Infight - Spiel auf Zeit - Mick Schulz - E-Book
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Infight - Spiel auf Zeit E-Book

Mick Schulz

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Beschreibung

Die Schatten der Macht können tödlich sein.

Eigentlich lief Leon Teiwes Leben in geordneten Bahnen: ein sicherer Job, eine glückliche Ehe und zwei gesunde Kinder. Dann jedoch erfüllt sich sein Traum und über ein Direktmandat bei den Bundestagswahlen zieht er als Abgeordneter in den Bundestag ein. Sein neues Leben in Berlin gestaltet sich jedoch sehr viel schwerer als gedacht. Seine Frau und die Kinder wenden sich von ihm ab und der Ehe droht das Aus. Teiwes verliert immer mehr den Halt, wird in politische Intrigen verstrickt und schlittert in eine Sex-Affäre. Als er den heruntergekommenen Star-Journalisten Helm Zednik kennenlernt, macht dieser ihm gegenüber Andeutungen über einen europaweit agierenden Korruptionsskandal, der die deutsche Politik erschüttern würde. Am nächsten Tag ist Zednik verschwunden und die Blutspuren in seiner Wohnung weisen auf einen Mord hin. Teiwes ahnt: als Mitwisser befindet er sich jetzt ebenfalls in Lebensgefahr. Wem kann er jetzt noch trauen? Und wer ist ihm auf der Spur, um auch ihn kaltzustellen?

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Seitenzahl: 334

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Über das Buch

Eigentlich lief Leon Teiwes Leben in geordneten Bahnen: ein sicherer Job, eine glückliche Ehe und zwei gesunde Kinder. Dann jedoch erfüllt sich sein Traum und über ein Direktmandat bei den Bundestagswahlen zieht er als Abgeordneter in den Bundestag ein. Sein neues Leben in Berlin gestaltet sich jedoch sehr viel schwerer als gedacht. Seine Frau und die Kinder wenden sich von ihm ab und der Ehe droht das Aus. Teiwes verliert immer mehr den Halt, wird in politische Intrigen verstrickt und schlittert in eine Sex-Affäre.

Als er den heruntergekommenen Star-Journalisten Helm Zednik kennenlernt, macht dieser ihm gegenüber Andeutungen über einen europaweit agierenden Korruptionsskandal, der die deutsche Politik erschüttern würde. Am nächsten Tag ist Zednik verschwunden und die Blutspuren in seiner Wohnung weisen auf einen Mord hin.

Teiwes ahnt: als Mitwisser befindet er sich jetzt ebenfalls in Lebensgefahr. Wem kann er jetzt noch trauen? Und wer ist ihm schon auf der Spur, um ihn kaltzustellen?

Über Mick Schulz

Mick Schulz wurde 1959 in Bonn geboren. Nach einem Musikstudium in Salzburg war er mehrere Jahre als Kapellmeister bei der Oper beschäftigt und führte danach ein Hotel im Hartz, bevor er sich ganz dem Schreiben zuwandte. Mittlerweile hat er bereits viele Titel veröffentlicht und versteht es meisterhaft wahre Begebenheiten und Fiktion auf geniale Weise miteinander zu verbinden

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Mick Schulz

Infight – Spiel auf Zeit

Thriller

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Dritter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Impressum

»Der Glaube an die Wahrheit beginnt mit dem Zweifel an allen bisher geglaubten Wahrheiten.«

»Wenn wir die Wahrheit auf den Kopf stellen, bemerken wir für gewöhnlich nicht, dass auch unser Kopf nicht dort steht, wo er stehen sollte.«

Friedrich Nietzsche

Prolog

Nach einem Blick auf das Display seines Handys ließ Leon Teiwes den Kollegen aus dem mittelfränkischen Adelhofen einfach stehen und hastete aus der Lobby des Abgeordnetenhauses. Dem Fahrer, der in der quarzgrauen Limousine auf ihn gewartet hatte, blieb gerade noch Zeit, die halbe Runde um den Wagen zurückzulegen und für Teiwes die Hecktür aufzureißen.

»Fahren Sie mich zum KaDeWe, Röper!«, sagte Teiwes, während er seine aufgewühlte Atmung wieder in einen ruhigeren Rhythmus zwang. Doch die ungewohnte Härte in seiner Stimme war dem Fahrer, der sich verwundert nach hinten wandte, aufgefallen.

«Natürlich, Herr Doktor!«, antwortete er in dem devoten Tonfall des echten Wieners. Als wäre es normal, dass Teiwes seine Besorgungen tagsüber selbst machte und nicht anderen überließe, zum Beispiel seiner Sekretärin.

Der Wagen rollte geschmeidig los. Sechsspurige Berliner Straßenkulisse mit stockendem Verkehr, garniert mit Gehupe und Geheule wie um diese Zeit in einer Hauptstadt nicht anders zu erwarten. Sechzehn Uhr sieben. Dienstagnachmittag. 27. Oktober. Feuchtkalte Dämmerung.

Teiwes starrte versteinert aus dem Fenster.

Der erste Zettel, nicht mehr als ein schmaler Papierstreifen, auf den gerade einmal ein Satz in Ariallettern passte, war ihm vor exakt zehn Tagen in die Finger geraten, als er in seine Manteltasche gefasst hatte:

Weißt du, was man mit Spielverderbern macht?

Irritation im ersten Moment. Doch auf dem Weg in den Plenarsaal hatte er die Sache verdrängt und dann schlichtweg vergessen. Kein Gedanke daran, wie der Zettel in seinen Mantel gekommen sein könnte.

Zwei Tage später:

Weißt du, mit wem du dich da anlegst?

Die Antwort war: Nein. Teiwes hatte Tissy Lohmann, seine Sekretärin, gefragt, ob sich jemand an seinem Mantel zu schaffen gemacht hätte. Ob etwas fehlen würde, hatte sie zurückgefragt. Nein, im Gegenteil. Was er denn hätte, sie würde auch gerne mehr in der Tasche haben, wenn sie abends aus diesem Laden herauskäme.

Vor knapp einer Woche dann:

Weißt du, was ein russischer Auftragskiller kostet?

Das ging eindeutig zu weit. Teiwes war fest entschlossen gewesen, den Vorfall zu melden. Doch dann wollte er kein unnötiges Aufsehen erregen. Warum sollte es ausgerechnet in Berlin anders sein? Er war Politiker geworden, das hieß: Bei jedem Wort, das er äußerte, jeder Meinung, die er vertrat, behaupteten Andere das Gegenteil, beschimpften, bekämpften ihn und versuchten ihn auszuschalten, möglichst mit Mitteln, die unter der Decke blieben, aber auch mit unverhohlenen Drohungen. Das war nicht neu. Also ließ er es noch einmal auf sich beruhen.

»Haben der Herr Doktor einen innovativen Tag gehabt?«, drängte sich der Fahrer mit seinem Wienerisch zwischen seine Gedanken.

Der reinste Anachronismus, wenn ein Mann wie Röper das Wort »innovativ« in den Mund nahm, dessen äußere Erscheinung mit dem schweren Schädel, den wässrigen Augen und dem krautigen Schnauz trotz tadellosem Anzug eher an einen Fiaker erinnerte. Doch in seiner augenblicklichen Verfassung entlockte es Teiwes nicht einmal ein Schmunzeln.

»Ja, danke«, wehrte er ab.

Irgendwer steckte ihm Zettel mit bedrohlichen Mitteilungen in die Taschen, hatte er Tissy sagen wollen. Er hatte es dann aber nicht getan. Wenn man Nerven zeigt, hat man verloren, das war eine der ältesten Spielregeln. Keinesfalls würde er sich auf diese Weise einschüchtern lassen und sich vor den Kollegen der Lächerlichkeit ausliefern. Delikat war, dass er keine Vorstellung hatte, worum es ging. Er hatte es aber zugegebenermaßen bisher auch vermieden, genauer darüber nachzudenken.

Dann der Anruf von Tissy Lohmann nach der Ausschusssitzung heute Nachmittag: »Ihr Urlaub ist abgesegnet, soll ich Ihnen ausrichten.«

»Welcher Urlaub?«

Wovon redete sie überhaupt?

»Wenn Sie das nicht wissen?« Sie wirkte leicht angesäuert. » Aber Sie hätten mir wenigstens Bescheid sagen können!«

Er war gerade mit dem Kollegen im Gespräch, da vibrierte das Ding schon wieder an seiner Brust.

Weißt du, wie gefährlich es ist, wenn deine Tochter so allein morgens zur Schule geht?

Seine Kinder. Er hatte es geschafft, er – wer auch immer – hatte es geschafft, ihn aus der Spur zu bringen. Teiwes hatte den Kopf verloren und war regelrecht aus der Lobby geflohen.

»Da wären wir, Herr Doktor«, sagte Röper, und fürsorglich väterlich: »Soll ich auf Sie warten?«

»Nein, danke, fahren Sie nur. Ich weiß nicht, wie lange ich brauche.«

Im selben Augenblick realisierte Teiwes, dass er einen Fehler gemacht hatte. Wenn ihn jemand verfolgte, hätte er seinen einzigen Zeugen weggeschickt. Aber er wollte seine einmal getroffene Entscheidung nicht rückgängig machen. Obwohl Röper ihm vermutlich ansah, dass etwas nicht stimmte. Wahrscheinlich konnte man die Angst riechen, die unter seinem Mantel steckte.

Draußen peitschte der Wind. Teiwes wurde sich plötzlich seiner Schutzlosigkeit bewusst. Unwillkürlich zog er den Kopf ein, wie eine Schildkröte. Aber er hatte keine schützende Hornplatte über seiner Schädeldecke, die einen tödlichen Schlag abwehrt.

Er fuhr in den siebten Stock des Kaufhauses und setzte sich neben einen Tisch, an dem drei bebrillte Chinesinnen sich ein atemberaubendes Geplapper lieferten. Teiwes war hier hingekommen, weil der Wintergarten des KaDeWe der einzige ihm bekannte Platz in Berlin war, den er mit rein positiven Gefühlen besetzte. Hier hoffte er, wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

Vor ein paar Wochen, als er neu im Reichstag war und das Gefühl hatte, feiern zu müssen, hatte er sich entschieden, für Nadine und die Kinder Geschenke einzukaufen. Dabei stellte er fest, dass er weder wusste, ob seine Frau leichtere oder schwerere Parfümsorten bevorzugte, noch womit seine Kinder spielten. Am Ende suchte er für Nadine ein Fläschchen Joop aus und ein Puzzle von Berlin aus der Rundflugperspektive, denn das würde den Kleinen spielerisch einen Eindruck vom Arbeitsort ihres Papas vermitteln. Im siebten Stock genehmigte er sich dann einen Cappuccino, starrte minutenlang durch die Scheiben der mit Stahlträgern eingerahmten Kuppel in den Himmel und kostete seinen Triumph aus, in der Hauptstadt gelandet zu sein. Als hoffnungsvoller Abgeordneter mit erst zweiunddreißig. Er hatte mit Nadine telefoniert, sie sollte raten, wo er gerade war. Aber sie hatte keine Lust auf Ratespiele gehabt.

Teiwes trank einen Schluck von seinem Cappuccino, der ekelhaft süß schmeckte. Wie war denn Zucker in die Tasse gekommen? Er nahm doch nie Zucker.

Es war einiges passiert, seit er in Berlin war. Er konnte sich Feinde gemacht haben. Er hatte sich Feinde gemacht. Kambäro zum Beispiel. Aber der war ein zu hartgesottener Politprofi, als dass er sich in dieser Weise an ihm rächen würde. Und Karl Engelhardt, Clarissas Mann? Auch wenn er ihn beim letzten Treff so angesehen hatte, als wüsste er Bescheid. Das war niemals Engelhardts Stil. Er hätte ihn face to face zur Rede gestellt. Es musste mit dem Rätsel um Zednik zu tun haben. Aber was wollten sie von ihm?

Die Chinesinnen am Nachbartisch brachen auf, ohne auch nur ansatzweise ihren Redeschwall zu bremsen.

Aber so ging es nicht weiter. Er würde jetzt mit dem neuen Fraktionschef Teskowitz sprechen, was es mit dem angeblichen Urlaub auf sich hatte und ihm melden, dass er Drohungen erhielt. Vermutlich klärte sich die Sache schneller als gedacht, und wenn er Personenschutz benötigte, dann müsste er es akzeptieren, auch wenn ihn der eine oder andere Kollege für ein Weichei halten sollte.

An den Nachbartisch setzten sich jetzt zwei junge Männer im Anzug. Der eine, ein dunkler schlanker Typ, Dreitagebart, der andere untersetzt mit lädiertem rechten Auge.

Teiwes warf einen Blick auf die große Uhr an der Decke. Siebzehnzwölf. Der mit dem zerschlagenen Auge holte sein Handy heraus und tippte etwas ein.

Plötzlich schoss Teiwes eine Ahnung durch den Kopf, was jetzt passieren könnte: Sein Handy würde sich in Bewegung setzen und auf dem Display eine neue Weißt-du-Frage erscheinen.

Also gut, wenn die beiden am Nachbartisch mit dieser Posse zu tun hatten, in der er den Dummen spielte, dann gab es keinen Zweifel mehr, dass sie es ernst meinten. Warum nicht an ihren Tisch gehen und sie direkt ansprechen? Sie würden es kaum wagen, ihn in aller Öffentlichkeit anzugreifen ...

Er wartete nicht ab, bis sein Display aufblinkte, griff an die Brusttasche seines Jacketts, in dem das Handy steckte. Doch es war nicht da. Eben hatte er es noch gehabt. Er griff in die Manteltaschen, Hosentaschen, Fehlanzeige. Er versuchte sich zu erinnern, ob ihm jemand auf dem Weg über die Straße ins KaDeWe zu nahe gekommen war. Oder hatte er das Teil im Wagen oder beim Aussteigen verloren? – Demütigend, die Kontrolle zu verlieren.

Der Mann am anderen Tisch hielt sich jetzt sein Handy ans Ohr, lächelte während er sprach. Zwei junge Frauen in animierter Stimmung kamen dazu, anscheinend für Party aufgemacht. Die eine hielt ein Tablett mit vier schlanken Gläsern Prosecco in der Hand.

War er überarbeitet? Er konnte sich doch sonst auf seinen nüchternen Verstand verlassen, hatte sich sogar etwas darauf eingebildet, cool zu bleiben in heißen Situationen. Teiwes erkundigte sich bei einer Kassiererin nach der Abgabestelle für Gefundenes und verließ die siebte Etage. Das Handy blieb verschwunden. Bis zum Ausgang hielt Teiwes die Hände in den Manteltaschen und presste die Arme an den Körper.

Es war fast dunkel, immer noch der beißende Wind. Er würde von seinem Apartment in Prenzlauer Berg aus mit dem Fraktionschef telefonieren. Bei dem ominösen Urlaub konnte es sich nur um eine Verwechslung handeln. Was sonst?

Teiwes hielt ein Taxi an und stieg ein. Er würde heute Abend auch noch mit Nadine telefonieren und mit den Kindern. Kerstin war okay, aber Finn machte ihm Sorgen. Seit sie ihn, angeblich kerngesund, aus der Klinik entlassen hatten und er zu Hause war, ging es wieder schrittweise schlechter. Am Telefon war er meistens einsilbig und ließ sich jedes Wort aus der Nase ziehen. Als Teiwes das letzte Mal in Braunschweig gewesen war, hatte Finn sogar abweisend auf seine Zärtlichkeiten reagiert. Nadine war der Meinung, das wäre kein Wunder. Der Junge würde sich instinktiv schützen, um nicht enttäuscht zu werden, wenn sich sein Vater wieder wochenlang nicht blicken ließe. Nadine war eine gute Psychologin, obwohl sie es nicht gelernt hatte. Aber warum richtete sich ihre Psychologie immer gegen ihn? Er liebte Finn mindestens so sehr wie sie. Warum sollte ausgerechnet er daran Schuld sein, dass sein Sohn immer krank war?

Teiwes ließ sich von dem Taxifahrer nicht herausgeben, stieg an der Schönhauser Allee vor dem erst kürzlich frisch geweißten Mietshaus von 1908 aus. Die Fassade sah jetzt weit besser aus als das, was einen im Hausflur erwartete. Die runden Deckenlampen, in jedem Stock eine, produzierten ein milchiges Licht, das die zusammengewürfelten und teilweise gesprungenen Fliesen auf dem Boden und an den Wänden allemal spärlich beleuchtete. Über eine knarrende Holztreppe, überzogen mit schäbig grünem Linoleum, erreichte man die Wohnungen. Für alle, die in den Etagen vier und fünf wohnten, war eine gewisse Sportlichkeit von Vorteil, denn es gab keinen Aufzug.

Auf dem Podest der zweiten Etage schwang die Schulzendorf ihren Wischmopp. Sie trug wieder eine ihrer geblümten Kittelschürzen, und ihr Kopf mit den angriffslustigen Augen und dem gefährlich spitzen Schnabel erinnerte einmal mehr an den einer Krähe, mit dem Unterschied, dass eine Krähe keine eingedrehten dottergelben Locken hat. Bevor Teiwes fragen konnte, warum sie hier so spät noch werkelte -

»Die alte Frau Kwiatkowski sollte nich mehr alleene eenkoofen jehn. Se hat doch ne Tochter. Die könnte doch ooch ma helfen. Die janze Milch is aufm Boden jelandet und wer macht det wieder reine?« Sie nahm den Mopp in die linke Hand und tippte mit dem Zeigefinger der rechten mit dramatischer Geste auf ihr Brustbein.

Aber sie war zu neugierig, um die Selbstmitleidstirade fortzusetzen.

»Warum sind Se denn heute schon so früh hier? Keene Empfänge?«

Er hatte ihr einmal ausgeplaudert, dass sein Dienst mit den Sitzungen nicht zu Ende wäre, dass die vielen Abendveranstaltungen noch zu seinem Job gehörten.

»Nein, Frau Schulzendorf. Ich habe noch zu arbeiten«, log er, »und ich will nicht gestört werden.«

»Wenn Sie det sagen.«

Sie kümmerte sich nicht weiter um ihn, schob mit dem Wischmopp an den Türschwellen entlang. Teiwes stieg an ihr vorbei, bis zum fünften, schloss seine Wohnungstür auf, warf sie hinter sich zu und drehte zweimal den Schlüssel herum. Er atmete tief durch. Vielleicht war das mit dem Urlaub gar keine schlechte Idee. Er würde – wenigstens eine Woche – mit der Familie verbringen. Er riss sich den Mantel herunter, warf ihn auf die Couch im Wohnzimmer und griff nach dem Telefon. Kein Zeichen. Tot. Wahrscheinlich Totalausfall, die ständigen Bauarbeiten in der Gegend. Er war auf dem Sprung in den Flur, da hörte er wieder das krächzende Organ der Hausmeisterin.

»Sie brauchen erst jar nich nach oben zu jehn. Dr. Teiwes hat zu tun, der will heute niemand mehr sehn!«

Sein Name stand nicht auf der Klingel, auch unten nicht. Er horchte an der Wohnungstür. Offenbar hatte die Schulzendorf den Besuch abgeschüttelt. Abgesehen davon, dass er keinen Besuch erwartete. Im Schlafzimmer befreite er sich von den Schuhen, riss sich die Krawatte herunter und rutschte mit halb geöffnetem Hemd auf Strümpfen über den gewachsten Dielenboden zurück ins Wohnzimmer auf den Barschrank zu. Eigentlich machte er sich nichts aus Alkohol. Seine Maxime war – auch im Job –, sich so lange zu verweigern, bis es absolut nicht mehr anders ging. Und heute war so ein Tag, an dem es nicht mehr anders ging. Er goss sich einen Fingerbreit Scotch ein, kippte ihn herunter und wartete, bis sich im Magen die beruhigende Wärme ausbreitete. Darauf versuchte er mit einem der jazzigen Songs von Roger Cicero sein stark ramponiertes Gleichgewicht wieder zu erlangen, während er überlegte, ob er die Polizei alarmieren sollte. Dafür würde er wohl oder übel eine Telefonzelle aufsuchen müssen, aber vorher noch bei Erika Schulzendorf anfragen, ob ihre Leitung auch tot sei.

Aber erst mal goss er sich noch einen zweiten Whiskey ein und versenkte sich damit in der anschmiegsamen Couch. Vom Wohnzimmer aus behielt er das Oberlicht der Wohnungstür im Auge. Im Hausflur brannte noch Licht. Wenn es ausging, drückte es die Hausmeisterin wieder an. Das ging zwei- dreimal so. Dann blieb es aus. Teiwes gab der Wohnzimmertür mit dem Fuß einen Stoß und legte sich zurück, um sich zu entspannen. Er spürte plötzlich seine Müdigkeit und schloss die Augen.

Im Haus war es ruhig, bis auf ein entferntes, schabendes Geräusch, das ihn nicht weiter störte. Doch es wurde lauter und schien näher zu kommen, verstärkte sich zu einem Knarzen, so wie das Bersten von Holz. Zunächst konnte er sich nicht erklären, was es war ...

Erster Teil

Fünf Monate früher ...

1

Er war der Mann des Tages. Leon Teiwes hatte das Direktmandat in dem vermeintlich links verseuchten Braunschweiger Wahlkreis erstmals wieder für die Konservativen geholt. Dabei hatten die Widersacher nicht nur im gegnerischen sondern auch im eigenen Lager gesessen. Er sei noch zu jung, andere hätten mehr Erfahrung. Er solle sich in Geduld fassen, bis die Reihe an ihn käme, war der Vorwand gewesen, ihn zunächst nicht in die Clique zu lassen. Doch Frank hatte ihn durchgesetzt und hinter ihm gestanden, auch wenn die Sache lange nicht aussichtsreich schien.

Jetzt klopften ihm alle auf die Schulter. Teiwes schüttelte die Hände, die sich ihm entgegen streckten, um Frieden zu machen, auch wenn es ein verlogener war. Ihm war bewusst, dass sich mit seinem Sieg die Zahl seiner Neider in der eigenen Parteiliga verdoppelt hatte und sie in Zukunft auf den kleinsten seiner Fehler lauerten.

Glückwünsche wollte Teiwes eigentlich nur von Frank Wülfing hören, seinem Mentor. Aber Frank war nicht gekommen. Sylvia hatte angerufen und gesagt, dass es nicht ging, beim besten Willen nicht. Doch er wäre mehr als glücklich, das sollte sie Teiwes von ihm ausrichten.

Nadine war auf seinen Anruf hin in die Parteizentrale gekommen. Jetzt konnte sie sich nicht mehr so einfach wegducken. Die Öffentlichkeit würde sich auch für seine Frau interessieren. Er war jetzt Bundestagsabgeordneter. Das, was er ab heute sagte und tat, würde deutlich mehr Aufmerksamkeit provozieren als das, was er vorher gesagt und getan hatte.

Teiwes ließ sich den ganzen Abend herumreichen und feierte bis gegen elf in der Zentrale, dann fuhren sie in drei Taxis zu ihm nach Hause in die Humboldtstraße. Nadine hatte nur einen kleinen Imbiss für seine Wahlhelfer vorbereitet, für das Häuflein Aufrechter, das ohne wenn und aber zu ihm gehalten hatte, und dem er ein Glas Champagner schuldig war. Auf Sieg waren sie nicht eingestellt. Und jetzt waren weit mehr gekommen, als ihnen lieb war. Erst gegen halb zwei war die Wahlparty zu Ende.

Teiwes öffnete die Fenster, ließ den Schweiß- und Alkoholgeruch abziehen, Nadine schlich durch das Wohnzimmer und sammelte Gläser und Teller ein.

Der Tag, auf den er die letzten Wochen hingearbeitet hatte, zum Schluss von morgens bis spät abends, war vorbei. Teiwes lockerte die Krawatte und ließ sich auf die Ledercouch fallen. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, versuchte er sein inneres Chaos zu ordnen. Dieser Tag war für ihn denkwürdig. Nach wochenlangem Kampf hatte man ihm eine Aufgabe mit besonderer Verantwortung übertragen, der er gedachte gerecht zu werden.

Zwanzig nach sieben am nächsten Morgen wurde Teiwes wach. Er hatte von einer Frau geträumt, von Nadine, seiner Frau. Im Traum war er in sie eingedrungen, hatte sich von ihrem Stöhnen antörnen lassen. Es brachte ihn in Fahrt, wie sie sich mit ihren langen schlanken Fingern in seinen Rücken krallte und stöhnte ...

Er lag auf dem Bauch, sein linker Arm quer über ihrer leeren Bettseite. Sie war schon aufgestanden. Er hatte Sehnsucht nach ihr. Er wollte mit Nadine schlafen und ihr geben, was sie brauchte. Er wollte zärtlich zu ihr sein, ihr danken für ihre Hilfe und für ihre Geduld in der letzten Zeit. Vielleicht war er nicht der Familienvater, den sie sich wünschte, würde es womöglich nie werden. Er konnte nur geben, was er hatte.

Durch das gekippte Fenster drangen die Geräusche der Autos vorne auf der Straße, wie sie durch die Nässe des verregneten Mai spritzten. Sein Gehirn mahlte noch langsam: Es war Montag, Kerstin musste in die Schule und Finn in den Kindergarten. Bis elf hatte er keine Termine, dann warteten die Kollegen in der Parteizentrale auf ihn.

»Habt ihr gewonnen, Papa?«

Kerstin stürmte auf ihn zu in seine Arme. Ganz schön schwer, sein Tinchen, mit ihren sieben Lenzen. »Ja, mein Schatz, wir haben alle besiegt.«

Sie glühte vor Stolz, legte ihre mit hellblondem Flaum überzogenen Kinderarme zärtlich um seinen Hals.

»Guten Morgen, mein Schatz!«, sagte er zu Nadine, die damit beschäftigt war, Finn davon abzuhalten, den halben Tisch mit seinen Cornpops vollzukleckern.

Sie brachte nur ein halbes Lächeln zuwege. Auch sein Kuss auf ihren Mund änderte nichts an ihrer schlechten Laune.

»Heute bringt euch der Papa zur Schule und in den Kindergarten, abgemacht?«

Kerstin zeigte Begeisterung.

»Es ist besser, wenn Finn heute zu Hause bleibt«, sagte Nadine, »er brütet etwas aus.«

»Meinst du? Ich finde, dass er ganz gesund aussieht. Vielleicht ist es doch nicht so schlimm. Was ist mit meinem Mann? Finni will bestimmt mit den anderen spielen, oder?«

Die Augen in dem blassen Gesicht blitzten auf. Finn warf klirrend den Löffel in den Teller und lief in sein Zimmer, um sich anzuziehen. Nadine schmollte, obwohl er ihr doch nur Arbeit abnehmen wollte. Warum bestand ihr Leben in letzter Zeit nur noch aus einer Kette von Missverständnissen?

Teiwes hatte Finn im Kindergarten abgeladen, jetzt fuhr er Kerstin zur Schule. Warum sich Nadine solche Sorgen um den Jungen machte, konnte er nicht verstehen. Sicher, Finn war nicht so robust wie Kerstin, aber das würde sich auswachsen. Teiwes war selbst auch ein schmächtiger Junge gewesen und konnte sich jetzt etwas auf seine Kondition einbilden.

Vor der Schule hielt er an. Es war der Moment, in dem alles dem Eingang entgegen strömte. Kerstin schnallte sich ab, blieb aber noch sitzen.

»Bist du jetzt nur noch Politiker?«, wollte sie wissen und sah ihm ernst ins Gesicht.

Der Vorwurf war angekommen.

»Ja, bald mache ich für alle Menschen in Deutschland Politik«, antwortete er ausweichend.

»Nützt es denn jemandem, wenn du Politik machst?«, fragte sie weiter, natürlich ohne zu ahnen, wie gnadenlos diese Frage war.

»Ohne Politik geht unser Land unter!«

So musste es doch sein, wäre er sonst in die Politik gegangen?

Kerstin warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

»Marcel sagt, alle Politiker sind Schweine!«

Sie ließ den Satz wirken und beobachtete ihn angestrengt. Zur Steigerung der Konzentration steckte sie den Finger in die Nase.

»Und wer ist Marcel?«

»Marcel geht in meine Klasse.«

»Aha, kennt er denn Politiker?«

»Glaube nicht, sein Papa hat das gesagt.«

»Und Marcel glaubt alles, was sein Papa sagt?«

»Ich glaube auch alles, was du sagst«, konterte sie, ohne Ironie, mit all dem Vertrauen, das sie ihm in ihrer Unschuld entgegenbringen konnte. Er schluckte, aber sie war noch nicht fertig.

»Gehst du für immer nach Berlin?«

Er streichelte über ihre schulterlangen seidig braunen Haare.

»Tinchen, ich arbeite nur in Berlin. Ich wohne weiter bei Mama und euch hier in Braunschweig. Ich muss nur ab und zu nach Berlin fahren, wenn sie mich dort brauchen.«

Sie wussten beide, dass das nur die halbe Wahrheit war. In Zukunft würde er noch weniger zu Hause sein. Sie wandte ihm ihr noch weiches, ungeprägtes Gesicht zu, sagte es in kindlichem Befehlston, und doch klang es wie ein angstvolles Flehen:

»Ich will nicht, dass du nach Berlin gehst!«

Auf dem Weg ins Malerviertel, der ehemaligen Fliegersiedlung am östlichen Ring der Stadt, fragte sich Teiwes, warum Kerstin sich so davor fürchtete, dass er nach Berlin ging. Es hatte ihm einen Stich versetzt, als sie sich auf der Treppe zum Eingang der Schule noch einmal umgedreht und ihm einen unendlich enttäuschten Blick zugesendet hatte. Wahrscheinlich hatte Nadine sie mit ihrer Vorwurfshaltung angesteckt.

Er parkte am Straßenrand vor einem der würfelförmigen Häuser aus den Dreißigern, mit für Stadtverhältnisse paradiesisch großem Garten. Teiwes hatte sich immer ein Haus mit Garten für seine Kinder gewünscht. Aber bisher war es finanziell nicht drin gewesen. Erst recht nicht im Malerviertel. Frank hatte weder Kinder, noch hatte er für dieses Paradies auch nur einen Cent bezahlt. Er hatte es geerbt. Sein Vater war Offizier der Luftflotte gewesen.

Er drückte den Klingelknopf. Sylvia, Franks Frau, öffnete.

»Leon, ich freu mich! Und Frank wird sich erst freuen!«

Sie umarmte ihn.

»Du weißt doch, wenn der Prophet nicht ...«

Sie lachte, wurde aber schnell ernst.

»Er konnte nicht, Leon, er hat den ganzen Tag im Bett verbracht.«

»War auch nur ein Scherz.«

Aus dem Wohnzimmer hallte Musik, bombastische Sinfonik.

»Er hört nur noch Bruckner in letzter Zeit«, sagte Sylvia, die Stirn in leichten Stressfalten. Aber ihr Schmunzeln war nicht zu übersehen. Warum sollte er auch nicht? Sie hatten ein eigenes Haus, und er störte niemanden. Frank war alles zu gönnen, woraus er noch Freude ziehen konnte.

Sylvia führte ihn nach hinten, betonte noch einmal: »Er wird sich bestimmt freuen, dass du ihn besuchst.«

Frank saß im Sessel, eine Wolldecke mit Schottenkaro über den Knien, in Reichweite zu dem Plattenspieler, auf dem sich eine Vinylscheibe drehte. Gerade war das monumentale Dröhnen abgeebbt und verlor sich in dem weichen Fluss einer endlosen Melodie.

Er schien eingeschlafen. Teiwes hatte Frank nur eine gute Woche nicht gesehen und hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Eingefallene Schultern, der Kopf wirkte kleiner, das künstliche Haarteil lenkte eher die Aufmerksamkeit auf die vermutliche Blöße, als sie zu kaschieren. Dunkle Augenhöhlen, leere Wangen. – Die Chemo hatte nichts gebracht.

»Frank, Leon ist da!«, rief Sylvia so unbekümmert sie konnte, und Teiwes war ihr dankbar dafür. Dennoch fragte er sich, wie er die Unterhaltung in dem ungezwungenen Tonfall durchziehen sollte, mit dem sie sich immer begegnet waren.

Frank schreckte auf. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht, als er ihn erkannte.

»Hallo, alter Freund, Moment!«

Er nahm den Tonarm von der Scheibe und stoppte das Gerät. Teiwes ging auf ihn zu, um ihn davon abzuhalten aufzustehen.

»Früher hat mir Bruckner nicht viel gegeben. Aber jetzt ... Am liebsten höre ich die langsamen Sätze seiner Sinfonien. Man schwebt so dahin, weißt du. Kleiner Vorgeschmack auf später.«

Gerade noch rechtzeitig schien er zu spüren, dass Sarkasmus der falsche Weg war, ein offenes Gespräch zu führen. Vielleicht das letzte. Er senkte den Blick.

»Tut mir leid, dass ich gestern nicht dabei sein konnte. Ich habe den ganzen Tag gekotzt.«

»Macht nichts, Frank, ich dachte, ich besuche dich einfach.«

Teiwes nahm seine Hand, die noch einmal versuchte, mannhaft zuzudrücken.

Ihm lag die übliche Frage auf der Zunge, die man einem Kranken stellt, aber er konnte sich gerade noch beherrschen.

»Den Umständen entsprechend gut, wenn du das meinst«, antwortete Frank, offenbar hatte er es ihm angesehen. »Leider kann ich dir nur den Frank anbieten, wie er jetzt ist. Wir müssen uns beide damit zufrieden geben. Wie hat Nadine darauf reagiert?«

So kannte er den alten Frank. Teiwes atmete durch und setzte sich in den Sessel gegenüber.

»Gestern Abend hat sie mir noch vorgespielt, dass sie sich mit mir freut, aber nicht mal bis heute Morgen durchgehalten. Sie will einen, der seine Arbeit macht, um vier nach Hause kommt und für die Familie da ist. Das weißt du ja. Ich tue was ich kann, aber nichts passt ihr.«

»Sie muss sich damit abfinden, dass du nicht dazu da bist, ihre Träume zu erfüllen. Niemand ist dazu da, eines anderen Träume zu erfüllen. Sie sollte wieder arbeiten gehen, dann versteht sie dich auch besser. Die Kinder sind doch alt genug. Hast du Lust auf Tomate Chili?«

Er zwinkerte ihm zu. Das war ihr Getränk, wenn sie etwas zu besprechen hatten. Natürlich für Frank nie ohne einen Schuss Wodka. Teiwes nickte.

Frank warf das Schottenkaro ab, als könnte er sich damit von seiner Krankheit befreien, rutschte aus dem Sessel und machte sich am Barschrank zu schaffen.

Er hatte Teiwes in die Politik gebracht. Sie hatten sich auf einer Veranstaltung der COPEC AG kennen gelernt, der Firma, für die Teiwes seit Ende seines Studiums in einer merkwürdigen Mischung aus Personal- und Werbeabteilung arbeitete. Sie hatten sich buchstäblich in ein Gespräch verfangen und sich erst morgens gegen drei wieder auseinanderdividiert. Frank gab später zu, dass es sein Ziel gewesen sei, ihn an dem Abend für die Braunschweiger Konservativen zu angeln, aber abgesehen davon wäre es Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Sie stießen an mit Tomatenblut.

»Ich wollte dir etwas sagen. Vielleicht ist es zu früh, weil du noch nicht so lange in der Politik bist. Aber wenn ich es nicht jetzt tue, könnte es zu spät sein!«

Teiwes sah ihm in die Augen, die sich verändert hatten, die keinen Horizont mehr hatten, und es lief ihm eiskalt über den Rücken.

»Ich bin deshalb nichts Besonderes in der Politik geworden – schon gar nicht in Berlin –, weil ich nicht aufs Ganze gegangen bin. Vor allem, weil ich mich ohne nennenswerte Gegenwehr zum Schaf habe machen lassen, verstehst du? Sie haben mich geschoren und danach wieder in die Herde zurückgetrieben. Abgespeist haben sie mich, und das war leicht, weil ich so schnell zufrieden war, weil ich mich habe verschieben und vertrösten lassen. Und nach vorne kamen immer andere.«

»Du hast eine Menge erreicht, Frank, vergiss das nicht«, protestierte Teiwes, » Ausschussvorsitzender, stellvertretender Fraktionsvorsitzender! Das schaffen nur wenige!«

»Na und? Was heißt das schon?«, platzte es aus Frank heraus. »Wer nicht versucht, den ganzen Laden an sich zu reißen, den ziehen sie nur durch wie einen Joint! Nichts anderes!«

Teiwes widersprach ihm nicht. Auf keinen Fall wollte er ihn aufregen. Er hob sein Glas, stieß noch einmal mit ihm an. Dieser Mann würde in den nächsten Tagen 59 werden, kein Alter um abzutreten. Die hoffnungslose Aussicht verändert einen. Er hatte keine Geduld mehr, nicht mit sich und nicht mit seiner Umwelt.

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»Welt am Morgen« auf TV International, dem Nachrichtensender.

… hatten sich nach den nur hauchdünn gewonnenen Bundestagswahlen die Spitzen des konservativen und liberalen Lagers zum dritten Mal in Folge gutgelaunt in die Koalitionsberatungen begeben. Es sei jedoch weit mehr als ein Routinetreff, sagte Kanzler Gerald Daubner. Es ginge um neue Perspektiven in der Finanz- und Europapolitik. Auch müsse sich die Bundesregierung hinsichtlich der Situation auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaftspolitik neuen Herausforderungen stellen. Auf die starken Zugewinne der Opposition ging er nur mit den Worten ein: »Demokratie handelt von Mehrheiten, und die liegen immer noch bei uns!« Ebenso kurz fasste er sich in der Frage nach der Besetzung der Ministerposten: »Zuerst die Sachfragen, dann die Köpfe.«

Ins Ausland...

Ein mattes Licht klebte als schmaler Streifen über dem Tiergarten, von dessen Baumkronen sich allmählich Nebelfetzen lösten.

Minister Schleicher stand am Fenster seines Büros im Kanzleramt und verfolgte das Schauspiel der Morgendämmerung. Einige der wenigen unkorrumpierten Minuten täglich, die er ganz für sich hatte. Sobald das erste Mal das Telefon klingelte, war es aus damit. Manchmal schaffte er es, in diesen Minuten an nichts zu denken. Dann verspürte er auch nicht den Drang, das zu tun, was er auf keinen Fall durfte: dem quälenden Juckreiz nachzugeben und sich zu kratzen, um die Folter kurzfristig zu lindern, die zuverlässig irgendwann im Laufe des Tages einsetzte, und sich, besonders bei aufreibenden Sitzungen, zur Hölle auswuchs. Denn dann würde sie erst recht unerträglich werden.

In Niedersachsen hatten sie weit schwächer abgeschnitten als erwartet. Auch wenn es für den Spitzenkandidaten gereicht hatte, hielt Schleicher dessen Tage für gezählt. Es brauchte frisches Blut im konservativen Lager, und er hatte ein Auge auf einen vielversprechenden Neuzugang geworfen.

Mit Sicherheit hing auch Kambäro schon am Telefon, um den Erstparlamentariern ihre neue Rolle zu erklären. Kambäro, der viel zu oft sein eigenes Spiel spielte.

Von Anfang an waren sie Rivalen gewesen, Schleicher und der Fraktionsvorsitzende, wenn es um den intimen Einfluss auf den Kanzler ging. Eins musste man Kambäro lassen: Er hatte die Fraktion der Konservativen fest im Griff, verteidigte trickreich seinen Bannkreis. Allerdings konnte er es nicht lassen, sich in alles einzumischen und bei jeder Gelegenheit hinter seinem Rücken beim Alten zu intervenieren, um seine, Schleichers, Position zu untergraben.

Bei dem Gedanken spürte er, wie die Folterwerkzeuge in seiner Kopfhaut begannen, ihre Arbeit aufzunehmen. Heute waren sie früh dran. Er legte Zeige- und Mittelfinger beider Hände auf die Schläfen, schloss die Augen und konzentrierte sich. Der antrainierte Reflex funktionierte. Irgendwann hatte er festgestellt, dass ihn das beruhigte, und auch diesmal ebbte der Juckreiz ab und würde ihn vorläufig in Ruhe lassen.

Er tauschte den Platz am Fenster gegen den hinter dem breiten Schreibtisch ein, auf dem sich, neben dem Telefon, dem eingeschalteten Laptop und einer gedrehten Schale aus toskanischem Olivenholz, die er vom italienischen Botschafter geschenkt bekommen hatte, nur wenige Akten befanden.

Alles war vertraulich, was in diesem nüchternen Raum besprochen wurde, und die Palette reichte von verblüffend einfach bis gefährlich subtil. Die Wahrheit, die diese Wände verließ, wurde erst kurz hinter der Türschwelle eine andere, wo das Reich der Verzerrungen und Spekulationen begann.

Schleicher öffnete das Dossier, das vor ihm lag.

Der Mann hieß Teiwes, Leon, Dr. rer. oec., Sozialökonom, promoviert in Wirtschaftswissenschaften, in Braunschweig geboren, 32 Jahre alt, einsachtundachtzig groß, grüngraue Augen, keine besonderen Kennzeichen. Verheiratet mit Nadine, geborene Diekmann, 33, zwei Kinder. Lebt mit Familie in seiner Geburtsstadt.

Foto: sportlich smarter Typ.

Ein Nobody, selbst bei den niedersächsischen Konservativen ein noch kaum beschriebenes Blatt. Hatte aber ein kleines Erdbeben ausgelöst, das Direktmandat in einem traditionell linken Wahlkreis für sie geholt. Dazu gehörte etwas. Es gibt immer weniger, die das können, dachte Schleicher. Die meisten haben nur Argumente, tausende diffuse Argumente, aber keine Überzeugungskraft, und erst recht keine Linie. Er schnippte zwei milchige Hautschuppen vom rechten Ärmel seines nachtblauen Anzugs. Den Mann wollte er sich näher ansehen. Vielleicht war etwas mit ihm anzufangen.

Teiwes saß in der Bahn. Sein Blick schweifte ab von dem Laptop auf dem Klapptisch über seinen Knien. Der halbe Waggon war leer. Draußen jagte Landschaft vorbei. Der Abstand zwischen ihm und Braunschweig vergrößerte sich rasant, und obwohl er versuchte, es nicht wahr zu haben, löste genau das ein befreiendes Gefühl bei ihm aus.

»Keine zwei Stunden sind es nach Berlin und du tust so, als würde ich auf den Mond fliegen!«

Ihm war die Geduld gerissen. Manchmal glaubte er, dass Nadine sie nicht mehr alle hatte. Allein mit zwei Kindern in der Wüste, verlassen von einem grausamen Ehemann, der nur seine Karriere im Auge hat. Sie steigerte sich da in etwas hinein, was sich ausschließlich in ihrem Kopf abspielte, und seit Neuestem versuchte sie, und das war eindeutig unter der Gürtellinie, die Kinder gegen ihn aufzuhetzen. Bei ihrem letzten Wortwechsel war Kerstin zu ihnen ins Wohnzimmer gekommen. »Du machst alles kaputt!«, hatte sie ihn fast hysterisch angeschrien, sein kleines Tinchen. Das konnte unmöglich nur von ihr kommen. Dahinter steckte Nadine.

Heute Morgen wollte Nadine ihn zum Bahnhof bringen, doch er hatte abgelehnt und ein Taxi genommen. Ihr vorwurfsvoller Blick am Bahnsteig wäre eindeutig zu viel gewesen. Als er sie an der Haustür zum Abschied küssen wollte, hatte sie sich abgewendet.

»Mach ihr klar, dass du nicht mehr anders kannst, jetzt, wo die harte Arbeit zum ersten Mal Früchte abwirft, ansonsten ...«

Frank hatte sich nie in sein Privatleben eingemischt und natürlich wusste er, wie sehr er an Nadine und den Kindern hing. Doch diesmal hatte er sich beinahe den Mund verbrannt, denn der Satz konnte nur enden: »...ansonsten würdet ihr euch trennen!«

Er hatte sich entschuldigt, dass es ihm leid täte, zu weit gegangen zu sein. Ihm waren eben die Pferde durchgegangen. Doch jetzt klang Teiwes Franks Ausrutscher wieder in den Ohren. Nicht ohne Wehmut. Frank war tot.

Er erinnerte sich, als er ihn an einem Samstag in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg besucht hatte. Saniertes Zwei-Zimmer-Apartment mit gemütlichen Dielenböden in einem der Altbauten an der Schönhauser Allee. Im fünften Stock, ohne Aufzug, aber modern durchgestylt und ansonsten mit der neuesten Technik versehen. Die Fassade und der Hausflur präsentierten sich dagegen wenig einladend. Besonders der Hausflur mit seiner schummrigen Beleuchtung und den Brechreiz erregenden Ausdünstungen von Essigputzmittel.

Nachdem Frank ihn durch das Regierungsviertel geführt hatte, setzten sie sich in einen der Touristenbusse und machten die obligatorische Stadtrundfahrt. Genächtigt hatte Teiwes auf der Couch im Wohnzimmer.

Die Wohnung lag günstig zur Stadtmitte und den Regierungsgebäuden, hauptsächlich deshalb hatte Teiwes sie übernommen. Außerdem gab es laut Frank eine Hausmeisterin namens Schulzendorf, die das Apartment auf Wunsch putzte und Hemden bügelte, wenn es sein musste. Ein ausgesprochen praktischer Service, aber Teiwes war der Schulzendorf noch nicht über den Weg gelaufen.

Der Geräuschpegel war hoch. Alte Bekannte schäumten über vor Freude, sich wiederzusehen, umarmten sich, küssten sich links und rechts, streichelten sich zärtlich über den Rücken. Die erste Fraktionssitzung nach der Wahl. Fraktionschef Ludger Kambäro grüßte in alle Richtungen. Insbesondere lag sein Augenmerk auf den Neuen. Am Anfang sollten sie das sichere Gefühl haben, dass er für sie da war, dass er ihr Freund war. Er vermied es, seine Autorität herauszukehren. Den meisten der Neulinge durfte ohnehin klar sein, dass sie nichts zu lachen hatten, wenn sie Alleingänge wagten.

Wer klug war und bestehen wollte, hielt sich innerhalb der Fraktion zurück, war fleißig und tat, was man ihm sagte. Erst nach einiger Zeit, unter Umständen nach Jahren, wenn er fester im Sattel saß und seine Arbeit verlässlich machte, betraute man ihn mit höheren Aufgaben. Das war der Lauf der Dinge, es sei denn, es gab unerwartete Änderungen.

Aus dem Hintergrund schälte sich ein weiteres neues Gesicht. Leon Teiwes, das »Wunder« von Braunschweig. Kambäro nickte ihm freundlich zu. Frank Wülfing, der drei Jahre sein Stellvertreter gewesen war, hatte ihm Teiwes als sein Ziehkind vorgestellt. Der Schönling war ihm schon bei der ersten Begegnung nicht besonders sympathisch gewesen. Aber Kanzler Daubner hatte auf die ätzende Kritik der Presse hin, sein Kabinett würde Methusalem alle Ehre machen, eine Kehrtwende in der Personalpolitik beschlossen. Es müssten mehr Junge ran, hatte er Kambäro in einer Unterredung mit beinahe vorwurfsvollem Unterton gesagt. Wer hatte denn alles, was jung und fähig war, aus seinem Umfeld weggebissen und eiskalt fallenlassen? Das war doch der Alte selbst gewesen. Aber Kambäros Chancen auf ein Ministeramt konnten sich nur verbessern, wenn er das machte, was der Kanzler von ihm wollte, selbst wenn ihm die smarten, dekorativen Typen, wie Teiwes einer war, zutiefst suspekt vorkamen. Er warf einen Blick auf die Uhr und räusperte sich unüberhörbar. Dann läutete er mit der Glocke die Sitzung ein. Die Presse verließ den Saal.

Der Tag bestand darin, die vielen kleinen Einzelheiten abzuchecken, die neu und wichtig waren. Gegen Mittag machte Teiwes in seinem Büro im Abgeordnetenhaus Pause.

»Beeindruckend das Ganze hier, das muss ich schon zugeben«, sagte er zu seiner Sekretärin Bettina Elisabeth, die mit »Tissy« Lohmann angesprochen werden wollte.

Er stellte seinen schwarzen Koffer neben den überfüllten Schreibtisch und warf den Mantel auf den hölzernen Garderobenständer, der Ähnlichkeiten mit einer Vogelscheuche aufwies. Im Gegensatz zu den weiten, lichten Konferenzräumen mit den hohen Fensterfronten waren die Büros lächerlich klein.

»Wenn Sie länger hier sind, beeindruckt sie nur noch eines: ein ehrliches Wort.«

Tissy Lohmann kaute gerade auf einem Stück Birne, als sie ihm das sagte. Sie war Mitte vierzig, begabt mit der Art Spott, mit dem der Berliner alles Aufgeblasene anpiekst. Doch ihr Lächeln war rund und frei von Sarkasmus, und auch mit über vierzig wäre sie eine Schönheit gewesen, wenn nicht ein derber Witz der Natur ihr Gesäß im Verhältnis zu dem eher zarten Oberkörper so überdimensioniert hätte. Sie war Teiwes empfohlen worden, und er hatte nicht abgelehnt. Er konnte Leute gebrauchen, die den Betrieb kannten.

»Es haben sich schon erste Bewerber gemeldet«, sagte Tissy, während ihre Finger so selbstverständlich über das Keyboard des Computers klimperten, dass niemandem eingefallen wäre, es könnte sich dabei um Arbeit handeln.

»Bewerber?«

»Bewerber für Ihre Zeit. Zum Beispiel Demel von der Energie Deutschland.«

»Wann? Und was will er?«

»Was er will? – Sich vorstellen, vermutlich. Der Termin ist morgen 10.15 Uhr. Ich hab ihm 15 Minuten gegeben. Mehr wäre nicht angebracht.«

»Wenn Sie das sagen ...«

»Diese Sorte darf man nicht verwöhnen, aber natürlich gebe ich ihm mehr Zeit, wenn Sie möchten.«

»Nein, lassen Sie nur ...«

Die Zusammenkunft des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie war für den Nachmittag angesetzt. Wieder ein hoher Saal mit viel Glas. Zeitweise schielte die Sonne in die grauen Höfe aus Stahl und Beton.