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Beschreibung

Zum ersten Mal erheben einige der wichtigsten Vordenker:innen für Klima, Umwelt und Natur gemeinsam ihre Stimmen. Zeit ihres Lebens haben sie sich mit Fragen nach dem ökologischen Zustand der Welt, nach den Folgen unserer Lebens- und Wirtschaftsweise beschäftigt, um unseren Planeten zu bewahren und der Menschheit eine Zukunft zu geben – doch passiert ist wenig, zu wenig. Ihr Appell: Es muss dringend etwas geschehen, und zwar JETZT. Gemeinsam zeigen sie auf, welche Maßnahmen nötig sind, um zu verhindern, dass unsere Erde über den Kipp-Punkt treibt, hinter dem das Ökosystem rettungslos aus dem Gleichgewicht gerät.

Zu den Autor*innen des Bandes zählen: Franz Alt, Thilo Bode, Bärbel Höhn, Hannes Jaenicke, Dirk Roßmann, Christine von Weizsäcker, Ernst Ulrich von Weizsäcker u. a.

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Seitenzahl: 378

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Was muss geschehen, um zu verhindern, dass unser Klima rettungslos aus dem Gleichgewicht gerät?

Zum ersten Mal erheben die wichtigsten Vordenker:innen für Klima, Umwelt und Natur als eine Art »Ältestenrat des Klimaschutzes« gemeinsam ihre Stimme. Zeit ihres Lebens haben sie sich für unsere Welt eingesetzt, Ideen und Aktionen entwickelt und gegen die Zerstörung des Ökosystems durch unsere Lebens- und Wirtschaftsweise gekämpft.

Ihre Appelle sind eindringlich: Es besteht Hoffnung – wenn wir jetzt handeln.

Aufgeben kommt nicht in Frage!

KERSTIN LÜCKER (HG.)

IN

WAS JETZT ZU TUN IST,

TIEFER

UM DIE WELT ZU RETTEN

SORGE

EIN APPELL

Mit Beiträgen von Franz Alt • Jakob Blasel • Thilo Bode • Michael Braungart • Josef Göppel • Bärbel Höhn • Claus-Peter Hutter • Hannes Jaenicke • Helga Kromp-Kolb • Franz Josef Radermacher • Dirk Roßmann • Christof Schenck • Elisabeth Stern • Klaus Töpfer • Hubert Weiger • Christine von Weizsäcker • Ernst Ulrich von Weizsäcker

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Im folgenden Buch haben wir uns bei der Verwendung genderinklusiver Sprachnormen wie bspw. dem sogenannten Gendersternchen an den Formulierungen der Autor*innen orientiert. Bei Verwendung des grammatischen, generischen Maskulinums sind nichtsdestotrotz, soweit nicht eindeutig anders angegeben, in allen Personengruppen und Bezeichnungen weibliche, männliche, non-binäre und fluide Personen mit eingeschlossen.

Originalausgabe 10/2022

Copyright © 2022 by Ludwig Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Kerstin Lücker

Covergestaltung: und -illustration: DASILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motives von Panga Media/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-29580-6V002

www.ludwig-verlag.de

Inhalt

Vorwort der Herausgeberin

Klaus Töpfer: Die Zeit der Zeitenwenden

Franz Alt: Die Klimakrise ist kein Schicksal

Christof Schenck: Natur ohne uns für uns

Bärbel Höhn: Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, können sie das Gesicht der Welt verändern

Josef Göppel †: »Den Garten zu pflegen und zu schützen«

Helga Kromp-Kolb: Wie Bläschen, die an die Oberfläche dringen – ein Erfahrungsbericht aus vielen Jahren im Kampf um nachhaltige Transformation

Thilo Bode: Unsere Erfolge reichen nicht

Christine von Weizsäcker: Gemeinsam und Unverdrossen

Claus-Peter Hutter: Wieder wissen, was wir einmal wussten – eine Bildungsrevolution ist überfällig

Hubert Weiger: Naturschutz sichert Zukunft

Dirk Roßmann Der lange Weg zur Nachhaltigkeit

Hannes Jaenicke, Jakob Blasel: Wir haben ein gigantisches Handlungsdefizit

Michael Braungart: Klimapositiv statt Klimaneutral – wie wir erreichen, dass im Jahr 2100 wieder der Gehalt an Treibhausgasen in der Atmosphäre besteht, den es im Jahr 1900 gegeben hat

Alexander Van der Bellen: »Schließlich sind wir Menschen«

Elisabeth Stern: Wir Klima-Seniorinnen klagen, weil die Schweiz zu wenig gegen den Klimawandel unternimmt und damit unsere verfassungsmäßigen Rechte verletzt

Franz Josef Radermacher: Versuch einer Zwischenbilanz

Ernst Ulrich von Weizsäcker: Immer wieder neue Abenteuer – mit Pionieren als Freunden

Über die Autor:innen

Anmerkungen

Vorwort der Herausgeberin

Wer auf dem Gipfel des Mont Ventoux in der Provence steht, soll gleichzeitig die Alpen, das Mittelmeer und die Pyrenäen sehen können. Vom Gipfel des Mont Ventoux aus beschrieb der italienische Dichter Francesco Petrarca im 14. Jahrhundert die Welt, die sich vor ihm erstreckte. Er fand sie schön, und er erfuhr im Anblick dieses Naturschönen auch sich selbst neu. Petrarcas Schilderung gilt als Zeugnis jenes kulturhistorischen Moments, als Philosophen, Wissenschaftler und Künstler in Europa den Blick vom Himmel abwandten und begannen, die Natur zu erforschen. Und das bedeutete, die Natur von der menschlichen Kultur zu unterscheiden, um sie zu vermessen, zu gestalten und zu beherrschen. Heute ist umstritten, ob Petrarca den Gipfel wirklich erklommen hat oder ob seine Schilderung Fiktion ist. Als Fiktion, könnte man mit einer Portion Zynismus sagen, scheint sich jedenfalls eine der wirkmächtigsten Ideen zu erweisen, deren Aufkommen Petrarcas Brief an der Schwelle zur Neuzeit bezeugt: die Idee vom Menschen als Krone der Schöpfung. Sollten wir je die Krone der Schöpfung gewesen sein, so sind wir heute, fast 700 Jahre später, zu ihrem Bulldozer geworden. Auch wenn längst nicht alle diese Erkenntnis teilen: Je länger uns Umweltaktivisten und zunehmend die Natur selbst den Spiegel vorhalten, desto schwieriger wird es zu leugnen, wie viel Natur, wie viel Naturschönes wir durch unsere Lebensweise täglich zerstören, und wie maßlos diese Zerstörung um sich greift.

Wir erleben derzeit einen Bewusstseinswandel, der ähnlich radikal zu werden scheint wie der Beginn von Renaissance und Humanismus, als die Grundlagen für unsere moderne, wissenschaftsbasierte Lebensweise entstanden. Vor gut einem halben Jahrhundert lenkten Rachel Carsons Buch Der stumme Frühling (1962) und Dennis Meadows’ Bericht DieGrenzen des Wachstums (Club of Rome, 1972) die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zum ersten Mal auf ein Phänomen, das seither von Wissenschaftlern auf vielfältige Weise beschrieben wird: Wir Menschen sind mit unserer industrialisierten Lebensweise zu einem geologischen Faktor geworden, zu einer Naturgewalt, deren Einflüsse das Gesicht der Erde in kurzer Zeit dramatisch verändern. Vom Klima über das Artensterben bis zur Versauerung der Meere. Mit dem Schlagwort »Anthropozän« (Paul Crutzen) ist dieser Umstand noch relativ freundlich beschrieben. Die Welt brennt, das sieht man, während ich dies schreibe, am 18. Juli 2022, möglicherweise sogar vom Gipfel des Mont Ventoux aus, da die Menschen an der Atlantikküste zu Zehntausenden ihre Wohnungen und Häuser verlassen müssen, um sich in einem wieder einmal viel zu heißen Sommer vor den Flammen in Sicherheit zu bringen.1

Am Beginn dieses Buchs stand der Arbeitstitel Umweltpioniere mit der Idee, einige Aktivisten der ersten und zweiten Stunde nach ihren Erfahrungen zu befragen. Inzwischen hat das Buch sich von diesem anfänglichen Titel emanzipiert, und zu den frühen Umweltpionieren ist mit Jakob Blasel von Fridays for Future auch ein Aktivist der jüngsten Generation dazugekommen. Die meisten hier versammelten Autorinnen eroberten neues, bis dahin völlig unbekanntes Terrain auf der Landkarte politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Durch ihre Arbeit wurden Welt und Natur zur Umwelt, beharrlich sorgten sie dafür, dass wir unseren Blick auf das richten, was sich in den vergangenen Jahrzehnten im Schatten unserer technischen Eroberungen an Kollateralschäden so angehäuft hat. Und natürlich haben sie es nicht dabei belassen, unsere Sinne zu schärfen, sondern auch auf unterschiedlichste Weise dazu beigetragen, Lösungen zu entwickeln, zu verbreiten und politisch durchzusetzen.

Seither hat sich viel getan: Private Unternehmer haben im Verein mit Lokalpolitik und Umweltverbänden Flüsse gerettet, Wälder und Böden geschützt und für die Einrichtung und Erhaltung von Naturschutzgebieten gekämpft. Viele von ihnen haben vor Gericht für mehr Umweltschutz gestritten, manche als Wissenschaftlerinnen an technischen Ökoinnovationen mitgewirkt, andere vor allem PR- und Lobbyarbeit für die Umwelt geleistet. Die Grünen haben auf dem langen Weg von der außerparlamentarischen Opposition zur Regierungspartei – nicht allein, aber als maßgeblicher Treiber – Erfolge wie den Atomausstieg und die Durchsetzung erneuerbarer Energien erstritten. Unterdessen haben Organisationen wie Greenpeace eine Tradition mehr oder weniger legaler Guerilla-Aktionen begründet, die von Gruppierungen wie Extinction Rebellion und Ende Gelände fortgeführt wird.

So weit, so bekannt. Warum also ein Buch, warum das, was viele unserer Autorinnen seit 30 Jahren sagen und schreiben, hier noch einmal aufschreiben?

Weil die CO2-Emissionen unvermindert steigen, die Plastikberge unvermindert wachsen und Tag für Tag unzählige Arten von unserem Planeten verschwinden. Weil wir heute nicht etwa weniger, sondern deutlich mehr Verpackungsmüll anhäufen als in den 1990er-Jahren und zu Beginn des Jahrtausends und weil derzeit, angesichts des Kriegs in der Ukraine, selbst die beschlossenen Ausstiege aus Kohle und Atomenergie wieder infrage stehen. Weil wir nach 50 Jahren Die Grenzen des Wachstums immer noch nicht anders können, als unseren gigantischen Energiehunger panisch irgendwie zu stillen, jetzt, da wir plötzlich auf das billige Gas aus Russland verzichten müssen – um nicht einen Systemkollaps zu riskieren, den wir natürlich auf keinen Fall riskieren dürfen. Wie die beiden Schneiden einer Schere gehen das wachsende Wissen um die Umweltprobleme und die ungebremste Umweltzerstörung in zwei verschiedene Richtungen auseinander, und es drängt sich der Verdacht auf, dass dies nicht nur bei der Schere in ihrer Konstruktion begründet liegt. Die Frage, wie wir aus diesem Dilemma herauskommen, ist nach einem halben Jahrhundert noch kaum wirklich beantwortet.

Deshalb haben wir in diesem Buch die Stimmen verschiedener Vorreiter der Umweltbewegung versammelt: Wissenschaftlerinnen wie Ernst Ulrich von Weizsäcker, Helga Kromp-Kolb, Christine von Weizsäcker, Christof Schenck, Michael Braungart und Franz Josef Radermacher kommen zu Wort, Aktivisten wie Thilo Bode, Hannes Jaenicke, Franz Alt und Elisabeth Stern von den Schweizer KlimaSeniorinnen, Vertreter von Naturschutzorganisationen wie Hubert Weiger, Unternehmer wie Dirk Roßmann, der Autor Claus-Peter Hutter und nicht zuletzt Politikerinnen wie Bärbel Höhn, Klaus Töpfer und Alexander Van der Bellen. Die vier Töchter von Josef Göppel haben, nachdem dieser im April 2022 überraschend verstarb, die Aufgabe übernommen, einen Beitrag nicht nur in seinem Angedenken, sondern auch in seinem Sinne zu verfassen. Sie alle haben wir gebeten, auf die vergangenen Jahrzehnte zurückzuschauen. Weil wir wissen wollten, was wir von ihnen lernen können: Wo lohnt es sich zu kämpfen und wie? Welche Ideen zur Lösung bestimmter Probleme gab es schon, welche wurden vergessen, welche werden zu wenig gehört? Wie geht es ihnen nach Jahrzehnten des Engagements: Sind sie hoffnungsvoll, optimistisch, enttäuscht, resigniert, verzweifelt?

Ihre Berichte und Bilanzen fallen so unterschiedlich aus wie ihre Tätigkeiten: Von kleinen, keineswegs unbedeutenden Ideen und Innovationen bis zu großen Lösungsvorschlägen, die das 1,5-Grad-Ziel und die Wiederherstellung des globalen ökologischen Gleichgewichts im Blick haben. Sie berichten von Rückschritten, Zweifeln und Frust, aber auch Erfolgen und Hoffnungen. Dabei fällt auf, dass viele von ihnen in ihrer Haltung ambivalent sind: verzweifelt und zugleich auch optimistisch. Für uns aber ist in einer Zeit, in der es »alternativlos« zu sein scheint, den Umweltschutz angesichts von Pandemie und Krieg hintanzustellen, vor allem eines wichtig: dass sie uns daran erinnern, was alles möglich ist. Die Autorinnen und Autoren in diesem Buch haben sich über Jahrzehnte für die Umwelt engagiert. Sie haben beharrlich für ein wachsendes gesellschaftliches Bewusstsein geworben und gleichzeitig nach Lösungen gesucht. Dabei sind sie in das noch weitgehend unerschlossene Terrain von »Umwelt-« und »Naturschutz« vorgedrungen: hier haben sie ganz unterschiedliche Wege freigeschlagen – was uns in die komfortable Lage versetzt, ihnen folgen und diese Wege beschreiten zu können. Ihre Erfahrung, ihr Wissen ist ein Vermächtnis, das es uns heute ermöglicht, zu handeln, ohne dass wir dafür das Rad neu erfinden müssten. Es lohnt sich also, ihnen zuzuhören.

Der französische Anthropologe Philippe Descola weist darauf hin, dass die »geräumige Wohnung mit ihren zwei übereinanderliegenden Etagen, in der wir es uns seit einigen Jahrhunderten bequem gemacht haben, […] Mängel zu zeigen« beginnt.2 Gemeint ist die Unterscheidung von Natur und Kultur, die, wie er ausführt, für die meisten Menschen in der nicht-europäischen oder nicht-europäisierten Welt sinnlos ist.3 Es handle sich, so Descola, bei dieser Unterscheidung, mit der wir im Laufe der Jahrhunderte nahezu alles Nichtmenschliche zu unserer Verfügungsmasse gemacht haben, um einen »historischen Zufall«. Heute, an der wiederum historischen Wende des begonnenen Anthropozän, stehen wir vor der Möglichkeit, die Spaltung von Mensch und Natur zu überwinden und zu einem neuen, weniger zerstörerischen Einklang mit unserer Umwelt zu finden. Wir leben jedoch, wie Donna Haraway schreibt, im Zeitalter des Herumeierns.4 Es ist an der Zeit, zu handeln. Folgen wir den von den Autorinnen und Autoren des vorliegenden Buchs eingeschlagenen Pfaden.

Klaus Töpfer:

Die Zeit der Zeitenwenden

1. Die Geschichte der Menschheit, sie ist gekennzeichnet und profiliert durch historische Umbrüche, durch »Turning Points in History« – durch Zeitenwenden.

Spätestens in der Rede, die Bundeskanzler Scholz am 24.02.2022 im Bundestag nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine gehalten hat, wurde die aktuelle Zeit zu einem »Turning Point in History«. Zwischenzeitlich verbindet sich eine Vielzahl von historischen Umbrüchen zu dieser Zeitenwende. Die einzelnen Umbrüche sind untereinander verflochten, sind sich wechselseitig verstärkend in der Gesellschaft, der Wissenschaft und der Wirtschaft. Zum Teil erst mit erheblicher Verspätung werden diese Umbrüche in ihrem Ausmaß erkannt und noch später Konsequenzen daraus gezogen.

Dies gilt sicherlich für die umfassende historische Veränderung, in die die aktuelle Zeit der Zeitenwenden eingebunden ist und in der sie ihre Gewichtung erfährt: Die Zeitenwende vom letzten Naturzeitalter, dem Holozän, zum ersten Menschenzeitalter, dem Anthropozän. Paul Crutzen, dieser herausragende Wissenschaftler und Nobelpreisträger, hat mit seinem 2002 in Nature erschienenen Artikel »The Geology of Mankind« diesen »Turning Point of History«, den Beginn einer neuen globalen Ära, kurz und knapp präzisiert. Crutzen hatte zuvor mit seinen bahnbrechenden Arbeiten zur Gefährdung der Ozonschicht die Chlorbestandteile vornehmlich in den FCKWs als Ursache für diese Schädigung der Ozonschicht – »das Ozonloch« – dingfest gemacht. Dafür ist er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden zuvor in breiten Teilen der Wissenschaft, vor allem jedoch in der einschlägigen Wirtschaft, massiv bekämpft und interessengeleitet »widerlegt«. Dieser herausragende Wissenschaftler also verweist darauf, dass der Mensch zu einer »quasi geologischen Kraft« geworden ist, wie es 2007 im Potsdam-Memorandum von 15 Nobelpreisträgern genannt wurde.5

Der Mensch als Naturgewalt – das Naturzeitalter abgelöst vom Menschen. Dieser Wendepunkt ist der entscheidende »Turning Point in History«. Wir stehen am Anfang einer neuen Ära: Es ist die Zeitenwende aller Zeitenwenden!

Crutzens Forschungen haben in der Wissenschaft weltweit eine breite, intensive und folgenreiche Diskussion begründet. Eine Konsequenz: In Deutschland wird der Historiker Jürgen Renn, der Leiter des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Potsdam, gebeten, das Konzept für ein neues Max-Planck-Institut »Anthropozän« zu erarbeiten. Zwischenzeitlich hat Jürgen Renn in bemerkenswerter Klarheit dieses Konzept vorgelegt. Er selbst wird dieses Institut leiten.

In der Zeit vom 30.06.2022 findet sich ein Interview mit Jürgen Renn unter der Überschrift »Wir können nicht einfach zurück zur Natur«. Es finden sich Stimmen, die feststellen: »Nature is over.«

Wahrlich: Vom Holozän zum Anthropozän – die Zeitenwende aller Zeitenwenden.

2. Zeitenwenden im Anthropozän

Der Mensch als quasi geologische Kraft, so formuliert im Schlussdokument der Potsdamer Klimakonferenz 2007 unter dem Titel: »Global Sustainability – a Nobel Cause«.

Der Mensch mit seinen Entscheidungen ist immer wieder Ausgangspunkt, ist Verursacher historischen Wandels.

Mit weitreichenden Konsequenzen im Verhalten der Menschen und in der technisch-wissenschaftlichen Maßnahmenpalette. Paul Crutzen kommt zu dem Schluss: »This […] may well involve internationally accepted, large-scale geo-engineering projects.«

Geo engeneering: mit technischen Mitteln Eingriff in Kreisläufe der Erde. Genannt sei nur das Solar Radiation Management (SRM) durch den Menschen – nicht als Utopie, sondern als konkrete Forschung im Kampf gegen den Klimawandel.

In eine solche Zeitenwende bin ich hineingeboren, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1938 – einer von damals 2,5 Mrd. Erdenbürger:innen. Meine Generation, sie wurde von Wolf Lepenies als die Generation des klugen Timings bezeichnet. Eine Generation, die spät genug gekommen ist und früh genug gehen wird. Diese Generation hat Zeitenwenden erlebt und gestaltet, sie ist von diesen geprägt worden, die sich aus dem Wandel vom Holozän zum Anthropozän erklären und aus diesem Wandel ihre Begründung finden.

Als Flüchtling aus Niederschlesien fand ich mich 1945 mit Eltern und Geschwistern am Ende dieses diabolischen, menschenverachtenden und Millionen Menschenleben kostenden Krieges in Höxter an der Weser, im Paderborner Land, in Ostwestfalen. Beladen mit der kollektiven Schande und Schuld der unglaublichen Verbrechen des Holocaust.

Jeder Bissen zum Essen musste hart erarbeitet oder »organisiert« werden. Ich sehe mich auf den Stoppelfeldern nach Kartoffeln oder Zuckerrübenresten suchen, sehe mich auf einem Sammelplatz für Altpapier und Alteisen »Handel« betreiben, sehe mich Bucheckern sammeln und selbst gesuchte Pilze »vermarkten«. In jeder Woche in der Nacht von Freitag auf Samstag ging der Schüler Töpfer in die dortige Zentrale der Lotto- und Totogesellschaft, wo die eingegangenen Lotto- und Totoscheine gezählt und registriert und damit für die zentrale Auswertung zugänglich gemacht wurden. Direkt von dieser Arbeit ging es in den frühen Morgenstunden am Samstag ins Gymnasium, so bis zum Abitur.

Wirtschaftliche Stabilität, Überlebensfähigkeit in einer Umgebung, wie sie in dem Film Wir Wunderkinder von Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller brillant kabarettistisch dargestellt wurde: »Freunde, genießt nur die Nachkriegszeit, sehr bald wird sie wieder zur Vorkriegszeit« – die »Goldenen Zwanziger« und die massiven Umbrüche in Superinflation und Arbeitslosigkeit mit brüningscher Sparpolitik waren nicht vergessen. »Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt«, geradezu eine Hymne, die mir bis zum heutigen Tag von Geier Sturzflug nachgeliefert wurde und in Erinnerung blieb – das Ziel war eindeutig: wirtschaftliche Stabilität, wirtschaftlicher Aufschwung, wirtschaftliches Wachstum. Der Morgenthauplan war nicht Realität geworden, wohl aber der Marshallplan. Eine Entwicklung, die sich bereits aus dem sich deutlich abzeichnenden »Kalten Krieg« erklären ließ.

Die Steigerung des Bruttosozialprodukts, koste es, was es wolle – und es kostete viel mehr, als von der damaligen Gesellschaft in den Marktpreisen zur Berechnung des Bruttosozialprodukts erfasst wurde. Das Bruttosozialprodukt, die monopolisierte Messgröße für Fortschritt, für Wohlstand, für Wachstum. Niemand wollte auch nur im Ansatz realisieren, was Kennedy später wie folgt formulierte: »Das Bruttosozialprodukt misst alles, nur nicht das, was das Leben lebenswert macht.« Der soziale Friede, die Qualität der Bildung und Ausbildung, das Glück des menschlichen Miteinanders – dieses und vieles mehr hat eben keinen Marktpreis – und ein »Bruttoglücksprodukt« konnte gar nicht gedacht, geschweige denn handlungsrelevant gemacht werden.

Die Subventionierung dieses Wachstums durch die Abwälzung von großen Kostenblöcken auf die Zukunft, auf die Natur, auf Menschen in anderen Regionen – es blieb bewusst oder unbewusst verdrängt, nur einzelne Stimmen wurden mit einem protestierenden Fanal hörbar. Der gemeinsame Nenner: Die Menschen in den »hoch entwickelten Ländern« leben mit einer massiven Wohlstandslüge.

Zurück zu diesem Glücksprodukt.6 Jahre später habe ich mit dem König von Bhutan in seinem wunderschönen Land, in der Hauptstadt Thimphu, über dieses Glücksprodukt diskutiert, im wahrsten Sinne des Wortes stundenlang. Dieses Königreich Bhutan hat seine konkrete Utopie in die Vereinten Nationen getragen, hat dafür engagiert Unterstützung gesucht, organisierte federführend auch mit dem Umweltprogramm UNEP (UN Environment Program) Konferenzen und internationale Diskussionen. Einige Bemühungen zur Erfassung entsprechender Daten für die Berechnung eines »Glücksprodukts« gab es auch in Deutschland. Das Projekt verlief im Sande.

Zurück zum Wirtschaftswunderland Deutschland, konkreter der Bundesrepublik Deutschland: In Münster studierte ich bei Hans Karl Schneider, schrieb eine Dissertation zum Thema: »Zur Beeinflussung privater Pläne – dargestellt an der unternehmerischen Standortentscheidung«. Die Zielsetzung dieser Arbeit: Wie können Unternehmer und Unternehmen motiviert werden, dezentral zu investieren und nicht nur in den industriellen Schwerpunkten, in den Großstädten des Landes. »People to Job or Job to People?« war die Kernfrage, die es zu klären und zu beantworten galt – eine Frage, die aktuell etwa bei der politischen Positionierung zur Entfernungspauschale höchst aktuell ist. Standortfaktoren habe ich bewertet, regional unterschiedliche Abwälzungsmöglichkeiten betrieblicher Kosten zum Nulltarif auf Luft, Wasser und Böden habe ich zwar nicht so genannt, aber sie spielten eine umso bedeutsamere Rolle. Die »localization economies« und die »urbanization economies« als zentrale Einflussgrößen kaum quantifizierbar, geschweige denn monetarisierbar. Im Nachhinein liest sich diese Dissertation (sie ist zwischenzeitlich natürlich vergriffen!) für mich als ein Beitrag zur Öffnung ökonomischen Denkens hin zu den externen Effekten, zu den ökologischen Abwälzungsmechanismen. Sie spricht damit zentrale Herausforderungen jeder Umweltpolitik an.

Hans Karl Schneider hat gemeinsam mit Helmut Schelsky und Harry Westermann das Zentralinstitut für Raumplanung in Münster begründet. Dort war mein erster nachuniversitärer Arbeitsplatz als Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung. Diese Schwerpunktverlagerung auf die regionale Dimension findet aktuell ein mächtiges Echo in der »Renaissance des Regionalen«, in der Erfolgsgeschichte der Bioprodukte bis hin zu Programmen wie der Strategie »from Farm to Fork«. Ein zentrales Ziel: der Abbau strategischer Abhängigkeiten, das Streben nach Autarkie. Vor allem: das Wissen für den Verbraucher, wer wo diese Ware wie erzeugt hat.

Rückblickend waren dieser Forscherkreis um das Zentralinstitut für Raumplanung und für mich zusätzlich die genannte Dissertation der Anstoß für ein Denken über das BSP hinaus. Dieses Denken fand seine konkrete Herausforderung in den immer sichtbarer werdenden konkreten Konsequenzen der auf die Zukunft oder andere Menschen abgewälzten Umweltkosten. Zunehmend wurden für mich die damit verbundenen ethischen Dimensionen des Lebens auf Kosten kommender Generationen und der Natur zur höchst kritischen Rückfrage an die Leistungsfähigkeiten der Marktwirtschaft. Die »Wohlstandslüge« war nicht mehr zu »übersehen«, geschweige denn zu negieren.

So forderte Willy Brandt 1961: »Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.« Die Verbindung zwischen den Umweltbelastungen, bei Luft, Wasser, Böden, Nahrungsmitteln und der Gesundheit der Menschen als entscheidende Bedingungen eines glücklichen Lebens, eine politische Dimension von zunehmender gesellschaftlicher und politischer Relevanz.

Erinnert wurde ich daran, dass ich bereits als Schüler des Gymnasiums und später als Student Mitglied des katholischen Schülerbundes Neu Deutschland wurde. Ich erinnerte mich an das Hirschberg-Programm dieser Gemeinschaft und las darin mit nunmehr gänzlich anderen Augen: »Frieden mit der Natur ist Ausdruck der Ehrfurcht vor Schöpfer und Schöpfung. Wir setzen uns ein für ein Wirtschaften, das diesen Frieden wahrt, und halten Maß im Verbrauch.«

Das »Maß im Verbrauch«! Alle Wahl- und Parteiprogramme habe ich nach dem Wort »Suffizienz« vergeblich durchsucht. Über Effizienz und Resilienz findet man viele strategische Programmpunkte. Über »Suffizienz« findet man nichts. In Interviews und Reden habe ich eine »neue Bescheidenheit« eingefordert. Die Reaktionen der Medien und in der Gesellschaft blieben bis zum heutigen Tag nahezu gänzlich aus. Dabei ist immer wieder zu unterstreichen, dass unser Lebensstil nicht globalisierungsfähig ist. Meine Erinnerung an die Stoppelfelder der Flüchtlingsjahre kontrastiert massiv mit der Tatsache, dass aktuell je nach Berechnung bis zu zehn Millionen Tonnen Nahrungsmittel pro Jahr allein in Deutschland weggeworfen werden – in einer Zeit, in der über 800 Millionen Menschen hungern, mit steigender Tendenz. Ein Gang durch Slums in den afrikanischen Städten, z. B. Mathare in Nairobi, machte diesen massiven Verteilungsskandal für mich physisch erfahrbar, wurde für mich eine moralische Handlungsverpflichtung.

Dieser Umbruch einer eindimensional nur am Wachstum des BSP orientierten Wirtschaft fordert somit immer eine Einbindung der externalisierten Kosten in die Wohlstandsrechnung. Dafür ist, wie in den Bereichen der Sozialpolitik, ein klarer gesetzlicher, ordnungspolitischer Rahmen zwingend geboten. Immer dringlicher und hörbarer wurden die Forderungen nach Investitionen in Luft, Wasser, Böden, in die Naturvielfalt, in den Kampf für Biodiversität. Diese Aufschreie, diese Weckrufe wurden zu literarischen Bestsellern und verstärkten dadurch sehr wirksam ihre politische Relevanz. Der Bericht Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome, 1972 erarbeitet und in über 30 Millionen Exemplaren in nahezu 40 Sprachen veröffentlicht, bereits 1973 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt, ist dafür der zentrale Beleg. Rachel Carsons Der stumme Frühling hatte bereits 1962 die Diskussion über den Umbruch des Denkens hinsichtlich der Konsequenzen unseres Wirtschaftens und Lebensstils auf die Schöpfung, auf die Artenvielfalt ansteigen lassen. Das Buch Ein Planet wird geplündert des damaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Herbert Gruhl, erschienen im Jahr 1975, gab der Diskussion über die moralischen Konsequenzen unseres Wirtschaftens eine unmittelbare politische Dimension. Der Untertitel des Buches: Die Schreckensbilanz unserer Politik. Dieses Buch, ein Bestseller und, wie schon bald zu erkennen war, in seinen Aussagen und Bewertungen nicht – wie man meinte – übertrieben, sondern eher noch untertrieben. Gruhl war nicht seiner Zeit voraus – er war auf der Höhe der Zeit, während der Mainstream in Gesellschaft und Politik zumeist weit hinter der Zeit zurückblieb.

Da finden sich Sätze, die geradezu revolutionärer Sprengstoff waren und wohl noch sind: »Je fortschrittlicher eine Zivilisation ist, desto mehr beutet sie die Natur aus« (S. 18). Nahezu an gleicher Stelle die Feststellung: »Man hat schlicht vergessen, dass die lebendige Natur und die Bodenschätze die Grundlage jeder Produktion, aller Kapital- und Arbeitseinsätze sind.« Mit der Konsequenz: »Wären diese Aussagen als Elementarfaktoren in die Rechnung einbezogen worden, dann wäre der Mensch bescheidener geblieben.« In diesem Buch findet sich endlich der Hinweis auf die Bescheidenheit, die Suffizienz, auf das Maß im Verbrauch, wie es Jahre zuvor mein katholischer Jugendbund in seinem Grundsatzprogramm formuliert und gefordert hatte. Es wäre an der Zeit, dieses Buch von Gruhl in der Gesellschaft und insbesondere in der CDU intensiv zu diskutieren, in seiner Aktualität zu werten und Schlussfolgerungen für die aktuelle Gestaltung einer moralisch verankerten Umwelt- und Gesellschaftspolitik zu ziehen.

Mein Zugang zu dem, was man heute »Umweltpolitik« nennt und was für mich Teil einer breiten gesellschaftspolitischen Verantwortung darstellt, war nicht ein punktuelles Ereignis oder die Begegnung mit einem in besonderer Weise motivierenden Menschen oder einer Institution. Es war vielmehr der ständig wachsende Zweifel an den richtigen Stellgrößen einer sozialen Marktwirtschaft, die ihren »Wohlstand« bemüht ist zu steigern, indem sie Kosten dieses Wohlstands aus der aktuellen Rechnung heraushält. Diese Abwälzung auf kommende Generationen war für mich zwischenzeitlich sehr konkret geworden: Unsere drei Kinder sind Teil dieser kommenden Generation. Heute konkretisieren diese Rückfrage an unser aktuelles Verhalten vier Enkelkinder mit Blick auf die weitere, auf ihre Zukunft. Dabei verliert der Begriff »Umwelt« und »Umweltpolitik« für mich immer mehr die Berechtigung. Der Mensch ist und bleibt Teil der Schöpfung – es gibt nicht die Trennung des Menschen von dieser Schöpfung. Er ist Teil dieser »Umwelt«.

Es war die steigende Überzeugung, dass in einer Welt mit nunmehr acht Milliarden Menschen ein Planet geplündert wird, weil die Menschen bewusst oder unbewusst Subventionen für diesen Wohlstand kassieren, sich »verschulden«. Den Abbau dieser Schulden müssen andere begleichen – wenn das dann noch möglich sein sollte.

Beispielhaft findet sich diese wachsende Überzeugung zu einer ökologischen Qualifizierung der Marktwirtschaft wieder in dem Kreislaufwirtschaftsgesetz. Das Denken in Kreisläufen muss das lineare Denken überwinden. Im Kreislauf werden die jeweiligen Verursacher unmittelbar in ihrer Verantwortung eingebunden, während lineares Denken stets zu »Abfällen« führt, für die dann die vorangegangenen Stufen der Produktion, des Handels und des Verbrauchs keine Verantwortung übernehmen. Nur durch eine Kreislaufwirtschaft kommt die Menschheit raus aus der »Wegwerfgesellschaft«. Dieses wurde in meiner Zeit als Umweltminister mit der Verpackungsverordnung konkret erprobt – mit erheblichem, stark beachtetem internationalem Erfolg. So wurde ich zum »Grünen Punkt« der Nation; wurde schließlich in einem »gelben Sack« auf die Fernsehbühne einer Rateshow gebracht. In dieser sehr produktiven Zeit des neuen Bundesumweltministeriums wurden europa- und weltweit besonders ambitionierte wichtige wasserwirtschaftliche Rechtsgrundlagen verschärft, wurden damit Infrastrukturen in Kläranlagen durchgesetzt. Ein klares Ordnungsrecht erwies sich als verlässlicher Weg zu sauberen Flüssen und Bächen. Ordnungsrechtliche Vorgaben in Gesetzen und Verordnungen wurden auch für Luftreinhaltung, für chemische Stoffe, für Biodiversität erarbeitet und in Gesetzen festgeschrieben.

In diese Zeit fällt die »Enquete-Kommission zukünftige Kernenergie-Politik« (1979–1983). Der Schlussbericht der parlamentarischen Kommission verdient es, heute noch gelesen zu werden. Die Frage der Nutzung oder Nicht-Nutzung der Kernenergie blieb allerdings offen.

Nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima wurde von der Bundesregierung 2011 die »Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung« eingesetzt. Diese von Prof. Matthias Kleiner und mir geleitete Kommission kam zu dem Ergebnis, dass Deutschland bis zum Jahre 2022 die Nutzung der Kernenergie beenden kann. Sie gab somit eine Antwort auf die Frage, die in der Enquete-Kommission von 1979 offengelassen wurde. Die Ergebnisse der Ethikkommission wurden vom Deutschen Bundestag mit breiter Zustimmung akzeptiert und in den folgenden Jahren wie beschlossen umgesetzt. Erst der verbrecherische Überfall Putins auf die Ukraine hat diese nahezu einstimmige Handlungsstrategie mit dem Ende des Ausstiegs im Jahre 2022 infrage gestellt und wieder zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussion dieser Energietechnologie geführt. Es wäre zwingend an der Zeit, der Empfehlung der Enquete-Kommission in ihrem gesamten Umfang Beachtung zu schenken. Dazu gehört die Überlegung, eine Rückholbarkeit bei der Entsorgung der radioaktiven Abfallstoffe zu gewährleisten. Es muss die Möglichkeit offengehalten werden, diese Abfälle wieder zu bergen, sollten später neue wissenschaftliche Erkenntnisse für die Behandlung oder sogar ggf. Nutzung dieser Abfallstoffe vorliegen. Ebenso ist es zwingend, dass Deutschland seinen weitgehenden Ausstieg aus der Forschung auf dem Gebiet der Kernenergie schnellstens beendet. Wenn direkte Nachbarn Deutschlands diese Technik sehr progressiv bewerten und nutzen, wenn technisch grundsätzlich andere Atomkraftwerke mit neuen Sicherheitskonzepten entwickelt werden, muss in Deutschland zumindest der technologische Wissensstand dieser Entwicklungen verfügbar gemacht werden. Dabei bleibt die Entscheidung für den Ausstieg aus der Kernenergie unverändert. Eine Perspektive, die ich mit den Argumenten der Ethikkommission weiterhin für richtig halte.

Mehr und mehr wurde durch diese gesetzgeberischen Maßnahmen und die entsprechenden Strategien der Weg sichtbar, den die soziale Marktwirtschaft zu einer ökologischen und sozialen zu gehen hatte und noch hat. Auf dem Parteitag der CDU 1989 in Bremen habe ich bereits den Antrag »Unsere Verantwortung für die Schöpfung« eingebracht. Vergleichbar mit der Sozialpflichtigkeit habe ich die Ökologiepflichtigkeit der Marktwirtschaft begründet, ein Vetorecht des Umweltministers wurde gefordert, vergleichbar mit dem Vetorecht des Finanzministers. Die ökologische und soziale Marktwirtschaft wurde in diesem Antrag gefordert. Er wurde nach langer, intensiver und kontroverser Diskussion vom Parteitag angenommen. Die CDU bekannte sich zur ökologischen und sozialen Marktwirtschaft. Dieser bedeutsame Schritt nach vorn wurde wenige Jahre später wieder zurückgenommen. Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass dieses Bekenntnis zu einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft eine Säule christlich-demokratischer Politik sein muss.

3. Die Zeitenwende zur Globalisierung

1989 fielen die Mauer und der Stacheldraht, die Deutschland teilten. Sicherlich der herausragende Beleg für das Ende des Kalten Krieges, für den Zusammenbruch der Sowjetunion. Wiedervereinigung in Deutschland! Ende der Geschichte!? Fukuyamas Thesen über Demokratie und Marktwirtschaft, über Liberalismus wurden heiß diskutiert. Der Zusammenbruch der kommunistischen Vision – eine Zeitenwende, ein »Turning Point in History«?

Zweifellos eine besondere Zeitenwende mit dynamischer Motivationskraft. Frieden schien auf Dauer global gesichert, alle materiellen und immateriellen Ressourcen konnten für die friedliche Entwicklung der Menschheit eingesetzt werden – sie mussten nicht in Rüstung, in militärischer Abschreckung vergeudet werden. Der Abbau der riesigen weltweiten Entwicklungsunterschiede, gemessen am BSP und an den Lebensperspektiven der Menschen, konnte als Hauptaufgabe der Menschheit in Angriff genommen werden. Es bedurfte nicht mehr des BSP, um den Kampf zwischen Ost und West zu »gewinnen«. Eine geradezu euphorische Begeisterung erfasste die Menschen bis in die Politik hinein!

Diese neue Dimension des Miteinanders zu nutzen und erfolgreich zu machen, war die Herausforderung. Die Unterschiede dieses Kampfes um ökonomische Vorrangstellung zwischen Ost und West wurden auch bei Umweltschäden nach der Wiedervereinigung sichtbar. Ein konkretes Beispiel in Deutschland: Die überalterte Carbochemie im Raum Bitterfeld, verglichen mit der Petrochemie am Rhein. Viele Beispiele derartigen Umweltdumpings wurden unübersehbar. Mit Respekt ist an die Leistungen der Menschen in der damaligen DDR zu erinnern, die mit diesen überalterten technischen Bedingungen und den damit verbundenen ökologischen und gesundheitlichen Belastungen noch weltmarktfähige Qualitätsprodukte herstellen konnten.

Überall Aufbruchstimmung in Deutschland und weit darüber hinaus. In diese Zeit hinein wurde die Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 vorbereitet – 20 Jahre nach der ersten Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Stockholm 1972: The United Nation Conference of the Human Environment (UNCHE). Mitten im Kalten Krieg, vom »Osten« boykottiert! Von den sogenannten Entwicklungsländern höchst kritisch, geradezu widerwillig begleitet. Hinter einer »globalen Umweltkonferenz« wurde als Zielsetzung der wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten vermutet, die von etwa nur 25 Prozent der Weltbevölkerung verursachten globalisierten Umweltbelastungen als Handlungsverpflichtung der ganzen Welt aufzuerlegen. Indira Gandhi nahm als eine der wenigen Staatsoberhäupter an dieser Konferenz teil und hielt eine bis zum heutigen Tag höchst lehrreiche, lesenswerte Rede. Ein Satz daraus wurde zum Fanal: »Sind nicht Armut und Hunger die am stärksten toxischen Elemente der Welt?« Müssen nicht Armut und Hunger prioritär weltweit bewältigt werden? Haben die Entwicklungsländer nicht geradezu einen Rechtsanspruch gegenüber den Ländern, die die globalen Umweltbelastungen verursacht haben, unter denen die Entwicklungsländer massiv leiden und in ihrem Entwicklungspotenzial belastet werden?

Diese globale Dimension hat mich bereits früh in meinem politischen Leben angetrieben. Sie hat mit der Verantwortung, die ich 1998/1999 für das Umweltprogramm für die Vereinten Nationen in Nairobi übernommen habe, ihren abschließenden Höhepunkt gefunden. Die wirklich relevanten Umweltprobleme unserer Zeit erfordern gebieterisch globales, solidarisches Handeln. Der zwischenzeitlich immer deutlicher werdende Re-Nationalisierungstrend mit einer zunehmenden De-Globalisierung befindet sich immer dramatischer in Widerspruch zu dieser globalen Verantwortung. Dies ist sicherlich auch verbunden mit einem retardierenden Prozess globaler wirtschaftlicher Stabilität mit dem Ziel eines Abbaus der weiterhin deutlich ansteigenden wirtschaftlichen Unterschiede in der Welt, eine Lektion, die ich in Nairobi ganz konkret erfahren musste. Diesen Herausforderungen können die Vereinten Nationen in ihrer aktuellen Struktur nur sehr bedingt, wenn überhaupt gerecht werden. Es ist eine Tragik, dass die sachliche Verpflichtung zur globalen Zusammenarbeit geradezu untergepflügt wird von nationalen Egoismen, von der Philosophie eines »my country first«.

Zurück zur Rio-Konferenz 1992: Die Euphorie war, wie bereits erwähnt, in breiten Teilen der Bevölkerung weltweit sehr groß – die Skepsis gegenüber einer weiteren »Weltumweltkonferenz« allerdings noch stärker ausgeprägt, als dies 1972 der Fall war. Die Entwicklungsländer waren unter keinen Umständen dazu bereit, eine zweite »United Nation Conference on the Human Environment« zu akzeptieren. Selbst für eine Konferenz für Umwelt und Entwicklung, für »Environment and Development« gab es erheblichen Widerstand. Gefordert wurde eine Konferenz für »Development and Environment«: Die Entwicklung musste an erster Stelle stehen, die Umwelt an zweiter.

In dieser Situation hat Deutschland eine zentrale Verhandlungsposition mit der Dritten Welt eingenommen. Als Umweltminister bin ich mit qualifizierter fachlicher Unterstützung aus dem Ministerium besonders nach Asien in entscheidende Länder zu Gesprächen gereist: China, Indien, Malaysia, Indonesien, als einige Beispiele. Es ist gelungen, für Rio 1992 die United Nations Conference on Environment and Development (UNCED) durchzuführen. Eine Zeit erheblicher innenpolitischer Turbulenzen in Brasilien belastete die Erwartungen an diese Konferenz zusätzlich.

Dieser mühsame Vorbereitungsprozess hat die Attraktivität der Konferenz bereits in der Vorbereitung belastet. Mit der Konsequenz, dass z. B. der damalige Umweltkommissar der EU, Carlo Ripa di Meana, nicht zu dieser von ihm als nutzlos bezeichneten Konferenz reiste. Auch in der Bundesregierung waren die Erwartungen an die Ergebnisse außerordentlich begrenzt. So hatte schlussendlich der noch recht neue Umweltminister die Ehre, die deutsche Delegation in Rio zu leiten. Dennoch hat die Euphorie der Zeitenwende nach dem Zusammenbruch des Kommunismus Rio 1992 in großartiger Weise erfolgreich werden lassen. Rio wurde zum Earth Summit.

Die Vorbereitung für die Klimakonvention lag bei Tommy Koh, einem erfahrenen und klugen Spitzenbeamten aus Singapur. Mit ihm habe ich zusammen mit meinen für die Klimaverhandlungen besonders erfahrenen Mitarbeiter:innen diesen Prozess bis zur Annahme der zentralen Konvention in Rio 1992 verhandelt – nicht zuletzt unterstützt durch das große Verhandlungsgeschick des Generalsekretärs dieser Konferenz, Maurice Strong. Die drei »Rio-Konventionen« für Klima, Biodiversität und Wüstenbildung sind möglich geworden.

In Rio 1992 wurden sehr viele Weichen auf globale Umweltzusammenarbeit gestellt. Ein Beispiel: Als Vorsitzender und damit Hauptverantwortlicher für die angestrebte Waldkonvention konnte nach zähen Verhandlungen wenigstens für alle Waldökosysteme, das Non legally binding Authoritative Statement of Principles for a Global Consensus on the Management, Conservation and Sustainable Development of All Types of Forest verabschiedet werden. Viel habe ich gelernt in diesen Verhandlungen, was mir später in meiner Tätigkeit für die Vereinten Nationen außerordentlich hilfreich war. Verabschiedet wurde die Biodiversitätskonvention, erfolgreich verhandelt wurden die Rio-Prinzipien.

Diese Konferenz war für die globale Umwelt- und Entwicklungspolitik von entscheidender Bedeutung. Zahlreiche Regierungschefs unterzeichneten die Klimakonvention bereits in Rio – so Präsident Bush, Bundeskanzler Helmut Kohl und Präsident Mitterrand, als besonders herausragende Persönlichkeiten.

Für mich war diese Konferenz wiederum eine Bestätigung, über das BSP hinauszudenken, an die Umweltschäden ursächlich und systematisch heranzugehen, marktwirtschaftliche Strukturen durch einen bindenden ordnungsrechtlichen Rahmen zu ergänzen. Wie es am Anfang der industriellen Revolution eines harten sozialen Kampfes für die soziale Dimension der Marktwirtschaft bedurft hatte, so musste ein vergleichbarer Kampf für die ökologische Qualifizierung der sozialen Marktwirtschaft geführt werden. Dies sind für mich Voraussetzungen dafür, dass Umweltpolitik nicht weiterhin eine mehr oder weniger qualifizierte Reparaturwerkstatt der Marktwirtschaft bleibt. Dazu der Hinweis: Die soziale Qualifizierung der Marktwirtschaft erfolgte und erfolgt wesentlich ebenfalls über klares, verbindliches Ordnungsrecht.

Wirtschaftliche Entwicklung, friedliches Miteinander und Perspektiven für kommende Generationen nur durch strukturelle Weiterentwicklung der Marktwirtschaft! Mehr denn je zweifele ich daran, dass ökologische Ziele verlässlich durch eine direkte oder indirekte staatliche Beeinflussung von Preisen durch Steuern und Abgaben erreicht werden können. Nach wie vor erinnere ich mich an den klugen Satz meines finanzwissenschaftlichen Professors in Münster, Prof. Dr. Timm: »Wer mit Steuern steuern will, wird sein Ziel nie erreichen.« Verbindliche, ordnungsrechtliche Rahmensetzungen müssen eine verlässliche Umweltpolitik tragen. In diesem Rahmen können Preise eine zusätzliche Funktion wirksam erfüllen. Dabei ist immer wieder zu unterstreichen, dass »marktwirtschaftliche Instrumente« keineswegs nur Steuern oder Abgaben sind. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass auch Ordnungsrecht technologischen Fortschritt stimuliert. Eine Politik über Preise wird dagegen in einer offenen Gesellschaft stets den begründeten Vorwurf bewirken, dass Preise massive soziale Ungleichgewichte begründen oder weiter verstärken.

4. Die geopolitischen Umwälzungen – die Kulmination der Zeitenwenden

Der Zusammenbruch der Sowjetunion – diese Zeitenwende hatte die positive, motivierende Konsequenz zur globalen Zusammenarbeit. Eine neue Dimension für Lösungen durch globale Zusammenarbeit, zur Realisierung zwingender Umwelt- und Entwicklungsziele wurde geöffnet. Diese Globalisierung haben menschliche Kontakte, wirtschaftlichen Austausch und wissenschaftliche Zusammenarbeit aufblühen lassen. Globalisierungsgewinne wurden und werden realisiert – von sinkender Kindersterblichkeit bis zum Aufbau von Lieferketten durch eine wirtschaftliche Globalisierung, aber auch zu einer leider nach wie vor zu zögerlichen und damit einem zu langsamen Abbau von Hunger, Armut und Hoffnungslosigkeit. Grenzen wurden in ihren den Austausch hemmenden Wirkungen durch Verträge und Abkommen friedlich geöffnet – die Europäische Union als besonders herausragendes Beispiel. Ein weiteres besonders bedeutsames Ergebnis: 2015 konnte sich die Völkergemeinschaft in Paris auf einen gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel, auf klare Handlungsgrundlagen einigen: Das 2,0/1,5-Grad-Ziel wurde global akzeptiert und festgeschrieben. Klimapolitik erhielt damit einen auf die Zusammenarbeit aller aufbauenden globalen Handlungsrahmen. Verlässliche Klimapolitik wurde zu einem zentralen Beitrag globaler Sicherheitspolitik.

Wie ein Blitz schlug die Coronapandemie ein in diesen Aufbruch zur Zusammenarbeit, auf internationale Kontakte, auf Gemeinsamkeit als gesellschaftliche Realität, auf umweltpolitische Partnerschaften. Diese Pandemie erzwang den Verzicht auf Kontakte, machte Isolation zu einem entscheidenden Bestandteil der Therapie, begründete Misstrauen und Kritik mit Blick auf unzureichende Aktivitäten in anderen Regionen. Trennung und nicht Gemeinsamkeit wurde zum Leitmotiv.

Die Erkenntnis wurde deutlich, dass »Natur« auch im Menschenzeitalter, im Anthropozän, rücksichtslos und unkalkulierbar zurückschlägt. Hatte nicht Crutzen bereits festgestellt: »Unless there is … a pandemic, mankind will remain a major environmental force …«? Die Rückfrage: Hatte der Mensch diese Pandemie nicht ursächlich mit ausgelöst? – durch bewusste oder unbewusste Schädigungen und Freisetzungen von Zoonosen? Der Tier-Mensch-Bezug ist zentraler Bestandteil jeder Ursachenforschung. Der Markt und das Labor von Wuhan, die Konzentration auf die Fledermaus oder auf Schuppentiere: Die Ursachenforschung ist nicht abgeschlossen, und es ist zu befürchten, dass dieses unstrittig nie erreicht werden wird. Weitgehende Einigung besteht bei der Verbindung zum Tier, zur Freisetzung von Viren durch wissenschaftliche Forschung und/oder wirtschaftliche Interessen bei der Nutzung von Tieren. Eine wichtige Konsequenz: Mit aller Kraft muss eine Strategie für die Verbindung von Humanmedizin und Veterinärmedizin erforscht werden – »One Health« darf nicht zu einer losen Worthülse verkommen. Umso besorgniserregender ist es, dass dies bis zum heutigen Tag allerdings ein gänzlich vernachlässigtes Handlungsfeld globaler Zusammenarbeit ist.

Der nächste Teilkomplex dieser Zeit der Zeitenwenden am Anfang des 21. Jahrhunderts: der verbrecherische Überfall Putins auf die Ukraine. Ein »Turning Point in History«. Dieser rücksichtslose, menschenverachtende Überfall zerstört die globale Sicherheitsarchitektur. Nationale Grenzen werden durch Putin gewaltsam infrage gestellt, nationale Identitäten werden Großmachtsträumen rücksichtslos untergeordnet. Ein neuer Kalter Krieg muss wieder gedacht und in seinen Auswirkungen strategisch durchdacht werden. Vertrauen als Grundlage jeglicher Zusammenarbeit ist weltweit weggebrochen. Die Lösung von globalen Problemen wird sich auf geänderte Strategien einstellen müssen, Ressourcen werden wieder für Rüstung und Abschreckung eingesetzt. Das »Sondervermögen« von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr – es steht für die Bekämpfung von Armut und Umweltvorsorge nicht mehr zur Verfügung.

Bisherige eherne Grundsatzpositionen werden dieser neuen Realität untergeordnet: »Keine Waffen in Kriegsgebiete« weicht der Forderung »Schwere Waffen für die Ukraine«.

Massive Auswirkungen dieses Vernichtungskrieges auf die für die Realisierung der Pariser Klimaziele notwendige Energiewende! Jede wirksame Klimapolitik ist auf einen möglichst kurzfristigen Ausstieg aus den fossilen Energien zwingend angewiesen. Braunkohle – Kohle – Gas – die großen CO2-Emittenten müssen ersetzt werden. Die Wertschöpfungsketten ändern sich fundamental und verschieben sich von den Besitzern der Energierohstoffe auf die Besitzer der Kenntnisse und Forschungen für die Nutzung der erneuerbaren Energien. Die Exporteure der fossilen Energien verlieren damit wirtschaftliche Perspektiven. Sie verlieren diese Grundlagen vor allem dann, wenn die bisherigen Importeure sich der Klimaverpflichtung entsprechend von fossilen Energien gänzlich unabhängig gemacht haben. Angesichts der Tatsache, dass Russland als Exporteur etwa bis zu 50 Prozent seines Staatshaushalts aus dem Export fossiler Energien finanziert, hat eine erfolgreiche Energiewende die Konsequenz, dass die wirtschaftliche Stabilität des exportierenden Landes erschüttert wird.

Die Unabhängigkeit von fossilen Energien ist gegenwärtig noch nicht erreicht. Vor allem Gas, das pro Energieeinheit am wenigsten CO2 emittiert, wird für den weiteren Umsetzungsprozess der Energiewende noch dringend benötigt. Damit ergibt sich eine strategische wechselseitige Abhängigkeit der Importeure von dem Exportland Russland und des Exporteurs Russland von den Importeuren. Diese Waffe setzt Putin aktuell rücksichtslos ein.

An dieser Stelle kann nur darauf hingewiesen werden, dass die starke Position Russlands und der Ukraine auf dem Weltmarkt von Getreide und Ölsaaten in anderen Regionen der Welt, vornehmlich in Afrika, als »vergleichbare« Waffe eingesetzt werden könnte. Die Diskussion über den Export von Weizen aus der Ukraine belegt diese menschenverachtende Perspektive.

Zurück zur Energie! Die gekennzeichneten wechselseitigen Abhängigkeiten und ihre Veränderung über die Zeit sind im hohen Maße sicherheitspolitische Einflussgrößen. Es muss das Ziel darin bestehen, einen Weg aus dieser höchst gefährlichen Situation und zugleich für die Klimapolitik ebenso wie für die globale Zusammenarbeit zwingend erforderliche Wirkungsmechanismen zu finden. Dies wird nur durch beidseitig kompromissbereite Verhandlungen und nicht durch Waffengewalt erreicht werden können.

Ein Ansatz dazu ist die Nutzung von Wasserstoff in der Energiewirtschaft. Dafür sind technologische Möglichkeiten mit der Elektrolyse bereits vorhanden und über lange Zeit erprobt. Allerdings bedarf es der Nutzung von »grünem Strom«, um CO2-frei Wasserstoff zu erzeugen.

Daher ist es von hoher Bedeutung, dass u. a. im Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS), das ich nach meiner Rückkehr aus Afrika in Potsdam aufbauen durfte, der Nobelpreisträger Professor Dr. Carlo Rubbia die Methanpyrolyse in eine neue Dimension hineinforschen konnte. Mit dieser Technologie wird Erdgas in Wasserstoff und Kohlenstoff getrennt. Der dabei entstehende »türkise Wasserstoff« ist CO2-frei nutzbar. Der in der Pyrolyse entstehende elementare Kohlenstoff ist bereits gegenwärtig wirtschaftlich vielfältig nutzbar. Die Methanpyrolyse damit ein geschlossener Kreislauf. Auf die hohe Bedeutung von Ammoniak in der Produktion, im Transport sowie in der Nutzung vornehmlich in der chemischen Industrie kann nur hingewiesen werden.

Ebenso können weitere Techniken einer CO2-freien Nutzung fossiler Brennstoffe angeführt werden. Insbesondere Carbon Capture and Storage (CCS) und Carbon Capture and Use (CCU) sind im weltweiten Maßstab relevante Lösungswege. Wichtige Erdöl und Erdgas exportierende Länder, wie Norwegen oder Saudi-Arabien, bieten an, das abgeschiedene CO2 zurückzunehmen und z. B. in den durch die Öl- und Gasförderung entstehenden Kavernen zu speichern.

Dies sind vielversprechende perspektivische Lösungen. Sie können mittel- und langfristig der Weg aus der Krise sein. Daher sind neue Investitionen vornehmlich bei der Nutzung von Gas »H2-ready« zu realisieren. Die bittere kurzfristige Realität: Bereits abgeschaltete Braunkohle- und Steinkohlekraftwerke müssen als Konsequenz der Tatsache, dass Putin den Erdgasexport als Waffe nutzt, wieder reaktiviert werden – ohne Zweifel eine massive zusätzliche Belastung der Klimapolitik. Die ebenso diskutierte zeitliche Nutzung noch laufender Kernkraftwerke könnte vermeiden helfen, Gas in Kraftwerken nur zur Netzstabilisierung für die Stromerzeugung zu verbrennen – ohne zusätzliche Belastung des Klimas.

Massiv steigende Energiepreise sind die Folge. Sie sind ein wesentlicher Verstärker der aktuellen Inflationskrise, die in einer falschen Geldpolitik der EZB ihre eigentliche Begründung hat. Damit werden die soziale Dimension und Dynamik in das Zentrum wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Diskussion gerückt. Die Verlierer der Inflation sind stets die sozial Schwachen. Die Konzentration politischer Maßnahmen auf Preissteigerungen erweist sich in der gesellschaftlichen Realität aus dem Protest der Menschen einerseits und der politischen Verantwortung für den sozialen Ausgleich andererseits zumindest als kurz- bis mittelfristige Strategie nicht durchsetzbar.

Es kann in diesem Beitrag nicht das Ziel sein, auf die energiepolitischen Handlungsparameter insgesamt vertiefend einzugehen. Darauf hinweisen will ich aber, dass der Bau von LNG-Terminals in der Deutschen Bucht vor dieser Krise direkt verbunden war mit dem dann ermöglichten Import von Shalegas (Schiefergas) aus den USA, was die Ablehnung derartiger Terminals aus Naturschutzgründen von Umweltverbänden begründete. Die massiv höheren Preise amerikanischen Shalegases begründeten zusätzlich die Ablehnung dieser Maßnahmen aus der Wirtschaft.

An dieser Stelle ist nur die Konzentration auf Energie und Klima erfolgt. Zumindest drei andere auf massive Ungleichgewichte hinsteuernde Bereiche müssen zumindest erwähnt werden:

• Die sich in großer Dramatik abzeichnende weltweite Hungerkatastrophe.

• Die Wasserkrise. Im Gegensatz zur Energie ist für Wasser eine Substitution nicht in Sicht.

• Der sich beschleunigende Verlust der Artenvielfalt.

5. Schlussbemerkung

Bereits im Studium an der Universität in Münster habe ich mich intensiv mit Karl Popper und dem »kritischen Rationalismus« auseinandergesetzt. In der philosophischen Profilierung des kritischen Rationalismus steht die These, dass menschliches Entscheiden stets ein Entscheiden bei unvollkommener Information ist, im Mittelpunkt. Vollkommene Information, Allwissenheit ist keine menschliche Dimension. Wenn aber Entscheidungen stets bei unvollkommener Information zu treffen sind, ist eine Fehlerhaftigkeit der begründenden Thesen nie grundsätzlich auszuschließen. »Wissenschaft« ist daher stets auf die Falsifizierung vorhandenen Wissens zu konzentrieren, so der kritische Rationalismus. Die Konzentration auf die Verifizierung führt zur Ideologie, sucht nach Bestätigungen einer vorgefassten Meinung.

Für mein wissenschaftliches und politisches Leben ist diese Fixierung auf die Falsifizierung wissenschaftlichen Arbeitens stets leitend gewesen und ist es bis zum heutigen Tage. Der engagierteste Vertreter des kritischen Rationalismus in Deutschland, Hans Albert, hat dieses Denken mit dem bemerkenswerten Satz verbunden: »Wir irren uns nach oben.«

Fehler und Einschränkungen des eigenen Denkens und Handelns selbst kompromisslos zu ermitteln, profiliert den Forscher, profiliert den Politiker in einer offenen parlamentarischen Demokratie. Ein solches Handeln begründet und verstärkt Glaubwürdigkeit und Vertrauen – in einer Zeit, in der wissenschaftliche Forschung immer tiefer die Konstruktionsmuster von Natur und Leben decodiert und damit manipulieren kann. Die Korrektur von Irrtum oder Fehlern führt keineswegs zwangsläufig zum Verlust von Wählerstimmen einerseits oder wissenschaftlicher Reputation andererseits. Baltasar Gracián, dieser von mir hoch geachtete Denker und Ratgeber, dieser aufmüpfige Jesuit (1601−1658), hat in seinem Buch Handorakel und Kunst der Weltklugheit festgehalten: »Die Festigkeit gehört in den Willen, nicht in den Verstand.« Diese Folgerung zieht Gracián aus der Feststellung: »Jeder Dumme ist fest überzeugt; und jeder fest Überzeugte ist dumm. Je irriger sein Urteil, desto größer sein Starrsinn.«

Für das praktische Handeln bedeutet dies zum einen, dass technologische Lösungen wo immer möglich gestaltbar, offen für Weiterentwicklungen, reversibel und für die Behebung von Fehlern geeignet sein sollten. Technologien müssen globalisierungs- und demokratiefähig sein, sollten besonders in den Entwicklungsländern Arbeitsplätze schaffen. Bei den Technologien, bei denen ein Fehler massive, irreversible Konsequenzen hat, ist meine Skepsis daher sehr ausgeprägt und provoziert intensivst die Suche nach Alternativen.

»THEREISNO Alternative« ist die Absage an eine offene, parlamentarische Demokratie.