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Seitenzahl: 663
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für Linda. Für ihre Ausdauer, ihre Stärke und allem voran für ihre Freundschaft. Du bist eine Inspiration.
Prolog
Dante
Grace
Grace
Dante
Grace
Grace
Grace
Dante
Dante
Grace
Dante
Dante
Grace
Grace
Grace
Dante
András
Grace
Grace
Grace
Grace
Dante
Grace
Dante
András
Grace
Grace
András
Grace
Andrew
Gareth
András
Dante
Grace
Grace
Dante
Grace
Grace
Epilog
London, Großbritannien, 1920.
Über dem am Boden stehenden Bottich voll Mörtel stand ein gebückter Mann Mitte zwanzig. Eine unsichtbare Last drückte ihn nach unten. Der fahl flackernde Schein eines bescheidenen Öllämpchens verjagte den Schatten aus dem hinteren Winkel des Raumes. Es war die einzige Lichtquelle und malte die ohnehin bedrückende Szene in schauerlichem Zwielicht. Er zögerte, wagte kaum, seinen Spachtel an den Backstein zu führen. Eine salzige Träne fiel vor seinen Augen auf die zitternde Hand. Mehr als die Hälfte hatte er geschafft und mit jedem Stein, den er in die Mauer setzte, wurde ihm das Herz schwerer.
»William«, sagte eine tiefe, ungewohnt gefühlsbetonte Stimme. Die Hand seines Freundes, den er in Gedanken immer noch Vater nannte, ruhte wie zum Abschied auf dem Rücken.
»Ich kann es nicht«, antwortete Will. Er schloss die Augen in einer Mischung aus Scham und Kummer.
»Es gibt keinen anderen Weg«, beteuerte der Mann hinter ihm.
Unentwegt bekam er diese Worte zu hören und jedes Mal machten sie ihn zorniger.
»Warum jetzt?«, stieß er aus und ließ den Backstein in den Mörtel fallen. Er schnaubte und forderte eine Antwort. »Warum jetzt?«
»Du bist erwachsen, Will«, meinte sein Freund ruhig. »Du hast eine eigene Familie, um die du dich kümmern musst. Ich darf darin keinen Platz haben. Der gestrige Zwischenfall hat es deutlich gemacht.«
William richtete sich auf.
»Wie kannst du dies von mir verlangen?«, fragte er und besah sich das halbfertige Gemäuer.
»Weil du mein vollstes Vertrauen genießt.«
»Was, wenn du es dir anders überlegst?«
»Derartiges wird nicht passieren.«
»Aber, Vater, du -«, William unterbrach sich, als er seine Frau kommen sah.
Anne hob ihr Kleid ein wenig an, um zu vermeiden, den Staub der Holzdielen aufzusammeln. Im Vorübergehen schenkte sie dem Mann an der Seite ihres Gatten ein wohlmeinendes Lächeln. Williams Herz war zu schwer, um sie würdig zu empfangen.
»Liebste«, sagte er knapp.
Sie trug die Brosche, die er ihr geschenkt hatte. Wie immer war sie unbekümmerten Gemüts.
»Beth ist zuletzt doch noch eingeschlafen. Sie ist eine kleine Kämpferin«, sagte Anne. Ihr Blick wanderte zu der Mauer, von der sie dachte, sie sei baulich notwendig. »Du bist weit gekommen.«
»Ja«. Seine Stimme verriet mehr, als sie sollte.
»Wirst du es noch heute zu Ende bringen?«
Er bejahte mit einem Brummen, bedacht darauf, Emotionen zu verbergen. Seine gutherzige Frau bemerkte die Qual nicht, unter der er litt. Sie beteuerte, nichts weiter als einen Gute-Nacht-Kuss einzufordern, um dann den Männern wieder ihren Spaß zu lassen. Sie küsste Will sanft und ging nach oben. Ihre Schritte verhallten kurz darauf und hinterließen eine drückende Stille. William und sein Freund sahen einander in die Augen. Der junge Mann suchte nach einer letzten Hoffnung, die Meinung zu ändern, um das bedrückende Elend abzuwenden.
»Was soll ich ihnen denn sagen?«, fragte er, bezog sich dabei auf Frau und Kind.
»Sag, ich sei zu einer Reise aufgebrochen.«
»Von der du nie zurückkommen wirst!«
Der Freund senkte den Blick. »Ich gab dir mein Wort, dass dir und deinen Lieben kein Unheil geschieht«, sagte er leise und ernst.
»Wenn du uns verlässt, wirst du keinen Einfluss darauf haben«, erwiderte William bitter.
»Deine Tochter soll in einer Welt ohne Monster aufwachsen. Ohne Angst. Ohne Leid.«
»Du warst mit mir im Krieg. Du hast es gesehen. Eine Welt ohne Monster wird es niemals geben.«
»Du kannst mir diesen Gefallen tun, oder mich töten, mein lieber Junge. Dazwischen gibt es nichts. Ich bin schwach und ich bin müde«, sagte er.
William plusterte sich auf, versuchte eine sachliche Beleidigung in seine Richtung zu feuern und presste die Lippen zusammen. Er hielt sich zurück, wollte die letzten Momente nicht zerstören. Dann tauchte er seine Hand trotzig in den Bottich und fischte den Backstein heraus, den er hatte fallen lassen. Der Mann nickte ihm dankend zu und stieg über die frisch gemauerte Wand.
»Wie lange wird es dauern?« Williams Stimme bebte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er.
»Wünschst du ein Licht?«
»Nein.«
Wieder füllte ein langes Schweigen die Kluft zwischen ihnen, ehe William seine dunkle Tat in herzzerreißender Langsamkeit fortführte. Stein um Stein zog er die Wand hoch. Er war alles, was er kannte. Sein Retter, Vater, Bruder, Freund.
Venedig, Republik Venedig, August 1444.
Wie kann es Sünde sein, wenn es Liebe ist? Diese Frage stellte sich Dante Cadamosto, während er Carmelas Brust im Auf und Ab ihrer schweren Atemzüge beobachtete. Ihm war, als schlage sein Herz freudige Salti, seit er von ihr heruntergerollt war, in das trockene Heu, das an ihren Körpern klebenblieb. Sie griff nach seiner Hand, drückte sie. Ohne Worte bat sie ihn, zu bleiben. Sein Leib war wie betäubt von der Ekstase der ersten Male und gleichzeitig nahm er ihn wahr, wie nie zuvor in seinem Leben. Seine Beine hätten ihn niemals getragen. Die dunkle Schönheit schmiegte sich an ihn. Carmela war klein und schlank. In ihren Augen lag der grüne Schimmer des Meeres. Sie war sanft und gut, in allen Dingen. Seit Wochen stahlen sich die Liebenden kurze Momente. Dass sie sich ihrer Leidenschaft hingaben, war ungeplant geschehen. Obwohl Dante einer anderen Frau versprochen war, galt seine Liebe dem Mädchen an seiner Seite. Ihr hatte er sein Herz geschenkt und sie ihm das ihre. Vom ersten Augenblick an. Und nun waren sie verbunden auf ewig durch den Akt und das Versprechen, das sie sich im Stillen gegeben hatten.
Die Schreie der Möwen über dem Rialto wurden zahlreicher, der Lärm und das Geschwätz der Händler und Kaufleute nahmen zu. Zeit zu gehen. Carmela wehklagte über den Kummer, den ihr der Aufbruch ihres Liebsten bescherte. Sie klammerte sich an Dantes kräftige Hand, um ihn für einen letzten Kuss zu sich zu ziehen.
»Verlass mich nicht«, bat sie, nachdem er sich von ihren Lippen löste. »Wie kann ich einen Tag ohne dich sein? Es ist, als verlange man von mir, ohne Luft zu leben.«
Er küsste sie noch einmal und ein brennendes Verlangen durchfuhr ihn von Kopf bis Fuß. Ein Verlangen, welches er gezwungen war aufzuschieben.
»Heute Abend, Liebste. Erwarte mich hier bei Sonnenuntergang.«
Rasch zog Dante sich an und stieg erst die Holzleiter hinunter, die aus der Dachkammer führte und rannte dann über Treppen und Emporen, bis er auf die Straße gelangte, wo reges Treiben seine Hektik kaschierte. Er war ein junger Mann von neunzehn Jahren. Augen, schwarz wie der Nachthimmel und das dunkle Haar nach hinten gebunden, zog er so manchen Blick auf sich, auf seinem Weg durch die Serenissima. Sein strammer Körperbau erinnerte an die Hafenarbeiter und Zimmerer, doch war er aus adeligem Hause. Dante stellte seinen Reichtum nicht zur Schau, es sei denn, sein Vater zwang ihn dazu. Die engen Kleider und feinen Stoffe, engten ihn ein. Er kam sich dümmlich vor, wenn er bei formellen Anlässen die eigentümlichsten Kopfbedeckungen zu tragen hatte. Ein derartiges Kleidungsstück sollte einzig dem Zweck als Schutz gegen die Sonne dienen. Diese brannte erbarmungslos auf die Stadt nieder. Sie traf den erkalteten Grund nach dem Morgen mit aller Härte. Tücher und Baldachine dienten den Gästen und Bewohnern als solcher, während sie ihren Geschäften nachgingen. Der Gestank der Kanäle passte zu den intriganten Kaufleuten und Gaunern, die sich mit der Arbeit anderer die eigenen Taschen füllten.
Dantes Abwesenheit war längst bemerkt worden. Kaum betrat er den Palazzo durch die herrlichen Tore an der Campiello del Leon Bianco, schallte des Vaters zorniger Ruf aus einer der oberen Kammern. Diener huschten lautlos umher, bedeuteten dem fürstlichen Jüngling ihren Respekt durch kleine Verbeugungen. Dante stieß einen kehligen Seufzer gen Himmel und machte sich auf den Weg, sich den Morgen verderben zu lassen. Über Pergament und ein in Leder gebundenes Buch gebeugt, ließ Andrea Cadamosto seinen Sohn absichtlich in der Tür warten. In einer schwungvollen Bewegung führte er die Feder über ein Dokument und setzte sein Zeichen unter den bedeutsamen Vertrag.
»Vater ...«
»Schweig«, herrschte der Mann ihn an. Andrea war ein gutes Stück kleiner als sein Sohn und in den letzten Jahren rundlich geworden. Weil ihm ein Zeh fehlte, hinkte er ein wenig. Aus diesem Grund zog er es vor, Geschäfte in den Palazzo zu verlegen. Unter den Venezianern hatte er sich einen Namen gemacht. Andrea Cadamosto stand für Verlässlichkeit, Reichtum und Raffinesse. Dante sah darin eher das Glück, dass die Piraten des Mittelmeeres stets die Koggen anderer kaperten. Sein Vater sprach vom Segen Gottes.
»Erspare mir den Klang deiner Stimme!«, wetterte Andrea. Erst jetzt sah er sich nach Dante um, der devot den Blick senkte. Im Inneren tobte er. Der Vater wusste um die Leidenschaft seines Sohnes. Um die Qual, die ihm die bevorstehende Vermählung mit einer Fremden bereitete. Doch Andrea war ein Mann des Geldes. In seiner Welt gab es keinen Platz für die Liebe. Nicht, seit er seine Frau verloren hatte, nachdem sie ihm den Sohn geschenkt hatte. Einen Sohn, der ihm langsam über den Kopf wuchs. Mit Stursinn und Freigeist kämpfte Dante jeden Tag aufs Neue gegen ihn und seine veralteten Vorstellungen an.
»Hast du die Kredite studiert? Die Konten?«
»Nein, Vater. Vergebt mir«, antwortete Dante.
Andrea schnaubte. Er griff zu seinem Stock, mit dessen Hilfe er den Gehfehler weitestgehend zu kaschieren vermochte, und schlug damit zornig mehrmals hintereinander auf die Seiten des Journals, ehe er wortlos die Kammer verließ.
Dante wusste mit derlei Angelegenheiten nichts anzufangen. Selbst, wenn er stundenlang über den Zahlen brütete, wurde er daraus nicht schlau. Er verstand nicht, wie ein Blatt Papier auf das jemand einen beliebigen Betrag schrieb, von größerem Wert sein konnte, als echte Dukaten in einem Lederbeutel. Das Vermögen auf diesen Unterlagen war nicht greifbar. Es war nicht real. Stattdessen erinnerte er sich an das mehr als reale Mädchen, das heute Nacht in seinen Armen gelegen hatte. Er saß an dem Schreibpult und stützte den müden Kopf auf der Hand ab, während seine Gedanken um Carmela kreisten. Die Tochter eines Fischers. Ihre Haut war weich wie Seide. Er roch noch den Duft frischer Orangen, den ihr Haar in seine Nase gezaubert hatte. Ihre Hände hatten ihn berührt, als sei er aus dem zerbrechlichsten Glas gearbeitet. Mit den Fingern war sie die Sehnen seiner Muskeln entlang gestrichen in zarten Bewegungen, die den Schwüngen der Feder seines Vaters Konkurrenz machten. Alleine der Gedanke daran reichte aus, ihn in Erregung zu versetzen. Dante malte sich ein Leben aus. Er würde mit ihr fortgehen. Er war stark und konnte durchaus auf einem Feld arbeiten. Er würde Wein ernten, ein Schiff bauen, Pferde züchten. Alles für sie.
Später am Abend blamierte Dante seinen Vater vor den Augen zweier Geschäftspartner, die einen weiten Weg auf sich genommen hatten, um sich vor Ort über neue Investitionen zu unterhalten, durch sein mangelndes Wissen. Andrea hatte ihnen versichert, dass sein Sohn ihm in puncto Handelsgeschick um nichts nachstehen würde. Doch weder wusste Dante um die komplexen Warenströme, noch um die Waren selbst, welche sich an Bord der drei Galeeren befanden, die der Vater als Geldgeber sein Eigen nannte. Die Preise für katalanische und französische Wolle, das festgelegte Maß für die einzelnen Ballen und die Handelskurse. All diese Dinge hörte Dante zwar nicht zum ersten Mal, aber die Gesetze der Lagunenstadt änderten sich so schnell, dass es schwierig war, auf dem neusten Stand zu sein. Vor allem, wenn man kein Interesse daran hegte. Andrea war derart außer sich, dass er den Jungen zum Teufel schickte. Dante versuchte vergebens, sich zu erklären und zu entschuldigen, aber es half alles nichts. Sein Vater wetterte und tobte ungeniert vor seinen Partnern. Vor einiger Zeit, hätte er ihn noch zur Seite genommen, mittlerweile er war es Leid, ihm unverdiente Vorzüge zu gewähren.
»Achte gut auf deine Hände, denn bei Gott, mein Junge, dein Kopf taugt zu nichts!«, rief Andrea seinem Sohn hinterher, nachdem dieser aus dem Saal gestürmt war.
Dante war zornig und beschämt. Er rannte auf die Straße, den Canale Grande entlang bis zu der Arkade hinter dem mit kleinen Verschlägen gespickten Speicher für Handelswaren. Die schmalen Treppen hinauf, die unter das Dach führten, wo Taubenschlag und Heulager waren. Dort lag das Liebesnest, in dem Dante sich Zuflucht erhoffte. Die Hitze hatte sich den ganzen Tag lang gesammelt und es surrte und brummte im Heu. Mit Zorn im Herzen sank Dante darauf nieder. Er würde hier warten, bis Carmela zu ihm stieß. Dann würde er sie bitten, ihn zu ehelichen, um fortzugehen, mit Gottes Segen. Er brauchte weder Reichtum noch Macht, um das Glück zu finden. Liebe reichte völlig. Andere lebten mit weniger ein gutes Leben.
Die Dunkelheit brach herein und die Geräusche des emsigen Handelsgeschehens unter ihm, wichen der allabendlichen, heiteren Stimmung, die angestimmt wurde von Männergesang, Weibergelächter und aneinanderschlagenden Krügen und Gläsern. Man feierte und tanzte. Liebte und lachte. Nacht für Nacht verwandelten sich die Umschlagplätze in ein gewaltiges Fest der Farben. Künstler, Gaukler und Huren trieben ihr Unwesen in den dunklen Gassen. Mit kaum mehr als ausreichend Dukaten für ein Abendmahl in der Tasche, wirkten sie glücklicher als alle Geschäftsmänner, die Dante jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Carmela ließ auf sich warten. Es wurde später und sowohl der Zorn auf seinen Vater als auch die Hoffnung, seine Geliebte zu sehen schwanden. Einige vertraute Stimmen taten sich aus dem Gewirr hervor, das durch die Arkadenbögen und Gemäuer seinen Weg an Dantes Ohr suchte. Er stieg die Treppen und Leitern hinunter und fand sich im Strom der feiernden Masse ein. Ein letzter, schmachtender Blick zurück zur Arkade, die heute Nacht leer bleiben würde, und er folgte dem außergewöhnlich hellen Gelächter, welches unverkennbar seinem besten Freund Frigo gehörte.
Als er den dunklen Mann mit den öligen, schwarzen Locken eingeholt hatte, packte er ihn an der Schulter und rief seinen Namen. Frederico Basso wandte sich um, während die beiden von den sich bewegenden Menschen weitergeschoben wurden, als trieben sie im Wasser.
»Dante!«, stieß er freudestrahlend aus und zog ihn zu sich. Er rief den vorderen Männern zu, wen er gefunden hatte, und bewundernde Rufe schallten von der Spitze des Zuges zurück. Dann lallte er laut: »Ein Zeichen, mein Lieber! Gottes Segen! Dich schickt der Himmel!«
Er hatte reichlich getrunken und in seinen Augen loderte jenes gefährliche Feuer, das Dante nur allzugut kannte. Frigo war waghalsig. Nur Frauen liebte er mehr als Wein. Immer ein spitzbübisches Lächeln auf den Lippen, die von einer neuen, ausgefuchsten Teufelei kündeten. Der Vater hatte Dante den Umgang mit seinem besten Freund viele Male erfolglos untersagt. Schon in Kindertagen, vermaledeite er den kleinen Jungen, der seinen Sohn zu Albernheiten und gefährlichen Unternehmungen anstachelte. Einmal hatten sie einen Fischerkahn gestohlen und waren weit aufs Meer getrieben. Ein Sonnenbrand war damals ihre geringste Sorge gewesen. Andrea hatte dem kleinen Frigo eine Ohrfeige verpasst, dass ihm Blut ins Auge geschossen war. Fortan hatte der Junge sich gehütet, vor der Tür seines Freundes zu erscheinen, was jedoch keineswegs ein Ende der Bruderschaft bedeutet hatte.
Wozu er ihn diesmal treiben würde, stand in den Sternen. Dante folgte ihm und landete schnell zwischen all den bekannten Gesichtern seiner Freunde, die ihrer zahlreich waren, auf einer Holzbank in einer Gaststätte, die überfüllt und dunkel nach Sünde und Unzucht stank. Katzen saßen auf den Tischen und es landete mehr Wein auf dem Boden, als in den Kelchen und Krügen. Bevor Dante erfragen konnte, worum es bei dem Treffen all dieser Männer ging, sank der Lärmpegel und man zischte sich gegenseitig an, um für Ruhe zu sorgen.
Ein Mann in staatlicher Robe trat im vorderen Bereich auf ein kleines Podest und erhob seine Stimme über die Köpfe seiner Zuhörer. Daneben richtete man provisorisch ein Pult ein, auf dem ein alter Herr Pergament, Feder und Tintenfass bereitstellte. Es stellte sich schnell heraus, dass es ein befugter Redner des Dogen Francesco Foscari war, der junge Männer für Kreuzzüge anheuerte. Es gab kaum eine Zeit, in der die Republik Venedig nicht gegen irgendjemanden in den Krieg zog. Viele Jungen und Männer gingen fort, kehrten aber niemals zurück. Dante gab nichts auf die politischen Angelegenheiten der Obrigkeit. Ein Wesenszug, den er von seinem Vater übernommen hatte, der über den Krieg kaum mehr zu sagen hatte, als dass er schlecht für das Geschäft war. Doch seine Freunde waren Feuer und Flamme für die Thematik, zuhause wartete nur ein wütender Vater und die Frau, die er liebte, hatte ihn ihrer Anwesenheit heute Nacht beraubt. Drei Gründe, die ihn veranlassten, zu bleiben. Und so lauschte er den Worten des Seelenhäschers.
Je länger Dante zwischen seinen begeisterten Freunden saß und zuhörte, desto mehr Wein trank er. Und je mehr Wein er trank, desto mehr Sinn ergab das Geschwätz des Mannes, der spuckte und wetterte, fast mehr als sein Vater es getan hatte. Jener Vater, der Wort um Wort unwichtiger zu werden schien. Welchen Sinn hatte es, seine Konten und Bücher zu lernen, wenn die Bedrohung durch die Türken derart ernst war? Welches Leben strebte er mit seiner Liebsten an, wenn die Belagerungen näher und näher rückten? Es gab mit einem Mal etwas, was wichtiger war, als sein kleines Leben. All seine Freunde würden in den Krieg ziehen. Sie tosten in Beifall und reihten sich ein, um ihr Zeichen zu setzen. Frigo stieß die Faust in die Luft und brüllte aus Leibeskräften, dass er sein Leben für die Heimat geben würde. Für das Land, für die Familie und für Gott den Allmächtigen, der seinen Zorn über die Türken regnen lassen würde, wie über Sodom und Gomorra. An der Menschen Frömmigkeit zu appellieren zeigte Erfolg. Nicht zum ersten Mal. Dante kannte die Geschichten über den Dogen Dandolo, der vor mehr als zweihundert Jahren die größte Kreuzfahrerflotte mobilisiert hatte, die die Welt bis dahin gesehen hatte. Mit fünfundneunzig Jahren war er in den Krieg gezogen. Mit 30 000 Mann an seiner Seite. 60 Kriegsgaleeren, begleitet von Lastseglern und einhundert Frachtschiffen. Es waren wilde Geschichten, die in diesem Moment an Glaubwürdigkeit gewannen.
Dante wurde wieder mitgerissen. Die Masse an Männern, die Begeisterung für die Schlacht zeigte, schob ihn nach vorne an das Pult. Die schwarzen Locken seines Freundes vor Augen. Frigo konnte kaum mehr als seinen Namen schreiben, aber es schien dieser Moment zu sein, für den er es gelernt hatte.
»Dante! Dante! Dante!«, befeuerten die Freunde von allen Seiten, während Dante zur Feder griff. Er zögerte. Man klopfte ihm auf die Schultern und war fröhlich und zuversichtlich, als könnten sie die Osmanen nur durch seine Hilfe zurückschlagen. Das Nächste, was er wusste, war, dass er seinen Namen auf das Pergament geschrieben hatte, und kaum hatte er den Bogen nach dem »O« vollendet, wurde er buchstäblich von den Füßen gerissen.
Jubel und Aufregung erfassten seinen berauschten Verstand. Erst als er kurz vor Sonnenaufgang vor den Toren den Palazzo Cadamosto stand, schwankend und zögernd, wurde ihm bewusst, wofür er sich verpflichtet hatte und dass er sich seinem Vater stellen musste. Er zögerte das Betreten des Hauses hinaus. Doch hinter den Mauern und aus dem Fenster drang das unbeherrschte Schimpfen Andreas, dem eine Kleinigkeit am Frühstück zu stören schien. Dante nahm all seinen Mut zusammen, den er ohnehin für den Krieg brauchte, und trat seinem Vater unter die Augen. Er berichtete unverblümt, dass er ihn verlassen würde, um gegen das Osmanische Reich zu kämpfen.
Gramgebeugt breitete sich eine ungewohnte Milde über des Vaters Züge, als er begriff, welch Geständnis ihm sein Sohn offenbarte. Der Gehstock zitterte unter dem zunehmenden Gewicht und Andrea Cadamosto sank auf den Stuhl nieder, der hinter ihm stand. Die beiden Diener, die dabei waren die Speisen aufzutragen, waren in ihren Bewegungen erstarrt. Die Blicke ungläubig auf die kleine Familie gerichtet. Andrea griff sich an die Brust, aus Angst das Herz würde ihm zerspringen. Schimpfen oder Fluchen wäre Dante lieber gewesen. Einen derartigen Ausdruck hatte er in dem sorgenvollen Gesicht, das ihn großgezogen hatte, niemals gesehen. Mit einem Schlag war er nüchtern und entmutigt.
»Wann läuft die Flotte aus?«, fragte Andrea nach einiger Zeit.
Dante presste schuldbewusst die Lippen aufeinander. Dass sein Freund Frigo seine Finger im Spiel hatte, hatte er absichtlich verschwiegen und war nun doch gezwungen, es zu erzählen.
»Ich schließe mich den burgundischen Truppen an, die den Landweg bestreiten, Vater. Gemeinsam mit Frigo. Du weißt, er scheut die See.«
Andrea legte die Stirn in Falten. »Dann bist sogar im Kriegsgeschick ein Dummkopf? Ein Freund zählt wenig auf dem Schlachtfeld und noch weniger im Tod.«
»Vater, ich ziehe nicht aus, um Euch zu kränken. Es ist mir ernst!«, beteuerte Dante.
»Deine Mutter ließ ihr Leben für das deine und du wirfst es weg!« Die zurückkehrende Strenge verlieh Andrea eine vertraute Erscheinung. Ihn wütend zu sehen, war seltsam beruhigend. Ohne ein weiteres Wort zuzulassen, erklärte der Vater die Unterhaltung für beendet. Dante blieb niedergeschlagen alleine zurück. Auf seinem Weg von der Schenke nach Hause, hatte er über den unwahrscheinlichen Fall nachgedacht, sein Vater könne mit Stolz auf den Entschluss, Gott und die Heimat verteidigen zu wollen, reagieren. Aber Zuspruch und Förderung waren abstrakte Begriffe für Andrea und nicht mehr wert als die heiße Luft, die über der Lagunenstadt hing. Dann hatte Dante in sich den geheimen Wunsch entdeckt, der Vater möge ihm verbieten, fortzugehen und ihn so vom abgelegten Schwur entbinden. Aber weder bekräftigte sein Vater den Entschluss, noch sprach er ihn davon frei.
Die letzten beiden Tage vergingen für Dante mit einer Geschwindigkeit, die er nicht für möglich gehalten hatte. Die Zeitspanne zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang war wie halbiert. Die Diener des Palastes erdrückten ihn mit Freundlichkeit, die ihm das eigenwillige Gefühl eines Abschieds für immer gab. Als wäre es eine absolute Gewissheit, dass er niemals aus diesem Krieg heimkehren würde. Die Verabschiedung von Carmela hatte einen ähnlichen Charakter. In seiner Vorstellung hatte sich das Bild festgesetzt, sie die ganze Nacht zu lieben, ihr das Versprechen abzuluchsen, dass sie auf ihn warten würde, um dann mit einem feurigen Kuss von ihr zu gehen. Aber sie war in Tränen ausgebrochen, hatte ihn einen Schurken geschimpft, weil er ihr Herz und Unschuld geraubt hatte, und war davongestürmt, das Gesicht in den Händen verborgen.
So kam der Augenblick des Aufbruchs. Vater und Sohn standen sich gegenüber unter dem Torbogen des Palazzo. Die bedenkliche Milde beherrschte Andreas Züge. Derselbe Ausdruck, mit dem die Dienerschaft ihr Mitleid über den armen Tor bekundet hatte, der auszog, um den Tod zu finden.
»Dein Vetter wird sich die Finger lecken, nach dem Vermögen unter diesem Dach«, sagte Andrea und seine Mimik verdrückte den Kummer mit eigenartigen Grimassen. Was er meinte, aber niemals ausgesprochen hätte, war, dass es ihm das Herz brach, den einzigen Sohn zu verlieren.
»Ich werde heimkehren, Vater«, verkündete Dante feierlich, auf dass auch die Diener seine Worte hörten. »Und Ihr werdet stolz auf mich sein.«
Andrea schnappte nach Luft und rüttelte sich. Dante sah ihm an, dass er mit den Tränen kämpfte, obwohl er lieber tot umgefallen wäre, als es zuzugeben. Dann trafen sich ihre beiden Blicke und Dante erinnerte sich an das letzte Mal, dass Liebe und Zuneigung auf des Vaters Gesicht gelegen hatten. Es war der Tag gewesen, als man ihn und Frigo auf dem Meer gefunden hatte. Es hatte Ohrfeigen geregnet und dann war da dieser eine, kurze Augenblick, da Andrea ihn an den Schultern gepackt und ihn an sich gedrückt hatte, so fest, dass ihm der Brustkorb schmerzte. Eine Umarmung, die mittlerweile zehn Jahre zurücklag.
»Von allen Dummheiten, die du begangen hast, wird diese deine Letzte sein. Ob du nun nach Hause kommen magst, oder nicht.« Andrea zog sich den Goldring, der das Siegel der Familie Cadamosto trug, vom Finger und überreichte ihn seinem Sohn. Dante nahm ihn ungläubig entgegen. Er lag schwer in der Hand und war begleitet von einer noch viel schwereren Bürde.
»Ich werde ihn heil zurückbringen, Vater«, versprach er und steckte ihn an den kleinen Finger der rechten Hand.
»Es würde mich bereits überraschen, wenn du dich selbst zurückbringst, mein Sohn.«
Eine alte Magd im Hof, die Dante kannte, seit er das Licht der Welt erblickt hatte, wimmerte in ein Taschentuch. Wenigstens ein paar Tränen um sein Leben, dachte Dante und machte sich auf den Weg.
Frigo, der ein Stück entfernt gewartet hatte, begrüßte Dante mit kräftigem Schulterklopfen. Sein Grinsen zog sich von einem zum anderen Ohr. Er konnte das Abenteuer kaum erwarten.
»Als Jungen ziehen wir aus, um als Männer heimzukehren!«, lachte er und drückte Dante an sich. Schulter an Schulter begaben sie sich zur Piazza San Marco, von wo aus die gewaltige Flotte, die der Doge für den Kreuzzug zur Unterstützung der Burgunder bereitstellte, auslief. Begleitet von Fanfaren, Trommlern und einem Chor aus Geistlichen setzten die Galeeren Segel. Die Männer hatten ihre Schilde an die Seiten gehängt und winkten den Frauen und Kindern zu, die sie womöglich für immer verließen. Die Venezianer jubelten überzeugt vom Segen ihrer Unternehmung. Die Zuversicht schenkte auch Dantes Herz ein wenig Ruhe. Trotzdem spielte er ohne Unterlass nervös mit dem Ring um seinen Finger. Er drehte ihn, zupfte daran, strich über die glatte Oberfläche.
Viele bekannte Gesichter waren unter den neuen Rekruten, die sich nach der feierlichen Verabschiedung der Flotte im Norden einfinden sollten, um sich dem Ladtrupp anzuschließen. Dante und Frigo wurden auf ihren Wunsch, der von den Führern belächelt wurde, im selben Zug eingeteilt. Das sumpfige Gebiet am Festland, auf dem die burgundischen Truppen ihr Lager bezogen hatten, war von den Pferden zu einem einzigen Schlick getreten worden. Dante steckte knietief im Schlamm, noch bevor er mit Waffen ausgestattet wurde. Es wurde schnell deutlich, dass der Status, den er in der Stadt genossen hatte, unter diesen Männern nicht Bestand hatte. Die neuen Soldaten hatten sich unterzuordnen. Für ihn und Frigo gab es keine Rösser und was sie an Verpflegung und Ausrüstung erhielten, hatten sie auf ihrem eigenen Rücken zu tragen. Die Wägen und Karren waren den schweren Maschinerien, Zelten und Gütern vorbehalten.
Die ersten Tage waren durchzogen von motivierenden Marschgesängen, die dem Zweck dienten, über Wadenkrämpfe und Scheuerblasen auf den Sohlen hinwegzutäuschen. Die Füße trugen die Soldaten fort von der Heimat, dem Ende des Sommers entgegen. Nach einer Woche hatte die Truppe ein gutes Stück Land zwischen sich und die Lagunenstadt gelegt. Im Gegensatz zu Dante, der im Gang eher schwer und steif war, schoss sein Freund Frigo flink inmitten der Reihen hin und her. Wie ein Schmetterling, der von einer Blume zur nächsten flatterte, auf der Suche nach der besten Blüte. Er scherzte hier und schwatzte dort. Rastlos. Es war Nervosität, wie Dante wusste. Für die anderen wirkte er wie der unermüdliche Kampfgeist, der Gestalt angenommen hatte.
Pünktlich mit dem September setzte das schlechte Wetter ein. Kurz vor der habsburgisch ungarischen Grenze zwang ein Unwetter den Trupp zum Stillstand. Es regnete drei Tage lang fast ohne Unterbrechung. Dazu kam ein kühler Nordostwind, der den durchnässten Kreuzfahrern den letzten Rest Sommer aus den Gliedern trieb. Ein Kommandant, der nicht zum ersten Mal diesen Weg durch das Land bestritt, erkrankte. Was zunächst einer schlichten Erkältung ähnelte, führte zwei Tage später dazu, dass er vom Pferd stürzte und in der darauffolgenden Nacht dem Fieber erlag. Tiefe Bestürzung herrschte unter den Männern. Der alte Franzmann hatte sich großer Beliebtheit erfreut. Sein Tod kam unvorhergesehen und drückte selbst Frigo die Laune. Viele Stunden zog der sonst so zuversichtliche Bursche neben Dante her und sprach kaum ein Wort. Die beiden marschierten am Ende des Zugs und fielen weiter zurück. Der Boden war vom Regen und den tausend Hufen und Füßen aufgeweicht. Man rief Dante aufgrund seiner kräftigen Statur an die Wägen, wo er helfen sollte, sie zu schieben, wenn sie im Morast versanken. Er und Frigo stemmten sich gegen die hinteren Latten. Es war rutschig und Dante hingen die schwarzen Strähnen in die Augen. Frigos Locken klebten an seinen Wagen und der Regen zog an ihnen seine Bahnen hinunter. Von weiter vorne drangen Rufe nach hinten. Antworten wurden zurückgebrüllt. Den Goldring vor Augen, der an der schmutzigen Hand wie ein Mahnmal saß, zweifelte Dante an der Sinnhaftigkeit dieser Unternehmung. Er hätte auf einem der Schiffe fahren sollen. Ein zorniger Blick ging an den Freund, der die Zähne zusammenbiss, sein ganzes geringes Gewicht in den Druck legte und dennoch ein mildes Lächeln zwischen seinen geröteten Backen für Dante übrig hatte. Er wusste, dass er Schuld daran trug, dass sie hier im Schlamm steckten. Als Jungen das Boot zu stehlen war seine Idee gewesen und dass er seither das Meer mehr scheute, als der Teufel das Weihwasser, war das Resultat daraus. Und so standen sie hier. Seite an Seite. Die Hände auf sprödem Holz, die Stiefel gefüllt mit Wasser, Schweiß und Schlamm. Vor sich eine Strecke, die lang und beschwerlich war und an deren Ende keine Rast, sondern der Krieg wartete.
Oft dachte Dante in solchen Momenten an Carmela und ihr Unglück, in das er sie gestürzt hatte. Er erinnerte sich an ihren warmen Leib und die Liebe, die sie verbunden hatte. An die sinnliche Vereinigung. Welch Dummheit riss ihn zu solchem Leichtsinn hin? Er schob und kämpfte sich vorwärts. Jeder Muskel an seinem Körper schmerzte. Ein kolossaler Donner ließ den Trupp zusammenfahren, als habe Gott selbst ein Machtwort über sie gesprochen. Dante, Frigo und zwei weitere Männer schoben den Wagen noch ein Stück, ehe sie bemerkten, dass der Zug angehalten hatte. Gemurmel übertönte den prasselnden Regen. Spürbare Unruhe drang aus den vorderen Reihen.
»Was ist geschehen?«, rief Dante einem Freund zu, der mehrere Meter vor ihm einen Karren zog. Es war Bernardo, Frigos Vetter, der im selben Alter war. Er ließ die Griffe des Karrens in den Dreck fallen und kam an Dantes Seite. Er berichtete von zwei gestürzten Männern, die allem Anschein nach unter ähnlichen Symptomen wie der Verstorbene litten und zusammengebrochen waren. Ein gleißender Blitz, der von einem Donnergrollen begleitet wurde, veranlasste die Führer, Quartier für die Nacht aufzuschlagen. Fernab jeglicher Zivilisation wurden Zelte errichtet und die Kranken versorgt. Sie überlebten zwar die Nacht, waren allerdings zu schwach, um zu laufen. Man verlud sie auf einen der Wägen und betete für ihre Genesung.
Frigo war das Lachen vergangen. Er trug dasselbe lange Gesicht, wie alle Männer. Er war zu einem schweigsamen Glied der Kette geworden, setzte einen Fuß vor den anderen und wurde zunehmend blasser. Aus seinen Augen war der Glanz der Begeisterung verschwunden.
Der Regen gönnte dem Trupp eine Pause und es ging ein wenig schneller voran, was nur verdeutlichte, wie schwer Frigo damit zu kämpfen hatte, schrittzuhalten. Er stolperte über einen Stein und stürzte auf den Weg, ohne sich abzufangen. Er blieb am Boden. Dante eilte ihm zu Hilfe, mit einem tröstlichen Wort auf den Lippen. Unter diesen Umständen war es an ihm, die Laune seines Freundes zu heben. Er lächelte und griff nach Frigos Händen. Kaum berührte er die glühend heiße Haut, wusste er, was der Grund für die Wesensveränderung war.
»Wie lange ergeht es dir schon schlecht? Sprich, mein Freund!« Dante zog ihn hoch. Aus eigener Kraft hätte der Junge es nicht geschafft. »Bernardo!«, rief Dante laut. »Bernardo! Rasch!«
Die Umstehenden, von den Rufen aufgescheuchten Männer bildeten einen Kreis, der sicheren Abstand zum Erkrankten bot, den nur der Vetter durchbrach. Ohne zu überlegen, packte dieser Frigo an der anderen Seite und gemeinsam stellten sie ihn auf die wackeligen Beine. Schwerer als der schmächtige Körper bedrückte Dante die Sorge, den Freund könne ein ähnliches Schicksal wie die anderen ereilen. Auf diese Weise stützten die beiden den Kranken eine Zeit lang, bis die Kunde über seinen Zustand die vorderen Kommandanten erreicht hatte. Sie verfügten, man solle ihn zu den übrigen Erkrankten legen und auf Abstand achten. Dante und Bernardo sonderte man ein wenig ab. Die übliche Vorgehensweise, um ein Ausbreiten der Seuche zu verhindern.
Ohne Erfolg. In den beiden darauffolgenden Tagen forderte das Fieber sein nächstes Opfer und drei weitere Soldaten wurden davon befallen. Darunter Bernardo, den es glücklicherweise nicht so schwer traf, wie seinen Vetter. Dennoch wurde er dazu angehalten, sich bei den Kranken aufzuhalten und den Kontakt zu anderen zu meiden.
In der Nacht auf den fünfzehnten September starben drei Männer. Als die Nachricht sich durch das Lager verbreitete, erfasste Dante eine Panik, die ihm die Kräfte zurück in die müden Glieder treib. Er stürmte in das dürftig aufgeschlagene Lazarett, schlug die Plane beiseite und erspähte seinen Freund auf einer der Baren. Er sah, wie der flache Brustkorb sich hob, und atmete erleichtert aus.
»Dante, bist du von Sinnen? Verschwinde!«, schimpfte Bernardo. Sein rundes Gesicht wurde von einer Blässe beherrscht, die alles Südländische aus seinem Antlitz verjagt hatte. Sein Blick trüb und die Stimme heiser. Er kümmerte sich um seine Leidensgenossen und bedeckte in diesem Augenblick einen Toten mit einem Stück Stoff. Ein an der Naht aufgetrennter Sack, der als Leichentuch genügen musste. Dante dachte nicht im Traum daran, zu gehen, ohne seinem Freund die Liebe auszudrücken, die er für ihn im Herzen empfand.
»Frigo, ich bin es«, sagte er und ging neben der Schlafstelle in die Knie. Er legte ihm sacht die Hand auf die glühende Stirn, die nass vom Schweiß war. Keine Anzeichen deuteten darauf hin, dass er die Stimme erkannte, geschweige denn hörte. Tiefer Kummer erfasste Dantes Gemüt. Er berührte ihn fester, wollte, dass er wusste, dass er in dieser schweren Stunde nicht alleine war.
»Frigo. Mein treuer Freund. Es sieht dir gar nicht ähnlich, aufzugeben. Dein Krieg wartet. Du musst an Kraft gewinnen, um gegen die Türken zu kämpfen. Was wird nun aus dem Heiligen Land, wenn du dich so zierst?« Er lächelte ihm zu, ohne dass Frigo es sah. Aus den geschlossenen Augen rann eine zähe Flüssigkeit. Frigos Lippen waren spröde und aufgerissen, kräuselten sich über den Zähnen und eine Fäulnis strömte Dante entgegen, die vom nahenden Ableben kündete. In kürzester Zeit war aus dem Hoffnungsträger ein desolater Schatten geworden, den kaum mehr als ein dünner Schleier von Gott trennte. Dante wandte sich hilfesuchend an Bernardo, der traurig den Kopf schüttelte. Auch er sah das Ende unweigerlich nahen.
London, Großbritannien. September, 2018.
»Wir sind total ausgebucht!«
Grace Huntington zog die Kreide fest über die Tafel, um dicke und durchgängige Buchstaben zu schreiben. Sie hatte den Slogan vom Instagramprofil einer Fremden. Für gewöhnlich bediente sie sich nicht auf diese Art von den Ideen anderer Leute, aber in diesem Fall war es zu passend. Zumindest, wenn man es ironisch betrachtete. In ihrem Buchladen herrschte in der Regel gähnende Leere.
»Denkst du, das wird helfen?«, rief sie sich über die Schulter.
»An den Tagen, an denen die Fenster mal nicht beschlagen, vielleicht«, antwortete Kayleigh Bradshaw. Sie lehnte am Tresen in der Mitte des Geschäfts. Die Beine über Kreuz und die Arme verschränkt. Der schmale Riemen ihrer schwarzen Tasche trennte ihre Brüste voneinander und definierte sie unter dem Longsleeve, welches über ihrem Bauchnabel aufhörte, wo der Riemen mit dem golden schimmernden Dunkelbraun ihrer Haut eine Einheit bildete. Alles an ihr verriet die Langeweile, die sie aus Liebe zur Freundin für sich behielt.
»Wenn der Laden so leer ist, ist er echt unheimlich«, sagte sie stattdessen. »Dann kommen mir immer die alten Geistergeschichten in den Sinn, die dein Opa früher erzählt hat.«
»Ich bin gleich fertig«, murmelte Grace und zog das Ausrufezeichen nochmal nach.
»Das nennst du fertig? Willst du dich nicht umziehen?«
Die hochgezogenen Augenbrauen waren deutlich herauszuhören. Grace lehnte die Tafel mit der Aufschrift nach außen gerichtet in den Rahmen des großen Sprossenschaufensters, dessen Fensterbrett gleichzeitig als Sitzbank diente oder – in Graces Fall – als Ausstellungsplatz. Zuletzt rückte sie die Bestseller wieder an ihren Platz und rappelte sich hoch. Ein letzter Blick ging zur Tür und der rostigen Glocke darüber, die in der vergangenen Stunde nicht ein einziges Mal geklingelt hatte, dann griff Grace sich die Schlüssel und nickte ihrer Freundin zu.
»Du hast recht«, sagte sie und besah sich ihre staubige Jeans, »ich zieh mich rasch um.«
Kayleigh lächelte triumphierend und drehte sich auf dem Absatz, um Grace durch den schweren, roten Samtvorhang zu folgen, der den Verkaufsladen vom hinteren Treppenhaus trennte. Während Grace zwei Stufen auf einmal nahm, schlenderte ihre Freundin genüsslich hinterher. Einen trägen Schritt nach dem anderen. Dass das Licht flackerte und die Dielen knarzten, konnte man dem Gebäude verzeihen. Bedenklich waren die alten Leitungen und die Heizung, die seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erneuert worden waren. Doch selbst das vergaß Grace, wenn sie ihre Wohnung über dem Laden betrat. Die hohe Decke, die beiden riesigen Fenster und die Einrichtung, die sie mit Liebe zusammengetragen und getauscht hatte. Es gab früher drei, heute zwei Wohnräume. Damals waren es ein großes Schlafzimmer und ein kleineres, in dem ihre Urgroßmutter gelebt hatte, bis sie vor fünfzehn Jahren in ein Altersheim zog. Von da an hatte ihr Großvater darin geschlafen, der sich vorher mit dem Sofa zufriedengegeben hatte. Heute war der Raum kaum mehr als ein Schrank und Abstellplatz für Staubsauger, Bügelbrett und Kisten voll mit Gregorys Unterlagen und Erinnerungsstücken, von denen sie sich zu trennen, sie nicht übers Herz brachte. Das Badezimmer war in den Sechzigern saniert worden und seither unverändert geblieben.
Grace streifte sich auf Höhe des Sofas die Jeans von der schmalen Hüfte und verlor sie im Türrahmen zum Schlafzimmer. Während sie sich aus der biederen Strickweste schälte, hörte sie Kayleigh die Wohnung betreten. Wenn man auf die erste Diele nach der Treppe trat, ächzte der ganze Rahmen. Die perfekte Alarmanlage, dachte Grace und schob mehrere Kleiderbügel beiseite, um ein passendes Outfit für den Mädelsabend auszusuchen.
»Ich nehm mir ein Glas Wasser!«, rief Kayleigh und Grace tendierte zu einem dunkelblauen Cocktailkleid, nahm dann im letzten Moment doch einen grauen Rock und eine Bluse. Das Kleid hatte sie in die engere Auswahl für die Charity Gala nächste Woche genommen und mit dem Abend mit Kayleigh ging die berechtigte Sorge einher, Flecken abzubekommen.
»Was hast du denn mit Abrahms und Mayer zu schaffen?«, schallte es aus der Küche.
»Was?« Grace runzelte die Stirn, bis ihr einfiel, wie sie am Morgen die Post neben der Spüle abgelegt hatte.
»Du steckst doch nicht in Schwierigkeiten, oder?«
»Nein, das ist nur wieder ein Angebot. Die regeln das über diese Schickimicki Anwaltskanzlei.«
Grace stopfte das untere Ende der Bluse in den Rock und packte sich ein Paar Pomps, die zu der einzigen teuren Handtasche passten, die sie besaß. Ein letzter, prüfender Blick in den Spiegel. Sie nahm die Spange ab, die ihr nussbraunes, glattes Haar im Zaum hielt und schüttelte es mit einer kurzen, wilden Verbeugung auf. Grace hatte den typischen englischen Teint und auf der zierlichen Nase ein paar Sommersprossen. Ihre Augen waren sich nie sicher, welche Farbe sie hatten. Sie wirkten hin und wieder grün, dann grau-blau bis hin zu merkwürdigen Türkistönen, je nach Lichteinfall. Ihr Make-up war trotz des langen Tages in akzeptablem Zustand.
Als sie aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer trat, änderte sich der besorgte Blick ihrer Freundin zu einem stolzen Grinsen.
»Viel besser!«, sagte Kayleigh und hopste bereit zum Aufbruch in Graces Richtung. Sie strich über den seidenen Stoff der burgunderfarbenen Bluse und schmunzelte. »Das heißt, wir können los?«
»Oh ja!«, bestätigte Grace, warf Smartphone, Geldbörse und Schlüssel in die Tasche und ließ Kayleigh den Vortritt. Sie schob ihren schlanken, kurvigen Körper an ihr vorbei und kicherte dabei aufgeregt.
Grace schloss die Wohnungstür immer zusätzlich ab, denn sie vertraute weder der modrigen Ladentür noch dem eher dekorativen gusseisernen Tor, welches als ergänzende Sicherheitsmaßnahme diente. Kayleigh bewegte sich schneller, da sie zu guter Letzt ihr Ziel verfolgten. Sie schritt flink durch den Buchladen, ohne sich umzusehen. Grace schaffte das nicht. Der Brief neben der Spüle, den sie nicht geöffnet hatte, ließ sie nicht los. Wenn es draußen auf der Straße dunkel war und hier drinnen die alten Lampenschirme für gedämpftes Licht sorgten, wirkte es immer extra behaglich. Wie damals. Sie sah ihren Großvater förmlich vor sich. Einen dicken Wälzer auf dem Schoß, von oben herab beleuchtet und das Gesicht mit jeder Stimme, die er mimte anders verzogen. Ein großer Geschichtenerzähler. Es waren diese Geschichten, die das kleine Mädchen auf dem Boden, das mit den Beinen wippte und aufgeregt dem nächsten Kapitel entgegenfieberte, vergessen ließen, dass es aus einem anderen Leben gerissen worden war. Ohne Mutter, ohne Vater, aber nicht ohne Liebe.
»Komm, Liebes.«
Der Klang des Glöckchens ließ Grace aufhorchen, ausgelöst durch Kayleigh, die die Tür geöffnet hatte und voller Erwartung auf der Schwelle stand. Hinter ihr tobte das Leben der Londoner Stadt. Unbeirrt löste eine Silhouette die nächste ab. Bei geschlossener Tür war es ein Leichtes, diese hektische Zeit auszublenden. Aber heute Abend wollte Grace Teil davon sein. Nicht, weil sie es brauchte, sondern weil sie es versprochen hatte.
Die beiden traten nach draußen auf die gepflasterte Straße und Grace schloss die Tür ab und schob das Tor zu. Der Lärm, den die rostigen Scharniere verursachten, wurde vom Trubel verschluckt. Kayleigh griff sich den Arm der Freundin und hakte sich ein. Sie strahlte und ihre Motivation für den bevorstehenden Abend war zum Glück ansteckend.
»Also«, fing sie an und gab das Tempo vor, während sie sich dem Strom von einheimischen Nachtschwärmern und Touristen einfügten, »ich habe den perfekten Plan. Ein Arbeitskollege kennt da so ein neues Lokal in Shoreditch. Sie bieten dort ausschließlich vegane Küche an, aber du wirst nicht enttäuscht sein. Sieh dir nur die Bewertungen an!«
Sie hielt Grace ihr iPhone vor die Nase und scrollte mit dem Daumen die Seite runter. Grace musste sich darauf konzentrieren, im Gleichschritt zu bleiben und nicht zwischen den unebenen Pflastersteinen umzuknicken. Kayleigh schwärmte für den Hipster Lifestyle. Zehn Jahre früher hätte Grace vermutlich mitgemacht, aber ihr Leben hatte einen anderen, ernsteren Weg eingeschlagen. Sie fühlte sich zu alt für solchen Unsinn, obwohl sie erst achtundzwanzig war. Sie aß ihr Essen lieber, als dass sie Fotos und Storys davon auf Instagram und Snapchat postete.
Als sie auf dem Weg mit der Rolltreppe hinunter zur Tottenham Court Road Station waren, um die Central Line zu nehmen, erzählte Kayleigh von dem Freund, der ihr das Restaurant empfohlen hatte. Grace amüsierte sich köstlich bei der Art und Weise, wie ihr die Geschichte bis ins peinlichste Detail präsentiert wurde.
»Dann willst du in Wahrheit wegen dem Kellner dort hin?«, fragte sie.
»Natürlich! Und du wirst meine Flügelfrau sein.«
Grace versuchte, einen mitleidvollen Gesichtsausdruck aufzusetzen.
»Sieh mich bloß nicht so an, das bist du mir schuldig!«
»Was? Weswegen?«, prustete Grace belustigt und Kayleigh sah an ihr herunter, als sie an der Sicherheitslinie hielten, während der warme Wind, den die Tube vor sich durch den Tunnel schob, von ihrer Ankunft kündete.
»Na darum.« Ihre Hand gestikulierte ein wenig und Grace verzog das Gesicht. Kayleigh seufzte. »Na, du hast doch kaum noch Zeit für mich. Mit deinem perfekten kleinen Laden und deinem perfekten kleinen Leben und deinem perfekten Mr Perfect.«
Sie zog eine Schnute und klimperte mit ihren Wimpern. Grace lachte und rempelte sie freundschaftlich an.
»Jetzt bin ich ja hier, Kay.«
Aus dem Schmollmund wurde ein Lächeln und es folgte eine Umarmung. Die Freundin neigte zu gnadenloser Ehrlichkeit. Manchmal unüberlegt. Ihre größte Angst bestand, wie sie selbst zugab darin, dass Grace von ihrem Freund in ein vollwertiges Mitglied der Spießergesellschaft verwandelt wurde.
»Ich weiß«, sagte Kayleigh laut, um den einfahrenden Zug zu übertönen. »Und es wird super, du wirst schon sehen! Da kannst du mit deinen Schnöselveranstaltungen baden gehen. Wer braucht Champagner, wenn es Tequila gibt?« Ein ehrliches Gelächter gellte durch die Tube und alles war okay.
Das Lokal war keine große Überraschung. Es sah genauso aus, wie auf den Fotos der Website, die Kayleigh Grace unterwegs gezeigt hatte. Das Mobiliar war bunt zusammengetragen und von der Decke der ehemaligen Lagerhalle hingen unterschiedliche Lampen. Von einer schlichten, nackten Glühbirne bis zum aufwändig gearbeiteten Kronleuchter war alles dabei. Die Rohre des Belüftungssystems wirkten wie aufpoliert oder erneuert. Kayleigh meinte, die absichtliche Verwendung konträrer Einrichtungsgegenstände stünde als Sinnbild für die heutige Gesellschaft, in der jeder seinen Platz finden kann. Grace widersprach nicht, hielt es aber für eine elegante Ausrede, die Flohmarktmöbel als hip zu vermarkten.
Die Kichererbsenfalafel an Pastinakenmousseline waren ausgezeichnet und die Bedienung verdiente jeden Stern. Immer, wenn der Kellner ihre Bestellungen brachte oder sich nach ihrer Zufriedenheit erkundigte, folgte ein kaum zu hörender Kommentar darüber, wie gern Kayleigh in die schwarzen Pobacken kneifen würde. Dabei biss sie sich genüsslich auf die Lippen und starrte ihm hinterher.
»Weißt du, umgekehrt wäre das sexuelle Belästigung«, flüsterte Grace leise über den Rand ihres Telefons, während sie versuchte, noch einmal den QR-Code für die Speisekarte zu scannen, um einen Blick auf die Desserts zu werfen.
»Es lebe die Gleichberechtigung, Liebes«, knurrte sie, ohne sich abzuwenden.
Obwohl sich mehrere Gelegenheiten geboten hätten, ihn anzusprechen, ließ Kayleigh es bleiben. Der Abend war lustig und die beiden Freundinnen genossen es, unter sich zu sein. Grace war froh, nicht im letzten Moment abgesagt zu haben. Es war eine willkommene Abwechslung zu den Monatsabschlüssen und Bestelllisten.
Nach dem Essen bestand Kayleigh trotz des Einwandes ihrer Freundin darauf, ein Taxi zu nehmen, um in Soho den Abend ausklingen zu lassen. Dieses angesagte Viertel der Londoner City war bunt, laut und schrill. Von der Carnaby Street mit dem ausgefallenen Glitzerdekor bis runter zum Sondheim-Theater schob sich das feiernde Volk durch die Gassen. Wenn die Pubs ihre Gäste mit Pappbechern zu späterer Stunde auf die Straße setzten, öffneten die angesagten Clubs ihre Tore. Die beiden Freundinnen zwängten sich an einen klebrigen Stehtisch in der Mitte des Pubs »Shakespeares Head« und Kayleigh nahm den abenteuerlichen Weg zur Bar auf sich, um Cocktails zu bestellen.
»Keinen Alkohol mehr, Kay!«, reif Grace ihr vergeblich hinterher. Einzig das krause Pfefferkornhaar war in der Masse auszumachen. Ihr Kopf bewegte sich zur lauten Musik hin und her. Nach ein paar Minuten kehrte sie mit zwei Gläsern zurück.
»Aber heute ist doch unser Abend«, antwortete sie, nachdem Grace ihre Bitte nach Alkoholfreiem wiederholte. »Mr Perfect ist das ganze Wochenende weg. Bis ihr es wieder versucht, hast du alles längst abgebaut.«
Grace rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf, ehe sie ihre Lippen an den Strohhalm führte.
»Und überhaupt«, fuhr Kayleigh fort, »wenn es immer noch nicht geklappt hat, dann ist es unter Umständen ein Zeichen.«
»Ein Zeichen wofür?«
»Dass Mr Perfect erst mal einen fetten Klunker an diesen dürren Finger stecken sollte.«
»Hör bitte auf, ihn so zu nennen«, bat Grace. »Du weißt, dass er nichts davon hält. Können wir das Thema wechseln?«
»Wahrscheinlich, weil er schon drei andere Frauen hat, zu denen er immer reist. Dann nennt er es Dienstreise.« Sie setzte das Wort mit spöttischer Betonung unter angedeutete Anführungszeichen. »Aber wie du willst. Tut mir leid«, sagte Kayleigh. »War ein dummer Scherz. Ich habs nicht so gemeint. Ich beneide dich nur, das ist alles.«
Sie tat es mit einer raschen Bewegung ihrer Hand ab.
»Andrew ist nicht perfekt und ich bin es auch nicht«, sagte Grace. Es kränkte sie, dass ihre beste Freundin, dem Mann an ihrer Seite nicht das gleiche Maß an Vertrauen entgegenbringen konnte, wie sie.
»Ihr seht aber perfekt aus. Und wenn du schwanger wirst, ist das Baby sicher der Prototyp einer neuen Rasse. Wenn er dich auf der Spendengala vorzeigt, wird die Kasse klingeln.« Kay versuchte, es wieder gutzumachen.
Grace lachte und verschluckte sich beinahe an einer Nuss. Die unangenehme Kluft, die für ein paar Augenblicke über ihnen geschwebt war, verschwand und es entstanden allmählich wieder ungezwungene Gespräche. Grace genoss ihren Cosmopolitan ohne schlechtes Gewissen und um ein Uhr morgens verließen die beiden gackernd vor Lachen die Bar und machten sich auf den Weg zur Marshall Street. Kayleigh hatte drei Drinks mehr intus und torkelte ein wenig.
»Was gäb ich jetzt für den Arsch des Kellners!«, rief sie in die Nacht und kicherte.
»Du musst mit mir vorliebnehmen, Kay. Aber mein Hintern ist weder schwarz noch knackig.«
Kayleigh hielt an. Sie betrachtete ihre Freundin eindringlich, ehe sie ihr mitteilte, dass er mindestens so knackig war, wie der des Mannes, der sie bedient hatte. Sie gab ihr einen Klaps und warf ihren Arm um Graces Schulter. Wieder ein paar Schritte weiter eröffnete Kayleigh ihr, dass sie immer fand, der größte Vorteil in ihrer Freundschaft bestünde in der günstigen Lage ihres Hauses. Niemand, den sie kannte, könne es sich leisten mitten, in der Stadt zu wohnen.
»Ich würde niemals verkaufen! Niemals!«, sie zog das Wort in die Länge und schnippte energisch.
»Himmel Kay, die frische Luft haut dich ja fast um. Du hattest echt einen zu viel«, stellte Grace fest, als Kayleigh beim Zwinkern vergaß, die Augen wieder zu öffnen.
Zum Glück waren sie da. Das schmale Haus hieß sie von weitem willkommen. Die viktorianische Architektur stach im Zwielicht der Straßenlaternen aus all den modernisierten Läden rundherum heraus. Die kleine abgetretene Treppe, die Täfelung aus Ebenholz und der in goldenen Lettern geschriebene Name ihrer Familie, kündigten ein Zuhause an. Huntington Bookstore, est. 1919. Diese Worte zu lesen reichte aus, um ihr Herz zu erwärmen. Es war eine Bruchbude. Das und ein Ort voller Erinnerungen und Zauber. Sie lebte gerne hier.
Kayleighs Stöhnen riss Grace aus den Gedanken. Sie kramte eilig nach dem Schlüssel und schloss Tor und Tür erst auf und anschließend wieder zu, nachdem sie ihre Saufkumpanin sicher hereingeführt hatte. Diese rümpfte jetzt die Nase und machte sich auf den Weg nach oben, wo sie erfolglos am Türknauf rüttelte, bis Grace ihr die Tür öffnete.
Kaum in der Wohnung ließ sich die Betrunkene sofort auf das Sofa plumpsen. Sie streifte Tasche und Schuhe ab und Grace warf ihr amüsiert eine Decke über. Und während sie das Wasser in der Küche ein paar Sekunden laufen ließ, bis es die rostige Farbe verlor, starrte sie auf den Brief, der heute schon einmal Thema gewesen war.
An Grace Huntington
36 Marshall Street
Carnaby, London W1F 9BA
Absender: Abrahms und Mayer. Rechtsanwaltskanzlei.
Mit einem Priority Sticker versehen. Grace füllte ein Glas mit Wasser und drehte den Hahn zu. Er würde immer weiter tropfen, außer man tippte ihn mehrmals hintereinander fest an. Ein paar Sekunden später hörte man, wie sich die Pumpe abschaltete.
Danach ging Grace ins Schlafzimmer. Um das Licht im Wohnzimmer auszuschalten war es notwendig, den Lichtschalter beim Betätigen ein bisschen hineindrücken und um die Türe zu schließen, musste man sie ein wenig anheben, weil der Boden verzogen war. All das hatte Grace nie gestört, bis die Briefe von Abrahms und Mayer in ihrem Postkasten landeten. Den Ersten hatte sie als lächerlich und aufdringlich empfunden. Mit jedem Schreiben, das sie erreichte, fielen ihr mehr lästige Kleinigkeiten auf. Trotz alledem würde sie nicht verkaufen. Sie durfte es nicht. Es war ein uraltes Versprechen. Eine Bürde, die von Generation zu Generation weitergeben werden musste.
Grace erwachte am nächsten Morgen und nahm zwei Dinge als erstes wahr: den pampigen Belag auf ihrer Zunge und den Duft von frisch aufgegossenem Darjeeling. Kaum zu glauben, dass Kayleigh es vor ihr geschafft hatte, aufzustehen. Grace rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich auf. Es war nie besonders hell in der Wohnung. Selbst an sonnigen Tagen gab es einzig am Vormittag zwei Stunden, an denen direktes Sonnenlicht es bis zum Sofa schaffte. Das Schlafzimmerfenster war nach Osten gerichtet, wo ein kleiner Innenhof lag, dem die Sonne von den umliegenden, höheren Gebäuden verwehrt blieb. Heute schien es ein verregneter Sonntag zu werden. Die Doppelglasfenster waren beschlagen und es wirkte trüb und düster.
»Guten Morgen, ich hab dir schon eine Tasse hingestellt«, sagte Kayleigh. Sie saß am Tisch. Mit der einen Hand hielt sie ihre Tasse, die andere stützte ihren Kopf, der an diesem Morgen todsicher schwer war. Sie stieß ein langes Stöhnen aus und lächelte matt.
»Hast du gut geschlafen?«, wollte Grace wissen.
»Ein bisschen tiefer und ich wär tot gewesen«, scherzte Kayleigh.
»Warum bist du dann schon wach?«
»Dein Handy hat pausenlos vibriert.«
Grace sah sich um. Es steckte noch in ihrer Tasche. Da die Wohnung klein war, brauchte sie sich nur nach hinten zu strecken, um bis zum Sofa zu gelangen. Grace wunderte sich über einen derart frühen Anrufer, noch dazu sonntags. Andrew wusste, dass sie ausgegangen war, und geschäftlich würde niemand heute stören. Das gehörte sich nicht.
»Wenn es Sex-SMS sind, will ich es wissen. Dann muss ich nämlich duschen gehen.«
»Nein.« Grace war augenblicklich beunruhigt. »Das Shelbourne-Seniorenheim hat angerufen. Bitte entschuldige mich.«
Sie hielt sich das Handy ans Ohr und ging zurück ins Schlafzimmer. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in ihr aus.
»Shelbourne Senior Living Ltd and Nursery Facilities, guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine freundliche Frauenstimme am anderen Ende.
Grace brauchte einen Augenblick. Die Worte schienen ihr im Halse stecken zu bleiben. »Guten Morgen, hier ist Grace Huntington. Sie haben versucht, mich zu erreichen.«
Die Frau wiederholte murmelnd den Namen und meinte dann: »Das stimmt. Wir müssen Sie leider darüber in Kenntnis setzen, dass sich der Gesundheitszustand Ihrer Großmutter zunehmend verschlechtert hat.«
»Sie ist meine Urgroßmutter«, korrigierte Grace und wagte nicht, die Frage zu stellen.
»Entschuldigung. Natürlich.«
»Und ist sie ...?« Graces Stimme zitterte.
»Wir sahen uns leider gezwungen, zu handeln. Sie wurde in der Nacht in das St. Thomas Hospital eingeliefert und wird dort stationär versorgt.«
Sie lebte. Das war alles, was zählte. Grace bedankte sich und atmete tief durch. Sie rechnete längst damit, dass der Anruf kam. Dass sie nicht dafür bereit war, diese Nachricht zu erhalten, wusste sie spätestens seit heute.
»Grace?«, fragte Kayleigh zögerlich, als sie ihre entgeistert dreinblickende Freundin ins Zimmer zurückkommen sah.
»Sie haben sie ins Krankenhaus gebracht. Ich sollte zu ihr.«
Selten war Grace der Weg ins Krankenhaus derart weit vorgekommen. Ihre Urgroßmutter war nicht zum ersten Mal dort, aber womöglich zum letzten Mal. Mit hundertundzwei war sie seit Jahren ans Bett gefesselt. Für die Ärzte grenzte es immer wieder an ein Wunder, wenn sie die Entlassungspapiere unterzeichneten. Die Tage, an denen sie verwirrt war, häuften sich von einem Monat zum nächsten. Das schwierige Leben, das hinter ihr lag, hatte seine Spuren hinterlassen. Von all ihren Nachkommen war Grace die Einzige, die übrig war. Alle anderen hatte sie zu Grabe getragen.
Sie eilte zur Tottenham Court Station, um mit der Northern Line nach Westminster zu fahren. Mit nervösen Fingern tippte sie eine emotionale Nachricht an Andrew, starrte auf das Display und wünschte sich die Farbe Blau an die kleinen grauen Häkchen. Auch in der U-Bahn war Grace abgelenkt und geistig abwesend. Ihr Blick schweifte ins Unbekannte ab, während sie sich die unterschiedlichsten Szenarien ausmalte.
Das Krankenhaus empfing sie mit einer Duftwolke aus Desinfektionsmittel und Bodenpolitur mit Frischehauch. Neben dem Empfangsschalter stand ein Frisch-gewischt-Schild. Grace war außer Atem und brauchte eine Minute, um sich zu orientieren. Sie wusste, wohin man die Palliativpatienten brachte und musste nicht nach dem Weg fragen, bis sie die Station erreicht hatte. Zur gleichen Zeit, in der sie aus dem Fahrstuhl stieg, las sie Andrews Antwort.
Ich wünschte, ich könnte dir jetzt beistehen. Kann ich etwas tun? A.
Seine Worte waren wie Balsam. Hätte sie ihn darum gebeten, wäre er gekommen. Aber Grace reichte es, zu wissen, dass er in Gedanken bei ihr war. Sie antwortete auf seine Frage mit »Nein« und setzte ein »Ich liebe dich« dazu.
Ich liebe dich mehr.
Sie las es mehrmals, sammelte dann ihren Mut und erkundigte sich beim Stationsstützpunkt nach Elizabeth Huntington. Sie war der Meinung, auf jede Antwort gefasst zu sein.
»Sie sind Grace, nicht wahr? Sie hat schon nach Ihnen gefragt«, sagte der Mann und bewies ihr das Gegenteil.
»Sie spricht?«, fragte Grace verwundert. Erleichterung schwappte über ihr schweres Herz.
»Ja, ihr Zustand hat sich vor etwa einer Stunde gebessert. Sie liegt gleich im ersten Zimmer dort hinten rechts.«
Er deutete mit seinem massigen Arm in die Richtung, die Grace noch im selben Moment einschlug. Vor der Tür hielt sie inne. Sie strich sich die Strähnen aus dem Gesicht und kontrollierte ihre Atmung. Ihre Urgroßmutter aufzuregen, war das Letzte, was sie wollte. Dann klopfte sie und betrat langsam das Krankenzimmer.
Eines der beiden Betten im Raum war leer und unbenützt. Im anderen lag die hagere, alte Frau, mit feinem, weißem Haar, das in platten Wellen, die an frühere Locken erinnerten, auf die Schultern fiel. Alles an ihr schien von der Zeit mitgerissen worden zu sein. Die meist zittrigen Hände hatte sie klamm über der Brust gefaltet. Sie waren dürr und voller herausstehender Sehnen und Adern, fast braun durch die Leberflecken, die den Handrücken übersäten. Sie hatte gepflegte Fingernägel und strahlte immer noch eine Eleganz aus, die der jungen Generation zur Gänze zu fehlen schien.
»Nana«, sagte Grace liebevoll und trat vorsichtig näher.
Elizabeth neigte den Kopf und das von Falten und Furchen durchzogene Gesicht hellte sich auf. Ihre braunen Augen waren klar und freundlich. Sie überstrahlten die dicken Tränensäcke, die das schmale Gesicht verformten und der durch die Schlupflider erzwungene traurige Blick wich einer herzlichen Miene, die Grace ein wohliges Gefühl der Wärme bescherten.
»Meine liebe Grace!«
Die Stimme der Alten war heiser und rauchig, aber es lag eine Art Melodie darin. Grace setzte sich zu ihr aufs Bett und griff nach den Händen. Sie waren kalt und knochig, erwiderten allerdings den festen Griff, als würden sie sich umarmen.
»Es ist so schön, dich noch einmal zu sehen.«
Dass ihre Urgroßmutter mit dem Ende rechnete, brach Grace das Herz, obwohl es töricht gewesen wäre, etwas anderes zu glauben.
»Wie könnte ich denn nicht hier sein, Nana?«, fragte Grace, löste eine Hand aus der innigen Umklammerung und legte sie der alten Frau an die Wange. Sie tauschten ein Lächeln aus. Graces Blick trübte sich ein wenig.
»Du warst immer für mich da«, sagte sie. »Ich möchte das Gleiche für dich tun. Gibt es etwas, das du brauchst? Hast du es bequem? Soll ich dir das Kissen aufschütteln?«
Grace streckte die Hand danach aus, als ihre Urgroßmutter mit dem Hauch einer Kopfbewegung verneinte.
»Meine liebe Grace«, sagte sie noch einmal, als hätte sie sie erst jetzt erkannt.
»Ich bin hier.«
Elizabeth hustete und schloss für eine Sekunde die Augen.
»Du musst mir verzeihen!«, hauchte sie.
»Nana«, wollte Grace sie beschwichtigen, wurde aber von ihr mit einem energischen Wink unterbrochen, der der alten Frau eine Menge Kraft kostete. Dann war es kurze Zeit still.
»Geht es dir gut?«, fragte Elizabeth schließlich wieder mit ruhigerer Stimme. Das Sprechen schien sie zu erschöpfen.
Grace nickte.
»Bist du glücklich?«
»Ja, Nana. Sehr sogar«, antwortete Grace und bemerkte, dass es als Antwort nicht genügte, Elizabeth fehlte aber die Kraft, sie darum zu bitten, mehr zu erzählen. Sie schnappte nach Luft, um eine Frage zu stellen. Es gelang ihr nicht.
»Nächste Woche ist die große Spendengala, von der ich dir erzählt habe. Ich habe nun doch zugesagt, Andrew zu begleiten.«
»Ist er gut zu dir?«, wollte Elizabeth wissen. Normalerweise erinnerte sie sich nicht daran, dass Grace einen Freund hatte.
»Oh ja, Nana. Er ist wunderbar. Du hättest ihn gern. Er ist von der alten Schule. Ein echter englischer Gentleman«, meinte Grace mit einem herzlichen Lächeln auf den Lippen. »Und gestern war ich mit einer Freundin aus. Kayleigh Bradshaw. Du erinnerst dich vielleicht noch an sie. Das Mädchen mit dem krausen Haar, mit dem ich immer in Großvaters Laden fangen gespielt habe«, fing Grace an. Ihre Urgroßmutter suchte nach der Erinnerung und nickte. »Sie meint, ich solle Geld dafür verlangen, wenn Touristen in der Buchhandlung Fotos machen, aber das kommt mir Unrecht vor. Andererseits würde es vielleicht helfen.« Grace zuckte mit den Schultern. »Zumindest, wenn ich vorhabe, den Laden zu behalten«, scherzte sie.
Bei diesen Worten drückte Elizabeth Graces Hand überraschend fest, dass sie erschrak.
»Nana?«, stieß sie verwundert aus.
Die Alte hustete wieder, als hätte sie sich an etwas verschluckt. Grace sprang auf und versuchte, ihre Urgroßmutter zu stützen. Sie suchte nach der Fernbedienung für das Bett, um sie aufzurichten. Bis sie sie fand, hatte sich Elizabeth wieder gefangen. Grace atmete tief durch.
»Möchtest du was trinken?«, fragte sie beherzt.
»Das Haus muss bleiben.« Es klang wie ein tonloses Stöhnen, allerdings eindringlicher als alles, was ihre Urgroßmutter zuvor von sich gegeben hatte. An manchen Tagen in der Vergangenheit war sie desorientiert gewesen und Grace befürchtete, dass ihre Klarheit auch jetzt verschwand.
»Ich weiß, Nana. Das Haus bleibt.«