Eulenspiegels tödliche Streiche - Mick Schulz - E-Book

Eulenspiegels tödliche Streiche E-Book

Mick Schulz

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Mitten in der Nacht wird Kriminalhauptkommissarin Hella Budde zur Traditionsbäckerei Krenz in der Braunschweiger Innenstadt gerufen. Jemand hat den Chef der Bäckereikette wie einen Laib Brot im Holzofen gebacken. Für Hella Budde und ihren Kollegen Kai Fischbach gestalten sich die Ermittlungen schwierig, denn Krenz hatte ebenso viel Geld wie Feinde. Kurz darauf geschieht ein weiterer bizarrer Mord. Bei ihren Nachforschungen deckt Hella Zusammenhänge auf, die sie zu einem berühmten Sohn der Region führen …

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Seitenzahl: 322

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Mick Schulz

Eulenspiegels tödliche Streiche

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Martina Berg / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7496-5

Widmung

Für Löwenherz

ONE LOVE

Zitat

Sehtundhört alle her, was ich euch verkünden will! Es ist ander Zeit, den Teufel selbst zu foppen, ihm mit Narreteien den Garaus zu machen. Auch er ist nicht vor mir gefeit. Vorknöpfenwerde ich ihn mir und seine Kumpane, Betrüger und Mörder, diesie sind, dem Gespött ihrer Mitmenschen undzuletztdem Sensenmann ausliefern. Alle werden am Pranger bluten und die Strafe erhalten, die sie verdienen. Das böse Spiel ist aus, ein Blick in meinen Spiegel wird ihr Auge brechen!

1

»Verdammt kalt dieser Frühling«, begrüßte Hella den Kollegen, als ihr die wohlige Wärme aus dem Inneren des alten Opel Astra entgegenschlug.

»Der Frühling ist mir ziemlich egal, aber muss es unbedingt mitten in der Nacht sein?«, raunzte Kai und gab ihr kaum Zeit, die Wagentür hinter sich zu schließen. Ein Blick in seine kleinen Augen bestätigte Hella, dass ihn wieder seine Migräne heimsuchte. Also ließ sie ihn in Ruhe. Es gab ohnehin nichts zu sagen. Noch nicht, außer vielleicht, dass sie zuerst nicht glauben wollte, was ihr die Kollegin am Telefon mitgeteilt hatte. Der Anruf war von der Zentrale in der Münzstraße gekommen. Daraufhin hatte Hella umgehend Kai in Kenntnis gesetzt. Es genügte, wenn sie mit einem Auto am Tatort erschienen.

Drei Uhr siebenundvierzig. Die Braunschweiger Straßen und Plätze waren wie leergefegt. Kai nahm die Abkürzung durch die Fußgängerzone. In wenigen Minuten hatten sie den Ziegenmarkt erreicht. Vor der Bäckerei Krenz stand ein Einsatzwagen der Streife, die über den Polizeiruf benachrichtigt worden war. Der Verkaufsraum leuchtete hell, doch die Eingangstür war verschlossen. Auch auf Kais Klopfen hin ließ sich niemand blicken.

»Gibt es eine Seitentür?«, fragte Hella.

»Woher soll ich das wissen?«

»Ich dachte, du kennst dich in Braunschweig aus«, erwiderte sie und grinste.

Die Tür an der linken Seite der Fassade führte in die Backstube, wo der Streifenpolizist bereits auf sie wartete. Er hätte der Zwillingsbruder ihres neuen Kommissaranwärters Simon Pläschke sein können, dachte Hella, beide waren etwa eins achtzig groß, Ende zwanzig, rothaarig und trugen Bürstenschnitt.

»Unfassbar, ich glaube es einfach nicht«, begrüßte er sie mit weit aufgerissenen Augen, »Braun gebrannt wie eine Gans in der Röhre. Wer macht denn so was?«

Hella ging es wie dem jungen Streifenpolizisten. Am Telefon hätte sie beinahe gelacht, als ihr die Kollegin mitgeteilt hatte, was passiert sein sollte. Selbst Kai Fischbach hatte etwas Derartiges trotz seiner bald dreißig Dienstjahre bei der Kripo Braunschweig noch nicht erlebt. Jetzt standen sie vor dem Steinofen und fanden keine Worte.

»Der Bäckergeselle, der heute Morgen seinen Dienst antreten wollte, wunderte sich, warum die Backstube nicht abgeschlossen war, dann der Geruch. Jemand musste vor ihm den Ofen in Betrieb gesetzt haben. Zunächst dachte er, es sei der Chef selbst gewesen, aber niemand war da, und dann öffnete er den Ofen …«

Der Anblick nahm ihnen den Atem. Es war nicht sofort eindeutig, dass es sich um einen menschlichen Körper handelte, aber als sie genauer hinsah, konnte Hella Gliedmaßen und einen Schädel erkennen. »Weiß man schon, wer das Opfer ist?«

»Der Geselle hat den Siegelring am Finger der Leiche erkannt, Frau Hauptkommissarin. Demnach handelt es sich um den alten Krenz selbst, also Bertold Krenz, den Inhaber der Bäckereikette«, gab der Streifenpolizist seinen Kurzbericht ab.

»Danke, Kollege. Gut gemacht. Ist der Geselle noch da?«

»In der Teeküche nebenan. Den kriegen keine zehn Pferde mehr in die Backstube, das kann ich Ihnen sagen.«

Auf der Sitzbank des kleinen Personalraums wartete zusammengekauert ein Mann, etwa vierzig Jahre alt, schlank, mittelgroß mit dicken schwarzen Augenbrauen und gelblichem Teint, den ganz und gar das Grauen gepackt hatte.

»Kai, sag bitte den Kollegen von der KTU Bescheid, sie sollen sofort kommen. Ich rufe selbst bei Dr. Weinreb an. Wir wollen hier nichts falsch machen. Gibt es eine Telefonliste, damit wir die Angehörigen benachrichtigen können?«, fragte Hella den Streifenpolizisten.

»Bestimmt oben im Verkaufsraum.«

»Natürlich. Und wie ist Ihr Name?«, wandte sie sich jetzt an den Bäckergesellen.

»Ich Hamoudi. Ich nicht weiß, was passiert. Ich gefunden hier. Sollte vorbereiten, backen mit Chef, verstehen? Hier nur backen Chef und Hamoudi. Neue Rezepte, verstehen?«

Eine Schockwelle ließ den Mann plötzlich am ganzen Körper zittern. Es hatte nicht viel Sinn, ihn jetzt noch genauer zu befragen, dachte Hella. »Bitte kommen Sie um acht Uhr dreißig zur Zeugenbefragung und zur Abnahme von Fingerabdrücken ins Kommissariat Mitte in der Münzstraße. Gehen Sie jetzt besser nach Hause und versuchen Sie sich zu beruhigen.« Hamoudi nickte. Sie wandte sich an Kai: »Ich brauche nicht zu sagen, dass nach der KTU niemand mehr die Backstube betreten darf, und natürlich bleibt das Geschäft bis auf Weiteres geschlossen. Hier muss jeder Quadratzentimeter untersucht werden.«

»Selbstredend. Soll ich die Liste abtelefonieren, Chefin?«

Wenn er sie »Chefin« nannte, dann wusste sie, dass sie ihren Kommandoton besser nicht verschärfte. Denn ihr Kai war sensibel. »Ja, bitte. Ich nehme an, dass er verheiratet war, vielleicht ist die Witwe zu erreichen. Wir sollten so schnell wie möglich mit einer Vertrauensperson des Verstorbenen sprechen.«

»Brauchen Sie mich noch, Frau Hauptkommissarin?«, fragte der Streifenpolizist.

»Nein, danke«, erwiderte Hella, »Oder, warten Sie … Vielleicht könnten Sie Herrn Hamoudi nach Hause fahren. Er steht unter Schock.«

»Gern.«

»Ich wünschte, alle hätten es so drauf wie der junge Kollege von der Streife«, sagte Hella, nachdem er gegangen war, und erwartete ein eifersüchtiges Aufblitzen in Kais Augen, aber der war bereits auf dem Weg in den Verkaufsraum, um die Telefonliste ausfindig zu machen.

Auch Hella spürte einen Widerwillen, die Backstube noch einmal zu betreten, doch bevor die Kriminaltechnische Untersuchung anrückte, musste sie sich selbst einen möglichst umfassenden ersten Eindruck verschaffen.

Allmählich erkaltete die Luft, und auch das Papiertaschentuch, das sie sich vor die Nase hielt, konnte den ekelhaften Geruch kaum zurückhalten. Mit professionellen Bäckeröfen kannte sie sich nicht aus. Das rote Licht signalisierte anscheinend, dass ein Programm abgelaufen war. »Landbrot« stand daneben.

Jetzt erst fiel Hella auf, dass auf einem der Arbeitstische Kleidung abgelegt worden war: Hose, Hemd, Jacke, Schuhe. Die Kleidung des Opfers? Wenn ja, dann sagte die Art und Weise, wie er sie drapiert hatte, bereits einiges über den Täter aus. Er zeigte einen sichtlich ausgeprägten Sinn für Ordnung. Offenbar hatte er sich keineswegs bedrängt gefühlt und kannte sich hier aus. Er musste gewusst haben, dass er Krenz allein in der Backstube vorfinden würde. Fragte sich, wie die Tat abgelaufen sein könnte …

»Die Witwe von Krenz wohnt in Querum, das sind nur ein paar Kilometer von hier. Wir sollten sie sofort aufsuchen, dann könnten wir auch gleich mehr erfahren«, meinte Kai.

Davor hatte Hella allerdings noch etwas zu erledigen. Sie drückte die Nummer von Dr. Weinreb. Auch ihre Freundin dachte zuerst, sie scherzte, als sie ihr den Fall schilderte. »Eine ziemlich originelle Geschichte, das muss ich zugeben, aber eigentlich wollte ich endlich wieder einmal eine Nacht durchschlafen.«

Doch Hella kannte die unstillbare Neugier der Gerichtsmedizinerin, sicher würde es nicht lange dauern, bis Daniela aufkreuzte. Auch die Kollegen der Spurensicherung waren auf dem Sprung. Der erste stand bereits im Schutzanzug in der Tür.

»Moin. Manchmal frage ich mich, wozu der da oben die Nacht erschaffen hat«, begrüßte er sie.

»Jedenfalls nicht allein zum Schlafen«, erwiderte Hella und grinste.

Vier Uhr zweiundfünfzig. Die Witwe des Toten wohnte nur ein paar Kilometer nordöstlich vom Stadtzentrum auf dem Land. Am Horizont begann sich die Dunkelheit allmählich aufzulösen, und die Umrisse der Bäume und Häuser ragten aus der Finsternis.

»Das ist nicht nur ein Mord. Das ist eine makaber inszenierte Bestrafung«, dachte Hella laut nach. »Ich frage mich nur, wie die Tat abgelaufen ist. Selbst mit vorgehaltener Pistole wird Krenz kaum selbst in den Ofen gekrochen sein. Das war gar nicht möglich. Der Täter musste ihn regelrecht zusammenfalten.«

Kai nickte. »Vielleicht hat er ihn vorher betäubt, oder er war bereits tot, als ihn der Mörder in den Ofen schob. Das wird die Gerichtsmedizin feststellen …«

Der Klingelton von Hellas Handy unterbrach ihn. »Budde.«

»Hier Lenz von der KTU. Wir haben eine Blutspur in der Nähe des Seiteneingangs entdeckt. Sieht aus, als habe hier eine Auseinandersetzung stattgefunden.«

»Das passt ins Bild, bitte überprüft doch so schnell wie möglich, ob es sich um das Blut des Opfers handelt. Ist Frau Dr. Weinreb schon da?«, fragte Hella.

»Gerade angekommen.«

»Richten Sie ihr bitte aus, dass sie auf mich warten soll.« Sie legte auf. Es war noch zu früh, um mit Daniela zu sprechen, auch sie musste sich zuerst einen Überblick verschaffen.

»Ziel erreicht«, meldete das Navi, als vor ihnen ein alter Fachwerkhof auftauchte, den eine Mauer und ein großes Holztor von der Außenwelt abschirmten. Kai parkte den Wagen am Straßenrand. Offenbar waren sie gesehen worden, denn das Tor bewegte sich, noch bevor sie überlegen mussten, wie sie in den Innenhof gelangen könnten.

»Frau Krenz?«, fragte Kai.

Vor ihnen stand eine Frau zwischen fünfzig und siebzig, an deren schmalem Körper ein ausgebeulter Jogginganzug baumelte. Für ihren Besuch schien sie sich kaum zu interessieren, dafür umso mehr für das Fellknäuel in ihren Armen. Nur kurz blickte sie auf. »Elisabeth Krenz ist mein Name«, erwiderte sie mürrisch.

»Entschuldigen Sie die frühe Störung, aber aus gegebenem Anlass …«, schlug Hella einen freundlichen Ton an. Schließlich ging es darum, die Ermittlungen möglichst schnell in Fluss zu bringen.

»Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Mann einem Tötungsdelikt zum Opfer gefallen ist«, ergänzte Kai in offiziellem Tonfall.

»Kommen Sie herein. Ich war ohnehin wach. Mäxchen hat wieder Koliken, und es sieht nicht so aus, als ob er es diesmal gut überstehen wird.«

Elisabeth Krenz hatte gerade erfahren, dass ihr Mann getötet worden war, aber sie sorgte sich um ihre Katze. Das war zumindest bemerkenswert, dachte Hella, als sie der Witwe über einen mit Kopfstein gepflasterten Hof zum Wohnhaus folgten. Aus der Eingangstür streckten zwei weitere Katzen die Nasen in die feuchtkalte Luft und schienen zu überlegen, ob sie einen Ausflug wagen sollten. Doch mit einem »Rein mit euch!« nahm ihnen ihre Besitzerin die Entscheidung ab.

Auf dem Gang mussten sie über zwei ausgestreckte Hundekörper steigen, dann erreichten sie eine mit breiten Dielen ausgelegte Bauernstube, eingerichtet mit rustikalen Holzmöbeln. Elisabeth Krenz wies ihnen Plätze auf einer abgewetzten Couchgarnitur zu.

»Der Resthof gehörte einst meinen Eltern. Hier in Querum bin ich geboren und hierhin bin ich zurückgegangen, nachdem mein Mann und ich uns getrennt hatten. Also, was ist genau mit ihm passiert?«

Im Schein einer Stehlampe konnte Hella ihr Gegenüber nun besser erkennen. Die von Falten zerschnittene Gesichtslandschaft der Witwe erzählte Bände von den Enttäuschungen ihres Lebens, überhaupt schien sich diese Frau für ihr Äußeres schon lange nicht mehr zu interessieren.

»Wir wissen es noch nicht, aber er ist vermutlich durch ein Gewaltverbrechen ums Leben gekommen«, beantwortete Hella die Frage wahrheitsgemäß.

»Erschossen, oder was?«, fuhr die Witwe sie ungeduldig an. »Etwas werden Sie doch sagen können.«

»Seine Leiche hat der Geselle in der Backstube der Filiale am Ziegenmarkt gefunden …« Kai kam nicht zum Ende, denn die näheren Umstände durfte er natürlich nicht preisgeben. Sie gehörten zum Täterwissen.

Die Witwe ließ endlich davon ab, das Knäuel in ihren Armen zu tätscheln.

»Hatte Ihr Mann Feinde?«, begann Hella die Befragung.

»Fragen Sie besser, ob er Freunde hatte. Die Antwort lautet: nicht, dass ich wüsste.«

»Betrifft das auch Sie?«

»Ich habe mich mit meinem Mann finanziell geeinigt, pflege aber keinerlei Kontakt mit ihm. Wir sind zwar nicht geschieden, aber ich halte mich aus den Geschäften heraus. Der Gegenwert ist ein gutes Auskommen. Und wenn Sie wissen wollen, wo ich heute Abend war: hier. Ich bin immer hier, und wie Sie sehen, habe ich dafür jede Menge Zeugen.« In der Zwischenzeit hatte sich eine Schar Katzen in der Stube versammelt und starrte die Besucher stumm an.

»Und was ist mit dem Rest der Familie? Wir brauchen von Ihnen jetzt einige Auskünfte«, übernahm Kai und zückte sein Notizbuch.

»Das Opfer hat drei Kinder, und der Zufall will es, dass alle in Braunschweig und Umgebung wohnen. Kai und ich werden uns also aufmachen. Vielleicht ergibt sich eine schnelle Spur …«

»Nur zu, ich brauche ohnehin meine Ruhe bei der Untersuchung der Leiche«, fiel ihr Daniela am Handy ins Wort. »Eines ist allerdings jetzt schon so gut wie sicher: Der Mann wurde mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen, noch bevor er im Ofen landete.«

»Danke dir, wir sehen uns«, erwiderte Hella und drückte den Anruf weg. So wie sie ihre Freundin kannte, würde sie ihr noch am Vormittag den detaillierten Bericht präsentieren. Dann wären sie ein ganzes Stück weiter.

Kai Fischbach gab die Adressen, die ihm die Witwe mitgeteilt hatte, in das Navi ein. Bertold Krenz hatte zwei Söhne, der älteste, Armin, war der zweite Mann im Geschäft und wohl auch der Nachfolger des Opfers, also jemand, der aus dem Tod seines Vaters einen klaren Vorteil zog.

Fünf Uhr achtundfünfzig. Armin Krenz hatte bis eben noch geschlafen, als sie ihn in seiner Wohnung in der Nähe des Garnisonsfriedhofs aufsuchten. Anscheinend war er nicht von seiner Mutter benachrichtigt worden, denn er rieb sich verwundert die Augen, als Hella und Kai in der Tür standen. Nachdem sie ihm von dem Vorfall berichtet hatten, war er hellwach, nahm die Nachricht vom Tod seines Vaters aber anscheinend ohne sichtbare Gefühlsregung hin. Er versicherte ihnen, nach der täglichen Abrechnung in den Filialen gegen zehn am Vorabend hundemüde ins Bett gefallen zu sein. Dafür habe er allerdings keine Zeugen, denn er lebe seit einiger Zeit von seiner Frau und den Kindern getrennt.

»Stehen Sie uns bitte um neun Uhr dreißig auf dem Kommissariat Mitte für eine weitere Zeugenbefragung zur Verfügung«, verabschiedete sich Hella.

»Scheint wirklich nicht besonders beliebt gewesen zu sein, dieser Bertold Krenz«, war Kais Kommentar auf dem Weg an den nördlichen Stadtrand.

»Jeder reagiert anders auf einen solchen Schock«, erwiderte Hella, teilte aber durchaus seine Meinung. Das könnte eine Menge Arbeit bedeuten.

»Ziel erreicht auf der linken Seite«, meldete das Navi, als sie in eine Straße mit Neubauvillen einbogen.

»Nicht schlecht. Dafür mussten sie garantiert eine Menge Brötchen backen.«

Typisch Kai, dachte Hella. Seine Migräne schien er vergessen zu haben. In dem Moment sprang die Sicherheitsbeleuchtung an und gab den Blick auf die Auffahrt frei. Mittlerweile war es fünf Minuten vor sieben. An der Tür erschien eine Frau im geblümten Bademantel, die offenbar die schlimme Nachricht bereits erhalten hatte. Mit verweinten Augen, ohne abzuwarten, bis sie sich vorgestellt hatten, fiel sie Hella schluchzend um den Hals und stammelte: »Sagen Sie, dass es nicht wahr ist. Mein Papa, mein einziger Papa …«

Kai half ihr, die offenbar angetrunkene und verwirrte Frau ins Haus zu bringen. Die Villa schien kaum älter als zwei Jahre zu sein, war luxuriös und mit viel Glas ausgestattet. Auf dem Tisch im Wohnraum standen eine halb volle Flasche Gin und ein Glas. In dem Zustand, in dem sich die Frau befand, musste sie mit dem Trinken begonnen haben, bevor sie vom Tod des Vaters erfahren hatte. Zweifellos handelte es sich um Anneke Krenz, die einzige Tochter des Mordopfers. Vom Flur aus hörten sie jetzt das Schließen der Haustür. Schnelle, feste Schritte kamen auf sie zu.

»Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«, fragte ein hochgewachsener Mann im Smoking mit besorgter Miene, nicht ahnend, dass er die Staatsgewalt vor sich hatte. Wie sollte er auch, schließlich waren sie in Zivil.

»Kriminalhauptkommissarin Hella Budde«, stellte sie sich vor.

»Hat sie etwas angerichtet?«, fragte er. Offenbar hatte es in der Vergangenheit bereits Vorkommnisse gegeben.

»Nein, keine Sorge. Sind Sie Herr Burmann?«

»Ja, Klaas Burmann. Anneke ist meine Frau.« Er ging auf Anneke zu, und sie schmiegte sich in seine Arme, in ihrem Blick lag eine unterwürfige Entschuldigung.

»Wir sind hier, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Schwiegervater einem Tötungsdelikt zum Opfer gefallen ist. Wo waren Sie gestern Abend und die Nacht über?«

»Ich komme soeben von einem Kongress der freien Versicherungsmakler und bin bis in den frühen Morgen in Hannover geblieben.«

»Gibt es dafür Zeugen?«, fragte Kai.

»So viele Sie wollen.«

Der augenblickliche Zustand von Anneke Burmann ließ es nicht zu, sie weiter zu befragen. Auch ihr Mann wusste darüber hinaus nichts zu sagen. Hella kündigte eine spätere Befragung an, aber noch am Nachmittag.

Es war bereits acht Uhr fünfzehn, als sie im Friedrich-Wilhelm-Viertel angekommen waren. Der jüngste der drei Krenz-Geschwister, Vincent Krenz, wohnte in der Dachmansarde eines Kiez-Altbaus, und auch ihn klingelten sie offenbar aus dem Bett. Nach eigenen Worten hatte er mit dem Bäckerberuf nichts am Hut. Er wollte immer schon zum Theater gehen und habe seinen Traumberuf als Beleuchter in der Staatsoper gefunden. Gestern sei es spät geworden, und er habe den Morgen frei.

Auf die Frage, wo er sich den Abend und die Nacht über aufgehalten habe, gab Vincent Krenz an, die Vorstellung »Nabucco« beleuchtet zu haben und danach noch auf ein paar Bier in der Theaterkneipe gewesen zu sein. Gegen halb eins sei er nach Hause gegangen. Den Ziegenmarkt konnte man von der Oper allerdings leicht zu Fuß erreichen, dachte Hella.

»Wir erwarten Sie zu einer weiteren Befragung im Kommissariat. Nach Möglichkeit noch heute«, beendete sie das Gespräch.

2

Als sie in Richtung Kommissariat fuhren, war es bereits kurz vor neun.

»Der Fall ist nicht nur kurios«, meinte Kai, als er in die Münzstraße einbog. »Auffällig ist auch, dass die Familienangehörigen die Nachricht von dem Mord fast ungerührt entgegengenommen haben. Bis auf die Tochter Anneke scheinen alle Zyniker zu sein.«

»Vermutlich haben sie ihre Gründe. Aber die Tat selbst lässt auf starke Emotionalität schließen, hier hasst jemand aus ganzem Herzen«, erwiderte Hella und seufzte. »Weiteres wird sich zeigen.« Damit meinte sie den Befragungsmarathon, der ihnen in den nächsten Tagen bevorstand.

Fahles Morgenlicht ließ den regennassen Parkplatz vor dem Kommissariat glänzen. Nachdem sie das graue Gebäude betreten hatten, besorgten sie sich als Erstes Kaffee im Untergeschoss und freuten sich auf die kurze Pause, als ihnen auf dem Weg in den dritten Stock jemand begegnete, den Hella noch nicht erwartet hatte: Kriminalrat Senge.

»Warum sagt mir niemand etwas?«, begrüßte Senge sie ziemlich aufgebracht. »Es versteht sich doch wohl von selbst, dass ich in so einem wichtigen Fall unverzüglich informiert werden möchte, Hella.«

»Entschuldige, Ludger, aber ich dachte, du wärst längst im Bild. Außerdem ist es doch bestimmt in deinem Sinn, dass wir keine Zeit verloren und die Ermittlungen sofort aufgenommen haben, oder?«

Senge schwieg, fuhr sich mit der Hand über den fast kahlen Hinterkopf. Erst jetzt bemerkte Hella, dass seine Hände zitterten. Er konnte sich doch nicht allein deshalb so aufgeregt haben, weil sie ihn noch nicht in Kenntnis gesetzt hatte? Das wäre schließlich nicht das erste Mal gewesen.

»Stimmt etwas nicht mit dir, Ludger?«, fragte sie. Irgendwie wirkte der Kriminalrat geistesabwesend.

»Nein, nein«, antwortete er fahrig. »Ich glaube, ich brauche nur einen Kaffee. Es ist gerade etwas stressig. Ich bin da in eine Angelegenheit …« Doch anscheinend wollte er darüber weiter nicht reden und kam wieder zur Sache. »Ich muss mich voll und ganz auf dich verlassen können, Hella. Die Presse wird nicht auf sich warten lassen. In diesem Stadium darf auf keinen Fall etwas über den Tathergang durchsickern. Wir kämen sonst aus den Schlagzeilen nicht heraus. Krenz ist ohnehin stadtbekannt. Also, was gibt es zu berichten?«

»Ich habe alle relevanten Zeugen im Laufe des Tages ins Kommissariat bestellt. Es gibt noch keine Tatverdächtigen, das Opfer scheint aber selbst in der eigenen Familie alles andere als beliebt gewesen zu sein. KTU und Gerichtsmedizin arbeiten auf Hochtouren.«

Senge schien sich zu beruhigen, war aber in Gedanken offenbar ganz woanders.

»Gut so. Wenn möglich, werde ich bei den Befragungen dabei sein«, erwiderte er, drehte sich um und ging. In dem Augenblick tauchten zwei Männer aus seinem Büro auf, die ihn sofort in Beschlag nahmen.

»Wir brauchen vor den Befragungen alle Informationen über Krenz, die wir kriegen können, Kai«, wandte sich Hella an den Kollegen.

»Schon verstanden, Chefin, werde den Computer auspressen wie eine Zitrone«, erwiderte er mit einem ironischen Lächeln.

Freitag, der zweiundzwanzigste April, der Tag, der so früh mit einem Mord begonnen hatte, nahm seinen weiteren Lauf. Als Erster erschien der Bäckergeselle, der den Toten gefunden hatte, im Kommissariat. Hella brachte ihn in den Vernehmungsraum zweihundertdreiundvierzig und begann mit der Belehrung. »Das ist eine Zeugenbefragung. Es geht um Informationen, die uns helfen, den Täter zu finden, verstehen Sie? Sie brauchen keine Angst zu haben«, versuchte Hella Vertrauen aufzubauen. »Zunächst nehme ich die üblichen Daten auf, den vollständigen Namen, Alter, Familienstand und so weiter.«

»Mein Name Hamoudi, vierunddreißig, ich verheiratet und drei Kinder, Wohnung in Echternstraße.«

»Ist Hamoudi der vollständige Name?«

»Sie wollen ganze Name?«

»Ja, bitte«, antwortete Hella.

»Hamoudi Ibn Mustafa Ibn Mohamad Ibn Ahmed Al Jabbar.«

Hella seufzte. Ein Grinsen stand jetzt auf dem Gesicht des Zeugen. »Sie besser sagen Hamoudi, oder?«

Nach eigenen Angaben war Hamoudi seit über einem Jahr so etwas wie der persönliche Assistent von Bertold Krenz. Krenz kreierte immer wieder selbst Rezepte für neue Brot- und Gebäcksorten, die er dann als Aktion für kurze Zeit backen ließ. Die Filiale am Ziegenmarkt war die älteste. Krenz hatte den Betrieb der Eltern übernommen und am Anfang selbst als Bäcker dort gearbeitet. Laut Hamoudi liebte er es, in der alten Bäckerei zu arbeiten.

»Für mich ist große Ehre, hat gesagt. Nur Hamoudi helfen Chef.«

Anscheinend hatte Hamoudi eine gute Beziehung zu dem späteren Tatopfer.

»War er ein guter Chef?«, fragte sie.

»Chef streng, aber fair«, antwortete er, ohne zu zögern. »Zu Hamoudi immer fair. Hat gesagt, Hamoudi und Fatma haben schöne Kinder.«

»Haben Sie sich regelmäßig getroffen?«

»Immer Donnerstag.«

Also musste der Täter davon gewusst haben, dachte Hella. »Was genau ist am frühen Morgen passiert, Hamoudi? Wann haben Sie die Backstube betreten?«

Laut Aussage war er in der Echternstraße um zwanzig vor vier mit dem Fahrrad losgefahren, der Chef erwartete ihn gegen vier. Doch als er sein Fahrrad an der Hauswand der Bäckerei abstellte, stand die Seitentür offen und ein seltsamer Geruch kam aus der Backstube. Er habe gedacht, dass der Chef diesmal nicht auf ihn warten wollte, schilderte der Zeuge, er sei immer viel früher dagewesen.

»Sie betraten also die Backstube …«

»Ja, Licht in Backstube. Kleider von Chef, aber kein Chef. Es stinken, verstehen? Sehr stinken …«

»War etwas unordentlich in der Backstube?«

»Nein, ich nur denken, was in Ofen? Dann habe geschaut. Es war Mensch, ja, ein Mensch. Ich nur denken Polizei. Ich hoch in Geschäft und angerufen«, erzählte der Zeuge, während seine großen braunen Augen noch größer wurden. Offenbar hielten ihn die Erinnerungen weiterhin in ihrem Bann. Genaueres würde dann im Bericht der KTU stehen. Hella konnte sich nicht vorstellen, dass der Bäckergeselle der Täter war, aber die Ermittlungen standen erst am Anfang. »Danke bis hierhin. Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung, falls wir noch Fragen haben.«

»Natürlich«, antwortete der Zeuge.

Er hatte sich von seinem Schock sichtlich noch nicht erholt, dachte sie.

Der Bäckergeselle verließ den Vernehmungsraum, und Hella spürte jetzt, dass sie in der Nacht zuvor nur drei Stunden geschlafen hatte. Am Vorabend hatte Christos in seiner Taverne zehnjähriges Jubiläum gefeiert. Und da er ihr einziger Verwandter mütterlicherseits in Braunschweig war, konnte sie nicht anders, als wenigstens dort vorbeizuschauen. Aus der halben Stunde waren drei geworden. Christos hatte ihren Diätplan kurzerhand für Mumpitz erklärt und ihr eine Platte unwiderstehlicher Leckereien aus der griechischen Küche vorgesetzt. Dafür hatte sie sich geschworen, es beim Frühstück bei einer Tasse Kaffee zu belassen. Aber jetzt war es bereits die dritte mit reichlich Zucker, und dann kam Kai …

»Du machst es dir nur unnötig schwer, Hella«, begrüßte er sie und ließ eine Papiertüte, deren Inhalt stark nach Salami und Ei roch, vor ihrer Nase baumeln. »Normal satt essen, das ist das Geheimnis, drei Mahlzeiten täglich und nichts davor, dazwischen und danach.«

Sie sah ihn verzweifelt an.

»Also bitte, ich schau auch nicht hin.«

Hella kam blitzschnell zu dem Schluss, dass Kai definitiv recht hatte. Schließlich ging es darum, eine effiziente Befragung durchzuführen, da war ein knurrender Magen absolut kontraproduktiv. »Was hast du über Bertold Krenz herausgefunden?«, fragte sie, bevor der Duft der Baguettes sie endgültig die Waffen strecken ließ.

»Manches ließ sich über die Homepage der Bäckereikette Krenz ermitteln. Bekanntes Traditionsunternehmen, bereits 1905 vom Großvater des Toten, Heinrich Krenz, gegründet. Ende der Achtziger expandierte dann der Enkel Bertold und vergrößerte den Betrieb von drei auf heute neunzehn Bäckereien und Cafés in und um Braunschweig. Auf dem Mitarbeiterfoto sind der Senior und der Sohn Armin abgebildet. Seine Frau, die Tochter und der jüngere Sohn fehlen.«

»Was nicht weiter verwundert, sie haben mit dem laufenden Betrieb ja nichts mehr zu tun. Aber dazu erfahren wir bestimmt mehr in den Befragungen.«

Neun Uhr fünfunddreißig. Hella hatte Kai Fischbach gebeten, bei der Befragung von Armin Krenz dabei zu sein. Der kam fünf Minuten zu spät und wirkte abgehetzt. Jetzt, wo sein Vater nicht mehr da sei, müsse er auf einen Schlag alle Entscheidungen selbst treffen, bat er um Verständnis.

»Fünf Minuten sind kein Weltuntergang«, entgegnete Hella.

»Da kannten Sie meinen Vater schlecht. Er war in dieser Hinsicht von der alten Schule, um es freundlich auszudrücken.«

Armin Krenz, zweiundvierzig, geschieden, zwei Kinder, stellvertretender Geschäftsführer der Krenz GmbH und rechte Hand seines Vaters, war mittelgroß, schlank, unter seinem rechten Auge zuckte es, und die breite Stirnglatze ließ ihn älter wirken, als er war. »Kurz gesagt, er bestimmte, wo es langging, und ich musste ihm die Steine aus dem Weg räumen.«

»Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater?«, fragte Kai.

»Ich kann sagen, dass ich ihn anfangs bewunderte. Seine enorme Energie, sein eiserner Wille, nach oben zu kommen …«

»Und wann haben Sie Ihre Meinung geändert?«, setzte Hella nach.

»Als er begann, die Familie wie ein lästiges Anhängsel zu betrachten. Er sah uns nur noch als Erfüllungsgehilfen, Räder in einem Werk. Und er selbst war Gefangener in seinem ganz persönlichen Monopoly.«

»Es hat also Spannungen gegeben?«

»Ja, zeitweise war es unerträglich. Ich bin noch am besten mit ihm ausgekommen, weil ich getan habe, was er wollte. Vincent hat er ignoriert, und als die Sache mit Anneke passierte, verachtete er selbst seinen Liebling zutiefst, auch wenn sie mehrfach versucht hatte, es wiedergutzumachen. Das war allerdings unmöglich, denn Papa verzieh niemandem seine Fehler.«

»Was ist Ihrer Schwester denn zugestoßen?«

»Obwohl Papa sie gewarnt hatte, ließ sich Anneke mit dem Falschen ein und musste abtreiben. Da hat er sie fallen gelassen.«

»Und wie steht es mit Ihrem jüngeren Bruder?«, wollte Kai wissen.

»Vincent hatte Mut und trennte sich ganz von unserem Vater. Er macht sein Ding. Auch Papas Drohung, ihn zu enterben, weil er vom Theater nichts hielt, hat Vincent nicht davon abgehalten, seinen Traum zu leben.«

»Zu Ihnen. Sind Sie zufrieden mit dem Job, den Sie machen?«

Er starrte Hella verblüfft an, außer ihr interessierte sich anscheinend kaum jemand für seine Gefühle. »Ich bin zwölf Stunden am Tag unterwegs und halte den Laden am Laufen. Ich verdiene gutes Geld. Ich kann doch nur zufrieden sein, oder?«

»Aber offenbar hat Ihre Ehe nicht gehalten, und so wie es aussieht, bleibt Ihnen für Ihre Kinder auch kaum Zeit …«

Armin Krenz machte ein betroffenes Gesicht, und einen Augenblick lang dachte Hella, er würde in Tränen ausbrechen.

»Entschuldigen Sie«, erwiderte er, »Aber ich bin im Augenblick etwas überfordert. Ich kann Ihnen jedoch versichern: Ich habe meinen Vater nicht ermordet, auch wenn ich durch seinen Tod jetzt alleiniger Geschäftsführer bin und vermutlich einiges erben werde. Das können Sie mir glauben.«

»Das behauptet auch niemand, Herr Krenz. Danke, dass Sie so offen zu uns waren. Bitte geben Sie den Kollegen noch Ihre Fingerabdrücke und eine Speichelprobe, damit wir Sie vom Kreis der Verdächtigen ausschließen können.«

»Er hat kein nachweisliches Alibi für die Tatzeit, ist endlich seinen tyrannischen Vater los, erwartet wahrscheinlich ein stattliches Erbe und ist jetzt der Herr im Geschäft«, fasste Kai zusammen, als Armin Krenz den Raum verlassen hatte. »An Motiven für einen Mord fehlt es jedenfalls nicht.«

Sie war ganz bei ihm, und doch zweifelte Hella, dass Armin Krenz der Täter sein könnte. Dieser Mann hatte seinem Vater seit vielen Jahren geduldig und treu gedient. Auch wenn er sich von ihm distanzierte, schien er ihn doch zu stützen. »Das stimmt, aber warum bringt er ihn auf diese Art um, so spektakulär scheußlich? Warum hat er zum Beispiel keinen Unfall inszeniert?«

»Vielleicht war das Maß einfach voll«, erwiderte Kai. »Er konnte die ewigen Demütigungen nicht mehr ertragen und hat den verhassten Despoten in seiner eigenen Backstube hingerichtet.«

»Für mich passt das nicht zu diesem Mann. Es muss etwas anderes dahinterstecken. Wir sollten möglichst schnell der Wohnung von Bertold Krenz einen Besuch abstatten, bevor die KTU dort alles auf den Kopf stellt.«

Ein Zeuge wartete noch auf dem Flur: Vincent Krenz.

»Bitte kümmere du dich um ihn. Ich nehme Simon mit, der braucht dringend Auslauf.« Hella zwinkerte Kai zu. Dieser war enttäuscht, sah aber offenbar ohne weitere Worte ein, dass eine Befragung in einem Mordfall besser von einem Vollprofi wie ihm durchgeführt wurde.

Der Kriminalrat hatte ihr Simon Pläschke als neuen Kommissaranwärter aufs Auge gedrückt, und Hella musste es wohl oder übel mit ihm versuchen. Laut Personalakte hatte er an der Schule nicht gerade brilliert. Aber es gab ein anderes Argument, gegen das sie kaum etwas einwenden konnte: Senge glaubte persönlich an den jungen Mann. Er hielt auch große Stücke auf Simons Vater, der Kriminaldirektor in Hannover war. Sein Sohn habe die richtige Einstellung bereits mit der Muttermilch aufgesogen, so hatte Senge ihn Hella vorgestellt.

»Ich kenne Braunschweig noch nicht so gut, aber ich habe gegoogelt. Die Bismarckstraße liegt in der Nähe vom Herzog Anton Ulrich-Museum und der Oker. Schöne und teure Ecke«, bemerkte er auf dem Weg zur Wohnung des ermordeten Bäckermeisters.

»Gut, Simon, und was schließen Sie daraus?«

Die Frage schien ihm nicht zu passen, er blitzte Hella mürrisch an. »Ich bin zwar Anfänger«, sagte dieser Blick, »aber deshalb brauchst du mich nicht wie einen Idioten zu behandeln.«

Es gefiel ihr, ihn zu provozieren. Aber sie durfte es nicht übertreiben, immerhin war er Senges Liebling und sein Vater Kriminaldirektor in Hannover.

»Krenz schien es gut zu gehen, wenn Sie das meinen«, zeigte er sich willig. »Vielleicht gehörte ihm ja das Haus. Jedenfalls hatte der Mann großen Einfluss, war eine wichtige Figur in der Bäckerinnung und saß im Stadtrat. So weit meine bisherige Recherche.«

Jetzt war es an Hella, ihm Respekt zu zollen. »Dazu werden wir hoffentlich gleich mehr wissen. Sie sind jedenfalls gut im Bilde, KA Pläschke.«

Er lächelte wieder.

Die Wohnung des Tatopfers lag unter dem Dach eines dreistöckigen Gründerzeitaltbaus. Eine Mansardenwohnung, wie sie in der Kaiserzeit vom Personal bewohnt wurde. Der Hausmeister öffnete ihnen.

Bertold Krenz schien nicht nur ein Tyrann, sondern auch ein ziemlicher Geizhals gewesen zu sein, der vor sich selbst nicht Halt machte. Obwohl er Millionär sein musste, gönnte er sich selbst nicht mehr als zwei mit alten abgenutzten Möbeln eingerichtete Zimmer. Das Schlafzimmer roch nach Schweiß, das Bett war zerwühlt. Nicht einmal zum Lüften hatte er sich Zeit genommen. Die Küche trug ebenfalls die unübersehbaren Spuren eines Junggesellen, der auf sein Privatleben nichts gab. Offenbar empfing er auch keine Gäste. Wen wollte er mit dieser Bude, die nicht einmal gemütlich war, auch beeindrucken?

Das einzig Reizvolle an dieser Wohnung schien der Balkon mit Blick auf die Oker und den mit Buchen bestandenen Park zu sein. Hier saß Krenz offenbar gern und rauchte, worauf der übervolle Aschenbecher auf dem schmalen Holztisch schließen ließ.

In dem anderen Raum, augenscheinlich sowohl Wohn- als auch Arbeitszimmer, befand sich ein großer, mit Akten vollgestopfter Schrank. »Sieh mal an«, sagte Simon, der plötzlich eine wichtige Miene zog, während er die Unterlagen auf dem Schreibtisch sichtete. »Ich glaube, das könnte uns interessieren.«

3

»Gut gemacht, Simon. In der Praxis beweist sich, wer ein echter Spürhund ist«, übertraf sich Senge mit Lob, als sie zurück im Kommissariat Mitte waren, um dem Kriminalrat Bericht zu erstatten. Und prompt erschien dieses schadenfrohe Grinsen auf dem Sommersprossengesicht des Kommissaranwärters, das Hella nicht kaltließ. Zumal es nicht einmal eine Spürnase brauchte, denn die Unterlagen hatten offen auf dem Schreibtisch des ermordeten Bäckermeisters gelegen. Offensichtlich ging es um Millionen und eine Stiftung, die Krenz gründen wollte. Der Termin mit seinem Notar, den er dick im Kalender markiert und nicht mehr erlebt hatte, stand wohl in unmittelbarem Zusammenhang damit. Sein Vermögen schien immens zu sein. Bei der Durchsuchung des Aktenschranks hatten sie noch Besitzurkunden von Immobilien und Nachweise von Aktiengeschäften in beachtlicher Höhe gefunden. Wahrscheinlich war das nicht alles.

»Die nächsten Adressen sind jetzt der Notar und sein Steuerberater. Da gibt es einiges zu tun, Hella. Aber du hast ja jetzt unseren Simon an deiner Seite. Da kann nichts mehr passieren.«

Das war anscheinend selbst für den lobgeilen Kommissaranwärter zu viel, und er zog sich, angeblich in der Absicht, den Bericht über die Spurensuche schreiben zu wollen, zurück.

»Simon soll begreifen, dass nicht der Stall, aus dem man stammt, von Bedeutung ist, sondern allein die Leistung«, schob der Kriminalrat hinterher, was Hella überraschte. Hatte er Simon etwa nicht vor allem deshalb eingestellt, weil er der Sohn eines einflussreichen Kriminalbeamten war? Doch es ergab durchaus Sinn, was er sagte. Lob war die andere Art, Leistungsdruck zu erzeugen.

Senges Dreitagebart und der penetrante Nikotingeruch seines Jacketts sagten Hella allerdings, dass mit dem Kriminalrat etwas nicht stimmte.

»Gibt es noch etwas?«, fragte er, fühlte sich offenbar unter ihrer Beobachtung nicht wohl. »Die Presse ist informiert. Natürlich habe ich keine weiteren Details verlauten lassen. Es versteht sich von selbst, den – sagen wir mal – delikaten Tathergang nicht zur Sprache zu bringen. Einerseits bleibt uns dann die Chance, den Täter mit Insiderwissen in die Falle zu locken, andererseits ist Krenz, wie du ja weißt, ein honoriger Bürger der Stadt. Er verdient es nicht, dermaßen verhöhnt zu werden.«

»Natürlich, Chef.«

Senge hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Sie meinte eine gewisse Hilflosigkeit in seinem zu erkennen, etwas lastete auf seiner Seele. Ob es mit den beiden Männern zu tun hatte, die ihn so früh am Morgen in seinem Büro aufgesucht hatten? Eigentlich konnte es nur zwei Gründe geben, dass er mit der Sprache nicht herauskam: Er wollte ihr gegenüber keine Schwäche zugeben, oder er vertraute ihr nicht …

In ihrem Büro wartete Kai Fischbach, den sie mit ein paar Worten in Kenntnis setzte, was Simon und sie in der Wohnung des Mordopfers gefunden hatten.

»Mal wieder das liebe Geld«, war Kais Kommentar.

»Was sonst?«, erwiderte Hella. »Womit wir wieder bei der Familie sind. Was konntest du von Vincent Krenz erfahren?«

Statt zu antworten, warf Kai einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ist es nicht längst Zeit für einen kleinen Imbiss?«

Wieso konnte dieser Mann alles in sich hineinstopfen, ohne ein Kilo zuzunehmen, dachte Hella nicht ohne Neid. Sie wollte passend darauf erwidern, doch er hob die Hand und gebot ihr zu schweigen.

»Bitte vergiss niemals: Ohne etwas im Magen kann der Ermittler nicht ermitteln!«

Sie verließen das Kommissariat und landeten beim Chinesen. Der Platz hinter dem Aquarium hatte sich für vertrauliche Dienstgespräche bewährt. Nur die glupschäugigen Schleierschwänze hinterm Glas waren Zeuge, doch auf die war Verlass, sie hielten dicht.

»Wie alle Krenz-Kinder sollte Vincent zuerst eine Bäckerlehre durchlaufen, doch er litt unter Mehlstauballergie«, begann Kai.

»Das war offenbar sein Glück …«

»Ja, so ähnlich hat er sich auch ausgedrückt. Aber sein Vater tat seine Bewunderung fürs Theater als Spinnerei ab und bestand darauf, dass er Einzelhandelskaufmann lernen sollte. Als Vincent dann lieber eine Stelle als Beleuchter am Staatstheater annahm, verbot ihm Bertold aus Wut sogar das Haus. Später, nachdem die Ehe seiner Eltern auseinandergegangen war, sei Vincent ihm nur selten begegnet. Bei einer dieser Gelegenheiten eröffnete ihm sein Vater angeblich, dass er aus dem Erbe über den Pflichtanteil hinaus nichts zu erwarten habe. Sein Vater würde nur denen etwas hinterlassen, die sich im Leben mit sinnvoller Arbeit nützlich machten.«

»Vincent wusste also bereits, dass er von dem Senior nichts zu erwarten hatte.«

»Offenbar ja. Und es scheint ihn nicht weiter zu stören.«

»Also fehlt ein schlüssiges Mordmotiv«, folgerte Hella. »Doch sein Alibi musst du in jedem Fall überprüfen.«

Noch bevor Hella den Tagesspruch aus dem Glückskeks lesen konnte, meldete sich ihr Handy. Sie stellte den Lautsprecher an. Kollege Lenz von der KTU wartete mit ersten Ergebnissen auf. »Hinter dem Mauervorsprung neben der Seitentür der Bäckereifiliale konnten wir Blutspuren sicherstellen, die eindeutig dem Opfer zuzuordnen sind. Hier fand offenbar ein kurzer Kampf auf Leben und Tod statt. Schleifspuren bis in die Backstube. Eine Tatwaffe fand sich nicht. Es ist auch nicht viel Blut geflossen. Verwertbare Fingerabdrücke wurden nicht hinterlassen, weder vom Opfer noch vom Täter. Die Backstube wies zahlreiche Fingerabdrücke des Bäckergesellen auf, ansonsten nichts Auffälliges, ausgenommen natürlich die Leiche im Ofen, dazu ein paar verbrannte Teigreste.«

»Und keinerlei Fingerabdrücke auf der Kleidung des Toten?«, wollte Hella wissen.

»Nein, nur wenige von Bertold Krenz selbst.«

»Der Täter hat also Handschuhe getragen …«

»Oder es war tatsächlich der Bäckergeselle …«

Aber Hamoudis Fingerabdrücke erklärten sich allein daraus, dass er mit Krenz am Tatort zum Testbacken verabredet war. Und warum sollte er dann die Polizei rufen? Außerdem hatte der alte Krenz offenbar eine gute Beziehung zu ihm und seiner Familie. »Seid ihr auch in der Wohnung von Krenz gewesen?«, fragte sie weiter.

»In der Wohnung Bismarckstraße gab es wenig Auffälligkeiten, nur Fingerabdrücke des Opfers. Allerdings sah sie nicht besonders einladend aus. Krenz hatte offenbar nie Besuch, nicht einmal von der Putzfrau. Den schimmligen Inhalt im Kühlschrank haben wir entsorgt. Die Akten auf dem Schreibtisch und im Schrank haben wir nicht angerührt, sicher wollen Sie noch genauer Einsicht nehmen.«

»Danke euch«, erwiderte sie und beendete das Gespräch. Die Ausbeute war jedoch kaum befriedigend, und so wie es aussah, waren sie über die erste Routine nicht hinausgekommen. Den Blick, den sie Kai zuwarf, verstand er sofort.

»Wir müssen den Ermittlungsradius erweitern. Da sind zuerst die engsten Mitarbeiter von Krenz. Wer ist in letzter Zeit mit dem Chef aneinandergeraten? Alte Feinde, neue Feinde. Wenn nötig, wird es dir nicht erspart bleiben, die Filialen abzuklappern. Frag in der Personalabteilung nach, die werden dir helfen.«

Kai seufzte.

»Und nimm Simon mit, der hat gerade ein Hoch.« Das Lächeln auf Kais Gesicht verriet ihr, dass ihm nicht verborgen geblieben war, wie sie versuchte, sich bei jeder Gelegenheit den jungen Kollegen vom Hals zu schaffen.