sich der Weg. Rechts geht es zu den Stellplätzen für LKWs, auf denen ein Autotransporter mit mehreren Kleinwagen und ein weißer Lastwagen mit Kofferaufbau parken. Die linke Spur führt vorbei an einem Restaurant, das dunkel und unbelebt daliegt, zum Parkplatz für Personenwagen und zum Picknickbereich. Dort hinten sehe ich das Blinken der Blaulichte und den starken Schein der Leuchten, mit denen unsere Techniker nächtliche Tatorte ausleuchten.

Ich stelle meinen mintgrünen Polo neben den Polizeifahrzeugen ab und steige aus. Das rotweiße Absperrband ist unnötig, denn Schaulustige sind keine da. Ich schlüpfe darunter durch und bleibe erst mal stehen, um die Szene auf mich wirken zu lassen.

Müller, von dem ich alles gelernt habe, was ich über Mordermittlungen weiß - und das ist nicht wenig - schwört darauf, dass der erste intuitive Eindruck vom Tatort besonders wichtig ist. Schau dir alles erstmal aus der Entfernung an, und lass eine Vision entstehen, was sich abgespielt haben könnte. Mein erster Gedanke ist, dass irgend ein entscheidender Teil des Bildes fehlt. Ich kann es nicht konkret benennen, aber mein Gefühl sagt, dass ich nicht alles sehe, was ich sehen sollte.

Was ich sehe  außer  den Technikern, Fotografen und Leuten von der Spurensicherung, die bereits herumwuseln - sind zwei Autos, die nebeneinander auf einem der Parkstreifen abgestellt sind. Eins ist ein weißer VW-Transporter mit Bielefelder Kennzeichen, das andere ein fetter dunkelblauer Audi A8, der vor Sauberkeit im Licht der Tatortlampen glänzt. Das  Nummernschild weist ihn als dem Landkreis Lippe zugehörig aus. Die Wagen sind vorwärts eingeparkt, aber während der Lieferwagen sich ordentlich an seine Parklücke hält, steht der Audi schief da und blockiert so mindestens anderthalb Stellplätze. Auf dem leeren Parkplatz ist das natürlich völlig egal - aber es kommt  mir merkwürdig vor, dass dieses  so sorgfältig gepflegte Auto  so nachlässig abgestellt wurde.

Die Fahrertür des A8 ist geöffnet, daneben auf dem Asphalt liegt die Leiche eines Mannes. Ich trete näher heran, um ihn mir genauer anzusehen. Es ist ein großgewachsener Mittfünfziger mit asketisch schlankem Körperbau und schütteren graublonden Haaren. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug aus edlem Stoff, unter dem ein blütenweißes Hemd mit akkurat gebundener blauer Krawatte herausschaut. In der Mitte seiner Stirn ist ein kleines, sauberes Einschussloch.

„Sofort tot?“ frage ich Robert Brandner, unseren Gerichtsmediziner, einen niedlichen jungen Österreicher, der neben dem Toten auf dem Boden hockt. An seiner Seite steht die abgestoßene lederne Arzttasche, die er von seinem Großvater geerbt hat, der ebenfalls Gerichtsmediziner war.

„Davon gehe ich aus. Endgültig kann ich das aber aber erst nach der Obduktion sagen. Ich schätze, er ist seit einer guten Stunde tot.“

Müller ist hinter mich getreten. „Hallo, Hannah. Tut mir leid, dass ich dich so früh aus dem Bett werfen musste.“

Müller ist ein sanfter Mann mit rundem Kopf, rundem Bauch und einem großen Herzen. Über die vier Jahre, die ich mit ihm nun zusammenarbeite, ist er so etwas wie ein zweiter Vater für mich geworden. Ein zweiter Vater, der mir inzwischen viel näher steht als mein eigentlicher, erster Vater. Zu Müllers vielen guten Wesenszügen zählt der absolute Respekt, den er den Fähigkeiten seiner Mitarbeiter entgegenbringt. Niemals habe ich es erlebt, dass er sich als allwissender Boss aufspielt, oder dass er unsere Theorien oder Ideen zu einem Fall geringschätzig abtut.

Zudem, und auf diese Eigenschaft Müllers habe ich leider schon mehrfach in meiner Karriere bei der Bielefelder Polizei zurückgreifen müssen, ist er immer bereit, sich schützend vor seine Leute zu stellen. Er tut das ohne Rücksicht auf sein Ansehen und die eigenen Zukunftsaussichten in unserem Betrieb. Letztendlich ist Müller aber wahrscheinlich sowieso einfach ein zu guter Mensch, um es in seiner Karriere noch viel weiter zu bringen, als bis zu seiner jetzigen Position. Ihm fehlen der Machthunger, der politische Verstand und die Bereitschaft, über andere Menschen hinwegzutrampeln.

Nur eins gibt es, was mich an Müller befremdet, das ist seine Religiosität. Mit seiner Familie, die aus einer freundlichen blonden Frau und zwei wohlgeratenen blonden Töchtern mit Pferdeschwänzen besteht, geht er eisern jeden Sonntag in den Gottesdienst - in den katholischen. Ich habe Vorbehalte gegen institutionalisierte Religion im Allgemeinen und gegen diese Ausprägung im Besonderen. Aus gutem Grund, wie ich finde, denn wie du mir so ich dir ... Doch Müller lebt seinen Glauben auf eine so liberale und private Art und Weise aus, dass ich mich daran nicht wirklich stoßen kann. An sich selbst hat er die höchsten moralischen Ansprüche, aber nichts steht ihm ferner, als über andere zu urteilen oder ihnen den richtigen Weg weisen zu wollen. Ich habe nie den Eindruck gehabt, dass er mit meiner Lebensführung auch nur die kleinste Schwierigkeit hat.

Allerdings zahle ich Müller die großen Verdienste, die er zweifellos um mich hat, auch in barer Münze zurück. Ich bin eine gute Polizistin, selbst wenn ich manchmal zu impulsiv handle oder unbedacht den falschen Leuten auf die Füße trete. Er weiß, dass er sich auf meine Hingabe an diesen Job und auf meinen Instinkt verlassen kann - vor allem aber auf meine Loyalität. Ich würde mich, ohne einen Augenblick zu zögern, für Müller vierteilen lassen.

„Nicola und Peter sind auch gerade gekommen.“ Er legt seine Hand auf meine Schulter. „Lass uns eine kurze Lagebesprechung machen, die weiteren Aufgaben verteilen.“

Peter Trimmer und Nicola Ostermann sind die beiden weiteren Mitglieder meiner Ermittlungsgruppe.

Trimmer ist hinter Müller der nächsthöchste im Dienstrang. Er ist ein völlig anderer Mensch, ein ekeliges kleines Männchen, das sich die Haarsträhnen über die Glatze klebt - wahrscheinlich mit Spucke - und es nicht für nötig hält, mit seiner Xenophobie, Misogynie und Homophobie hinter dem Berg zu halten. Damit reizt er mich ständig bis aufs Blut. Heute trägt er eine große grüne Lodenjacke, in der er aussieht wie ein Oberförster auf der Pirsch, und darunter ein kariertes rotes Hemd, das mindestens zehn Jahre alt ist. Mit seinem feuchten Mündchen saugt er an einer seiner obligatorischen Kippen.

Ich weiß, dass Müller große Stücke auf Trimmers Fähigkeiten hält, und ich muss zugeben, dass er tatsächlich ein Meister darin ist, jede nur erdenkliche Information über eine Person aus den verborgensten Ecken herauszukitzeln. Aber ich bin auch der Meinung, dass seine Vorurteile die Qualität seiner Arbeit erheblich beeinträchtigen. Natürlich lasse ich es mir nicht nehmen, diese Einschätzung, wann immer möglich, deutlich kundzutun. Laut Müller benehmen wir uns wie zwei räudige Hinterhofkatzen, ständig damit beschäftigt, einander die Krallen ins Gesicht zu schlagen.

„Das ist ein Tatort hier“, sage ich zu Trimmer, „da kannst du doch nicht alles mit deiner Zigarettenasche besudeln.“

„Hör auf mit dem Herumgezicke“ schießt er zurück. „Das fegt alles der Wind weg.“

„Schluss jetzt damit“, fährt Müller dazwischen, „wir haben wirklich Wichtigeres zu tun, als uns hier gegenseitig anzublöken.“ Dann verfliegt sein Ärger so schnell, wie  gekommen , und er fragt Nicola: „Alles unter Kontrolle bei dir zu Hause? Wenn nötig, kann dich jederzeit jemand zurückfahren.“

Sie schüttelt abwehrend den Kopf. „Toni schläft tief und fest, vor sieben Uhr wacht die nicht auf.“

Nicola ist das neueste Mitglied unseres Teams, erst vor gut sechs Wochen ist sie von der Kölner Kriminalpolizei zu uns gekommen. Sie ist alleinerziehende Mutter einer fünfjährigen Tochter - wobei ich erst dachte, es sei ein Sohn, weil sie immer von ‚Toni’ spricht, wenn sie ihr Kind erwähnt. Aber dann wurde ich eines Besseren belehrt.

Vor einer Woche, als ich mit Shaba am Samstagnachmittag im  Herbstsonnenschein einen kleinen Bummel durch den Park machte, entdeckte ich Nicola und ihr Kind am Teich beim Entenfüttern. Die Kleine war ganz eindeutig ein Mädchen, eine Art Miniaturausgabe ihrer Mutter mit denselben schulterlangen gelockten dunklen Haaren und klaren grünen Augen, nur zuzüglich einer kleinen Prise Babyspecks.

„Komm, lass uns rübergehen, ich stelle euch vor“, sagte ich zu Shaba, die sich nur widerwillig  fügte.  Denn erstens hat sie ein ziemlich ausgeprägtes Gespür dafür, wenn ich an einer anderen Frau auch nur ein ganz winziges bisschen interessiert bin. Sie selbst besteht auf einer offenen Beziehung, will mir gegenüber niemals über ihr Kommen und Gehen Rechenschaft ablegen und zieht reihenweise andere Frauen durchs Bett - doch zugleich ist sie kleinkariert eifersüchtig, wenn es um mich geht. Der zweite Grund ist, dass Shaba Kinder nicht ausstehen kann. Vielleicht liegt es daran, dass sie selbst drei jüngere Schwestern hat, auf jeden Fall ist für sie jeder Mensch, der noch nicht die Volljährigkeit erreicht hat, in etwa so attraktiv wie eine Kakerlake. Umgekehrt können Kinder Shaba allerdings auch nicht riechen.

Das erste, was Nicolas Tochter zu Shaba sagte, war: „Du siehst aus wie eine Ente.“

„Antonia!“, sagte Nicola entsetzt, womit zumindest das Rätsel um den Namen gelöst war.

Ich aber musste fürchterlich lachen, denn eine Ente ist nun wirklich das letzte Tier, mit dem Shaba Ähnlichkeit hat. Eher erinnert sie an eine Giraffe, wegen ihrer Größe, oder an einen schwarzen Panter, weil sie so dunkel, geschmeidig und sexy ist. Und ständig auf Beutezug.

„Und du“, gab sie natürlich sofort zurück, „siehst aus wie eine Nervensäge“.

Worauf es an mir war, tadelnd „Shaba, also bitte!“ zu sagen.

Als Shaba und ich dann nach einem kurzen und auf beiden Seiten eher verkrampften Gespräch in die andere Richtung abgingen, hörte ich noch mit halbem Ohr, wie Antonia zu ihrer Mutter sagte: „Und die andere sieht aus wie ein Bär. An der Nase.“

Weder meine Nase noch meine Statur an sich haben viel mit einem Bären gemein - Gott sein Dank. Trotzdem war mir in diesem Fall der Bezug sofort klar: Ich trage einen kleinen silbernen Ring durch meinen linken Nasenflügel, den die Kleine assoziiert haben muss mit dem Bild vom Tanzbären in irgendeinem Zirkusbilderbuch.

„Das Opfer heißt Hans-Hermann Zeisler“, sagt Müller. „Dr. Hans-Hermann Zeisler, um genau zu sein. Er ist 54 Jahre alt und wohnhaft in Oerlinghausen. Der Audi ist sein Wagen. Seine Brieftasche mit Ausweis, Zulassungspapieren und 200 Euro in bar steckte in der Innentasche seines Mantels, der auf dem Rücksitz des Wagens lag. Raubmord können wir als Mordmotiv damit wohl schon ausschießen. Zeisler war Partner in der Kanzlei Zeisler, Knopf & Partner, das geht aus den Papieren hervor, die wir in seiner Aktentasche gefunden haben. Sagt das einem von euch was?“

Trimmer hat ein fotographisches Gedächtnis zu solchen Dingen. „Zeisler, Knopf & Partner ist vor etwa 15 Jahren von Hans-Hermann Zeisler und seinem ehemaligen Studienkollegen Friedrich Knopf gegründet worden. Damals hieß die Kanzlei nur Zeisler & Knopf. Sie war spezialisiert auf Unternehmensrecht - Zeislers Domäne - und Steuerrecht - dafür ist Knopf zuständig. Dann, nach ein paar Jahren, stieg eine dritte Person ein, eine Frau,  Expertin für geistiges Eigentumsrecht.“

Er schiebt seine Kippe in den anderen Mundwinkel. „Die hat es aber nicht lange ausgehalten, wahrscheinlich war der Laden eine Nummer zu hoch für sie ... Seitdem sind Zeisler und Knopf wieder allein, von der Dame ist nur das ‚& Partner’ im Namen zurückgeblieben.“

„Danke, Peter“, sagt Müller. „Zeisler ist durch einen Kopfschuss getötet worden, aus etwa fünf, sechs Meter Entfernung, meint der Doktor. Gefunden wurde der Tote von einem tschechischen Lastwagenfahrer, der hier die Nacht verbracht hat. Der ist dann zur Tankstelle gelaufen, um die Polizei zu verständigen.“

„Was ist mit dem Lieferwagen hier?“, frage ich. „Wo ist der Fahrer?“

Müller zuckt die Achseln. „Wissen wir nicht. Wir haben uns den Wagen noch nicht näher angesehen. Die Fahrertür ist nicht abgeschlossen, die Kabine leer, bis auf ein bisschen Krimskrams. Bleistifte, ein Rechnungsblock, Butterbrotpapiere und so. Aber es ist ja klar, wo wir nachforschen müssen.“

In der Tat kann es keinen Zweifel darüber geben, woher der Wagen stammt. „Klempnerei Glembowski - ihr Spezialist für Abwassersysteme“ steht in fetten schwarzen Buchstaben auf der Seite des Wagens. Darunter ist ein langes silbernes Rohr gemalt, das über die gesamte Seite des Fahrzeugs läuft und aus dem vorne ein Tropfen Wasser quillt. Vielleicht habe ich ja eine dreckige Phantasie, aber ich denke nicht unbedingt an Abwassersysteme, wenn ich mir das angucke.

„Geschmackvolles Logo“ sagt Nicola, die anscheinend eine ähnliche Assoziation hat. Sie macht ein paar Schritte zurück, um das Bild nochmal aus der Entfernung auf sich wirken zu lassen - doch dann wird ihre Aufmerksamkeit von etwas anderem gefesselt. Sie tritt vor, an die Hecktüren des Lieferwagens heran, und geht in die Hocke.

„Guckt euch das mal an“, sagt sie.

Aus dem Spalt unter den Türen quillt eine rote Flüssigkeit heraus und läuft in einem dünnen Rinnsal über die Stoßstange. Unten löst sich ein Tropfen und platscht auf den Boden. Den nächsten Tropfen fängt Nicola mit ihrem Finger auf. „Das ist Blut.“

„Sofort die Türen auf“, befiehlt Müller und ruft im selben Atemzug Brandner herbei.

„Sakrament“, stößt der hervor, als er in der Laderaum blickt. „Der hier hatte nicht so viel Glück.“

Als Glück würde ich das, was Zeisler geschehen ist, nun nicht unbedingt bezeichnen. Aber es ist klar,  dass der Mann im  Lieferwagen, anders als der Anwalt, einen heftigen und schmerzhaften Todeskampf hinter sich hat. Nicht nur seine Kleidung, Jeans und Wollpulli, sind rot getränkt, sein Blut ist auch über die gesamte Fläche des Laderaums verschmiert, als habe er sich gewunden und gewälzt. Selbst auf den Seitenwänden sind einige Zentimeter über dem Boden blutige Handabdrücke und Schmierspuren zu sehen.

Der Doktor springt in den Wagen und beugt sich über den Körper. Dann schüttelt er zu uns hin den Kopf. „Ein Bauchschuss“, sagt er. „Sieht aus, als sei er letztendlich verblutet.“

„Wann?“, fragt Müller. Ich weiß, er befürchtet, dass wir vielleicht schon draußen gestanden haben, während der Mann starb, dass wir ihm eventuell hätten helfen können.

„Nee, nee“, sagt Brandner, der Müller auch verstanden hat. „Der ist schon mindestens eine Dreiviertelstunde tot – und vorher hätte man wahrscheinlich auch nichts mehr machen können.“

Er tastet in den Hosentaschen des Toten und findet einen Autoschlüssel, den er uns nach draußen reicht, aber keine Brieftasche oder sonstige Dokumente, die uns helfen könnten, den Mann zu identifizieren.

„Oh, Mist“, sagt er dann. „Jetzt bin ich in irgendwas reingetappt. Tut mir leid.“ Er hebt den Fuß und löst ein zusammengeknülltes Blatt Papier von seiner Schuhsohle. Vorsichtig, mit zwei behandschuhten Fingern, nehme ich es entgegen. Obwohl es blutgetränktist, lässt sich erkennen, dass es sich um eine Seite aus unserer Regionalzeitung handelt. Ich ziehe sie ein wenig auseinander und finde oben am rechten Rand das Datum: 14. Mai 1994.

Wir tüten das Papier ein und machen dann Platz für die Fotografen. Müller schickt uns fort, um die Zeugen zu vernehmen. „Peter, du kümmerst dich um den tschechischen Fernfahrer. Nicola, geh rüber zur Tankstelle und befrage den Kassierer. Und für dich, Hannah, habe ich eine ganz besondere Aufgabe. Der zweite Lastwagenfahrer, der heute Nacht hier auf der Raststätte war, ist Belgier und spricht nur französisch. Und du bist ja diejenige hier mit einer klassischen Bildung.“

Das mit der klassischen Bildung stimmt zwar so weit, immerhin bin ich auf das angesehenste humanistische Gymnasium in Bielefeld gegangen - aber großartige Französischkünste hat mir das nicht eingebracht. An meiner Schule glaubte man vielmehr so sehr an den Bildungswert alter Sprachen, dass alle Kinder als erste Fremdsprache Latein lernen mussten. Für den Alltagsgebrauch nützliche Sprachen kamen im Curriculum dann leider erst später vor.

Anstatt fließend auf Französisch parlieren zu können, habe ich also das große Latinum. Der praktische Wert davon geht gegen  Null,  abgesehen von der Tatsache, dass ich die ersten 15 Sätze des Gallischen Kriegs auswendig hersagenkann. Leider finde ich selten Gelegenheit, jemanden damit zu beeindrucken. Shaba andererseits haben auch ihre fehlenden Lateinkenntnisse noch nie daran gehindert, jede Frau aufzureißen, an der sie interessiert ist.

Trotz auf Lateinunterricht verschwendeter Schuljahre kriege ich die Zeugenbefragung mit dem Belgier ganz gut über die Bühne. Jean-Marie Vandelamotte schiebt eine beeindruckende Wampe vor sich her und bläst mir eine heftige Bierfahne ins Gesicht. Seine Aussage: Er ist auf dem Weg von Berlin nach Brüssel, musste aber wegen des Sonntagsfahrverbotes hier einen Zwischenstop einlegen. Samstag gegen einundzwanzig Uhr ist er angekommen und hat den ganzen Sonntag auf dem Rastplatz verbracht, hauptsächlich mit Schlafen und Zeitung lesen. Am Abend hat er sich im Restaurant ein Abendessen und „un petit verre de bière“ genehmigt. Danach ist er in die Schlafkoje seines Lastwagens gekrochen und sofort eingeschlafen, nur um wenige Stunden später durch Polizeisirenen geweckt zu werden. Von dem „malheureux incident“ im anderen Teil des Parkplatzes hat er absolut nichts gehört oder gesehen.

Ich frage ihn nach dem anderen Lastwagen, dem des Tschechen. Nach zweiundzwanzig Uhr müsse der angekommen sein, sagt Vandelamotte, denn der Parkplatz sei noch leer gewesen, als er einschlief.  Dann möchte er wissen, für wie lange ich ihn noch von seiner  Nachtruhe abhalten will. Ein Fernfahrer müsse früh raus und jetzt habe er ja nur noch ein paar Stunden, bis es hell würde, mault er. Dass es hundertfünfzig Meter entfernt von ihm vor nicht einmal zwei Stunden eine Schießerei mit zwei Toten gegeben hat, scheint ihn wenig zu bekümmern.

„Dauert nicht mehr lange“, versichere ich ihm. „Ich würde nur gerne noch schnell einen Blick auf Ihre Ladung werfen. Was transportieren Sie denn?“

„Des épices“ sage er.

Ich brauche einen Moment, um in meinem Gedächtnis zu kramen, aber dann erinnere ich mich. Épices sind Gewürze.

„Ein ganzer Lastwagen voller Küchenkräuter?“

Er beliefere mehrere belgische Supermärkte mit Produkten eines Gewürzproduzenten aus Berlin, erklärt er etwas eingeschnappt, da komme schon einiges an Ladung zusammen.

Auf meine Bitte hin geht er widerwillig mit mir um sein Fahrzeug herum und öffnet die Hecktüren. Er holt mir sogar eine Kiste heraus, die tatsächlich 200 Gläschen geriebene Paprika enthält.  Ich nehme noch seine Personalien auf und lasse ihn dann ziehen. Befriedigt verriegelt Jean-Marie Vandelamotte die Ladetüren, und der Duft nach sonnendurchfluteten südlichen Kräuterhainen verschwindet in der ostwestfälischen Herbstluft. Es hat angefangen zu nieseln. Die Kollegen von der Spurensicherung werden alles andere als begeistert sein.

Als Nicola, Trimmer und ich mit den  Zeugenbefragungen fertig sind, ist es halb fünf Uhr morgens. Die beiden Leichen sind bereits abtransportiert worden, und die Techniker packen ihre Ausrüstung ein.

„Wir sind hier auch fertig“, sagt Müller. „Wenn ihr auf dem Weg zurück noch für einen Moment zu Hause vorbeifahren wollt, um euch frisch zu machen, ist das in Ordnung.“

Dieses Angebot ist eindeutig auf Nicola gemünzt, die ja noch ihre Tochter wecken und kindergartenfertig machen muss. Ich biete ihr an, sie mitzunehmen. Das ist vernünftig, denn sie hat kein Auto, und ihre Wohnung liegt nicht weit von meiner in der Nähe des Siegfriedplatzes im Bielefelder Westen. Sonst müsste sie wieder mit Trimmer fahren und wäre seinem Zigarettenqualm ausgesetzt, ganz zu schweigen von seinem blöden Gelaber. Aber ganz uneigennützig ist mein Verhalten natürlich auch nicht , gibt mir die Fahrt doch ein paar Minuten allein mit Nicola.

Als wir zum Auto gehen, fällt der Regen schon in dichten Fäden, und Windböen fegen über den Parkplatz. Ich schaffe es nur mit Mühe, die Tür zu schließen, weil sich der Wind darin fängt.

Nicola fröstelt auf dem Beifahrersitz und zieht ihren Mantel enger um den Körper.

„Ich habe die Heizung schon angeworfen“, sage ich. „Es kann sich nur noch um Stunden handeln, bis man etwas davon merkt.“

Mein Auto war nie eine Luxuslimousine, und jetzt ist es zwölf Jahre alt und in Sachen Komfort weit entfernt vom neusten Stand. Ich hänge trotzdem an ihm. Wir haben schon einiges zusammen erlebt, wovon nicht zuletzt seine zahlreichen Kratzer und Dellen zeugen. Bei aller Liebe fasse ich mein Auto eben nicht mit Samthandschuhen an - zu Shabas Entsetzen. Auch Müller misstraut aus unerfindlichen Gründen meinen Fahrkünsten. Deshalb schließt er mich weitgehend von der Benutzung unserer zwei Dienstwagen aus und hält es für besser, wenn ich in meiner eigenen alten Kiste unterwegs bin.

Wir fahren schweigend, während die Luftschlitze hustend anfangen, zumindest lauwarme Luft in den Innenraum zu pusten. Nach einer Weile werfe ich einen unauffälligen Seitenblick auf Nicola. Sie schaut gedankenverloren aus dem Fenster in den noch schwarzen Morgenhimmel und hat offenbar kein Bedürfnis nach Konversation.

Ich kann nicht genau in Worte fassen, was mich so an ihr fasziniert. Klar, zuerst einmal ist sie eine schöne Frau, mittelgroß und mit einer schlanken Figur, die eher Zähigkeit als Zerbrechlichkeit ausstrahlt, aber irgendwie doch von beidem ein bisschen. Sie ist schlicht, aber gut gekleidet, meistens dunkel, und trägt keinen Schmuck, außer einer silbernen Uhr mit schwarzem Lederarmband. Kein Ring. Ich weiß, es ist lächerlich, aber ich habe geguckt.

Sie hat ein gleichmäßiges, intelligentes Gesicht mit einer schmalen, geraden Nase und hohen Wangenknochen, eingerahmt von dunklem Haar, das leicht gelockt auf die Schultern fällt. Durch ihre linke Augenbraue zieht sich eine mehrere Zentimeter lange, noch ziemlich frisch verheilte Narbe. Ich mag den entschlossenen, etwas herben Ausdruck um ihren Mund. Aber ich glaube, das wichtigste sind ihre Augen. Sie sind smaragdgrün und blicken aufmerksam und konzentriert, oft auch mit etwas spöttischer Distanz auf die Welt. Erst auf den zweiten Blick nimmt man die dunklen Schatten war, die diese Augen umgeben, und durch die ein müder und abgekämpfter Zug in Nicolas Gesicht tritt. 

Es mag sein, dass das einfach der Preis ist, den sie als alleinerziehende Mutter in einem anstrengenden Beruf zahlt. Doch habe ich auch schon bemerkt, dass ihre Augen bisweilen, wie zum Beispiel jetzt, wo sie die dunkle Landschaft draußen vorbeiziehen lässt, ohne sie wirklich wahrzunehmen, einen verletzlichen und zugleich abweisenden, undurchdringlichen Ausdruck annehmen. Vielleicht wird sie doch von mehr gequält,  als nur von zu wenig Zeit für zu viele Anforderungen.

Müllers Verhalten nährt im Übrigen diesen Verdacht in mir. Zwar hat er uns, bis auf eine kurze Einführung in ihren beruflichen Werdegang, nichts über die neue Kollegin erzählt, bevor Nicola zu unserer Ermittlungsgruppe gestoßen ist. Aber  sein besonders  behutsamer Umgang mit ihr lässt vermuten , dass er mehr über sie weiß, als er uns eröffnet hat. Was auch immer das sein mag, anscheinend findet er, dass es mich nichts angeht - und da ich Müllers Urteil in solchen Situationen  respektiere, halte ich mich zurück  mit Fragen.  Nicola selbst, die uns mit Informationen zu ihrer Person  wirklich auch nicht gerade überschüttet, lasse ich ebenfalls in Ruhe. Das ändert aber natürlich nichts an meiner heimlichen Neugierde.

Da ich sowieso schon einmal in der Nähe meiner Wohnung bin, nachdem ich Nicola abgesetzt habe, und sich unverhofft  vor mir ein Parkplatz auftut, stelle ich meinen Wagen ab und kaufe beim Bäcker an der Ecke Brötchen und Orangensaft für ein richtiges Frühstück. Doch als ich mit meinen Einkäufen nach Hause komme, ist Shaba schon weg. Ich hätte es mir denken können, denn sie steht oft in aller Herrgottsfrühe auf, um die ersten Pendler am Bahnhof abzufangen oder die letzten Nachtschwärmer aus den Kneipen heimzubringen. Es könnte allerdings auch sein, dass sie sich noch auf einen Sprung in die Wärme eines anderen Bettes begeben hat. Ich stelle also den Saft in den Kühlschrank und laufe, ein trockenes Brötchen kauend, die Treppen wieder herunter, raus in den Regen, und fahre zum Polizeipräsidium.

Kapitel 2 Die Klempnerei Glembowski

Um zehn nach acht ruft Müller uns zusammen, um die Ergebnisse der Zeugenbefragung und die ersten Erkenntnisse vom Tatort zusammenzutragen. Wir sitzen in dem Büro, das Trimmer, Nicola und ich uns teilen, einem großen hellen Raum mit baren weißen Wänden und Blick über eine Straßenkreuzung.

Ich berichte von meinem Gespräch mit dem dicken Belgier. „Und übrigens“, schließe ich, „habe ich eben mit dem Restaurant der Raststätte telefoniert. Die Kellnerin hat mir bestätigt, dass Vandelamotte gestern gegen 19:30 Uhr aufgetaucht ist, sich Sauerbraten mit Kartoffeln und Sauerkraut reingezogen hat, gefolgt von einem Stück Erdbeertorte und runtergespült mit acht halben Litern Bier. Um 21:30 Uhr hat sie ihm die Rechnung von 47,80 Euro präsentiert, er hat bezahlt und ist abgezogen. Eine halbe Stunde später hat das Lokal geschlossen, und nach ein bisschen Putzen und Aufräumen haben alle Angestellten das Gebäude verlassen. Die Frau hat mir versichert, dass der Parkplatz vollkommen leer war, als sie die Raststätte verließ - abgesehen von dem belgischen Laster. Damit hat sie im Grunde alles bestätigt, was der Belgier mir erzählt hat. Ich glaube also nicht, dass Vandelamotte etwas mit der Sache zu tun hat. Nach der Menge an Alkohol, die er intus hatte, hätte er wohl auch so einen sauberen Kopfschuss wie bei Zeisler nicht hingekriegt.“

Dann ist Nicola an der Reihe. Sie ist schon seit mindestens einer Stunde hier - ein früher Tagesbeginn im Kindergarten für die kleine Antonia - und war die ganze Zeit damit beschäftigt, die richtigen Gerätschaften zusammenzusuchen, um das Überwachungsvideo von der Tankstelle abspielen zu können. Schließlich kam sie mit einem monströsen Rollschrank aus den Katakomben des Präsidiums zurück, in dem sich ein mindestens zwanzig Jahre alter riesiger Videorekorder und ein wahrscheinlich noch älterer winziger Fernseher befinden.

„Sie haben dort zwei Kameras, die rund um die Uhr alles auf Band aufnehmen“, sagt sie. „Das System ist zwar absolut vorsintflutlich, aber immerhin. Damit muss man hier wohl schon zufrieden sein.“ Sie gibt das in einem geringschätzigen Ton von sich, der besagt, dass es sie auch nicht wundern würde, wenn Bielefeld noch nicht ans Stromnetz angeschlossen wäre. Dann blättert sie ihr Notizheft auf und schiebt sich ihre Lesebrille auf die Nase, eine dunkle Hornbrille, die ihr ein leicht oberlehrerinnenhaftes Aussehen verleiht.

„Der Kassierer der Tankstelle ist ein Milchbubi von 18 Jahren. Er heißt Max Burkhardt. Der Junge war so verstört, dass er kaum einen vollständigen Satz herausbekam. Das ist aber nicht so schlimm, da alles auf den Überwachungsbändern festgehalten ist. Allerdings war es gar nicht so leicht, ihn zu überreden, sie mir auszuhändigen - erst musste er seinen Chef anrufen und um Erlaubnis fragen. Wie dem auch sei, hier sind sie nun, und abspielen können wir sie auch. Der Zeitraum, der für uns interessant ist, ist zwischen etwa ein und halb drei Uhr, ich habe mir das eben schon mal schnell angesehen. Es passiert nicht viel in dieser Zeit, aber das, was passiert, ist ganz interessant. Ich zeige  euch mal die Ausschnitte.“

Sie drückt auf einen Knopf am Videorekorder, und nach einigem Geflacker erscheinen auf dem Fernsehbildschirm nebeneinander zwei Bilder. Das linke, erklärt Nicola, gebe die Aufnahmen von der Außenanlage der Tankstelle wieder, das rechte die aus dem Innenraum. Sie spult das Band vor bis zu der Stelle, wo die kleine digitale Zeitanzeige oben im Bild auf 1:24 Uhr steht. Wir sehen den Autotransporter auf das Gelände der Tankstelle rollen. Der Fahrer steigt aus, tankt, geht ins Gebäude, zahlt, geht wieder raus, steigt ein. Dann verlässt der Wagen den Bereich der Aufnahme. Trimmer pfeift befriedigt durch die Zähne, sagt aber nichts.

Nicola lässt das Band bis 1:48 Uhr vorlaufen, als der blaue A8 an eine der Zapfsäulen fährt und Zeisler aussteigt, um ebenfalls zu tanken.

„Sieht nicht so aus, als sei eine zweite Person im Wagen“, kommentiert Trimmer. „Es sei denn, es versteckt sich jemand auf dem Rücksitz.“

Der Anwalt hängt den Zapfhahn ein, geht ins Tankstellenhäuschen, tritt zu dem Zeitschriftenregal, das entlang der Frontscheibe aufgebaut ist, und blättert eine Weile in verschiedenen Drucksachen aus der Pornosektion. Dann hebt er plötzlich den Blick, wirft die Zeitschrift, die er gerade in den Händen hält, achtlos zurück und springt zur Kasse. Dort tritt er ein paar Minuten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während der junge Kassierer sich mit dem Kreditkartenlesegerät abmüht, das anscheinend bockig ist. Schließlich scheint der Zahlungsvorgang doch erfolgreich zu sein, Zeisler sprintet zu seinem Wagen zurück und braust davon. Es ist 1:57 Uhr.

„Es gibt leider keinen Ton zu diesem Band“, sagt Nicola. „Der Kassierer sagt, dass Zeisler etwas gemurmelt hat, bevor er es plötzlich so eilig hatte. Ich habe dann natürlich ein bisschen nachgebohrt und daraufhin hat er behauptet, Zeisler habe von einem ‚Hanfer’ gesprochen.“

„Hanfer?“, frage ich. „Was soll das denn sein?“

„Vielleicht ein Kiffer“, sagt Trimmer.

„Ich weiß es nicht“, sagt sie, „und der Junge ist leider keine große Leuchte. Unter noch etwas mehr Druck war er sich plötzlich ganz sicher, dass Zeisler ‚Wenn Hanfer dental’ gesagt hat.“

„Hä?“, macht Trimmer.

Nicola zuckt ratlos und ein wenig entschuldigend die Schultern. „Zeisler muss richtig unangenehm geworden sein, als das mit der Kartenzahlung so lange gedauert hat, und er hat Max ziemlich übel angeraunzt. Ich glaube, er hat aus dem Fenster jemanden gesehen, der an der Tankstelle vorbeigefahren oder vorbeigegangen ist - aber hinten um das Gebäude herum, so dass er nicht auf dem Band auftaucht.“

Wir nicken zustimmend.

„Vielleicht war er mit dieser Person verabredet“, denke ich laut. „Vielleicht war es der Mann aus dem Lieferwagen.“

Nicola lässt das Band weiter vorlaufen. „Jetzt passiert erst mal wieder für eine Weile nichts“, sagt sie, „abgesehen davon, dass Max Burkhardt anfängt, über seinen MP3 Player Musik zu hören. Das dürfte erklären, warum er von den Schüssen nichts mitbekommen hat.“ Dann schaltet sie um auf Wiedergabe und tippt mit einem Finger der linken Hand auf die Zeitanzeige am Bildschirm. „Hier, um 2:12 Uhr, kommt dann der tschechische Fernfahrer.“

Wir sehen, wie der kurzhaarige blonde Fahrer des Autotransporters ins Bild läuft, im Tankstellengebäude verschwindet und dort mit wedelnden Armbewegungen dem Kassierer etwas erklärt. Max Burkhardt zieht die Kopfhörer aus den Ohren und starrt ihn bewegungslos an. Schließlich greift der Tscheche an dem verdutzen Jüngling vorbei zum Telefon hinter dem Tresen.

„2:12 Uhr, das passt“, sagt Müller. „Zu dieser Zeit ist der Notruf in der Zentrale eingegangen.“ Er wendet sich zu Trimmer. „Peter, damit sind wir bei deinem Zeugen.“

Trimmer kratzt sich erst mal genüsslich und ausgiebig am Kinn, so dass ich seine Fingernägel über die Bartstoppeln rasseln hören kann. „Der Tscheche heißt Dušan Janáček“, sagt er. „Man könnte ja meinen, diese Leute wählen ihre Namen extra so, dass unsereiner sie nicht aussprechen kann.“ Dann fügt er genüsslich hinzu: „Ich sage euch, dieser Typ hat ganz eindeutig Dreck am Stecken.“

Ich drehe die Augen zur Zimmerdecke und schnaube. „Ist ja klar.“

„Hör mir lieber erstmal zu“, sagt Trimmer, „bevor du hier unqualifiziert deine Meinung äußerst. Janáček kommt aus Ušti nad Labem an der tschechischen Grenze, aber er arbeitet für ein deutsches Fuhrunternehmen. Der Mann transportiert Autos von München nach Rotterdam - das sagt er aus, und so steht es auch in den Frachtpapieren. Was macht er also auf einem Rastplatz bei Bielefeld?“ Er wirft mir einen triumphierenden Blick zu. „Du stimmst mir sicher zu, dass er da normalerweise über Stuttgart und Köln fahren müsste. Von mir aus vielleicht auch noch über Nürnberg und dann auf der A7 hoch, an Kassel vorbei und durchs Ruhrgebiet. Aber auf einer Raststätte an der A2 bei Bielefeld hat er ganz bestimmt nichts verloren.“

„Vielleicht hat er sich verfahren“, führe ich an, aber glaube das natürlich selber nicht.

„Haha“ sagt Trimmer. „Und das ist noch nicht alles. Die vorherige Nacht, die von Samstag auf Sonntag, hat er auf der Raststätte Herford verbracht. Das liegt mal gerade zehn, fünfzehn Kilometer von hier - und abgesehen davon noch weiter ab von seiner Route. Warum er in Herford war? Weil die sanitären Anlagen so gut sind an diesem Rastplatz, hat er mir erklärt. Das ich nicht lache. Welcher Mann interessiert sich denn für so was - wie `ne Schwuchtel sieht der Tscheche nun nicht aus. Warum er dann nach Bielefeld weiter gefahren ist? Und das unter Missachtung des Sonntagsfahrverbotes, wie ich hier noch einmal schnell anmerken will. In Herford ist es ihm zu langweilig geworden, nachdem er dort den ganzen Tag zugebracht hat. Ich bitte Euch, der Heini will uns wohl verarschen.“

Er greift nach der Zigarettenschachtel auf seinem Schreibtisch, schüttelt eine Zigarette heraus und sagt in Müllers Richtung: „Ich hätte ihn gleich eingesackt - aber du wolltest ihn ja gehen lassen. Allein für das Fahren am Sonntag hätten wir den Tschechen schon drankriegen können.“

„Wir sind doch nicht die Verkehrspolizei“, sagt Müller.

„Ich sage euch“, prophezeit Trimmer, „das werden wir noch bereuen. Was ich auch nicht verstehe: Die Schüsse will er um ziemlich genau zwei Uhr gehört haben. Pamm, pamm - dicht hintereinander. Aber erst um 2:12 Uhr taucht er in der Tankstelle auf, um die Polizei zu rufen. Dazu sagt er: er hat sich erst nicht aus seinem Laster getraut, hatte Angst, dass der Mörder noch irgendwo im Gebüsch hockt. Also wirklich, das glaubt doch kein Mensch. Noch mal kurz gefasst: Ich bin mir sicher, dass mit dem Typen etwas nicht stimmt - und ich verspreche Euch, ich finde noch heraus, was es ist.“

„Tu das“, sagt Müller. „Aber zuerst möchte ich, dass du mit Hannah zur Klempnerei Glembowski fährst. Wir müssen unbedingt wissen, wer der tote Mann in dem Wagen ist.“

„Okay, okay“, sagt Trimmer. „Aber eine kurze Zigarettenpause wirst du mir ja wohl erst gönnen.“

Die Klempnerei Glembowski liegt in Brackwede, hinter dem Kamm des Teutoburger Waldes, im Erdgeschoss eines grauen, schmucklosen Häuschens aus den 50er Jahren. Das Geschäft hat eine große Glasscheibe zur Straße hin, hinter der eine Pappfigur in Latzhose ein Rohrreinigungsmittel anpreist. Ein Aufkleber mit dem Slogan ‚Wir sind Ausbildungsbetrieb!’ klebt auf der Eingangstür. Als wir eintreten, ertönt ein kurzes Klingeln, und auf dieses Signal hin kommt ein kleiner kräftiger Mann mit kurzen dunkelgrauen Haaren und ebensolchem Bart aus dem hinteren Teil des Raumes auf uns zu. Er trägt einen blauen Arbeitsoverall mit dem aufgenähten Schriftzug der Klempnerei.

„Kann ich Ihnen helfen?“.

„Herr Glembowski?“, fragt Trimmer.

„Nein, Manfred Horstkämper“, sagt der Mann. „Der Chef ist nicht hier. Er muss heute Morgen schon weggefahren sein. Als ich kam, war er nicht hier, und der Wagen ist auch fort. Ich rechne aber jeden Moment mit ihm, wir haben einen Termin um neun, eigentlich müssten wir schon seit zwanzig Minuten weg sein.“

Trimmer stellt uns vor und fragt Horstkämper, wie sein Chef  aussieht. Die Beschreibung passt so genau auf den toten Mann vom Parkplatz, dass Trimmer dem Klempner  gleich erklärt, er solle heute auf seinen Chef besser nicht mehr warten, der sei nämlich heute nacht erschossen worden. Horstkämper reißt erschrocken die Augen auf. Trimmer ist nicht unbedingt bekannt für seinen mitfühlenden Umgang mit Hinterbliebenen. Ich frage den Mann, ob Glembowski Familie habe.

Er nickt und zeigt auf die Zimmerdecke. „Er ist verheiratet. Die Wohnung der Glembowskis ist im ersten Stock.“ Dann fügt er hinzu: „Die arme Jutta.“

„Führten die Glembowskis eine gute Ehe?“, frage ich.

„Woher soll ich das wissen?“, entgegnet er in  einem plötzlich gereizten Ton. „Denken Sie, der Chef hat mir bei der Arbeit von seiner Ehe erzählt? Stecke ich drin in den Leuten?“ Dann fügt er etwas besänftigt hinzu: „Also ja, nach allem, was ich weiß, war die Ehe in Ordnung.“

„Und wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Chef?“

„Ich arbeite seit fast 20 Jahren hier. Seit der Chef die Firma gestartet hat“, sagt er, als beantworte das alle Fragen.

„Das heißt, Sie verstanden sich gut?“

Er nickt.

„Und gibt es noch weitere Angestellte?“

„Nicht mehr. Seit September sind wir nur noch zu zweit. Vorher hatten wir einen Gesellen.“

„Warum jetzt nicht mehr? Gingen die Geschäfte schlecht?“

„Nee.“ Horstkämper nestelt an seiner Hosentasche, zieht ein paarmal den Reißverschluß auf und zu.  „Der hat sich das Leben genommen.“

„Ach“, sagt Trimmer interessiert. „Dann war Glembowski vielleicht doch kein so guter Chef?“

Der Klempner guckt ihn entrüstet an. „Also mit uns hatte das ganz bestimmt nichts zu tun. Der Chef war so geduldig mit dem Jungen, das war fast schon übertrieben. Wegen der Arbeit hat der sich nicht umgebracht, auf keinen Fall.“

„Warum dann?“

„Der war einfach ein bisschen merkwürdig. Mehr so ein Weichei. Mit dem stimmte was nicht.“

„Wie hat er es gemacht?“, frage ich.

„Erhängt. Draußen im Umland, in Richtung Lage raus. In so einer alten Fabrikruine. Armer Kerl, war noch keine 20 Jahre alt.“

Trimmer fragt Horstkämper, ob er mit dem Namen Hans-Hermann Zeisler etwas verbindet.

„Warten Sie mal. Irgendwie schon.“ Horstkämper zieht die Augenbrauen zusammen und lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, als müsste irgendwo etwas an die Wand geschrieben sein, was ihm weiterhelfen könnte. Dann schüttelt er den Kopf. „Ich habe das Gefühl, dass ich den Namen kenne, aber ich kann ihn nicht einordnen. Ich habe aber auch ein schlechtes Gedächtnis. Die Termine mit den Kunden muss ich auch immer sofort notieren, damit ich nichts vergesse.“ Das bringt ihn auf eine Idee. „Kommen Sie mal mit.“ Wir folgen ihm in den hinteren Teil des Landens, wo er aus einer Schreibtischschublade eine dicke, ausgefledderte Kladde hervorzieht. „Der Chef war immer sehr sorgfältig mit der Buchführung. In diesem Auftragsbuch sind alle unsere Termine verzeichnet mit den Namen und Adressen unserer Kunden. Wenn dieser Mann - sehen Sie, ich habe den Namen schon wieder vergessen - also, wenn der einer unserer Kunden war, dann finden Sie ihn hier drin.“

Er lässt uns das Buch mitnehmen, notiert sich aber noch schnell die Termine für die nächsten Tage. Trimmer erkundigt sich nach seinem Alibi.

„Um zwei Uhr nachts, sagen Sie?“, fragt Horstkämper. „Da habe ich geschlafen, wie alle vernünftigen Menschen.“

„Er hat recht“, sagt Trimmer, als wir in die erste Etage zur Wohnung der Glembowskis hochsteigen. „Zwei Uhr ist eine bekloppte Zeit, um sich umbringen zu lassen. Keiner hat ein nachprüfbares Alibi, und niemanden kann man dafür verdächtigen, um die Zeit geschlafen zu haben.“

Frau Glembowski ist eine kurzgewachsene, rundliche Person mit dünnem, glanzlosem, mausbraunem Haar und einem breiten, schwammigen Gesicht mit großer Nase. Man könnte sie als gänzlich unattraktive Frau beschreiben - aber nur bis sie den Mund aufmacht. Ihr voller, rauchiger Alt lässt selbst das profane „Guten Morgen“, mit dem sie uns die Tür öffnet, verführerisch und mysteriös klingen.

Ich reiße mich zusammen.

„Wir kommen wegen Ihres Mannes. Michael Glembowski“.

„Mein Mann ist nicht hier“, gurrt sie. „Er müsste unten im Laden sein. Ich würde Sie runter bringen, aber ...“ Sie zeigt an sich herunter. Sie trägt einen Schlafrock und Pantoffeln. „Ich bin grade erst aufgestanden. Sie finden den Weg schon allein.“

„Wann haben Sie ihren Mann zuletzt gesehen?“, fragt Trimmer.

„Gestern Abend, bevor ich ins Bett gegangen bin.“

„Danach nicht mehr?“

„Wir haben getrennte Schlafzimmer“, sagt sie. „Was soll denn diese Fragerei? Was hat Michael angestellt, dass ihn die Polizei sucht?“

Sie lacht ein kehliges Lachen, das aber plötzlich abbricht, als sie unsere Mienen sieht. Sie lässt uns eintreten, ich bringe sie dazu, sich in einen Sessel zu setzten. Wir erklären ihr, dass ihr Mann in der Nacht umgebracht wurde.

Sie sitzt da, schüttelt den Kopf und sagt wieder und wieder: „Dass kann nicht sein, das kann nicht sein“. Dann beginnt sie zu weinen.

Ich taste erfolglos in meiner Jacke nach Taschentüchern und blicke mich dann suchend im Wohnzimmer um. Es ist ein merkwürdig eingerichteter Raum. Die Möbel sind nüchtern, funktional, ohne jeden Schnickschnack, der Teppich grau und abgetreten. Aber an den Wänden stehen drei große Glasvitrinen, die mit wild zusammengewürfeltem Nippes gefüllt sind. Mir wird fast schwindlig von den kleinen Elefantenfiguren, den hässlichen Plastikpüppchen in traditionellen Trachten, den bayerischen Bierkrügen, dem Karussell mit kleinen Silberlöffelchen mit Stadtwappen, dem mit chinesischen Motiven bemalten Teeservice aus hauchdünnem Porzellan und all dem anderen Krimskrams. Tatsächlich entdecke ich schließlich eine Packung Tempos auf der Fensterbank und reiche sie Jutta Glembowski.

„Wer hat das getan?“, fragt sie und blickt mich mit großen tränenunterlaufenen Augen an. „Und warum?“

„Wir wissen es nicht. Noch nicht. Deshalb müssen wir Ihnen ein paar Fragen stellen.“

Das verstehe sie, sagt sie, müsse sich aber für einen Moment entschuldigen. Sie steht auf und verschwindet im Badezimmer. Als sie nach fünf Minuten wieder herauskommt, sind ihre Augen gerötet, aber trocken, und sie wirkt gefasst und konzentriert.

„Fragen Sie mich alles, was Ihnen weiterhelfen kann.“

Trimmer ist natürlich hauptsächlich interessiert an dem Teil der Geschichte, in dem es um die getrennten Schlafzimmer geht. „Sie wollen uns also erzählen, dass Sie nichts von dem mitgekriegt haben, was Ihr Mann in dieser Nacht gemacht hat?“

„Das ist richtig. Als ich um halb elf ins Bett gegangen bin, war Michael noch wach. Mein Schlafzimmer liegt nach hinten raus mit Blick auf den Garten. Es ist dort sehr ruhig, und ich höre nicht, was sich vor dem Haus abspielt. Ich habe mir das so gewünscht, weil der Betrieb in der Klempnerei oft früh losgeht und ich nicht geweckt werden will. Gestern Abend bin ich dann auch gleich eingeschlafen.“

Ich frage: „Ist das normal, dass Ihr Mann später als Sie ins Bett geht, obwohl er mit seiner Arbeit so früh anfängt?“

Sie wiegt nachdenklich den Kopf. „Das ist nicht immer so, aber manchmal kommt es vor. Normalerweise ist der Grund dafür sein Kram hier.“ Sie zeigt auf die Glasvitrinen. „Er kann Stunden damit verbringen, das Zeug neu zu arrangieren, zu polieren und umzuräumen. Das hat er auch gestern Abend gemacht. Einen Teil seiner Sammlung in den Keller gebracht, einen anderen hochgeholt und aufgestellt, die Vitrinen geputzt, die Porzellanpüppchen frisiert und so weiter.“

Trimmer ist verblüfft. „Sie wollen uns allen Ernstes erzählen, dass diese Figürchen in den Vitrinen eine Leidenschaft ihres Mannes sind? Das ist doch eher ein Frauenhobby.“

„Das denken viele“, sagt Jutta Glembowski. „Und, um ehrlich zu sein, ich habe es auch immer für einen merkwürdigen Zeitvertreib für einen Klempnermeister gehalten. Ich habe ihn geneckt und gesagt, ‚Klempner, bleib bei deinen Rohren’.“ Sie lächelt und fährt fort: „Aber Michael konnte sehr stur sein. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht mehr so leicht davon abzubringen. Und letztendlich, warum sollte er sich nicht um seine Sammlung kümmern, wenn es ihm Freude machte? Solange ich nichts damit zu tun haben musste ...“

„Sie beide zusammen hatten also nicht mehr viel Freude?“, fragt Trimmer mit dem ihm eigenen Takt.

Sie lässt sich nicht provozieren. „Wenn Sie damit ehelichen Geschlechtsverkehr meinen, dann nein. In dieser Hinsicht war unsere Ehe nicht mehr aktiv.“

„Das heißt, Ihre Ehe bestand im Grunde nicht mehr.“

„Das ist Ihre Interpretation“, sagt sie, „nicht meine. Wir haben zwar nicht mehr miteinander geschlafen, aber für Michael und mich war das nicht der wichtigste Aspekt unserer Ehe. Das Wesentliche war noch da: Respekt und Vertrauen.“

Trimmer bleibt skeptisch. „Und Ihr Mann sah das ebenso? Sind Sie sicher, dass er keine Affäre hatte, um ab und zu auch mal ein bisschen Spaß im Bett zu haben?“

Sie sieht ihn herausfordernd an. „Ich bin mir sicher. Michael konnte ganz gut selbst für seine sexuelle Befriedigung sorgen.“

Meinem Kollegen verschlägt es für einen Moment die Sprache, und das nutze ich für eine Frage.

„Ihr Mann hat Ihnen gegenüber also nicht erwähnt, dass er in der Nacht noch wegfahren wollte?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Hat er sich irgendwie ungewöhnlich benommen?“

„Gestern Abend? Eher nicht. Wie gesagt, er war mit seinem Zeug beschäftigt. Er war ziemlich still und nachdenklich, aber das war nichts Ungewöhnliches in der letzten Zeit, da war er oft so.“

„Gab es dafür einen bestimmten Grund?“

„Ich glaube, das hatte mit dem Tod seines Gesellen Joachim zu tun. Der hat sich das Leben genommen - natürlich hat Michael das belastet.“

„Fühlte Ihr Mann sich schuldig?“

„Irgendwie wahrscheinlich schon. Er war sein Chef und hat jeden Tag mit ihm zusammengearbeitet. Sicher hat er gedacht, er hätte es mitkriegen müssen, dass Joachim so etwas vorhatte. Aber, wissen Sie, Michael hat über seine Gefühle nicht sehr viel gesprochen, er war ein typischer Mann in dieser Hinsicht. Vielleicht hätte ich ihn mehr dazu drängen sollen, sich auszusprechen.“

„Hans-Hermann Zeisler“, schaltet Trimmer sich ein, dem es wohl an dieser Stelle zu sentimental wird, „kannten Sie den?“

„Nie gehört. Wer ist das?“

„Ein Anwalt, der in Oerlinghausen lebte. Er ist zusammen mit Ihrem Mann getötet worden gestern Nacht.“

„Anwalt?“, sagt sie. „Ich kenne keine Anwälte. Michael kannte auch keine, so weit ich weiß.“

„Sind Sie berufstätig?“, frage ich.

Sie verneint. „Die Klempnerei hat immer genug abgeworfen, dass wir beide davon leben konnten. Es war nie nötig für mich, auch Geld zu verdienen. Also habe ich beschlossen, mich mit wichtigeren Dingen als dem Geldverdienen zu beschäftigen. Ich arbeite vier Nachmittage pro Woche ehrenamtlich in einem Verein, der Hausaufgabenhilfe für lernschwache Schüler anbietet. Ich bin auch Kassenwart dort.“ Ihre Augen blitzen stolz auf. „Von unseren Kindern haben 70% im letzten Sommer die Versetzung in die nächste Klasse geschafft. Das klingt für sie vielleicht nicht besonders beeindruckend, aber tatsächlich ist das ein fast unglaublicher Erfolg.“

Wir stehen auf, um zu gehen, bitten sie aber noch, im Laufe des Tages in die Gerichtsmedizin zu kommen, um die Leiche ihres Mannes zu identifizieren. Sie verspricht es.

Als sie uns zur Tür gebracht hat und wir schon im Treppenhaus stehen, sagt sie zu mir: „Ich möchte Sie auch noch etwas fragen. Aber Sie müssen mir versprechen, ehrlich zu antworten.“

Ich nicke.

„Mein Mann“, sagt sie, „ist er schnell gestorben, kurz und schmerzlos - und ohne Angst?“

Ich wünschte, ich hätte ihr vorher kein Versprechen gemacht. Doch jetzt muss ich mich auch daran halten.

„Nein“, sage ich, „leider nicht“.