Inanna - Thomas R. P. Mielke - E-Book

Inanna E-Book

Thomas R. P. Mielke

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Beschreibung

Ein Planetoid vernichtet die Hochkultur von Atlantis und läßt Europa in Dunkelheit und Eiseskälte versinken – vor über 8000 Jahren unserer Zeitrechnung. Inanna, die Göttin des Himmels und der Erde, überlebt die Katastrophe und findet Zuflucht in den Höhlen der Cro-Magnon-Menschen, sie schließt sich hoch im Norden Rentierjägern an, lebt bei Fischern an der Donau, findet die Stadt der Frauen von Çatal Hüyük und begegnet Gilgamesch, dem König von Uruk. Inanna wird zur Kulturbringerin der Menschheit. Sie zähmt die ersten Wölfe, erfindet den Kamin, den Zement, die Töpferscheibe und die Waage. Thomas R. P. Mielke verwebt in seinem Roman Mythen der Völker mit erstaunlichen Fakten der Frühgeschichte der Menschheit. Zeugnisse jener Hochkulturen sind heute noch sichtbar: in den Höhlen von Lascaux oder bei den Ausgrabungen von Çatal Hüyük.

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Seitenzahl: 798

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Thomas R. P. Mielke

Inanna

Odyssee einer Göttin

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein Planetoid vernichtet die Hochkultur von Atlantis und läßt Europa in Dunkelheit und Eiseskälte versinken – vor über 8000 Jahren unserer Zeitrechnung. Inanna, die Göttin des Himmels und der Erde, überlebt die Katastrophe und findet Zuflucht in den Höhlen der Cro-Magnon-Menschen, sie schließt sich hoch im Norden Rentierjägern an, lebt bei Fischern an der Donau, findet die Stadt der Frauen von Çatal Hüyük und begegnet Gilgamesch, dem König von Uruk. Inanna wird zur Kulturbringerin der Menschheit. Sie zähmt die ersten Wölfe, erfindet den Kamin, den Zement, die Töpferscheibe und die Waage.

Über Thomas R. P. Mielke

Thomas R. P. Mielke, geboren am 12. März 1940 in Detmold, wuchs als Kind eines Pastors im Ostharz und in Rostock auf. Mit fünfzehn kam er allein in den Westen und verbrachte Wanderjahre in Jugendlagern, als Schiffsschmied und als Gärtner. Er wurde Texter in internationalen Werbeagenturen und Mitinhaber einer Berliner Werbeagentur. Daneben schrieb er den Roman »Gilgamesch. König von Uruk«, einige Dutzend Science-fiction-Romane und Kurzgeschichten. Thomas R. P. Mielke ist verheiratet, hat vier erwachsene Kinder und lebt in Berlin.

Inhaltsübersicht

Garten der GlücklichenLieder vom UntergangSchule der GötterAlles fließtWiderstandDas Licht der VergangenheitMorgen des letzten TagesGötterdämmerungStrandgut der SintflutMesser aus SteinWölfe und WasserfallZeichen des NeubeginnsFlucht aus der DunkelweltDer Fisch im FelsAm Strudel von LepenoDer letzte WinterFelder des SchilfsÜber drei MeereInseln der EinsamkeitInnenwelt und AußenweltDas Geheimnis der GötterKampf um die göttlichen MEDie Stadt der FrauenZwei MännerAbschied vom GesternDie heilige HochzeitOsiris’ LandSphinxAnhangErläuterungenZeittafelLiteraturKarten

Garten der Glücklichen

Nur wer den Stein der Götter besaß, hieß es, konnte die Pforte in der kyklopischen Mauer öffnen. Ich hatte den Stein.

Ich blickte auf den kleinen, mit schweren, metallisch glänzenden Balken versperrten Durchlaß in der Mauer aus beinahe fugenlos aufeinandergetürmten Felsblöcken. Kein Schloß und kein Scharnier verrieten, wie ich in den verbotenen Garten hoch über der Stadt gelangen konnte.

»Aber ich will hinein!« flüsterte ich. Ich hatte mich verspätet. Überall im Palast auf dem Hügel inmitten der großen Stadt waren unerwartet Wachen postiert und seltsame Geräte aufgestellt worden, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Irgend etwas geschah, und es hatte nichts mit den Vorbereitungen zum großen Fest der Könige zu tun, das beginnen sollte, sobald die Sonne im Westen versank.

Meine Fingerspitzen strichen sanft über den Stein der Götter. Während der Jahre meiner Kindheit hatte ich ihn an einem Band am linken Handgelenk getragen. Der Stein mit der Farbe von Baumharz und Honig war mein Schutz und Talisman. Er wachte bei Tag und bei Nacht über den Schlag meines Herzens, über Hunger und Durst und über alles, was mir schaden konnte. Bei den letzten Weihen vor sechs Jahren war er vom Hohenpriester der Königsstadt an einer Kette aus seltenen Metallen befestigt und feierlich um meinen Hals gelegt worden. Seither trug ich den Stein der Götter als Amulett und Talisman zugleich zwischen dem Ansatz meiner Brüste.

Ich konnte durch ihn Musik und Sprachaufzeichnungen direkt aus den Archiven des Königspalastes hören, mit allen sprechen, die ebenfalls einen Stein besaßen, und Türen öffnen, die anderen verschlossen blieben. Wenn ich den Stein der Götter vorsichtig bewegte, konnte ich selbst unter dichten Wolken an seinem heller oder dunkler werdenden Glanz erkennen, in welcher Richtung die Sonne stand.

Nur noch wenige Tage würden vergehen, bis mein Stein der Götter in einer großen Zeremonie auch noch das Runensiegel erhielt, durch das ich endgültig in die Welt der Herrschenden aufgenommen wurde. Für mich würden dann fünfzehn Jahre seit meinem Entstehen vergangen sein – für die Menschen um mich herum aber weitaus mehr, denn diese lebten mit Zeitvorstellungen, die sich an Sonnenumläufen und nicht am größeren kosmischen Zyklus orientierten.

Wenn es soweit war, würde ich auch erfahren, was in Regionen geschah, die weiter entfernt waren, als ein Vogel an einem Tag fliegen konnte, und ganz allein bestimmen, wann ich mit allen anderen verbunden sein wollte und wann ich lieber allein blieb.

»Ich will!« wiederholte ich. Zum ersten Mal, seit ich den Stein der Götter trug, nahm ich ihn ab. Ich zog die Kette über den Kopf, schüttelte meine langen, nußbraunen Haare zurück und ging auf die Pforte zu. Noch drei Schritte, noch zwei. Ich streckte die Hand aus. Der Stein in meinen Fingern fühlte sich plötzlich warm an. Ich bewegte den Stein erst zur einen Seite, dann zur anderen. Die Kraft aus den metallischen Balken lag wie eine unsichtbare Kuppel über der Pforte. Nur genau in der Mitte schien sie etwas schwächer zu sein. Ich beugte mich vor. Und dann ging alles viel einfacher, als ich gedacht hatte.

Wie von zwei unsichtbaren Dienern aufgezogen, teilte sich die Pforte, und beide Hälften glitten ganz langsam in tiefe Fugen zurück. Ein wilder und gleichzeitig süßer Duft kam mir entgegen. Ich schloß für einen Moment die Augen, atmete tief ein und hörte plötzlich ein Wispern wie von unzähligen zarten Stimmen, ganz leise gespielten Harfen und Zimbeln und fernen Melodien. Für einen kurzen Augenblick dachte ich daran, daß ich jetzt noch zurück konnte. Ich brauchte mich nur umzudrehen, und die Pforte würde sich schließen, als sei nichts geschehen. Aber dann dachte ich daran, warum ich gekommen war. Ich schüttelte den Kopf, lächelte und trat in den verbotenen Garten ein.

***

Die geheimnisvolle fremde Welt aus Geräuschen und Farben, Gerüchen und Empfindungen nahm mich auf. Ich hörte, wie sich farnartige Pflanzen in großen, weißen Steintöpfen erstaunt über mein Eindringen verständigten, wie winzige Vögel den Fischen in einem Brunnenbecken trillernde Zeichen gaben, und wie der laue Wind zwischen den prächtigen Blütenbäumen verwundert den Atem anhielt.

Noch immer ein wenig zögernd, ging ich bis zum Brunnenbecken dicht vor der Kyklopenmauer aus roten und schwarzen Felsblöcken. Das klare Quellwasser, in dem rote und goldene Zuchtfische mit leichtem Flossenschlag standen, glitzerte im warmen Sonnenlicht. Mir schien, als wäre ich aus der Königsstadt mit ihren ringförmigen Kanälen und dem prächtigen Hügelpalast in die noch immer friedvolle Welt meiner Kindheit zurückgekehrt.

Hier oben, hinter dem Tempel, war nichts mehr von den lauten Geräuschen der mächtigen Metropole zu hören – kein Rasseln von Wagenrädern, kein Rufen der Straßenhändler, kein Johlen und Pfeifen der Seeleute an den Hafenkais und kein Applaus aus den vielen Stadien und Sportarenen der unteren Stadt. Nicht einmal Himmelsschiffe zeigten sich am strahlendblauen Firmament.

»Du kommst spät, Inanna«, sagte eine sanfte Männerstimme hinter mir. Ich fuhr kaum merklich zusammen, doch gleichzeitig erkannte ich die Stimme. Mit einer Hand raffte ich meine kurze Tunika aus hellgrünem, seidigen Stoff zusammen, und mit der anderen bedeckte ich den Götterstein, der wieder an seiner Kette zwischen meinen wie zwei Fruchthälften geformten Brüsten hing.

»Bist du es, Osiris?« fragte ich leise. Meine Stimme zitterte kaum merklich. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug und mein Gesicht zu glühen begann. »Ich konnte nicht eher kommen … überall im Palast laufen Handwerker und Wachen herum … sie sind in großer Aufregung, stellen Geräte auf und spannen Seile zwischen den Säulen des inneren Hofes …«

Ich stockte, und die hängenden Farne teilten sich. Ein hochgeschossener junger Mann mit erstem Bartflaum auf Kinn und Wangen, einer hohen Stirn und einem ausgeprägten Hinterkopf trat aus dem Grün. Er trug einen weißgrauen Umhang aus grobem Stoff und einen Gürtel, von dem bunte Knotenschnüre herabhingen. Sein feines, blondgelocktes Haar wehte bei jedem Schritt, obwohl kein Luftzug im verbotenen Garten zu spüren war.

»Wußtest du nicht, daß ein Beben vorausgesagt ist?« fragte er lächelnd. Es klang so überlegen, daß ich mir gleich wieder dumm und unwissend vorkam. Ich wußte nicht, ob es anderen Mädchen und Frauen ebenso ging wie mir, aber fast immer, wenn ich mit Männern sprach, ärgerten und beeindruckten sie mich in gleichem Maße. Noch vor ein paar Monaten war das nicht so gewesen. Ich hatte schon oft darüber nachgedacht, warum mich dieser Widerspruch zunehmend beschäftigte, aber nicht einmal die Weisen und Seher in der Schule der Götter hatten mir sagen können, warum Männer wie Männer und Frauen wie Frauen waren.

»Der Vulkan kann jeden Moment wieder ausbrechen«, fuhr Osiris sanft belehrend fort. »Überall werden bereits Himmelsschiffe vorbereitet. Es kann sein, daß die Könige noch heute zu ihren Inselreichen zurückkehren.«

»Nur bis zu ihren Inselreichen?«

Noch während ich das sagte, kam mir die Frage dumm und überflüssig vor. Außerdem wollte ich das gar nicht wissen. Mein Blick glitt über den Stein der Götter am Hals von Osiris. Ich seufzte verhalten und war irgendwie neidisch darauf, daß seiner bereits den perlmuttartigen Hauch hatte, der ihn als jungen Gott auswies. Als könne er meine Gedanken lesen, bedeckte er den Stein mit einer Hand, ehe er antwortete: »Einige würden wahrscheinlich viel lieber bis in die kolonisierten Länder fliehen. Aber keine Angst – niemand wird jetzt nach dir suchen. Wir sind vollkommen sicher hier!«

»Hast du deshalb den verbotenen Garten ausgesucht?«

»Dieser Garten und das graue Haus in der Altstadt von Basilea sind die einzigen Orte auf der ganzen Insel, in denen die Steine der Götter vollkommen abgeschirmt sind.«

Ich sah ihn zweifelnd an und wußte schon wieder nicht, ob ich seine Planung bewundern oder mißbilligen sollte. Einerseits war ich stolz darauf, daß gerade Osiris ein drohendes Erdbeben dazu benutzte, um sich allein mit mir zu treffen. Er war ganz anders als die stolzen, arroganten Männer, die nur von ihren Schiffen schwärmten und mit den Abenteuern bei den Wilden prahlten. Seit Osiris sich für mich interessierte, war er nur noch selten mit seinen Altersgefährten zu Kampfspielen gegangen. Und erst vor zwei Wochen hatte er mir während des gemeinsamen Morgenappells in der Schule der Götter zugeflüstert, daß ich die einzige sei, für die er alle Abenteuer und den Ruhm der Unsterblichkeit opfern würde …

Andererseits erschrak ich darüber, wie planvoll Osiris das langersehnte Treffen vorausbedacht hatte. Wie konnte er so sprechen, als sei das alles nur ein Spiel mit Orten und Gelegenheiten? Es war, als würde ihn plötzlich ein kalter Wind einhüllen. Wie lange hatte ich auf diesen Augenblick gewartet, wie viele Nächte immer wieder nur davon geträumt, endlich mit Osiris ganz allein zu sein. Und warum war plötzlich alles anders?

»Komm«, sagte er, »wir haben nicht viel Zeit.«

Das war es! Er streckte die Arme vor und wollte mich an sich ziehen. Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Mein Gefühl war richtig gewesen! Er hatte nicht viel Zeit! Aber warum nicht? Was wartete auf ihn? Was konnte wichtiger für ihn sein als die Erfüllung der Sehnsucht, von der er mir immer wieder bei unseren kurzen Begegnungen in der Schule der Götter etwas zugeflüstert hatte?

Ich sah den Ausdruck von Verlegenheit und Unsicherheit in seinen Augen. Es war, als würde der Schleier der Geheimnisse, von denen ich in den vergangenen Tagen und Nächten geträumt hatte, vollkommen unerwartet zerreißen.

»Glaubst du, ich würde nicht viel lieber bei dir bleiben?« fragte er sofort. Er log. Ohne die geringste Verstellung, ohne Mühe und wie selbstverständlich. Ich sah ihn lange an und merkte, wie fremd er mir plötzlich war. Meine Mundwinkel zuckten, obwohl ich mir Mühe gab, nichts von dem zu zeigen, was ich empfand. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Nein, Osiris«, antwortete ich tonlos. »Wir hätten uns niemals hier treffen dürfen! Ich hätte versagt – mit ganzem Herzen freudig versagt. Du aber hast von Zeit gesprochen. Das ist ein Preis, den kein göttliches Wesen bezahlen kann, ganz gleich wie hoch der Gegenwert auch sein mag!«

»Was uns verboten wurde, ist nicht geschehen!«

»Nein?« lachte ich mit einer Spur von Wehmut. »Aber es hätte sein können, meinst du …« Ich lachte noch einmal. Ich ging zum Brunnen und sah mein eigenes Gesicht auf der dunklen, spiegelnden Wasserfläche. War ich das wirklich? Oder spiegelte sich dort bereits die Göttin, die ich erst werden wollte, mit vollen, schöngeschwungenen Lippen, glänzenden Zahnreihen in einem ovalen, ernsten Gesicht und blitzenden Goldfunken in hellblauen Augen, die jedes Neugeborene der Insel hatte und nur die Götterkinder auch in späteren Jahren behielten? Für eine kostbare Sekunde der Ewigkeit leuchtete das zarte Glühen der Auserwählten rund um den Kopf und den Oberkörper meines doppelten Spiegelbildes.

»Du wolltest und ich wollte«, sagte das andere Bild von mir. »Wir suchten eine Art von Glück, die mehr bedeutet als Unsterblichkeit.«

»Ich will es immer noch«, sagte er ohne Verständnis. Ein Fisch im Brunnen stieß durch die Wasseroberfläche und zerstörte das Spiegelbild. Ich schüttelte langsam den Kopf, schloß die Augen und atmete den Duft des verbotenen Gartens mit einem tiefen Seufzer ein. Schatten von Farnen und sanftes Sonnenlicht strichen wie die Pinsel von unsichtbaren Malern über mein Gesicht. Ich genoß das weiche Gefühl von Licht und Schatten auf meiner Haut. Ich lächelte und öffnete die Augen.

»Dein Fluchtschiff wartet!« sagte ich, und diesmal war ich es, die ihn Überlegenheit spüren ließ.

»Es ist kein Fluchtschiff«, antwortetete er unbehaglich. »Du weißt ebenso wie ich, daß jeder in der Schule der Götter vor der großen Zeremonie eine Prüfung ablegen muß. Hast du denn noch keine Aufgabe erhalten?«

»Nein«, sagte ich und lächelte erneut. »Das heißt … Berios hat einmal erwähnt, daß ich die ideale Göttin für den fruchtbaren Halbmond werden könnte …«

»Für den fruchtbaren Halbmond? Ich habe nie von einer derartigen Region gehört!«

»Ich glaube, Berios meinte damit die Gebiete der sehr alten großen Götter Amun-Re, An, Enlil und Enki …«

»Ach, Enki!« Osiris lachte abfällig. »Ja, es stimmt, der hatte mal eine kleine, verkommene Kolonie an den Flüssen Euphrat und Tigris. Ich glaube, das Nest hieß Eridu, und auch die anderen Siedlungen in dieser Region sind kaum mehr als Schilfhütten für dumpfe Eingeborene! Keine Bäume da und keine Steine für anständige Tempel und Paläste – nicht einmal Bodenschätze! Inzwischen hat sich Gott Enki längst vom Land ins Meer zurückgezogen.«

»Und wofür bist du vorgesehen?« fragte ich. Ich fühlte mich verstimmt und von seiner typisch männlichen Überheblichkeit verletzt.

»Ich hatte mich auf die Sahara-Kolonien vorbereitet«, antwortete er stolz. »Sehr fruchtbar, aber nicht einfach! Seit gestern weiß ich, daß ich einen Sonderauftrag bekomme. Ich werde schon sehr bald mit einem der ganz alten großen Götter zusammentreffen! Leider darf ich seinen Namen niemandem nennen …«

»Wie ehrenhaft für dich!« sagte ich betont abfällig. Ich wollte ihm nicht zeigen, daß ich mich ärgerte. »Aber vielleicht können Männern ja zwei Dinge gleichermaßen wichtig sein?«

Ich sah ihn auf eine Weise an, die jede Lüge, jede Ausflucht unmöglich machte. Selbst meine Lehrer waren von Anfang an gegen die Magie dieses Blickes machtlos gewesen.

»Antworte«, sagte ich. »Jeder darf zögern und auf Entscheidungen des Schicksals warten. Aber ein Gott muß wissen, was den Vorrang hat: Ist dein Flug in die fernen Länder für dich noch wichtiger als ich?«

»Du weißt, wie wichtig es ist«, sagte er fast bittend, aber ich sperrte mich nur noch mehr. Mein Verstand gab ihm recht. Natürlich mußte er fliegen, wenn er an der nur alle sechs Jahre stattfindenden Zeremonie teilnehmen wollte. Genauso wie ich war er von Kindheit an auf diesen Tag vorbereitet worden. Trotzdem wollte ich, daß er bei mir blieb. Ich wußte nicht, warum ich in diesem Augenblick das Unmögliche von ihm verlangte. War es nur der Wunsch, ihn zu prüfen? Oder verlangte ich, daß seine Gefühle stärker waren als alle Vernunft?

»Du willst also gehen!« stellte ich fest.

Er trat unbehaglich von einem Bein auf das andere.

»Du willst einfach nicht verstehen, Inanna! Ich, ich habe fast zwei Stunden auf dich gewartet! Aber du kannst doch nicht verlangen, daß ich ausgerechnet jetzt … das ist doch typisch … kindisch … entschuldige, ich meine …«

»Kindisch? Vielen Dank! Aber nicht einmal das ist die Wahrheit! Du wolltest typisch Mädchen, typisch Frau sagen, oder?«

»Ach, weiß nicht mehr, was ich sagen soll!«

»Dann geh!« sagte ich trotzig. Ich spürte, wie die goldenen Funken in meinen Augen blitzten. »Geh und such nach alten Knochen in muffigen Höhlen! Schreib deinen Bericht, aber versuch nie wieder, mir etwas vorzulügen!«

Er starrte mich an, schüttelte verständnislos den Kopf und wich Schritt um Schritt zurück. Er begriff einfach nicht, was nach seiner Ansicht in mich gefahren war. Er kam nicht einmal auf den Gedanken, daß es genau diese Einstellung war, die mich zornig machte.

Er schürzte die Lippen, wollte noch etwas sagen, dann drehte er sich ungelenk um und stolperte durch die Pforte in der Kyklopenmauer davon.

Ich blieb mit einem Gefühl der Leere zurück. Diesmal kam das Erdbeben aus mir selbst. Blaß und mit trockenen Lippen hielt ich mich am Rand des Brunnens fest. Ich sah erneut mein Spiegelbild, und die Furcht vor dem, was kommen sollte, verdunkelte das Wasser.

Ein Erdstoß erinnerte mich daran, wie nah ich vor der Mauer stand. Ich eilte durch die Pforte. Ein Blick nach Norden genügte, um zu erkennen, was geschah.

***

Ein dumpfes Dröhnen erschütterte die große, stolze Stadt. Es klang wie Schläge auf Hunderte von Kesselpauken, schien aus dem Nichts zu kommen und war doch überall zugleich. Dem ersten Lärm folgte ein schweres Schwingen, das alle Straßen, alle Plätze und selbst den Hügel des Palastes ohne Unterschied erfaßte. Es drang durch Häusermauern, ließ Säulen, Brücken und die Tore der Paläste knirschen und lähmte jedes Leben in der Metropole.

Überall blieben Männer, Frauen, Kinder – Götter und Menschliche – stehen, wo sie sich gerade befanden. Und wie von einer unsichtbaren Macht gelenkt, wandten sie sich dem Heiligtum zu, das auf dem Königsberg die Stadt beherrschte. Die Männer rissen ihre Hüte von den Köpfen, und viele Frauen schlugen die Handflächen wie zum Gebet gegeneinander.

»Bei allen Göttern!« keuchten die Händlerinnen in den Markthallen am Hafen der Gewürze. Sie duckten sich unter dem Staub, der von der Innenseite der großen Fensterdächer aus goldgetöntem Bleikristall herabrieselte.

»Ich hab’s gewußt!«

»Zu viel an Pomp, zu viel an Tand!«

»Jetzt kommt das Strafgericht …«

Nicht alle erinnerten sich an die uralten Rituale der Demut und der Verehrung des Berges. Einige Männer und Frauen blickten instinktiv zu den Schiffen hinüber. Sie waren dicht an dicht neben- und hintereinander vertäut: schnelle Luxusboote mit Flügelstützen, riesige graue Erzfrachter ohne Takelage, praktische Küstenboote mit bunten Segeln und sogar eine altmodische Triere mit drei übereinanderliegenden Ruderdecks. Kaum eine Stunde war vergangen, seit ihre Ruderer das Schiff verlassen hatten.

»Soll das etwa unser Empfang sein?« knurrte der muskelbepackte Rudertaktgeber auf der Brücke der Triere. »So habe ich mir unsere Heimkehr wahrlich nicht vorgestellt!«

»Kein Wunder nach der Art und Weise, wie hier inzwischen die alten Gesetze mißachtet werden«, meinte der knorrige, in vielen Küstenstürmen an den Gestaden ferner Länder erprobte Schiffsherr neben ihm.

»Kein Grund zur Panik!« tönte eine Priesterstimme aus den Schallöffnungen in den Palastmauern. »Wir wiederholen – kein Grund zur Panik! Die Kundigen der Könige haben den Zorn des Berges vorausgesehen … es wird kein Steinschlag kommen … nur etwas Lava-Asche. Kein Grund zur Panik sagen die Orakel! Alle Dämonen bleiben unter Kontrolle!«

»Dämonen!« lachte der hakennasige Schiffsherr verächtlich. »Wir selbst sind zu Dämonen geworden – Schrecken der Erde, der Meere und der Luft!«

»Du darfst dich nicht noch mehr versündigen, Jason!« mahnte der Rudertaktgeber mit einem mißtrauischen Blick zum Vulkankegel hinüber. »Seit wir vom Land im Osten abgelegt haben, ist keine Stunde vergangen, in der du nicht über die zehn Könige der Insel gelästert hast!«

»Ach, laß mich doch! Nicht einmal meine Flüche können noch irgend etwas ändern! Ich war ein Gott und bin entmachtet worden. Laß mich doch fluchen … es kümmert keinen mehr! Dich nicht, die Ruderer nicht und auch nicht diese Größenwahnsinnigen, die sich Beherrscher der Welt nennen! Sie sind maßlos und arrogant geworden, unsere Könige und ihre Abgesandten! Faulenzer, Ausbeuter, vor denen andere Kreaturen nur noch im Dreck kriechen dürfen! Ich habe rechtzeitig gewarnt!«

»Und was hast du damit erreicht?« fragte der Rudertaktgeber lakonisch.

»Die Verbannung auf ein Schiff mit drei Ruderdecks!« knurrte der Schiffsherr und starrte geradeaus. »Sklavenfracht! Ausgestoßene und Verbannte! Aussatz und Abschaum! Genies, die nicht ins Muster passen! Toren und Tölpel! Kranke an Herz und Seele, für die es nur noch Inseln und Archipele irgendwo ganz weit draußen gibt!«

»Feine Welt!« zischte der Rudertaktgeber.

Der Schiffsherr lachte trocken. »Ja, das ist unsere Welt … ihre Welt!« sagte er dann. »Sieh dir die anderen Schiffe an … sie gleiten mit der Kraft der schmelzenden Energie durch die Luftmeere, über die Wellen des Wassers und durch die Tiefen des Okeanos. Aber das ist nicht alles, denn auch die schmelzende Energie reicht niemals an die großen Geheimnisse heran, die wir längst verloren haben.«

Als hätte der Berg nur darauf gewartet, krachte ein dumpfer Donnerschlag in die Luft, gefolgt von einer hochaufschießenden Kaskade glühender Lava. Dicker, grauschwarzer Rauch wallte dem Himmel entgegen. Niemand in den Straßen der großen, ringförmig angelegten Stadt, an den Hafenkais, den Kanälen und auf den Feldern der Ebene bewegte sich.

Der Verbannte spuckte ins leise Schwappen des Hafenbeckens, kniff die Augen zusammen und musterte Feuer und Rauch, den Himmel und die Hügel der stolzen Stadt. Nicht weit entfernt sah er auf einem großen Platz die metallenen Himmelsschiffe, die kein Wasser mehr unter ihren Kielen brauchten. Sie lagen wie geduckte Riesenvögel vor umgestülpten Nestern, aus denen bronzene Mastbäume und Segel aus glitzerndem Silbergespinst wuchsen. Dicht unter den gewaltigen Mauern der golden glänzenden Königsfeste bewegte sich etwas. Der Schiffsherr hob ein abgeschabtes hölzernes Fernglas hoch, hielt das Okular vor sein rechtes Auge und veränderte mit seinen harten Fäusten die Länge des Rohres. Was er sah, schien ihn mehr zu interessieren als der immer heftiger krachende Ausbruch des Vulkans.

An der südlichen Hügelflanke des Königspalastes eilte ein junger Mann scheinbar unbeirrt über die Treppen, die vom verbotenen Garten kamen. Noch weiter oben folgte ihm ein Mädchen.

»Aber das sind doch …« stieß der Schiffsherr hervor. »Wie kommen auserwählte Kinder in den verbotenen Garten? Und noch dazu allein …«

»Wer ist allein?« fragte der Rudertaktgeber.

»Geht dich nichts an«, preßte Jason, der Herr der Triere, zwischen den Zähnen hervor. »Sieh lieber zu, daß wir die neuen Verurteilten an Bord bekommen und schnell wieder auslaufen können! Wir haben diesmal ohnehin nur Narren als Ladung an Bord, die den Königen und ihren Statthaltern zu unbequem geworden sind …«

Er stockte und ärgerte sich, daß er überhaupt etwas gesagt hatte. Im gleichen Augenblick hatte er eine Idee. Sie war so vermessen, daß er unwillkürlich die Luft anhielt. Nach vielen Jahren ohnmächtigen Zorns sah er auf einmal eine Gelegenheit, sich an den Nachkommen all jener zu rächen, die ihn gedemütigt und aus dem Kreis der Göttlichen verstoßen hatten. Bitterkeit kam in ihm auf, als er an die entwürdigende Szene zurückdachte, bei der ihm im inneren Zeremonienhof des Palastes vor aller Augen sein Stein der Götter abgenommen worden war. Wie lange lag das zurück? Hundert oder bereits viele tausend Sonnenumläufe? Sein rechtes Auge begann zu tränen, so heftig preßte er das Fernrohr dagegen. Das Mädchen unterhalb der Kyklopenmauer zögerte, wollte umkehren, lief noch ein paar Stufen tiefer und blieb mit leicht geöffneten Armen regungslos stehen. Wie eine versteinerte Galionsfigur starrte sie auf den schwarzen Rauch jenseits des prächtigen Palastes.

Sie ist noch jung, dachte Jason, kaum fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Aber schön ist sie, schlank, hochgewachsen und erhaben in jeder ihrer Bewegungen. Wie viele mochte es inzwischen geben, die als Prinzessinen der Götter gezüchtet worden waren?

***

Seit ich denken konnte, hatte ich mich vor diesem Beben des Bodens gefürchtet. Es war, als würde aller Halt und alle Kraft aus der Erde durch meine Beine und meinen Leib fliehen, um sich an meinem Herzen festzuklammern. Der Lärm von außen wurde zum Schmerz, der mich ganz tief in meinem Inneren verletzte. Was für die meisten Menschen ein bösartiges Naturereignis war, empfand ich selbst viel stärker als eine schändliche Beleidigung der Harmonie im kosmisch-göttlichen Gefüge. Der Ausbruch des Vulkans zerstörte Wahrheiten, an die ich stets geglaubt hatte.

Ich fühlte, wie jeder einzelne meiner Sinne hellwach war, doch gleichzeitig empfand ich ein erbärmliches Gefühl der Ohnmacht. Gefühle und Gedanken, die ich nicht haben sollte, nahmen mir mehr Sicherheit als das Schwanken des Bodens.

Und dann war alles still. Die plötzlich eingetretene Ruhe wurde so beklemmend, daß ich sogar im Wallen der schwarzen Wolken vergeblich nach irgendeinem Geräusch suchte. Kein Laut war zu hören – kein Grollen der Erde mehr, kein Vogelgezwitscher und nicht einmal das vertraute Lärmen aus den Straßen und Gassen über den Hafenkais.

Der Himmel rechts und links neben der immer höher steigenden Rauchwolke verfärbte sich. Er wurde grün wie das Wasser der klaren Inselseen, dann weiß und bildete schließlich hellblau strahlende Streifen, die wie ein Kamin aus Eiseskälte wirkten.

Zum ersten Mal seit der Zeit der Kinderträume empfand ich Angst. Ich fürchtete mich vor der Macht, die alles Leben, alle Menschen und alle Pflanzen der Königsinsel bedrohte. In diesem Moment verstand ich, warum es Männer gab, die lieber gegen die Wellen des Okeanos, gegen die Stürme in fernen Ländern und gegen die unberechenbaren Wildmenschen kämpften, als nur ein einziges Mal den Rauchschwall des Vulkans anschauen zu müssen.

Ich wußte, daß es überall feuerspeiende Berge und noch ganz andere Gefahren gab. Aber nichts sollte so schrecklich aussehen wie das Symbol der Erinnerung an den Uralten, den seine Götterbrüder dazu verdammt hatten, Himmel und Erde auf seinen Schultern zu tragen und dabei nicht einen Atemzug zu schwanken. Wie lange noch würde Atlas die Welt im Gleichgewicht halten können? Wie lange noch die Alte Ordnung schützen?

Ich zog die Schultern zusammen. Nein – ich wollte den Rauchpilz nicht mehr sehen, nichts mehr davon hören und daran denken, daß es nach den Äonen des Glücks ein Ende geben könnte.

Mit einem Aufstöhnen schüttelte ich meine Erstarrung ab. Ich sah mich kurz um. Die Zyklopenmauer hatte standgehalten. Noch immer paßte nicht einmal eine Messerklinge in die Fugen zwischen den roten und schwarzen, mörtellos aufeinandergetürmten Felsbrocken. Ich sah wieder zum schwarzüberwölkten Berg von Urvater Atlas hinüber. Die Ebene bis zum Inselgebirge sah von hier aus weit und sicher genug aus. Doch plötzlich erkannte ich, daß diese Ebene vor Urzeiten auch einmal ein Vulkankrater gewesen sein mußte. Niemand in meiner Umgebung hatte jemals darüber gesprochen, wie die Stadt entstanden war, diese einmalige Stadt mit dem Hügel des Königspalastes genau im Mittelpunkt von drei kreisförmigen Hügelwällen, zwischen denen die Kanalringe breite Wasserstraßen mit Häfen und Anlegestellen bildeten.

Ich erinnerte mich an die Bilder aus jener fernen Zeit, als noch kein Haus, kein Palast und kein Tempel, keine Dammstraßen und keine Brückentürme die aus sich selbst heraus mehrmals neu aufgestiegenen Vulkankegel bedeckt hatten. Die Stadt war genau dort errichtet worden, wo die Uralten den ersten Vulkanrand gefunden hatten – den gleichen Vulkan, der inzwischen fast einen Tagesmarsch entfernt im nördlichen Gebirge einen neuen Schlund für seine Ausbrüche gefunden hatte.

Ich erkannte, daß die große Stadt und mit ihr das Herz der Kultur und der Zivilisation auf schwankendem Grund gebaut war – dem Zufluchtsort des vor langer Zeit beim Kampf der Götter untereinander verstoßenen Giganten Atlas. Und plötzlich wurde mir klar, daß ich dicht davor gewesen war, ebenfalls gegen Regeln zu verstoßen, denen die Menschen untertan waren und denen auch Unsterbliche gehorchen mußten.

Das Grollen in der Erde – war es nur eine Warnung gewesen? Oder begann jetzt das, was alle Lehrer in der Schule der Götter wieder und wieder als vage Möglichkeit des Endes angedeutet hatten? Ich hatte mir derartiges nie vorstellen können, doch plötzlich malte ich mir aus, was geschehen würde, wenn der riesige Inselkontinent unterging.

Es war unmöglich! Ich sah über die große Stadt mit ihren prächtigen Häusern und Palästen, den glänzenden Mauerringen und den riesigen Hafenanlagen an den Kais der kreisförmigen Kanäle hinweg. Schon seit vielen tausend Sonnenumläufen stieg das Wasser im immer noch weit entfernten Okeanos. Aber kein noch so gewaltiger Sturm und kein neues Erdbeben konnten einen ganzen Kontinent überfluten!

Oder gab es noch eine ganz andere Gefahr? Ein furchtbares Geheimnis, von dem nur Eingeweihte wußten?

***

»Was soll ich tun?« rief der mächtigste Herrscher der Erde. »Kann mir keiner von euch sagen, was ich jetzt tun soll? Meine Stadt – unsere Stadt aufgeben? Die endlose Weite der fruchtbaren Ebene mit all ihren Feldern und in Jahrtausenden erbauten Kanälen dem Meer opfern? Die Insel verlassen? Krieg führen gegen feuersprühende Berge, die schwankende Erde oder das stürmische Meer?«

Er hob mit einer hilflosen Geste die Arme, dann ließ er sie wieder sinken und lief mit vorgeschobenen Schultern im inneren, zum Himmel hin offenen Geviert des Palastes auf und ab. Der steife, hochgestellte Kragen aus Goldgespinst auf seinem kostbaren Federumhang ließ seinen hageren, an einen Vogel erinnernden Kopf nur von vorn sehen. Die zehn Könige des Inselkontinents und der entfernten Länder hatten sich vom jäh unterbrochenen Fest in den großen Prunksälen des Palastes in den Prozessionshof vor dem Inneren Heiligtum zurückgezogen. Die meisten zeigten noch immer deutliche Spuren der Verwirrung in ihren Gesichtern. Obwohl sie sich alle sechs Jahre trafen, war es noch nie vorgekommen, daß sie sich allein und ohne die Vielzahl der sonst üblichen Weisen und Berater trafen.

Atlas wußte, daß sich weder er noch seine neun Brüder mit den ersten fünf Zwillingskönigen vergleichen konnten. Das Geschlecht der Könige von Atlantis hatte sich von einer Generation auf die andere überliefert. Und nur wenige kannten das Geheimnis der Duka-Kammer im inneren Palast, durch das es den Herrschern gelang, wieder und wieder die heilige Zahl zehn zu erreichen.

»Was ist nur aus uns geworden?« klagte Atlas. Er starrte auf das Pentagramm aus lapislazuliblauen Mosaiksteinen auf dem Boden des Prozessionshofes. Der fünfzackige Stern um die Erdflamme in der Mitte zeigte mit einer Spitze nach Süden. Die Dreiecksflächen zwischen den Sternspitzen waren durch goldene Nägel ausgefüllt. Das Pentagramm war das uralte Symbol des Königtums in den fünf inneren und den fünf äußeren Reichen von Atlantis. Jeder der erstgeborenen Zwillinge gebot über einen Bereich der Hauptinsel, der einer lapislazuliblauen Sternzacke entsprach. Ihre dreieckigen Reiche bildeten mit einer Seite das innere Fünfeck um die ewige Flamme der Hauptstadt Basilea. Und nur mit einer Spitze der Dreiecke hatten sie Zugang zum Okeanos. Dagegen berührten die jeweils gegenüberliegenden goldenen Reiche der Zweitgeborenen außerhalb des eigentlichen Pentagramms nur mit einer Spitze das innere Fünfeck der heiligen Erdflamme, während sie sich zum Meer hin weit öffneten.

Genau diese Aufteilung zwischen den erstgeborenen Zwillingen und ihren Brüdern bildete seit vielen Generationen das Gesetz der Macht. Die fünf Könige Atlas, Ampheres, Mnaseas, Elasippos und Azeas waren nach innen, auf die alten Gesetze und auf die Bewahrung der Traditionen orientiert. Für die anderen fünf – Gadeiros, Euaimon, Autochthon, Mestor und Diaprepes – bestimmte der Blick nach draußen, über die Meere hinweg, seit jeher ihr Denken und Handeln. Und selbst der Palast im Zentrum der Stadt war nach den Regeln des doppelten Fünfecks erbaut.

»Was ist nur aus uns geworden?« wiederholte der erste der erstgeborenen Könige. »War nicht Euenor einer der ganz am Anfang aus der Erde entsprossenen Männer? Und war seine Tochter Kleito, die er mit seinem Weib Leukippe zeugte, nicht die Verführerin Poseidons? Was ist aus uns geworden, daß unser Königtum nicht einmal den steigenden Okeanos oder ein Erdbeben aufhalten kann?«

»Hör auf mit deinen Tiraden, Atlas!« rief sein Zwillingsbruder und stand auf. »Niemand will jetzt wissen, ob wir von Kleito und Prometheus abstammen oder vom Titanen Iapetos und einer Nymphe namens Asia, Klymene oder was weiß ich! Die Vergangenheit hilft uns nicht weiter!«

Atlas warf Gadeiros einen gequälten Blick zu. Von Anfang an hatte es ständig Spannungen zwischen ihm und seinem Bruder gegeben. Der Zweitgeborene war größer, schöner und klüger als der rechtmäßige Herrscher der Könige – und jeder wußte es! Gadeiros trug wie alle anderen Könige den langen Mantel aus Tausenden von winzigen bunten Federn. Trotzdem wirkte der Königsschmuck an ihm ganz anders als bei Atlas. Er war keine Hülle, sondern sah wie ein Fahnentuch aus, das bei jeder Bewegung in schillernden Farben erblühte.

Gadeiros trat einen Schritt vor. Mit einem herrischen und gleichzeitig spöttisch wirkenden Blick musterte er seine Mitregenten. Er spürte, wie alle auf sein Wort warteten. Auch sein Bruder, der König der Könige, schien bereit zu sein, einen Rat anzunehmen. Gadeiros ging bis zum Pentagramm auf dem Boden des Innenhofs. Er schürzte die Lippen, musterte die blauen und goldenen Felder und trat in das innere Fünfeck. Die Erdflamme loderte auf, wehte um seine nackten Beine und fiel zurück.

»Mein Bruder Atlas hat recht!« rief Gadeiros. »Die Säulen des Reiches sind brüchig geworden. Schon fallen die Zeichen der Macht und der Herrlichkeit von den Wänden. Der Boden bebt unter uns wie die Planken von Schiffen im Sturm. Wir wissen, daß die Sonne Jahr für Jahr mehr Flecken bekommt. Warme Jahrtausende haben das Eis im Norden zum Schmelzen gebracht. Magnetsteine weisen in falsche Richtungen …«

»Vergiß den neuen Stern nicht!« rief Mestor und sprang ebenfalls auf, »den Planetoiden, der auf uns zurast und vor dem schon die Alten warnten!« Er riß eine Silberscheibe von seinem Brustwams aus goldenen und silbernen Schnüren und schwang sie über seinen Kopf. »Dort, wo das Licht der Stadt nicht blendet, sieht jedermann den neuen Stern am Nachthimmel! Ihr aber tut, als wären die Berichte nur Zauber und Schamanengewäsch!«

»Fruchtbares Land wird zu Wüste!« bestätigte der zweitgeborene Riese Autochthon. »Ich habe Atlantis bisher ebensowenig verlassen wie ihr, meine Brüder, aber ich kenne die Berichte der mir unterstellten Götter.«

Atlas zog immer mehr den Kopf ein. Nacheinander standen auch seine restlichen Brüder auf.

»Zerbricht das Reich? Verlieren wir unsere Macht?«

»Vielleicht«, sagte Diaprepes. »Viele der Eingeborenen haben keinen Respekt mehr vor der Alten Ordnung«, sagte Diaprepes. »Sie gehen längst eigene Wege!«

»Das haben sie bereits seit den Höhlen-Versuchen am großen aquitanischen Loch im Felsen, das manche Cro Magnon nennen, getan«, meinte Euaimon, der für riesige, noch vor vier-, fünftausend Jahren eisbedeckte Gebiete im Norden zuständig war. »Aber die Lage spitzt sich immer mehr zu. Einerseits störrische Eingeborene, andererseits schlechter Götternachschub! Seit langem werden uns bessere Züchtungen versprochen, aber was bekommen wir? Erzer und Mißgeburten, furchtbare Kreaturen, die sich im Fieber schütteln und zu nichts zu gebrauchen sind …«

»Genug! Genug!« rief König Atlas. »Warum streiten? Wir kennen die Schwierigkeiten, aber ihr wißt genausogut wie ich, daß uns keine Menschenzüchtungen mehr gelingen …«

»… sie waren noch nie besonders gut!« warf Gadeiros ein.

»Bis auf die Weiber«, lachte Mnaseas. »Da gab es immer ein paar ganz besondere Exemplare …«

»Du solltest dich nicht mit den Scherzen brüsten, mit denen du dich Tierkühen auf deinen Streifzügen genähert hast«, wehrte Gadeiros ab.

»Manch einer gefiel’s«, grinste Mnaseas genüßlich.

»Habt ihr wirklich nichts anderes zu bereden?« fragte Elasippos. Atlas hob seine Brauen, spitzte die hellrot bemalten Lippen und verzog sein Gesicht zu einer theatralischen Grimasse.

»Jeder erschreckt mich mit einer anderen Bedrohung!« jammerte der König der Könige. »Der eine spricht von herabstürzenden Sternen, der zweite von steigenden Meeren, der dritte von neuen Wüsten, der vierte von abfallenden Kolonien, der fünfte von schlechtem Nachwuchs … Was wollt ihr damit erreichen? Schon wieder Götterkriege und Titanenkämpfe wie vor vielen Jahrtausenden?«

»Das wird sich zeigen!« stellte Gadeiros fest. »Wenn wir nicht sofort gemeinsam handeln, werden wir über gewisse Strukturen nachdenken müssen!«

»Nichts und niemand kann unsere Herrlichkeit antasten«, rief Atlas mit hoher, schrill klingender Stimme. »Die Luft und die Meere, Sonne und Sterne, Berge und Flüsse gehorchen den ewigen Gesetzen des Königtums! Nichts, aber auch gar nichts geschieht, ohne daß wir es erfahren! Kommt, laßt uns weiterfeiern! Die Fürsten der Händler samt unseren Weisen und Kundigen warten auf uns. Wir wollen essen und trinken, tanzen und fröhlich sein und diesen häßlichen Zwischenfall vergessen.«

Er stolzierte mit langen Schritten durch den Prozessionshof.

»Hach!« preßte Gadeiros wütend zwischen den Zähnen hervor. »Er begreift es nicht! Er hat nie wahrhaben wollen, daß sich viele unserer Kolonien längst selbständig gemacht haben und eher den mächtigen Göttern dienen als den Königen von Atlantis! Und er wird auch jetzt nicht begreifen, daß wir keine Chance mehr haben!«

»Vielleicht gibt es doch noch eine Rettung im allerletzten Augenblick«, sagte König Diaprepes leise. »Ich habe gehört, daß einige der kürzlich Verurteilten von einem Wandel der Werte sprechen. Sie sitzen nächtelang zusammen, meditieren und versuchen, sich an die Zeit zu erinnern, in der Atlantis eine Kraft besaß, die mächtiger war als all unsere Schiffe, Krieger und Kampfmaschinen …«

»Für diesen gefährlichen Irrglauben sind sie schließlich verurteilt worden«, sagte Gadeiros. »Oder glaubt mein königlicher Bruder etwa auch an diesen gefährlichen Mythos?«

»Soll alles, was in den Archiven aufbewahrt ist, etwa nur aus Legenden bestehen? Und was ist mit den göttlichen ME, die Enki in seinem Wasserversteck hüten soll?«

Gadeiros zuckte mit den Schultern. »Schon unsere Vorgänger haben die Kundigen des Reiches jahrhundertelang in den Archiven forschen lassen. Und was ist dabei herausgekommen? Ein Aberglaube nach dem anderen! Nichts als Phantasterei, Spekulation und okkulter Unsinn!«

»Aber es muß Beweise geben!« behauptete Diaprepes beharrlich. »Wenn nicht auf diesem Inselkontinent, dann dort, wo unsere Vorfahren mit wilden Eingeborenen experimentiert haben! Wenn wir diese Spuren unserer eigenen Vergangenheit verfolgen, könnten wir vielleicht auf die entscheidenden Hinweise stoßen!«

»Formeln im Sand der Wüsten?« lachte König Gadeiros abfällig, »Verschlüsselte Botschaften aus dem goldenen Zeitalter in irgendwelche Felswände gemeißelt? Oder gar Nachkommen von uns, die in finsteren Wäldern Altäre aus mächtigen Steinen errichten und Wolken für Geister der alten Götter halten?«

Er schlug Diaprepes gutmütig auf die Schulter. »Wenn ich nicht wüßte, daß du mein Bruder bist, müßte ich dich noch heute auf die Triere verbannen! Und was, bei allen Namen der Schöpfung, sollten wir draußen eher finden als hier? Nein, Diaprepes! Es hat keinen Zweck, jetzt noch an Wunder zu glauben! Es ist vorbei … endgültig und ohne Ausweg!«

Lieder vom Untergang

Ich ging nicht direkt zum Palast zurück. Aus irgendeinem Grund wählte ich den längeren und riskanteren Weg durch die innere Altstadt. Ich hatte den Stein der Götter so gedreht, daß er in einer Falte meiner Tunika verborgen war. Ich wollte vermeiden, daß irgendeiner der Kundigen und Lehrer oben im Palast merkte, was ich empfand. Trotzdem fühlte ich mich bei jedem Schritt beobachtet.

Der plötzliche Vulkanausbruch und das kurze Beben der Erde hatten kaum Spuren in den Straßen der Stadt hinterlassen. Hier und da lagen noch kleine Trümmerstücke an den Rändern der Plätze, aber das quirlige Treiben hatte längt wieder Oberhand gewonnen. Ich wich trompetenden Elefanten mit bunten Schmuckdecken aus, wartete, bis lachende Kinder an mir vorbeigelaufen waren und roch plötzlich die verführerischen Düfte vom Hafen der Gewürze.

Ein steifbeiniger Seefahrer kam mit einem geschulterten Reisesack durch eine schmale Verbindungsgasse zwischen den Ringstraßen und den Hafenkanälen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als würde der Schiffsherr, denn um einen solchen mußte es sich nach all seinen Schmuckstücken auf seiner Kleidung handeln, als würde der knorrige, lederhäutige und uralte Mann direkt auf mich zukommen. Er ging schräg über die Straße, schnitt mir den Weg und schob auf seltsame Art zufrieden wirkend die Unterlippe vor.

»Bist du nicht Inanna?« Er lächelte fast verschwörerisch. »Ist die Prinzessin den großen Lehrern einfach davongelaufen?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, antwortete ich, ohne zu denken. Ich fühlte mich unwohl. Was wollte der Fremde von mir? Warum sprach er mich an?

»Wir sind alle Götter«, meinte der Schiffsherr, »aber einige von uns sind eben göttlicher als die anderen! Das sagten schon die Anunnaki zum Beginn der letzten Eiszeit, wenn sie aus den Zinnbergwerken von Cornwall und Cymru ans Tageslicht zurückkehrten.«

»Laß mich vorbei!«

Ich hatte bestimmt und unnahbar sein wollen, aber ich spürte sofort, wie schwach und verwirrt meine Stimme klingen mußte.

»Was wolltest du im verbotenen Garten?« fragte er mit einem wissenden Lächeln.

»Wie kommst du darauf …«

»Ich habe dich gesehen!« antwortete er und hob das Fernglas in seiner Linken. »Genau gesehen und auch beobachtet, daß du nicht allein an der Kyklopenmauer warst!«

»Du mußt dich irren!«

»So?« fragte er und hustete belustigt. »Und wer stand wie eine steinerne Statue auf der Treppe, als ein junger Gott vor dem Beben davonlief?«

»Das hat er nicht getan …«

Das war ein Fehler. Ich merkte sofort, daß der Fremde mich in eine Falle gelockt hatte. Das Blut schoß in meine Wangen und gleichzeitig haßte ich den fremden Schiffsherrn, der es wagte, mich derartig bloßzustellen.

»Was willst du von mir?« fragte ich bebend.

»Viel, meine schöne Inanna! Sehr viel sogar! Komm mit, und ich werde es dir erklären. Doch vorher sollst du wissen, was ich als Gegenleistung zu bieten habe: Ich werde meinen Mund über alles halten, was ich an der Kyklopenmauer gesehen habe. Du trägst den Stein der Götter, auch wenn du ihn versteckt hast. Das bedeutet, du bist eine Auserwählte, die noch warten muß, ehe sie sich mit einem Mann einlassen darf. Stimmt das?«

»Ja, ich trage den Stein der Götter!« antwortete ich stolz und trotzig zugleich. »Und ich werde nach der Zeremonie als Göttin zu den Wilden hinausgehen!«

»In irgendeine Küche wirst du gehen, wenn die da oben im Palast erfahren, wo du heute warst! Du hast noch nicht mal die Erlaubnis, hier an diesem Fleck zu stehen! Mädchen wie du sind viel zu schade für irgendeine Liebelei, aber das weißt du alles, nehme ich an …«

Ich biß mir unsicher auf die Unterlippe. Das Lärmen in den Straßen drang nur noch wie ein fernes Rauschen bis zu mir. Ich sah nur noch die Augen im faltigen Gesicht des Schiffsherrn. Instinktiv versuchte ich, dem Blick aus diesen Augen mit meiner eigenen Kraft zu begegnen. Alles in mir spannte sich an. Ich wollte weg, mich einfach losreißen und fliehen. Aber der andere ließ nicht nach. Ich kannte seine Magie nicht, konnte nicht ahnen, woher der alte Körper diese ungeheure Willenskraft nahm, die mich wie ein Dämonenzauber lähmte. Bisher hatte ich stets nur davon gehört, daß die Alten vor vielen Jahrtausenden in der Lage gewesen sein sollten, ohne Worte mit allen Lebewesen zu sprechen und mit der Kraft ihrer Gedanken sogar Gegenstände zu bewegen.

»Was soll ich tun?« fragte ich tonlos.

»Geh zu dem grauen Haus dort drüben«, antwortete er ruhig.

Er deutete mit seinem Fernglas auf ein unscheinbares Gebäude ohne jeden Goldschmuck am Eingangsportal. »Es ist das älteste Gebäude der ganzen Stadt. Als es erbaut wurde, war kein äußerer Zierat notwendig. Wer wußte, was in ihm ist, der brauchte dergleichen nicht. Deshalb fällt auch kein Lichtstrahl durch die Fenster dieses Hauses. Und kein Gedanke kann hinein oder heraus. Sobald du drin bist, wirst du nichts mehr hören. Geh immer weiter, bis vor dir Bilder an der Wand auftauchen – von zehn Kelchen, zehn Stäben, zehn Pentakeln und zehn Schwertern. Und dazu Spiegelbilder! Sieh dir alles ganz genau an, und bewahre die Bilder in deinem Herzen!«

Ich wußte nicht, ob ich wach war oder träumte. Ich schloß für einen kurzen Moment die Augen und wünschte ganz fest, daß alles nur ein böser Alptraum war. Als ich nach einer Weile vorsichtig blinzelte, war der Unheimliche verschwunden. Die Gasse war vollkommen leer. Ich drehte mich etwas zur Seite, und dann sah ich es: Das Haus mit den blinden Fenstern wirkte so alt und schlicht, daß mir die reichgeschmückten Fassaden der anderen Häuser rechts und links wie ein Trichter vorkamen. Er führte direkt bis zur Tür des grauen Hauses.

Ich spürte, wie meine Füße sich bewegten. Alles in mir wehrte sich gegen den Befehl des Schiffsherrn. Aber ich konnte einfach nichts gegen die immer noch wirksame Macht des Fremden tun.

***

Als der Abend kam und der Staub des Vulkanausbruchs den Himmel über der Stadt und dem Meer in ein milchiges, von schwarzen Schlieren durchzogenes Rot färbte, leuchtete die Sonne wie eine nur selten so groß gesehene Scheibe über dem Horizont. Eine Serie lauter Paukenschläge, gefolgt von einem vielstimmigen Fanfarensignal, verkündete das Ende der Beratungen und den Beginn des Festes, an dem die ganze Stadt teilhaben sollte.

Aus fast allen Häusern machten sich phantasievoll gekleidete Männer und Frauen auf den Weg zu den großen Plätzen. Die Vornehmsten ließen sich in lautlos über dem Boden schwebenden Wagen über die Serpentinenwege bis zum Palast auf den Hügel bringen. Andere kamen auf seltsamen Reittieren und sogar in kleinen Häusern auf den mächtigen Rücken von Elefanten. An den Hafenkais der breiten, ringförmig um den Palasthügel angelegten Kanäle flammten Lichterketten an den Mastbäumen der Schiffe auf. Sogar die sonst wie goldene Wale durch die Tiefen des Okeanos gleitenden Frachtschiffe waren halb aufgetaucht. Sie lagen dicht an dicht vor den Schleusentoren der unterirdischen Werften an den Rändern des inneren Kanalrings. Die kleineren Gassen wurden von Fackeln mit duftendem Wachs erleuchtet, und auf den ebenfalls kreisförmig um den Palasthügel verlaufenden Prachtstraßen begannen traubenförmige Kandelaber aus Gold und Silber zu strahlen.

Immer mehr Bewohner der Stadt versammelten sich in Erwartung des prächtigen, blutroten Feuerwerks, das zu Beginn der Dunkelheit üblich war, wenn hoch oben im inneren Hof des Königspalastes ein weißer Stier geopfert wurde. Sie drängten sich an den Marktständen am Rande der Sportarenen, nahmen sich Gesottenes und Gebratenes, naschten von köstlichen Früchten aus fernen Provinzen und flanierten lachend und angeregt plaudernd auf und ab. Gaukler und Spielleute sorgten mit lärmenden Späßen und allerlei Possen für Unterhaltung. Aus kleinen, eigens für diesen Tag und den Abend errichteten Tempeln wurden vergoldete Opferkelche mit geheiligtem roten Wein verkauft. Sobald das Feuerwerk begann, würden Tausende von Menschen überall in der Stadt die Siegel der Kelche aufreißen, ein Stück Brot aus dem reinen Mehl der sieben Getreide essen und dazu das symbolische Blut des Opferstiers trinken.

Überall beherrschte eine abwartende, auf seltsame Weise verhaltene Stimmung. Es war, als ahnten die meisten, daß sich in diesem Jahr mehr verändert hatte als nach früheren Zusammenkünften der zehn Könige.

»Ich weiß nicht«, sagte ein Handwerker mit einem hohen Spitzhut an einem der Marktstände mit gerösteten Vögeln. Er gehörte der Gilde der Goldschmiede an. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich es erklären soll, aber seit dem Vulkanausbruch glänzt mein Gold nicht mehr!«

»Ihr werdet eben ein wenig mehr Lackpaste zum Putzen benötigen«, antwortete einer der Händler vom Hafen der Gewürze.

»Ich habe noch nie Lackpaste benutzt!« protestierte der Goldschmied. »Mein Gold stammt vom oberen Nil, und das ist reiner als jedes Fischauge!«

»Hört, hört!« antwortete ein zweiter Goldschmied. »Wir alle wissen doch, daß ihr mit der Materia prima experimentiert. Das kostet viel, und mancher Goldschmuck von Euch dürfte deshalb etwas mit schlechtem Silber gestreckt sein …«

»Verleumdung!« fauchte der erste Goldschmied. »Noch ein Wort und ich behaupte öffentlich, daß Ihr schon Katzengold verkauft habt … sogar an unsere Könige!«

»Und Ihr fälscht Göttersteine!«

»Ihr … Ihr Mißgeburt aus der Zeugungskammer!«

»Ihr seid wohl selbst aus der Duka-Kammer entlaufen!«

Die beiden Streithähne gingen mit erhobenen Fäusten aufeinander los. Jeder von ihnen trug einen kleinen Goldstab mit einem Sonnensymbol in der Linken. So fein gearbeitet und edel die Stäbe aussahen, so gefährlich waren sie auch. In jeder der Waffen steckte genug Energie, um ein Dutzend Männer zu lähmen oder zu töten.

Dicht neben den Streitenden begann in diesem Augenblick eine Gruppe von jungen Frauen und Männern zu singen. Die Umstehenden wichen unwillkürlich zurück. Ein Kreis entstand, und in seiner Mitte bewegten sich in graubraune Umhänge Gekleidete mit großen, ausgehöhlten Fischköpfen auf herabhängenden Haaren zum Takt einer kleinen Holztrommel. Sie hatten sich an den Armen eingehakt und ihre Gesichter mit weißem Staub unkenntlich gemacht.

»Ein Fest, ein Fest und alles versinkt«, sangen die jungen Frauen und Männer gleichmütig und monoton. »Alles Lebendige kommt aus den Wassern … aus den salzigen Tiefen der Meere und aus den süßen Wassern … vor vielen Zeitaltern geschaffen, und in die wir nun zurückkehren …«

»Oannes!« tuschelten ein paar der Zuhörer. »Sie sind Fischmenschen … Anhänger des Irrglaubens, daß Gott Enki noch immer Pläne der großen Götter besitzt …«

»Pläne der Fähigkeiten, die beim Cro Magnon-Experiment auf wilde Eingeborene übertragen werden sollten …«

»Der Gott der Weisheit …«

»Deshalb verbirgt er sich vor allen anderen …«

Vom Rand des Platzes her näherte sich ein Erzer. Sofort taten die Umstehenden so, als hätten sie nichts von einem Streit bemerkt und keinen Gesang der Oannes gehört. Sie summten die Melodien der Spielleute mit, wiegten die Hüften und sahen dem golemhaft starr durch die Menge schreitenden Riesen nur aus den Augenwinkeln entgegen.

Der Erzer war anderthalb mal so groß wie die meisten erwachsenen Bewohner von Basilea. Er litt beim Gehen unter seinem eigenen Gewicht und seiner Stärke. Bis auf die Gelenke waren seine Arme, seine Beine und sein Körper mit dichten Bandagen aus Stoff und Metallfäden umwickelt. Sie allein verhinderten, daß der Lebenssaft bei der geringsten Anstrengung durch die Hautporen des Erzers gepreßt wurde. Erzer gehörten zu den tragischsten Kreaturen von Atlantis. Sie erinnerten an Wale und andere große Wassertiere, die an Land geworfen nicht mehr in der Lage waren, ihre gewaltigen Körpermassen zu beherrschen.

Und nur sehr wenige Erzer konnten es sich leisten, ein Energiehemd zu tragen, das ihre Erdenschwere verringerte.

Dieser gehörte nicht zu den Glücklichen. Er stampfte schwer und mühsam schnaufend auf die beiden Goldschmiede zu. Mit ungelenken Fingern drehte er seine Sprechanlage an.

»Wer … stört?« wollte seine künstlich verstärkte Stimme wissen. Und ohne eine Antwort abzuwarten, ergänzte er: »Stören nicht … statthaft! Fest … der zehn … Könige!«

Ein junges Mädchen der Enki-Anhänger sprang auf ihn zu. Sie drängte ihren Körper gegen seinen, reckte die Arme und strich mit Fischhäuten zwischen ihren gespreizten Fingern über sein starres Gesicht.

»Erzer sind künstlich, Erzer sind kalt!« rief sie mit heller, weithin hörbarer Stimme. »Fische lieben den Okeanos, Erzer und Menschen fürchten ihn …«

Noch ehe er zupacken konnte, war die junge Frau im Gedränge untergetaucht. Der Erzer wischte sich mit seinen bandagierten Händen über das Gesicht. Er begann zu schnauben und zu röcheln. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann zitterte er wie eine nur noch mühsam beherrschte Maschine. Gleichzeitig schwollen die Aderstränge an seinen Schläfen an.

»Wie kann man das nur zulassen!« knurrte der Fischhändler kopfschüttelnd. »So schlechte Züchtungen müßten verboten werden!«

»Und so was soll für Schutz und Ordnung sorgen!« erregte sich der erste der Goldschmiede. Er trat einen Schritt auf den bedrohlich schwankenden Erzer zu. »Nehmt jenen da mit! Er hat meine Kunst verhöhnt und meine Integrität verletzt!«

»Kunst verhöhnen … nicht statthaft …« Er schwankte von einer Seite auf die andere. »Verletzen … nicht statthaft …«

Er wischte mit seinen großen bandagierten Händen durch die Luft. Wie bei einem waidwunden Tier suchten seine weit aufgerissenen Augen nach einem Halt, nach irgendeinem Punkt, zu dem er sich retten konnte.

Die Näherstehenden wichen zurück, doch von allen Seiten drängten Neugierige näher. Sie schoben und schimpften, während der freie Kreis um den Erzer immer enger wurde. Und dann quoll plötzlich blutartige Flüssigkeit durch die Bandagen des Riesen. Die gleiche Flüssigkeit rann ihm aus Augen, Ohren und Nase. Sein linkes Bein knickte ein. Mit einer Hand griff er nach oben, dann fiel er wie ein morscher Baum in sich zusammen.

Im inneren Kreis um den Beendeten stand nur noch lähmendes Erstaunen in den Gesichtern der festlich gekleideten Männer und Frauen. Ein junges Mädchen schluchzte verhalten. Aus ungläubiger Verwunderung wurde Angst und Entsetzen.

»Ein Erzer ist tot!«

Der Ruf flog von einem zum anderen.

»Ein Erzer? Bei allen Göttern!«

»Die Erde bebt, die Erzer sterben!«

»Was sagen die Könige?«

»Was wird aus uns?«

***

Die Bilder wirkten wie Fenster in eine faszinierend fremdartige und doch wieder vertraute Welt. Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte und was ich fühlen durfte. Ein Teil von mir bewunderte die aufleuchtenden Erscheinungen an den Wänden, die wie kunstvoll arrangierte Bilder einer Bühne aussahen. Gleichzeitig versuchte irgend etwas ganz tief in mir, mich zu warnen, denn jedesmal, wenn ich zu dicht kam, sah ich nur noch glatte Flächen, in denen ich mich selbst spiegelte.

Ich war die letzten Schritte bis zu dem seltsamen Haus immer zögernder gegangen – so lange, bis mir der Stein der Götter wieder einfiel. Ich hatte die Finger der linken Hand um ihn geschlossen und voller Vertrauen in seine Kraft mit der anderen Hand die Tür des kleinen Hauses berührt. Sie war warm und durchlässig wie ein Schleier aus schwarzem Licht gewesen. Und nun bewegte ich mich wie auf weichen Teppichen. Kein Laut war zu hören. Ich hatte die ersten Bilder in diesem verwinkelten Haus einzeln angesehen. Die Zeit schien stehenzubleiben, während ich die seltsam fremden und doch bekannten Eindrücke in mich aufnahm.

Gleich hinter der Höhle des Türeingangs hatte ich in Lebensgröße und mit einer wie bis zu einem hügligen Horizont reichenden Perspektive die Darstellung eines Kindes bemerkt. Als ich die naive, unwissende Gestalt sah, ahnte ich, daß ich vor den zweiundzwanzig uralten und heiligen Stationen der Einweihung stand, die andere nie zu sehen bekamen.

Bereits dieses erste Bild berührte mich sehr stark, weil ich mich noch gut daran erinnern konnte, wie sehr ich als kleines Mädchen davon geträumt hatte, einmal alle Wunder der Welt zu verstehen und mit ihnen zu spielen. Das Bild des Kindes war nur der Ausgangspunkt für einen langen und geheimnisvollen Weg. Zögernd ging ich weiter. Das erste richtige Bild kannte ich bereits. Ich hatte es einmal bei meinem Lehrer Berios gesehen.

»Wenn die Zeit reif ist, werde ich dir erklären, was dieses Bild bedeutet«, hatte er gesagt. Ich ging noch einen Schritt näher. Mein Gesicht spiegelte sich in der glatten Fläche, aber dann konnte ich dahinter genug erkennen. Genau in der Mitte eines sich kreuzenden Weges steckte ein Schwert in einem Stein. Daneben lagen wie vergessen Weinkelche und Energiestäbe, fünfzackige Sterne aus Metall und magische Symbole, wie sie an vielen Stellen der Stadt verwendet wurden. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als müsse ich mich jetzt entscheiden, welchen der vier Wege ich weitergehen wollte. Aber ich wußte es nicht. Zuviel vom geheimen Wissen der Alten lag an der Kreuzung der Wege verstreut. Für einen kurzen Augenblick glaubte ich Berios zu erkennen.

»Geh«, sagte er. »Es ist stets in dir, welchen der Wege du wählen wirst!«

Ich zögerte, dann ging ich geradeaus weiter. Die glatte Spiegelfläche bildete nicht den geringsten Widerstand. Ich konnte mitten durch das Diorama aus Stäben, Kelchen, Schwert und Münzen gehen …

Schon wenige Schritte später blieb ich erschrocken stehen. Direkt vor mir stand mit freundlichem, aber kaltem Gesicht die Hohepriesterin des Königspalastes. Sie hielt einen Granatapfel in der Rechten und ein geöffnetes Buch in der Linken. Ein Kranz weißer Narzissen erinnerte daran, daß diese Hohepriesterin die Hüterin des Totenreichs sein sollte. Als Tochter der ersten Erdenmutter stand sie jenseits der Könige und kannte das Geheimnis göttlicher Geburt.

Die beiden nächsten Bilder gefielen mir wesentlich besser. Sie zeigten eine Königin und einen König. Beide sahen so vollkommen und gütig aus, wie es die alten Geschichten über die Anfangszeit berichteten.

Ich verlor langsam meine Furcht. Keines der Bilder hatte mich abgestoßen oder beleidigt. Die Darstellungen entsprachen vielmehr meinen eigenen, geheimsten Vorstellungen, Vermutungen und Gedanken über mich selbst. Auch das wilde Geschöpf des nächsten Bildes, halb Mensch, halb Tier, kam mir bekannt vor. Diesmal erkannte ich Berios viel deutlicher als in der Szene der Wegkreuzungen. Ich lächelte und ging weiter.

Meine Gefühle veränderten sich, als ich die unschuldig Liebenden des nächsten Bildes sah. Ein junger Mann stand zwischen zwei Frauen, und über ihnen leuchteten goldene Pfeile am Himmel.

Das siebente Bild schien einen Ausweg zu bieten. Es zeigte einen Triumphwagen mit einer wie zum Kampf geschmückten, göttlich starken Figur. Für einen Moment vergaß ich, daß nicht ich auf dem Wagen stand, sondern ein Mann, dessen Gesicht ich noch nie gesehen hatte.

Die beiden nächsten Bilder gefielen mir überhaupt nicht. Das erste zeigte eine streng aussehende, sitzende Frau mit einem erhobenen Schwert in der Rechten, einer Waage in der Linken und einer weißen Eule auf der Schulter. Das Bild strahlte Ordnung und die Harmonie einer bewahrenden Macht aus. Für mich symbolisierte es zu sehr das Gesetz starrer Rituale und kalten Stillstandes. Das Gegenstück zeigte das Bild eines einsamen Eremiten, der versucht hatte, sich gegen die Gesetze der Zeit aufzulehnen und doch erkennen mußte, wie einsam jedes Beharren auf dem eigenen Standpunkt macht.

Ich ging schnell weiter. Ein seltsam waberndes Licht kam aus den Wänden. Ich blickte nach oben, nach unten und dann nach beiden Seiten. Und dann tauchte zum ersten Mal ein bewegliches Bild auf. Schnellflackernde Lichter rasten im Kreis vor meinen Augen. Sie veränderten ihre Farben, wurden ohne erkennbaren Grund heller und dunkler und kreisten wie zufällig vor einem Höhlenausgang, hinter dem sich ein friedliches Land befand.

Der Löwe im nächsten Bild sah stark, schön und königlich aus. Erst als ich einen Schritt näher trat, erkannte ich den Spiegel direkt hinter dem Kopf des stolzen Tieres. Ich streckte meine Hände aus. Der Löwe öffnete sein Maul. Ich griff zu. Verwundert erkannte ich, wie das mächtige Tier sich duckte, als würde es sich unterwerfen. Woher kam die Kraft, von der ich noch nichts wußte, und die selbst ein Raubtier beherrschen konnte?

Und dann der Gehenkte. Er war noch nicht tot, sondern hing mit gefesselten Händen von einem Felsblock herab. Adler mit riesigen Schwingen und blutigen Schnäbeln umkreisten ihn in grauen Nebelschwaden. Der Felsen, der steinige Boden und der Körper des unbekleideten Opfers trieften vor kalter Nässe. Was hatte dieser Mann getan? Und wer hatte die furchtbare Strafe für den Gehenkten ersonnen, der nicht leben und nicht sterben durfte? Vielleicht ein falsches Spiel mit dem Rad des Schicksals? Oder war er ein Unglücklicher, bei dem die Waage der Gerechtigkeit ewige Sühne gefordert hatte?

Das dreizehnte Bild zeigte ein Ende, bei dem keine Fragen mehr offen blieben. Ich sah den Tod. Eisig und unbeweglich, ohne die Spur eines Grashalms, ohne das wandernde Leuchten von Sonne, Mond und Sternen. Und doch lag in der Endgültigkeit, die das Bild ausdrückte, mehr Klarheit als in den vorausgegangenen. So sehr ich mich vor der nur auf das Notwendigste beschränkten Darstellung fürchtete, so sehr ging auch eine Botschaft von ihr aus, die mich mit leichten Füßen weitergehen ließ.

Pastellfarbenes Licht löste die düstere und schroffe Todessymbolik ab. Ich sah ein junges Mädchen in weißen Schleiern am Ufer eines glasklaren Baches, in dem sich Blumen und Gräser spiegelten. Das Mädchen mit lang auf die Schultern fallenden Haaren goß Wasser des Baches aus einem einfachen Silberbecher in einen goldenen, der ebenso schlicht und schön aussah. Grüne Hügel und sanfte Wiesen gingen in einen hellblauen Frühlingshimmel mit Schäfchenwolken über. Dieses Bild versöhnte mich für vieles, was ich seit dem verbotenen Schritt durch die Kyklopenmauer erlebt und gesehen hatte. So hätte der Garten hinter der Mauer aussehen können, wenn ich ganz allein in ihm gewesen wäre.

Aber ich war einer anderen Stimme gefolgt – dieser teuflischen Verlockung, die vom nächsten Bild ausging. Ich sah die aggressiv aufeinanderprallenden Farben von Schwarz und Rot im Gesicht eines Zwitterwesens, hörte die lockenden Töne einer Panflöte und roch gleichzeitig die Ausdünstungen, die vom zottigen Fell des Wilden ausgingen. Ich blähte die Nasenflügel, öffnete den Mund und empfand plötzlich das Verlangen, das Verbotene auszuprobieren, mich ausgerechnet mit diesem sardonisch grinsenden Mann körperlich zu vereinen. Er wußte, wie er auf mich wirkte und genoß es mit überlegener Verachtung. Genau den gleichen Zug im Gesicht hatte ich auch bei Osiris gesehen – nicht so brutal ausgeprägt, aber in diesem Moment erinnerte ich mich wieder an das, was mich abgestoßen hatte. Das diabolische Bild bot mir an, einmal alles zu erleben, was zwischen Mann und Frau geschehen konnte. Das war kein Glücksspiel, keine Frucht der Erkenntnis und kein Rat weiser Lehrer, sondern ganz einfach animalische Wollust.

Ich riß mich stöhnend los und schüttelte mich. Mir wurde übel, während heiße und kalte Schauder durch meinen Körper rasten. Ich preßte beide Hände auf meinen Magen, versuchte, meine Brüste zu schützen und umklammerte den Stein der Götter. Wie hatte ich auch nur einen Augenblick vergessen können, daß ich zuviel zum falschen Zeitpunkt gewollt hatte? Erst jetzt erkannte ich, daß ich nicht durch eigenen Entschluß, sondern durch die aus der Erde kommenden Vorboten des Bebens und des Vulkanausbruchs daran gehindert worden war, meiner erwachenden Sehnsucht nach Lust nachzugeben. Ich stöhnte noch einmal, wischte mir mit beiden Händen über das Gesicht und empfand das Bild des Königspalastes direkt vor mir wie eine rettende Burg.

Gleichzeitig sah ich aber auch die Risse in den Mauern, die drohenden Wolken über der großen Feste eines sehr alten Reiches und von den Friesen fallende Göttergestalten.