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Beschreibung

Die Umgestaltung des Systems der vorschulischen und schulischen Bildungsinstitutionen zu mehr Inklusion für alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig davon, ob sie von Behinderungen betroffen sind oder sonderpädagogische Förderbedarfe haben, ist in Deutschland seit mehr als 10 Jahren in vollem Gange. Nach anfänglich eher von politischen Überzeugungen geprägten Schritten der Umgestaltungen ist in jüngster Zeit vermehrt wissenschaftliche Evidenz in die Gestaltungsentscheidungen eingeflossen. Dieses Buch widmet sich dieser evidenzorientierten Perspektive auf Inklusion.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Claudia Mähler

Marcus Hasselhorn

(Hrsg.)

Inklusion

Tests und Trends der pädagogisch-psychologischen Diagnostik

Band 18

Inklusion

Prof. Dr. Claudia Mähler, Prof. Dr. Marcus Hasselhorn

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Marcus Hasselhorn, Prof. Dr. Ulrich Trautwein, Prof. Dr. Tobias Richter, Prof. Dr. Claudia Mähler

Prof. Dr. Claudia Mähler, geb. 1961. 1981 – 1987 Studium der Psychologie in Göttingen. 1988 – 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin/Akademische Rätin in der Abteilung Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie der Georg-August Universität Göttingen. 1994 Promotion. 2006 Habilitation. 2006 – 2007 Vertretungsprofessur für Entwicklungspsychologie an der Universität Marburg und 2007 – 2008 an der Universität Göttingen. Seit 2008 Professorin für Pädagogische Psychologie und Diagnostik an der Universität Hildesheim. Leitung der Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche KiM – Kind im Mittelpunkt. Arbeitsschwerpunkte: Frühe Bildung, pädagogisch-psychologische Diagnostik, Lernstörungen.

Prof. Dr. Marcus Hasselhorn, geb. 1957. 1977 – 1983 Studium der Psychologie in Göttingen und Heidelberg. 1983 – 1985 Promotionsstipendiat am Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung in München. 1986 Promotion. 1985 – 1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Göttingen. 1992 – 1993 Vertretungsprofessur für Entwicklungspsychologie an der Universität Koblenz-Landau. 1993 Habilitation. 1993 – 1997 Professor für Entwicklungspsychologie an der TU Dresden. 1997 – 2007 Professor für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der Universität Göttingen. Seit 2007 Professor für Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor der Abteilung Bildung und Entwicklung am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Frühe Bildung, pädagogisch-psychologische Diagnostik, Lernstörungen.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar

mediaprint solutions GmbH, Paderborn

Format: EPUB

1. Auflage 2021

© 2021 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3147-5; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3147-6)

ISBN 978-3-8017-3147-2

https://doi.org/10.1026/03147-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Inklusionsherausforderungen in Kindertageseinrichtungen und Schule: Eine Einführung

Kapitel 2 Inklusion aus sonderpädagogischer Perspektive

Kapitel 3 Multiprofessionelle Kooperation an inklusiven Schulen: Erkenntnisse zur Motivation von Lehrkräften

Kapitel 4 Einstellung von Lehrenden als Gelingensbedingung für schulische Inklusion? Probleme und Potenziale eines komplexen Konstruktes

Kapitel 5 Entwicklung des Leseverständnisses bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache

Kapitel 6 Grundlagen der Diagnostik im inklusiven Kontext

Kapitel 7 Dynamisches Testen: Diagnostik als Möglichkeit der Modellierung von Kompetenzentwicklung

Kapitel 8 Diagnostik bei Lernschwierigkeiten

Kapitel 9 Entwicklung eines Elternfragebogens zu Qualitätsmerkmalen der Eltern-Schule-Kooperation an inklusiven Ganztagsschulen (EQESK)

Kapitel 10 Sprachlich-kognitive Förderung von Kindern in inklusiven Kindertageseinrichtungen

Kapitel 11 Response-to-Intervention (RTI) und schulische Inklusion – Grundlegender Widerspruch oder zwei Seiten einer Medaille?

Kapitel 12 Inklusion von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung

Kapitel 13 Psychoedukation in der Schule zur Begleitung und Unterstützung von Kindern mit Lernschwierigkeiten

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

|1|Kapitel 1Inklusionsherausforderungen in Kindertageseinrichtungen und Schule: Eine Einführung

Marcus Hasselhorn und Claudia Mähler

Die Kernidee von Inklusion im Bildungsbereich besteht darin, Kinder (und Jugendliche) in den Institutionen der Erziehung, Betreuung und Bildung ungeachtet ihrer individuellen Besonderheiten und Lernvoraussetzungen gemeinsam zu betreuen, zu begleiten, zu erziehen und – in der Schule – zu unterrichten. Die Beschäftigung mit Fragen der Inklusion von Menschen mit besonderen Einschränkungen erhielt einen entscheidenden Anstoß durch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (BRK) aus dem Jahre 2006, die 2009 von Deutschland ratifiziert wurde und somit den Status geltenden Rechts erhielt. Die BRK fordert Inklusion in allen gesellschaftlichen Bereichen und reicht damit weit über das Bildungssystem hinaus. In der öffentlichen Debatte in Deutschland steht aber die Umsetzung des Grundsatzes der Inklusion von Menschen in Bildungsinstitutionen, also in Kindertagesstätten und insbesondere im Schulbereich, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Hierzu heißt es in Artikel 24 UN-BRK:

(1)

Die Vertragsstaaten … gewährleisten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen mit dem Ziel,

a.

die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken;

b.

Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen;

c.

Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen.

(2)

Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass

a.

Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden;

b.

Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben;

c.

|2|angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden;

d.

Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern;

e.

in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.

Der Begriff der Behinderung selbst ist keineswegs unumstritten. In der Medizin wird bis heute Behinderung als individuelles Merkmal einer Person verstanden. In den sozialwissenschaftlichen Diskussionen wird allerdings seit den 1970er-Jahren das Bestreben erkennbar, dieses durch ein soziales Begriffsverständnis abzulösen und die gesellschaftlichen Barrieren zu betonen, die Menschen aufgrund von körperlichen oder sozialen Normabweichungen an einer voll umfänglichen gesellschaftlichen Teilhabe hindern. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat dieses bio-psycho-soziale Verständnis von Behinderung längst übernommen. Sie geht davon aus, dass Körperfunktionen, individuelle Aktivitäten und gesellschaftliche Partizipation in Beziehung stehen. Auch die UN-BRK bezieht sich auf ein solches bio-psycho-soziales Verständnis, erhebt sie doch ihre Forderungen für Menschen „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes betrug die Quote der Deutschen mit amtlich bescheinigtem Grad der Behinderung von mindestens 50 % (entspricht der Schwerbehinderung) Ende 2019 9.5 %. Im Schulalter liegt diese Quote allerdings unter 2 %, was im Vergleich zur Quote derjenigen mit sonderpädagogischem Förderbedarf vernachlässigbar gering ist. Aktuell werden bis zu acht sonderpädagogische Förderschwerpunkte voneinander unterschieden: Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Hören, Sehen und (langandauernde) Erkrankungen. Die Verfahren und Abläufe der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs regeln die Länder eigenständig und mitunter sehr unterschiedlich. Die Zahl der jährlich durchgeführten Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs wird statistisch nicht erfasst. Dem aktuellen nationalen Bildungsbericht (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020, Tab. D2-6web) ist zu entnehmen, dass 2018 mehr als 550.000 Schüler*innen (entspricht einer Quote von 7.4 %) sonderpädagogische Förderung erhielten. Der Anteil der inklusiv an Regelschulen unterrichteten Schüler*innen betrug dabei 42.3 % und liegt damit mehr als doppelt so hoch wie 10 Jahre vorher.

|3|Im vorschulischen Bereich erfolgt noch keine Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs. Hier gibt es aber das Instrument der Eingliederungshilfe aufgrund einer (drohenden) Behinderung. Den amtlichen Zahlen zufolge erhalten 2.5 % aller Kinder in Deutschland eine solche Eingliederungshilfe (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020, Tab. C3-6web), nimmt man nur die Kinder aus dem ü3-Bereich sind es etwa 4.1 %. Im Jahr 2019 wurde dem Bildungsbericht zufolge fast die Hälfte (48 %) aller Kinder mit Eingliederungshilfe in Gruppen betreut, die als Inklusionsgruppen bezeichnet werden, da der Anteil von Kindern mit Eingliederungshilfe unter 20 % liegt.

Seit 2009 sind die Prozentsätze der Kinder mit Eingliederungshilfe (im Vorschulbereich) bzw. mit sonderpädagogischem Förderbedarf kontinuierlich angestiegen. Man bezeichnet diese Prozentsätze als „Förderquote“. Im schulischen Bereich ist die Förderquote von 5.9 % im Schuljahr 2008/09 auf 7.4 % im Schuljahr 2018/19 angestiegen. Dieser Anteil liegt etwa vier Mal höher als der Bevölkerungsanteil mit amtlich festgestellter (Schwer-)Behinderung in der Altersgruppe zwischen 6 und unter 16 Jahren.

1.1 Das Konzept Inklusion

Bis heute gibt es keine allgemein akzeptierte Definition von Inklusion. Im englischen Original der UN-Behindertenrechtskonvention wird von „inclusive education“ gesprochen. Die offizielle deutschsprachige Übersetzung dieser Formulierung lautet „integratives Bildungssystem“. Man mag es als typisch für die deutschsprachige Pädagogik bezeichnen, dass man um scharfe Abgrenzungen der Begriffe „Inklusion“ und „Integration“ bemüht ist. So wird Inklusion als das wertvollere, globalere Konzept verstanden, da es nicht nur die Betreuung und/oder Beschulung an einem gemeinsamen Ort impliziere (was lediglich Merkmal von integrativer Beschulung sei), sondern darüber hinaus ohne Ansehen der Art der Behinderung oder Besonderheit auch die Betreuung und/oder Beschulung aller Kinder und Jugendlichen im Rahmen derselben sozialen Interaktionen. Die internationale Debatte kommt demgegenüber ohne eine solche scharfe Demarkation aus. Hier geht es nicht um die Frage, welche Form von Inklusion wertvoller ist oder nicht, ja es geht nicht einmal darum, ob das Erreichen von Inklusion nur über ein „Alles-oder-nichts“-Prinzip möglich ist. International geht es um nichts anderes als um die generelle Minimierung von Diskriminierung und (Bildungs-)Benachteiligungen von Schüler*innen, sei es aufgrund von Behinderung, Leistung, Geschlecht oder sozialer und/oder kultureller Herkunft; im Mittelpunkt steht die Maximierung von sozialer Teilhabe (vgl. Hasselhorn & Maaz, 2015).

Es geht also immer um den Abbau von Ungleichheiten bei gleichzeitiger Ermöglichung optimaler individueller Entwicklung und Bildung. Das ist in der Umsetzung keineswegs leicht, weil der Abbau von Ungleichheiten sich auf die gesellschaftliche |4|Perspektive bezieht, bei der der soziale (interindividuelle) Vergleich im Vordergrund steht, während die Ermöglichung optimaler individueller Entwicklung und Bildung sich auf die individuelle Perspektive bezieht, bei der der intraindividuelle Vergleich interessiert. Nicht immer führen diese beiden Perspektiven zum gleichen Ergebnis. So kann etwa der Beschluss eines Kultusministeriums, sämtliche Förderschulen zu schließen und alle Kinder eines Jahrgangs in der Regelschule gemeinsam zu unterrichten, aus der gesellschaftlichen Perspektive dem Geiste der UN-BRK entsprechen (die inklusive Schule), im Einzelfall aber der individuellen Perspektive mit dem verankerten Anspruch auf die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung widersprechen. Um es pointiert zu sagen: Bei Entscheidungen rund um das Thema der inklusiven Kindertagesstätte oder der inklusiven Schule geht es immer darum, beide Perspektiven zu berücksichtigen. Achtet man nur auf die gesellschaftliche Perspektive, dann schafft man Sondereinrichtungen und Sonderbehandlungen ab und erzeugt dann eine ethisch besonders wertvolle institutionelle Bildungsstruktur ganz im Geiste der Inklusionsforderung, wird aber nicht jedem Kind mit besonderen Unterstützungsbedarfen gerecht. Andererseits birgt eine ausschließliche Beachtung der individuellen Perspektive die Gefahr, dass man die etablierte Struktur separater Bildungsinstitutionen als die gewachsene bestmögliche Bildungs- und Förderlandschaft sieht, mit der alle Kinder die für sie jeweils optimale schulische und soziale Entwicklung erfahren sollen.

Bei diesem Dilemma verwundert es nicht, dass die Entwicklung zu inklusiven Bildungsinstitutionen auch über ein Jahrzehnt seit der Ratifizierung der UN-BRK nicht abgeschlossen ist. Immer noch gehen die Beteiligten verschiedene Wege, um sich dem Ideal anzunähern (zu Dimensionen und Möglichkeiten der Schulentwicklung mit dem Ziel der Inklusion vgl. Krüger & Mähler, 2015). Die Prognose von Mähler und Krüger (2015), dass die Umstrukturierungen eher an derzeit praktizierte Modelle integrativer Betreuung und integrativen Unterrichts angelehnt sein werden, ist in den letzten Jahren eingetreten. Förderschulklassen wurden mancherorts in die allgemeinbildenden Schulen aufgenommen, um den betroffenen Kindern zu ermöglichen, zunächst den Schulalltag und nach und nach immer mehr Unterricht mit Regelschulklassen zu teilen.

Für die Beurteilung des Gelingens inklusiver Bildung hat Farrell (2013) vier Kriterien vorgeschlagen, die Präsenz, die Akzeptanz, die Teilhabe und den Lernerfolg. Das Kriterium der Präsenz bezieht sich auf den Ort, an dem Kinder mit Anspruch auf Eingliederungshilfe bzw. mit sonderpädagogischem Förderbedarf sich in der Regel aufhalten. In welchen Gruppen werden sie tagsüber betreut und sind es in der Schule Regelklassen, in denen sie am Unterricht teilnehmen?

Die Kriterien der Akzeptanz und der Teilhabe beziehen sich nicht auf den regelmäßigen Ort der Bildung, sondern auf die soziale Eingebundenheit der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Bewertet wird hierbei, inwiefern sie von den pädagogischen Fachkräften und Peers als vollwertige Mitglieder ihrer Gruppen bzw. |5|Klassen akzeptiert werden (Akzeptanz) und ob sie aktiv an den Aktivitäten ihrer Bildungsinstitutionen mitwirken (Teilhabe). Das vierte Kriterium (Lernerfolg) bezieht sich schließlich darauf, welche Fortschritte die Betroffenen hinsichtlich akademischer Bildung und sozial-emotionaler Entwicklung machen.

Wollte man die tatsächlich erreichte Qualität inklusiver Bildung beurteilen, könnte man entlang dieser vier Kriterien Indikatoren entwickeln und im Rahmen einer multidimensionalen Skalierung möglicherweise sogar die Inklusionsqualität für jedes Kind bewerten. Dabei sollte man sich aber nicht der Illusion hingeben, dass es ein System geben kann, in dem für jedes Kind ein perfekter Grad der Inklusion erreicht wird. Für viele Kinder und Jugendliche mit Lern- oder Sprachbehinderungen, mit Sinnes- oder körperlichen Behinderungen oder auch mit geistiger Behinderung mögen hohe Standards erreicht werden. Aber gerade Kinder mit schweren und Mehrfachbehinderungen, die bei entsprechender medizinischer und pflegerischer Versorgung zwar das Präsenz-Kriterium der Inklusion erfüllen, werden nur eingeschränkt vom gemeinsamen Lernen profitieren. So könnten Kinder und Jugendliche „übrig bleiben“, die aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht in den Regeleinrichtungen der Kindertagesstätten und Schulen verbleiben und deren Ausgrenzung dann sogar noch stärker werden könnte, als es aktuell der Fall ist (vgl. Mähler & Krüger, 2015).

1.2 Inklusionsherausforderungen

Der Anspruch einer „inclusive education“ wirft für die Gestaltung institutioneller Bildung in Kindertageseinrichtungen und Schulen eine Reihe von Fragen auf, bei denen es um weitergehende Anforderungen an ein auf verschiedenste Formen von „Heterogenität“ hin ausgerichtetes System geht. In Deutschland laufen wir allerdings Gefahr, vor lauter z. T. sehr ideologielastig geführten Debatten die Bearbeitung solcher Fragen zu vernachlässigen. Damit inklusive Schule in Deutschland gelingen kann, muss sich dies ändern. Dabei scheint es uns hilfreich zu sein, die besonderen Herausforderungscharakteristika folgender Ziele in den Blick zu nehmen: Wie können Teilhabegleichheit, Zielgleichheit und Prozessgleichheit erreicht werden? Außerdem möchten wir mit dem hier vorliegenden Band auch anregen, über die Herausforderung der bestmöglichen Bildungs- und sozialen Entwicklung vor dem Hintergrund der Bedürfnis- versus Bedarfsorientierung nachzudenken.

1.2.1 Teilhabegleichheit

Der Begriff der Teilhabegleichheit entstammt der sozialphilosophischen Diskussion zur inklusiven Schule als Ausdruck von Bildungsgerechtigkeit. Diese wiederum wird nach Hopf und Kronauer (2016) als Hierarchie dreier Stufen konzipiert: |6|der Chancengleichheit, der Gleichheit gesellschaftlicher Teilhabe und der Anerkennungsgerechtigkeit als höchster Stufe, zur größeren gesellschaftlichen Chancengerechtigkeit beizutragen. Diese Vorstellung unterschätzt allerdings die Unausweichlichkeit der Konfliktlinien zwischen diesen drei Stufen in an Leistungsstandards orientierten Institutionen (vgl. Hopf & Kronauer, 2016). Für die inklusive Schule sind daher Widersprüche zwischen den Zielen der Chancen-, der Teilhabe- und der Anerkennungsgleichheit unvermeidbar (möglicherweise weniger bei der Frage der inklusiven Kindertagesstätten).

Teilhabegleichheit betrachtet Inklusion aus der gesellschaftlichen Perspektive. Barrieren der gesellschaftlichen Teilhabe gilt es zu reduzieren. Das ist ein ambitioniertes sozialpolitisches Ziel der Bildungsinstitutionen. Eine konkrete Agenda der Gestaltung von Betreuung und Bildung in der Kita und in der Schule lässt sich daraus nur schwerlich ableiten.

1.2.2 Zielgleichheit

Die Realisierung von Inklusion als Leitidee scheint für den vorschulischen Bildungsbereich weniger problematisch zu sein als für die Schule. Ein Grund dafür ist darin zu sehen, dass für den Elementarbereich keine Bildungsstandards im Sinne konkreter Entwicklungsziele für Kinder am Ende der Kita-Zeit definiert sind. Zwar haben vor allem Eltern den Anspruch, dass in der Kita dafür gesorgt wird, ihr Kind so auf die Schule vorzubereiten, dass es die schulischen Lernanforderungen problemlos bewältigen kann (vgl. Roßbach & Hasselhorn, 2014), aber was das im Einzelnen bedeutet, ist trotz der Orientierungs- und Bildungspläne in nahezu allen Bundesländern längst nicht so klar und schon gar nicht verbindlich festgelegt, wie die Ziele des schulischen Unterrichts. Sind jedoch die Ziele festgelegt, wie etwa in der Schule durch die Bildungsstandards, erhebt sich die ganz praktische Frage für alle bildungsverantwortlichen Fachkräfte, ob alle Kinder in der Gruppe oder Klasse auf die gleichen Ziele hin unterrichtet werden sollen. Zielgleiches Unterrichten in der Schule ist bei wachsender Heterogenität der Voraussetzungen der Kinder ein kaum erfolgreich zu bewältigendes Unterfangen. Zieldifferenz ist also eine praktisch-notwendige Folge der inklusionsbedingten Zunahme an Heterogenität und steht doch gleichzeitig im Konflikt mit dem sozialpolitischen Ziel der Teilhabe- und Anerkennungsgleichheit.

1.2.3 Prozessgleichheit

Eng verwandt mit der Herausforderung der Zielgleichheit ist die Frage, ob die Erziehungs-, Betreuungs- und Unterrichtsprozesse für alle vergleichbar sein sollen oder können. Streng genommen ist jede Form von differenziertem Spielangebot in der Kita und differenziertem Unterrichtsangebot in der Schule ein Hinweis |7|darauf, dass Prozessgleichheit kein sinnvolles Ziel inklusiver Bildungsinstitutionen ist. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Frage der alltäglichen Erziehungs-, Betreuungs- und Bildungsprozesse für jede verantwortungsvolle Gestaltung von Inklusion zentral ist. Dies gilt zumindest, wenn man der UN-BRK folgt, bei der ja von der „bestmöglichen“ Unterstützung der „schulischen und sozialen Entwicklung“ die Rede ist. Das Ziel der Prozessgleichheit ist also noch weniger realistisch (und weniger wünschenswert!) als das der Zielgleichheit, weil offensichtlich ist, dass die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung bei unterschiedlichen Kindern über verschiedene Prozesse erreicht werden kann.

1.2.4 Bedürfnis- versus Bedarfsorientierung

Im Kontext der Inklusionsdebatte im Altersbereich vor der gesetzlichen Schulpflicht wird immer wieder betont, dass die pädagogische Arbeit oder die Angebote zur Eingliederungshilfe bedürfnisorientiert erfolgen (sollten). Umschrieben wird der Begriff der Bedürfnisorientierung dabei als „so wie die Kinder und Eltern es brauchen“ (Eitle, 2016). Diese Umschreibung scheint uns nicht ganz zutreffend zu sein. Bedürfnisorientiert bedeutet eher: so wie die Kinder und Eltern es wollen! Bedürfnisse und Bedarfe unterscheiden sich voneinander im Beweggrund für ein Handeln. Bedürfnisse entspringen dem Verlangen, einen subjektiv empfundenen Mangel zu beseitigen. Das klassische Lehrbuchbeispiel dafür ist der Hunger. Spürt ein Kind Hunger, dann empfindet es einen Mangel, den es beseitigen will. Sein Handeln ist deshalb mit höchster Priorität davon bestimmt, dass es etwas essen möchte. Übertragen auf das pädagogische Handeln in Erziehung und Unterricht stellt sich nun die Frage, ob die Fachkraft ihr pädagogisches Handeln prioritär am Bedürfnis des Kindes oder aber am Bedarf der Unterstützung orientieren sollte. Glücklicherweise fallen Bedürfnisse und Bedarfe oftmals zusammen (siehe das Hunger-Beispiel). Aber das muss nicht immer so sein. Ein Kind mit Sprachentwicklungsrückständen hat den Bedarf einer gezielten sprachförderlichen Anregung. Da ihm aber die sprachlichen Übungen schwer fallen, hat es dazu oftmals keine Lust. Sein Bedürfnis ist dann allzu oft, den sprachlichen Übungen aus dem Wege zu gehen, obwohl der Bedarf für die weitere Entwicklung des Kindes offenkundig ist. Wir plädieren daher für eine Inklusion, die auf individuell bedarfsorientiert angemessene Förderung abzielt.

1.3 Inhalte dieses Bandes

Kindertagesstätten und Schulen haben sich seit der Weichenstellung der Bildungspolitik in Richtung Inklusion auf den Weg gemacht, vielerorts begleitet von der Bildungsforschung. Nach mehr als zehn Jahren seit der Ratifizierung der UN-BRK stehen wir nicht mehr am Anfang – pädagogische, sonderpädagogische |8|und psychologische Forschung haben sich den Inklusionsherausforderungen genähert, was zu Erkenntnissen über Chancen und Grenzen inklusiver Bildung beigetragen und darüber hinaus viele neue Fragen aufgeworfen hat. In diesem Band kommen unterschiedliche Forschungsrichtungen zu Wort, die sich sowohl mit grundlegenden Fragen zur Bedeutung von Heterogenität in Schule und Kita als auch mit ganz praktischen Fragen der Umsetzung von inklusiven Bildungsangeboten auseinandersetzen. Ganz in der Tradition der Reihe „Tests und Trends“ berichten die Beiträge über Ergebnisse aus Forschungsprojekten und zeigen Trends auf, die auch zukünftig die Entwicklung auf dem Weg der Bewältigungsbemühungen der Inklusionsherausforderungen mit bestimmen könnten. In drei großen Abschnitten wird zunächst über verschiedene Aspekte inklusiver Rahmenbedingungen, anschließend über Wichtiges und Neues aus der Diagnostik und schließlich über mögliche Interventionszugänge berichtet.

Die Rahmenbedingungen beginnen mit einem Überblick aus sonderpädagogischer Perspektive (Hillenbrand & Casale), der sich mit den unterschiedlichen Begrifflichkeiten von Inklusion auseinandersetzt und zum aktuellen Stand der Forschung sowohl über Bedingungen in der Schule (Einstellungen von Lehrkräften, Organisationsformen von Inklusion) als auch über die sozial-emotionale und akademische Entwicklung von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf berichtet. Das nächste Kapitel widmet sich einem zentralen Aspekt in inklusiven Schulen: der Kooperation in multiprofessionellen Teams. Das Bielefelder Fortbildungskonzept BiFoKi (Beitrag von Gorges, Goldan, Neumann & Lütje-Klose) hat Erkenntnisse zur kooperationsbezogenen Motivation von Lehrkräften an inklusiven Schulen hervorgebracht. Dort wurde ein interdisziplinäres Fortbildungsangebot umgesetzt und evaluiert, das die Entwicklung multiprofessioneller Teams unter Einbezug von Sonderpädagogik und Schulsozialarbeit zum Ziel hatte. Im gleichen Projekt wurden auch die Qualitätsmerkmale der Kooperation zwischen Eltern und Schule mithilfe eines eigens entwickelten Elternfragebogens untersucht (Beitrag von Grüter, Teuber & Wild), von dem später unter dem Stichwort Diagnostik berichtet wird.

Zu den Rahmenbedingungen und vor allem zu den viel diskutierten Gelingensbedingungen für Inklusion gehören weiterhin die Einstellungen von Lehrkräften zur Inklusion. Wie komplex das Konstrukt der Einstellung aus der Perspektive der psychologischen Einstellungsforschung jedoch zu begreifen ist und ob der erwartete Zusammenhang von Einstellung und Handlung tatsächlich gerechtfertigt ist, bedarf einer gründlichen konzeptuellen und methodischen Reflexion (Beitrag von Greve).

Und schließlich wird unter den Rahmenbedingungen ein Aspekt der Heterogenität in der Schüler*innenschaft unter die Lupe genommen, nämlich die Mehrsprachigkeit. Mit dem Fokus auf die Entwicklung des Leseverständnis werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Kindern mit Deutsch als Muttersprache und als Zweitsprache herausgearbeitet (Beitrag von Goldammer, Cartschau, Landgraf & Mähler).

|9|Der zweite große Block der nächsten vier Kapitel nimmt besondere Herausforderungen und neuere Entwicklungen im Bereich der Diagnostik in den Blick. Zunächst werden Grundlagen psychologischer Diagnostik in ihrer Bedeutung für den inklusiven Kontext beleuchtet (Beitrag Fischbach, Mähler & Hasselhorn); hier wird deutlich, dass gerade die Heterogenität der Schüler*innenschaft dazu aufruft, individuelle Lernpotenziale und -bedarfe zu erheben und auch individuelle Bezugsnormen anzulegen, um eine angemessene individuelle Förderung zu ermöglichen. Eine Weiterentwicklung stellt in diesem Kontext die Methode des Dynamischen Testens dar (Beitrag Börnert-Ringleb & Wilbert). Anstatt lediglich den Leistungsstand im Rahmen einer Statusdiagnostik zu erheben, versucht das Dynamische Testen eine Kompetenzentwicklung zu modellieren; grundlegende Überlegungen sowie potenzielle Anwendungsmöglichkeiten werden skizziert.

Im inklusiven Alltag treffen Lehrkräfte auch auf verschiedene Lernschwierigkeiten, deren Diagnostik ebenfalls zu ihren Aufgaben (oder denen geeigneter Fachkräfte) gehört. Umschriebene und allgemeine Lernschwierigkeiten ebenso wie Aufmerksamkeitsprobleme und sozial-emotionale Auffälligkeiten können durch geeignete Instrumente erfasst werden (Beitrag von Mähler & Schuchardt).

Und schließlich kommt nicht nur die Untersuchung der Kinder in inklusiven Kontexten zum Tragen. Auch die Qualität der für das Gelingen von Inklusion besonders wichtigen Kooperation von Schule und Eltern kann neuerdings mit einem geeigneten Fragebogen erfasst werden (Beitrag von Grüter, Teuber & Wild). Die Ergebnisse aus der BiFoKi-Studie stützen die Annahme, dass die betrachteten Qualitätsmerkmale reliabel erfasst und zum Vergleich der Urteile verschiedener Elterngruppen herangezogen werden können.

Im dritten Block geht es um spezielle Interventionsbemühungen und -maßnahmen im inklusiven Kontext. Beginnend mit der jüngsten Altersstufe wird über ein Konzept alltagsintegrierter sprachlicher und kognitiver Förderung in Kindertagesstätten berichtet (Beitrag von Mackowiak & Beckerle), da beide Entwicklungsbereiche von herausragender Bedeutung für den weiteren Lebens- und Bildungsweg sind und sich insofern für frühe Maßnahmen zur Chancengerechtigkeit besonders eignen. Viel diskutiert im internationalen Kontext, aber auch in der deutschen sonderpädagogischen Forschungslandschaft ist das „Response to intervention“-Modell. Durch hochfrequente Lernstanderfassung und adaptive Förderung in je nach individuellem Bedarf des Kindes zunehmend kleineren Gruppensettings bis hin zum Individualunterricht soll individuelle Förderung optimiert werden. Passt dieses Konzept zur Inklusion oder steht es im Widerspruch zur Schule für alle (Beitrag von Grosche & Casale)?

Aus der Perspektive derjenigen, die konkret im schulischen Alltag mit besonderen Kindern und somit mit besonderen Herausforderungen zu tun haben, steht außer Frage, dass diese Kinder besondere Interventionen benötigen. Zu dieser Gruppe gehören auch Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen, deren Integra|10|tion in den Unterricht der Regelschule besonderer Unterstützung bedarf. Veränderungen im Verständnis der Diagnose „Autismus“ und auch eine zunehmende Vielfalt der Besonderheiten verlangen nach geeigneten pädagogischen Konzepten (Beitrag von Berdelmann, Schmiedek & Hasselhorn). Und schließlich führt das letzte Kapitel in eine neue Perspektive der Intervention in der inklusiven Schule – aber nicht nur dort – ein: Psychoedukation zur Begleitung und Unterstützung von Kindern mit Lernschwierigkeiten (Beitrag von Schuchardt & Griepenburg). Hier wird ausgelotet, welchen besonderen sozial-emotional schwierigen Situationen Kinder mit Lernproblemen ausgesetzt sind und wie verschiedene Praktiken der Aufklärung aller Beteiligten zur Bewältigung der Probleme beitragen oder auch Ausgrenzung und Stigmatisierung vorbeugen können.

Zusammengenommen berichtet dieser Band über ebenso heterogene wie aktuelle Forschungsbeiträge, die das Potenzial haben, zu Fortschritten auf dem Gebiet der inklusiven Bildung zu führen. Eines machen sie dabei besonders deutlich: Es ist noch ein weiter Weg bis zur gelungenen Umsetzung der Anforderungen der UN-BRK.

Literatur

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2020). Bildung in Deutschland 2020. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse in einer digitalisierten Welt. Bielefeld: W. Bertelsmann.

Eitle, W. (2016). Inklusion und Frühförderung – eine gesellschaftliche Herausforderung? In M. R.Textor & A.Bostelmann (Hrsg.), Das Kita-Handbuch. Verfügbar unter: https://www.kinder​gartenpaedagogik.de/fachartikel/kinder-mit-besonderen-beduerfnissen-integration-vernet​zung/integration-und-inklusion/2318

Farrell, P. (2013, September). Research and inclusive education: Implications for practice. Vortrag auf der 14. Fachgruppentagung Pädagogische Psychologie, Hildesheim.

Hasselhorn, M. & Maaz, K. (2015). Inklusive Schule? In Herbert-Quandt-Stiftung (Hrsg.), Bildung für Vielfalt. Umgang mit Differenzen lernen – Potenziale nutzen (S. 28 – 41). München: Herder.

Hopf, W. & Kronauer, M. (2016). Welche Inklusion?Zeitschrift für Pädagogik,62, 14 – 26.

Krüger, R. & Mähler, C. (Hrsg.) (2015). Gemeinsames Lernen in inklusiven Klassenzimmern. Prozesse der Schulentwicklung gestalten. Köln: Carl Link Verlag.

Mähler, C. & Krüger, R. (2015). Einführung. In R.Krüger & C.Mähler (Hrsg.), Gemeinsam Lernen in inklusiven Klassenzimmern. Prozesse der Schulentwicklung gestalten (S. V–XIV). Köln: Carl Link Verlag.

Roßbach, H.-G. & Hasselhorn, M. (2014). Lernumwelten in vorschulischen Kindertageseinrichtungen. In T.Seidel & A.Krapp (Hrsg.), Pädagogische Psychologie (S. 387 – 405). Weinheim: Beltz.

|11|Kapitel 2Inklusion aus sonderpädagogischer Perspektive

Clemens Hillenbrand und Gino Casale

Zusammenfassung

Das Thema Inklusion bildet ein aktuell breit diskutiertes Forschungsfeld, das in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, auf der Basis unterschiedlicher Begriffsverständnisse und normativer Positionen und zudem mit divergierenden forschungsmethodischen Konzeptionen bearbeitet wird. Eine Auswahl für eine überschaubare Darstellung der Forschungslage bleibt unerlässlich. Aus der Perspektive einer empirischen Sonderpädagogik versucht der Beitrag, die Begriffsverwendungen einzuordnen und kriteriengeleitet den Forschungsstand zusammenzufassen: Befunde zu Fragen des Input, der Prozesse und der Outcomes inklusiver Bildung werden zusammengefasst, um daraus Perspektiven zukünftiger Initiativen abzuleiten.

2.1 Einleitung

Inklusive Bildung ist auch über 10 Jahre nach der Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen nach wie vor ein „Trend“ in Bildungsforschung, Bildungspolitik und Bildungspraxis. Der Inklusionsbegriff wird in pädagogischen Kontexten allerdings in sehr unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Eine zusammenfassende Übersicht über die Begriffsbedeutungen fällt nicht leicht, zumal die „sonderpädagogische Perspektive“ ebenfalls nicht eindeutig definiert wird und eine einheitliche disziplinäre Selbstdefinition bisher fehlt. Nicht nur, dass verschiedene Termini für die Bezeichnung dieses Teilgebiets der Pädagogik Verwendung finden – Heilpädagogik, Behindertenpädagogik, Rehabilitationspädagogik sowie Sonderpädagogik finden sich mit inhaltlichen Parallelen und deutlichen Unterschieden (vgl. Antor & Bleidick, 2006) –, auch die disziplinäre (Wember, 2003) und wissenschaftstheoretische Definition (Haeberlin, 2003) der Sonderpädagogik zeigt erhebliche Gegensätze, die trotz zahlreicher Bemühungen um einen fachlichen Diskurs (Grosche, Gottwald & Trescher, 2020) aktuell noch wenig Vereinheitlichung der Perspektive bieten. Der vorliegende Beitrag greift auf pädagogisch und psychologisch fundierte Forschungen zurück, die als empirische Grundlage für die Bearbeitung sonderpädagogischer Fragestellungen dienen können. Für diese gilt: Sonderpädagogische „Kernaufgaben haben immer mit der Förderung von Bildung und Erziehung unter erschwerten Bedingungen zu tun; dies macht die spezifisch sonderpädagogische Ausrichtung aus“ (Wember, 2003, S. 32).

|12|Inhaltlich fokussiert die Darstellung auf Forschungen bei besonderen akademischen, emotionalen und sozialen Bedarfen in inklusiven Bildungssystemen, die in Publikationen und bildungspolitischen Texten oft als „sonderpädagogische Förderschwerpunkte“, Lernen oder emotionale und soziale Entwicklung bezeichnet werden (Kultusministerkonferenz, 2011). Diesen Themen kommt im Kontext inklusiver Bildungssysteme national wie international eine herausgehobene Bedeutung zu: Neben der hohen Prävalenz, den kritisch diskutierten diagnostischen Kriterien im Bildungssystem und der Frage des geeigneten schulischen Settings (vgl. Löser & Werning, 2013) muss zugleich aufgrund von Studien zur Perspektive von Lehrkräften (Lindsay, 2007) die praktische Herausforderung für die Professionellen (Lehrkräfte der Sonderpädagogik und der allgemeinen Schulen, Schulpsycholog*innen, Therapeut*innen) als hoch eingeschätzt werden. Wie ist der aktuelle Forschungsstand zur Realisierung inklusiver Bildung in diesem Kontext?

Um die Frage faktenbasiert beantworten zu können, sollen – ausgehend von einer Übersicht der in diesem Kontext verwendeten Verständnisse von Inklusion – (1) die empirischen Befunde strukturiert dargestellt werden. (2) Die vorliegenden Erkenntnisse können dann Impulse für weitere Forschungsaktivitäten (3) zur Realisierung von Inklusion im Bildungssystem bilden.

2.2 Zum Inklusionsbegriff

Inklusion bezeichnet ein internationales, gesellschaftliches Projekt der Unterzeichnerstaaten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das inzwischen weltweit in Kraft ist (vgl. https://www.un.org/disabilities/documents/maps/enablemap.jpg). Die normative Bedeutung hebt der bekannte Zeithistoriker Rödder in seiner „Kurzen Geschichte der Gegenwart“ (2016) hervor, wenn er die aktuellen Veränderungen gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen als „Kultur der Inklusion“ bezeichnet und damit die neue Gesellschaftsvorstellung dieser politischen Programmatik deutlich macht: „Ihre Grundlage ist die Wertschätzung von Menschen in der Vielfalt ihrer Lebensweisen und Erscheinungsformen sowie die Anerkennung von Diversität als Normalität“ (ebd., S. 116). Die menschenrechtliche Dimension ist bedeutsam: Mit dieser Konvention geht es nicht mehr nur um die Verteidigung von Individualrechten, sondern zugleich um das Recht auf Unterstützung zur Teilhabe (Bielefeldt, 2010; Kiuppis, 2016; Lindmeier, 2011). Ein solcher normativer und wertgeladener Begriff, der die gesellschaftliche Situation von Menschen mit Behinderung für mehr Teilhabe und Autonomie in der gesamten Lebensspanne weiterentwickeln soll, stellt zugleich soziologische (Liesen, 2006), philosophische (Stojanov, 2019, Terzi, 2014) und ethische Fragen (Dederich, 2016; Burckhart & Jäger, 2016), diese beeinflussen dann oft den Diskurs um empirische Forschungen durch normative Anforderungen.

|13|Die politische, auch bildungspolitische Programmatik der UN-Konvention basiert auf einem interaktionistischen Verständnis von Behinderung (Art. 1) und zielt darauf, Behinderungen der gesellschaftlichen Teilhabe, die aus der Interaktion von individuellen Merkmalen und sozialen Barrieren resultieren, gar nicht erst entstehen zu lassen, indem die Unterzeichnerstaaten „angemessene Vorkehrungen“ (Art. 2) treffen. Mit Blick auf die gesamte Lebensperspektive fordert die UN-Konvention also von den Staaten, Vorkehrungen für die umfassende Barrierefreiheit für alle Lebensbereiche und -phasen von Menschen mit Behinderungen zu treffen, damit das Menschenrecht auf Teilhabe angesichts von Barrieren und Benachteiligungen in Anspruch genommen werden kann (Bielefeldt, 2010).

Der Artikel 24 fordert ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und ist in diesen Gesamtkontext einzuordnen: „States Parties recognize the right of persons with disabilities to education“ (United Nations, 2006, Art. 24). Der in der Nachfolge zur UN-Konvention verfasste Erste Weltbericht über Behinderung versteht unter inklusiver Bildung konsequenterweise „the right of all learners to a quality education that meets basic learning needs and enriches lives. Focusing particularly on vulnerable and marginalized groups, it seeks to develop the full potential of every individual“ (World Health Organization & World Bank, 2011, p. 304). Inklusive Bildung fordert damit barrierefreie Bildungssysteme mit qualitativ hochwertigen Bildungsangeboten („effective education“), die jedem Lernenden, aber insbesondere benachteiligten Personengruppen, die bestmögliche Chance zur Verwirklichung der individuellen Potenziale anbieten (Hillenbrand, 2014). Für den Inklusionsbegriff im pädagogischen Diskurs existiert „keine allgemein anerkannte Definition […], die trennscharf, logisch konsistent und widerspruchsfrei wäre“ (Grosche, 2015, S. 20). Dies ist nicht verwunderlich, bedenkt man den politisch-normativen Kontext des Begriffs und seiner Entwicklung (Kiuppis, 2016).

Diese bildungspolitische Programmatik erfordert die spezifische Neuorientierung des Bildungssystems, dazu verortet die UNESCO in der wegweisenden Salamanca-Deklaration 1994 die sonderpädagogischen Unterstützungsangebote als zentralen Teil des allgemeinen Bildungssystems (UNESCO, 1994, S.iii). Die sonderpädagogischen Unterstützungsangebote erhalten damit eine wichtige Funktion im Rahmen der Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems. Die aktuelle Definition der UNESCO (Deutsche UNESCO-Kommission, 2014, S. 9) hebt den Prozesscharakter hervor, der gerade für empirische Forschung zu den Fragen nach den Bedingungen und Möglichkeiten spezifischer Förderung essenziell ist.

Eine Analyse zur Begriffsverwendung von „inclusive education“ in wichtigen Veröffentlichungen der am häufigsten zitierten englischsprachigen Publikationen Europas und Nordamerikas (Göransson & Nilholm, 2014; Nilholm & Göransson, 2017) unterscheidet idealtypische Positionen der Begriffsverwendung (für eine detailliertere Beschreibung vgl. Grosche & Casale in diesem Band). Diese verschiedenen Verständnisse werden mit sehr unterschiedlichen Forschungsintentionen |14|(funktionale, interpretative und kritische Ansätze) bearbeitet (Nilholm & Göransson, 2017, S. 440), sodass im Forschungsfeld insgesamt keine Klarheit über den zentralen Begriff Inklusion besteht. Die fehlende konzeptionelle Klarheit erfordert jeweils die Spezifizierung des zugrunde liegenden Inklusionsverständnisses.

2.3 Zum Forschungsstand inklusiver Bildung

Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die genannten Zielgruppen und fokussiert zentrale Entwicklungsaspekte in inklusiven Settings. Sie folgt van Mieghem, Verschueren, Petry und Struyf (2020), die Forschungen zum Inklusionsinput, zu Inklusionsprozessen und zu Inklusionsoutcomes unterscheiden. Inklusionsinputs sind all jene Aspekte, die in ein Schulsystem zur Umsetzung inklusiver Bildung hineingegeben werden (z. B. Merkmale der Professionalisierung von Lehrkräften). Inklusionsprozesse beschreiben inklusive Organisationsformen sowie pädagogische Aktivitäten zur Umsetzung von Inklusion auf multiplen Ebenen (z. B. staatlich, schulweit oder im Klassenraum). Inklusionsoutcomes werden anhand messbarer Ergebnisse operationalisiert, also z. B. akademische, soziale oder emotionale Merkmale. Wir konzentrieren uns überwiegend auf empirisch-quantitative (sonder-)pädagogisch-psychologische Forschung zu dem Thema, wenngleich an einigen Stellen auch Befunde qualitativer Studien aufgegriffen werden1.

2.3.1 Inklusionsinputs

Die Forschung zu Inklusionsinputs bezieht sich größtenteils auf Einstellungen von Akteuren in der Inklusion sowie auf die Professionalisierung von Fachkräften.

Einstellung zur Inklusion

Ein viel beforschter Bereich zur inklusiven Bildung sind die Einstellungen von Lehrkräften, Eltern und Schüler*innen zur Inklusion (van Mieghem et al., 2020; Lüke & Grosche, 2018). Grundannahme der Einstellungsforschung ist dabei, dass die Wahrnehmungen, Ansichten, Überzeugungen, Gefühle und Prädispositionen von Personen das entsprechende Verhalten dieser Personen in spezifischen Situationen vorhersagen können. Insgesamt lässt sich der aktuelle Forschungsstand so zusammenfassen, dass Lehrkräfte – im Vergleich zu Eltern und |15|Schüler*innen – eine negativere Einstellung zur Inklusion haben, es sei denn, sie haben viel Wissen über spezifische Behinderungsformen und verfügen über Berufserfahrung in der Inklusion (de Boer, Pijl & Minnaert, 2011; Urton, Wilbert & Hennemann, 2014). Die Einstellungen zur Inklusion von Lehrkräften werden von spezifischen Selbstwirksamkeitserwartungen vorhergesagt (Savolainen, Malinen & Schwab, 2020). Einstellungen von Lehrkräften zur Inklusion sind allerdings auch abhängig von Merkmalen der Schüler*innen: so lassen sich negativere Einstellungen zur Inklusion von Schüler*innen mit Verhaltensproblemen und kognitiven Beeinträchtigungen im Vergleich zur Inklusion von Schüler*innen mit körperlichen Beeinträchtigungen oder Sinnesschädigungen feststellen (Armstrong, 2014; Qi & Ha, 2012).

Die Einstellungen von Eltern und Peers scheinen im Vergleich dazu positiver zu sein, wenngleich sich auch hier ein Interaktionseffekt mit der Behinderungsform (Verhaltensprobleme und kognitive Beeinträchtigungen sind mit negativeren Einstellungen assoziiert) feststellen lässt (de Boer, Pijl & Minnaert, 2010, 2012; Bates, McCafferty, Quayle & McKenzie, 2015). Im Vergleich dazu sind die Einstellungen von Schulleitungen wenig erforscht. Die aktuelle Studienlage weist auf tendenziell positive Einstellungen zur Inklusion von Schulleitungen hin (Barnett & Monda-Amaya, 1998; Urton et al., 2014). Im direkten Vergleich mit Lehrkräften gibt es sowohl Studien, die von einer positiveren Einstellung der Schulleitungen (Urton et al., 2014), aber auch von neutralen Befunden berichten (Cohen, 2015).

In der Einstellungsforschung lassen sich zumindest drei Desiderate feststellen. Erstens existieren viele verschiedene Messinstrumente (überwiegend Fragebögen), die zwar psychometrisch akzeptabel messen, aber sich hinsichtlich der erfassten Konstrukte unterscheiden und somit die Vergleichbarkeit der Ergebnisse erschweren (Ewing, Monsen & Kielblock, 2018). Außerdem konnte gezeigt werden, dass die Messung von Einstellungen zur Inklusion mittels Fragebögen durch sozial erwünschte Antworten verzerrt sein können (Lüke & Grosche, 2018). Zweitens existiert relativ viel Wissen über Ausprägungen von Einstellungen und deren Prädiktoren. Es gibt aber kaum eine Studie, die überprüft, inwiefern sich die Einstellungen auf das konkrete Lehrkrafthandeln in der Inklusion auswirken. Zwar gibt es heuristische Rahmenmodelle zur Lehrkraftkompetenz, in denen Einstellungen eine wichtige Rolle für die konkrete Performanz im Lehrkrafthandeln spielen (z. B. Blömeke, Gustafsson & Shavelson, 2015). Diese sind aber zum einen nicht spezifisch auf Lehrkräfte in der Inklusion ausgerichtet. Zum anderen steht eine empirische Prüfung dieser Modelle bislang noch aus. Drittens sind die Einstellungen zur Inklusion von Schüler*innen mit Behinderungen selbst kaum erforscht (van Mieghem et al., 2020). Denkt man konsequent Partizipation als wichtiges Leitprinzip von Inklusion, sollten auch die Einstellungen zur Inklusion von Schüler*innen mit Behinderungen erforscht und für pädagogisch-praktische Implikationen genutzt werden.

|16|Professionalisierung von Fachkräften

Inklusive Bildung verändert die Aufgabenprofile von Lehrkräften (Heinrich, Urban & Werning, 2013; Melzer, Hillenbrand, Sprenger & Hannemann, 2015) und führt zu einer „Neujustierung sonderpädagogischer Professionalität für inklusive Settings“ (Moser, Schäfer & Redlich, 2011, S. 143). Aufgabenbereiche, wie z. B. die Diagnostik oder der Unterricht, müssen neu gedacht und anders ausgestaltet werden (z. B. Krüger & Mähler, 2015; Melzer et al., 2015). Um Lehrkräfte auf die neuen Anforderungen in der inklusiven Bildung angemessen vorzubereiten, bedarf es passgenauer Professionalisierungsmaßnahmen, die wirksam sind (Leko & Roberts, 2014; Loreman, 2014; McLeskey, Billingsley & Ziegler, 2018).

In ihrem Review identifizieren van Mieghem et al. (2020) vier Überblicksarbeiten, die den Forschungsstand zur Wirksamkeit von Lehrkraftfortbildungen zur inklusiven Bildung zusammenfassen. Wirksamkeit wird dabei überwiegend durch positivere Professionalisierungsmerkmale, wie Einstellungen, Selbstwirksamkeit und Wissen operationalisiert. Dabei lassen sich vier Grundprinzipien identifizieren, die alle wirksamen Professionalisierungsmethoden gemeinsam haben: (a) die Fokussierung auf Einstellungen, Wissen und Kompetenzen, (b) den Einbezug von und Transfer auf praktische Erfahrungen, (c) den direkten und systematischen Kontakt der Fortbildungsteilnehmer*innen mit Schüler*innen mit Behinderungen sowie (d) die spezifische Ausrichtung der Fortbildungen auf die konkreten Bedürfnisse und Erfahrungen der Fortbildungsteilnehmer*innen (siehe auch Leidig et al., 2016).

2.3.2 Inklusionsprozesse

Organisationsformen

Zur Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems sind Strategien zur Veränderung von Inhalten, Ansätzen, Strukturen und Strategien notwendig (vgl. Deutsche UNESCO-Kommission, 2014). Die Diskussion um die schulstrukturellen Aspekte steht im deutschen Sprachraum wie auch international häufig im Vordergrund (für Deutschland z. B. Ahrbeck, 2014; international z. B. McLeskey et al., 2012). Die Positionen reichen von einer umfassenden Reform der Schulstruktur insgesamt (Klemm, 2010; Werning & Löser, 2010) über die Auflösung (Hinz, 2009) des sonderpädagogischen Systems mit speziellen Schulformen bis zu einer Neustrukturierung der sonderpädagogischen Unterstützungssysteme (Klemm & Preuss-Lausitz, 2011; vgl. Hillenbrand, 2014, S. 287 ff.).

Farrell (2000) unterscheidet zwei grundlegende Axiome in dieser Auseinandersetzung:

(1)

der Ansatz des „mainstreaming“ oder der „full inclusion“, wonach die allgemeine Schule grundsätzlich als beste Wahl für Schüler*innen mit Bedarf an |17|sonderpädagogischer Unterstützung gesehen wird, während alle anderen Organisationsformen der Beschulung als weniger geeignete, das Menschenrecht infrage stellende und inklusionsfeindliche Möglichkeiten gelten;

(2)

der Ansatz der „educational inclusion“, die für eine Vielfalt von Organisationsformen der Beschulung steht, an empirischer Forschung orientiert ist und die Qualität der Förderung fokussiert.

Aus diesen unterschiedlichen Axiomen resultieren konsequenterweise divergierende Positionen zu zahlreichen Fragen inklusiver Bildung (Hillenbrand, Melzer & Sung, 2014), insbesondere aber zu den Organisationsformen, die Grosche (2015) vom Konzept Inklusion selbst unterscheidet und als Modelle zur „Steuerung von Inklusion“ bezeichnet.

Bestehende Bildungssysteme zeigen in Ländern wie Finnland oder Kanada mit einer langen Tradition gemeinsamer Beschulung eine große Bandbreite von Organisationsformen, die sehr pragmatisch entwickelt und genutzt werden (Schroeder, 2010). Es gibt neben der „full inclusion“, die sowohl mit als auch ohne zusätzliche sonderpädagogische Unterstützung arbeiten kann, sogenannte Spezialklassen („special classes“, „resource room“) mit einer partiellen („pullout-service“) oder gänzlichen Unterrichtung in der Spezialklasse sowie Förderschulen („special schools“) (McLeskey, Landers, Williamson & Hoppey, 2012; vgl. auch Kalambouka, Farrell, Dyson & Kaplan, 2007; Lindsay, 2007; Ruijs & Peetsma, 2009).

Die Frage schulischer Organisationsformen stellt jedoch einen distalen Faktor mit wenig Bezug zum direkten Lern- und Entwicklungsprozess dar (Wild et al., 2015, S. 9). Die Wirkungen lassen sich schwer von den getroffenen Maßnahmen unterscheiden und die vorliegenden Übersichtsarbeiten (v. a. Lindsay, 2007) belegen kleine und in der Richtung keineswegs eindeutige Wirkungen. Die bedeutenderen Wirkungen resultieren hingegen aus den proximalen Faktoren, wie bspw. den dargestellten Professionalisierungsmerkmalen von Lehrkräften oder konkreten Unterrichtspraktiken in der Inklusion (Wild et al., 2015).

Praktiken zur erfolgreichen Umsetzung von Inklusion

Es liegen zahlreiche Metaanalysen und systematische Reviews über die Wirksamkeit der verschiedenen Praktiken für die akademische oder sozial-emotionale Entwicklung von Schüler*innen vor (vgl. Mitchell, 2014). Van Mieghem et al. (2020) identifizieren zwei übergeordnete Prozesspraktiken, deren Wirksamkeit spezifisch im inklusiven Kontext belegt ist: die Unterstützung durch Lehrkräfte und pädagogisches Personal sowie die Unterstützung durch Mitschüler*innen (van Mieghem et al., 2020). Die Unterstützung durch pädagogisches Personal umfasst bspw. sogenannte Unterrichtsassistenten und Co-Teaching. Diese zusätzliche personale Ressource kann Freiräume für eine individuelle sonderpädagogische Förderung |18|im Unterricht mit Schüler*innen mit Behinderungen schaffen (z. B. Jurkowski & Müller, 2018). Die Unterstützung durch Mitschüler*innen erfolgt in peerbasierten Ansätzen. Hier konnte beispielsweise gezeigt werden, dass kooperative, peerbasierte Ansätze die soziale Kompetenz sowie die soziale Integration von Schüler*innen mit Verhaltensproblemen und die Lesefähigkeiten sowie phonologische Fertigkeiten von Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten verbessern können (z. B. Spilles, Hagen & Hennemann, 2019a, 2019b; Weber & Huber, 2020).

Modellprojekte in Deutschland erproben verschiedene Organisationsformen, Praktiken und Strategien zur Umsetzung von Inklusion. Hier sei insbesondere auf die zahlreichen innovativen Projekte im Rahmen der inklusionsbezogenen Förderrichtlinien des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) verwiesen. Außerdem werden groß angelegte Schulleistungserhebungen aus interdisziplinären, auch sonderpädagogischen Arbeitsgruppen umgesetzt, wie z. B. die Bielefelder Längsschnittstudie zum Lernen in inklusiven und exklusiven Förderarrangements (BiLieF; Wild et al., 2015), deren Ergebnisse wir im nächsten Teilkapitel zu den Inklusionsoutputs detaillierter darstellen. Für die Inklusionsprozesse von Schüler*innen mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten können insbesondere das Rügener Inklusionsmodell (RIM; Hartke, 2017) sowie das Projekt „Auf dem Weg zum inklusiven Schulsystem“ im Kreis Mettmann in Nordrhein-Westfalen (Hennemann, Hillenbrand, Fitting-Dahlmann, Wilbert & Urton, 2018) als Modellprojekte der inklusiven Bildung genannt werden, die inklusive Organisationsformen und Unterrichtspraktiken prozessbegleitend umsetzen und positiv evaluieren (Krull, Wilbert & Hennemann, 2018; Voß et al., 2016).

2.3.3 Inklusionsoutcomes von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf

Als zentraler Outcome inklusiver Bildung wird in der Forschung konsistent die Teilhabe von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf benannt. Es lassen sich zwei Outcome-Bereiche extrahieren, hinsichtlich derer die Entwicklung von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Inklusion untersucht wurde: (1) emotional-soziale Outcomes und (2) akademische Outcomes.

Emotional-soziale Outcomes von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Inklusion

Die emotional-sozialen Outcomes umfassen ein breites Spektrum an Merkmalen von Schüler*innen, das zum einen in emotional-soziale Kompetenzen und psychosoziale Gesundheit sowie zum anderen in die soziale Partizipation von Schü|19|ler*innen gegliedert werden kann (van Mieghem et al., 2020). Letzteres wird auch unter dem Begriff der sozialen Integration bzw. der sozialen Inklusion beforscht (Koster, Nakken, Pijl & van Houten, 2009).

Sozial-emotionale Kompetenzen und psychosoziale Gesundheit

Die Befundlage zur sozial-emotionalen Entwicklung von Schüler*innen in inklusiven Settings ist nicht eindeutig. Es existieren Überblicksarbeiten, die sowohl positive, neutrale und auch negative soziale Effekte bei Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf feststellen. Beispielsweise fanden Wiener und Tardif (2004), dass Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine bessere sozial-emotionale Kompetenz und eine positivere Selbstwahrnehmung in der Inklusion im Vergleich zu segregierenden Settings zeigten. Im Gegensatz dazu fanden Bakker und Bosnian (2003), dass Schüler*innen (7 bis 13 Jahre) mit schlechten Schulleistungen in inklusiven Klassen unter anderem weniger Selbstvertrauen beim Lernen hatten.