Inklusion bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit -  - E-Book

Inklusion bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit E-Book

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Beschreibung

Es die Aufgabe des Faches "Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit", Beiträge zur Gestaltung hochwertiger, barriere- und diskriminierungsfreier inklusiver Lehr- und Lernsettings vorzulegen. Der Band ordnet diese Herausforderung historisch ein, legt nationale und internationale Anregungen zur progressiven Realisierung inklusiver Bildungssettings und zu curricularen und didaktischen Diskursen vor. Diese werden für die Teilhabe von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen und Beeinträchtigungen des Sehens an Bildung spezifiziert. Damit wird eine in interdisziplinären Netzwerken eingebundene, neu justierte und inklusiv ausgerichtete Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit skizziert.

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Seitenzahl: 486

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort der Reihenherausgeber

Vorwort des Herausgebers – Quo vadis Inklusion?

1 Inklusive Handlungsfelder bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit: Rückblick, Bestandsaufnahme und Ausblick

1.1 Inklusive Bildung

1.2 Spezifik der Inklusionsdebatte im Fach Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit

1.3 Das ›Verpflanzen des Blindenunterrichts in die Ortsschule!‹ im 19. Jahrhundert – ein historischer Vorläufer der inklusiven Schule?

1.4 Modelle inklusiver Bildungssettings im Schwerpunkt Sehen – Alle Wege führen nach Rom?

Dreistufige Unterstützungsstruktur an der inklusiven Schule

Sonderpädagogische Abteilung an einer inklusiven Schule (Special day class)

Blinden- und sehbehindertenpädagogischer Lehr-Lern-Raum in einer Region (Resource Room)

Nesterschule (Resource School)

Sonderschulen (auf Zeit/invers/als Teil eines inklusiven Bildungscampus)

Sonderschule auf Zeit

Inverse/reziproke/umgekehrte/... Inklusion

Inklusiver Bildungscampus

2 Progressive Realisierung inklusiver Schule – Internationale Anregungen

2.1 Internationale Netzwerke in Lehre, Forschung und Transfer

2.2 Japan

2.3 Schottland/Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland

2.4 Republik Kuba

2.5 Großherzogtum Luxemburg

2.6 Volksrepublik China

2.7 Königreich Spanien

2.8 Vereinigte Staaten von Amerika

3 Spezifisches Curriculum und Anschlussfähigkeit

3.1 Das Spezifische Curriculum für Kinder und Jugendliche mit Blindheit und Sehbehinderung und seine Bedeutung für inklusive Lehr- und Lernprozesse

Ausgangslage im Förderschwerpunkt Sehen

Grundlegende Konzepte der UN-BRK: Angemessene Vorkehrungen – Barrierefreiheit/Zugänglichkeit – Universal Design

Das Spezifische Curriculum

Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und deren Auswirkung auf die Inhaltsbereiche des Spezifischen Curriculums

Ausblick: Mögliche Effekte des Spezifischen Curriculums für die Entwicklung einer inklusiven Schule

3.2 Individuelle Bildungsplanung – Impulse zur Umsetzung angemessener Vorkehrungen in inklusiven Bildungsprozessen

Ausgangspunkt: Zugänglichkeit von Bildungsprozessen

Inhaltliche Eckpunkte individueller Bildungsplanung

Fazit

3.3 Soziale Kompetenz als Unterrichtsgegenstand im Förderschwerpunkt Sehen

Einleitung

Soziale Kompetenz

Der traditionelle Normalisierungsansatz

Der interaktionistische Ansatz

Der kulturkritische Ansatz

Fazit

3.4 Leseförderung im inklusiven Unterricht

Einleitung

Leseflüssigkeit

Leseflüssigkeit bei Brailleleserinnen und -lesern

Förderung der Leseflüssigkeit im gemeinsamen Unterricht

Fazit

3.5 Inklusion im Mathematikunterricht

Inklusive Lernsituationen im Mathematikunterricht

Planungsstrategien für inklusiven Mathematikunterricht

Fazit

3.6 Bildeinsatz im Fremdsprachenunterricht: Chancen und Grenzen von Alternativtexten für Schüler:innen mit Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit

Ausgangspunkt

Alternativtexte als Zugangsmöglichkeit zu bildlichen Darstellungen im Fremdsprachenunterricht

Gesetzliche Regelungen

Grundlegende Hinweise zur Gestaltung von Alternativtexten

Alternativtexte im Fremdsprachenunterricht

Klassifizierung von Alternativtexten im Fremdsprachenunterricht nach VISCH

Herausforderungen und Grenzen von Alternativtexten im Fremdsprachenunterricht

Besondere Chancen von Alternativtexten im Fremdsprachenunterricht

Fazit

4 Inklusion und Teilhabe von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen und Beeinträchtigungen des Sehens an Bildung

4.1 Wer ist gemeint, wenn von »Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen« gesprochen wird?

4.2 Multiprofessionelle Arbeit

4.3 Was ist zu tun?

Diagnostik

Bildung und Bildungsinhalte

Vermittlung

Kommunikation

Peerkontakte

Hilfsmittel/Assistive Technologien

4.4 Ausblick

5 Interdisziplinäres Netzwerk

5.1 Inklusion bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit – Gestaltung inklusiver Bildungsbauten

An welchen Stellschrauben kann verbessert werden?

5.2 Inklusion: rehabilitationswissenschaftliche und erwachsenenpädagogische Bezüge

Einleitung

Blinden- und Sehbehindertenpädagogik im Erwachsenenalter – menschenrechtliche Perspektive

Inklusive Erwachsenenbildung bei Blindheit und Sehbehinderung

Abschließende Betrachtungen

5.3 Lernchancen im Fokus – Dialoge an der Schnittstelle von Gesundheit und Bildung in einer inklusiven Gesellschaft

Prolog

Versorgungsforschung an Schnittstellen: ein Schlüssel für die Erforschung teilhaberelevanter (bislang unentdeckter) Sehbeeinträchtigungen

Fallbeispiel: bislang unentdeckte Doppelbilder

Für den Kontext Schule: Variation der Bildqualität als Schlüsselfaktor für Unterstützung und interprofessionellen Austausch

Ausblick: Implikationen für Forschung, Weiterbildung und Transfer

5.4 Mensch-Computer-Interaktion und Inklusion

Einleitung

Mensch-Computer-Interaktion und Barrierefreiheit

Der schulische Kompetenzbereich »Informatik, Mensch und Gesellschaft«

Barrierefreiheit und Inklusion als Unterrichtsthema

Fazit

5.5 Das Ende der Büchernot? Barrierefreie Medienvielfalt im Spannungsfeld des inklusiven Publizierens und dem sich wandelnden Angebot von Spezialbibliotheken für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen

Am Anfang war das Buch

Das Buch als Medium

Bücher für alle

Fazit

Verzeichnisse

Literaturverzeichnis

URL-Verzeichnis

Abbildungsverzeichnis mit Alternativtexten

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

Inhaltsbeginn

Inklusion in Schule und Gesellschaft

Herausgegeben vonErhard Fischer, Ulrich HeimlichJoachim Kahlert und Reinhard Lelgemann

Der Herausgeber

Dr. Sven Degenhardt ist Professor für Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.

Sven Degenhardt (Hrsg)

Inklusion bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2025

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Heßbrühlstr. 69, 70565 [email protected]

Print:ISBN 978 – 3 – 17 – 042146 – 2

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978 – 3 – 17 – 042147 – 9epub:ISBN 978 – 3 – 17 – 042148 – 6

Vorwort der Reihenherausgeber

Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 für Deutschland verbindlich gilt, entwickelt sich die Idee der Inklusion zu einem neuen Leitbild in der Behindertenhilfe. Sowohl in der Schule als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen sollen Menschen mit Behinderung von vornherein in selbstbestimmter Weise teilhaben können. Inklusion in Schule und Gesellschaft erfordert einen gesamtgesellschaftlichen Reformprozess, der sowohl auf die Umgestaltung des Schulsystems als auch auf weitreichende Entwicklungen im Gemeinwesen abzielt. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung wird in Deutschland durch ein differenziertes Bildungssystem und eine stark ausgeprägte, spezialisierte sonderpädagogische Fachlichkeit – bezogen auf unterschiedliche Förderschwerpunkte – bestimmt.

Vor diesem Hintergrund soll die Buchreihe »Inklusion in Schule und Gesellschaft« Wege zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern von der Schule über den Beruf bis hinein in das Gemeinwesen und bezogen auf die unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte aufzeigen. Der Schwerpunkt liegt dabei im schulischen Bereich. Jeder Band enthält dabei sowohl historische und empirische als auch organisatorische und didaktisch-methodische sowie praxisbezogene Aspekte bezogen auf das jeweilige spezifische Aufgabenfeld der Inklusion. Ein übergreifender Band wird Ansätze einer interdisziplinären Grundlegung des neuen bildungs- und sozialpolitischen Leitbildes der Inklusion umfassen. Als Herausgeber fungieren die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats »Inklusion«, beauftragt vom Bayerischen Landtag.

Die Reihe umfasst folgende Einzelbände:

Band 1: Inklusion in der PrimarstufeBand 2: Inklusion in der SekundarstufeBand 3: Inklusion im BerufBand 4: Inklusion im GemeinwesenBand 5: Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale EntwicklungBand 6: Inklusion im Förderschwerpunkt geistige EntwicklungBand 7: Inklusion im Förderschwerpunkt HörenBand 8: Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische EntwicklungBand 9: Inklusion im Förderschwerpunkt LernenBand 10: Inklusion bei Beeinträchtigung des Sehens und BlindheitBand 11: Inklusion im Förderschwerpunkt SpracheBand 12: Inklusive BildungBand 13: Inklusion in KindertagesstättenBand 14: Inklusion und Qualifikation

Erhard FischerUlrich HeimlichJoachim KahlertReinhard Lelgemann

Vorwort des Herausgebers – Quo vadis Inklusion?

Eine mögliche Antwort wäre: Die Entwicklung von inklusiven Bildungssystemen in der Bundesrepublik Deutschland bewegt sich zwischen Schleichfahrt, Aufstoppen und dem Rückwärtsgang!

Menschenrechtlich argumentierende Hinweise internationaler und nationaler Akteure auf die Konzept- und Tatenlosigkeit von Bund, Ländern und Kommunen verhallen.

Und mehr noch: Unter dem Deckmantel des Elternwahlrechts gedeihen die Beharrungskräfte der spezifischen Sonderschulsysteme. Selbst die vorzeigbaren und stellenweise hoch gelobten Entwicklungen einer progressiven Realisierung inklusiver Bildungssettings betreffen bei genauer Sichtung mehrheitlich die Gruppe der Lernenden mit Benachteiligung (und zugewiesenem sonderpädagogischen Beratungs- und Unterstützungsbedarf). Spezifische stationäre Sonderschulen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung bleiben (mit wenigen Ausnahmen) konzeptionell und organisatorisch weitestgehend unangetastet und/oder verweisen auf ihre Beratungs- und Unterstützungsabteilungen.

In vielen erziehungswissenschaftlichen und schulpolitischen Debatten spiegelt sich immer noch eine reale oder konstruierte Dichotomie der Modelle wider: auf der einen Seite die stationäre Sonderschulbeschulung über die gesamte schulische Bildungskarriere hinweg und auf der anderen Seite die 24/7-Regelschullösung, fachlich getragen von einem multiprofessionellen Team im Klassenzimmer. Abweichungen von letzterem Modell werden scharf als nicht-inklusiv kritisiert und damit (auch von dieser »Seite«) denkbare Übergangsmodelle im Sinne einer progressiven Realisierung inklusiver Schule verhindert. Bestehende und in integrativen Zeiten bewährte überregionale Beratungs- und Unterstützungsangebote (Mobile Dienste etc.) existieren weiter. Viel zu häufig wird im Alltag diesem Unterstützungssystem exklusiv der Abbau der Barrieren im Einzelfall zugewiesen; der proaktive Abbau von Barrieren, z. B. im Prüfungswesen, kommt nur schleppend voran.

Die Vermittlung einer inklusionspädagogischen Grundkompetenz in den allgemeinen Lehramtsstudiengängen fokussiert überwiegend die zahlenmäßig »großen« sonderpädagogischen Schwerpunkte, wenn sie sich nicht sogar unter der Fahne des »weiten Inklusionsbegriffes« mehrheitlich mit anderen – zugegebenermaßen ebenso prekär bedienten – Differenzlinien beschäftigt.

Was kann angesichts derart verfestigter Positionen eine inklusiv ausgerichtete Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit zur (Wieder-)‌Aufnahme oder Fortsetzung einer entschlossenen Implementierung inklusiver Bildungssysteme beitragen?

Zum Einstieg kann und muss darauf hingewirkt werden, dass die eigentlich bekannte Grundaussage, eine inklusive Schulentwicklung wird nicht von der Sonderpädagogik gestaltet, nicht zum breiten Ausschluss sonderpädagogischer Zugänge führt. Eine inklusive Schulentwicklung, die zentral auf Entwicklungsfelder, wie das »Willkommen-Heißen«, den Abbau von »Barrieren in den Köpfen« und »Toleranz dem Anderen gegenüber« aufbaut, aber die Barrieren in Lehr-Lern-Settings für Lernende mit anderen Wahrnehmungs- und Bewegungspotentialen als Engführung des Inklusionsverständnisses und als nerviges Störfeuer abtut, wird den menschenrechtlichen Ansprüchen nicht gerecht: Das Vorenthalten angemessener Vorkehrungen ist ein Akt der Diskriminierung!

Hier muss eine Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit mahnen, streiten, dagegenhalten, anregen und aus ihrer Perspektive heraus konkrete Vorschläge für Richtungsänderungen und Neujustierungen unterbreiten.

Unbestritten positiv belegt ist im pädagogischen Feld die Aussage »Das Kind steht im Mittelpunkt!« Folgt man aber konsequent einem menschenrechtlich verankerten, bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung, wird deutlich, dass nicht die Beeinträchtigung des Sehens der Lernenden im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen sollte, sondern das Wechselspiel mit einer Umwelt, die nicht-passig zu diesen Wahrnehmungsbedingungen gestaltet und dadurch nicht oder unzureichend in der Lage ist, hochwertige, barriere- und diskriminierungsfreie Lehr- und Lernsettings vorzuhalten. Nur dann kann das Kind auch wirklich im Mittelpunkt stehen!

Dieser Idee folgend wird in diesem Band auch keine Vorstellung der Population, keine noch so spannende Beschreibung des physiologischen und funktionalen Sehens vorgelegt. Der Fokus liegt auf den potentiellen Barrieren in den Lehr-Lern-Settings, den Möglichkeiten, diese Barrieren prospektiv erst gar nicht aufkommen zu lassen und anderenfalls sie zu entdecken und abzubauen.

Um den Blick auf die Barrieren, deren Vermeidung, Entdeckung und Abbau aus der (nicht immer förderlichen) Ecke der »teuren Maßnahmen für die kleinste Gruppe mit sonderpädagogischem Beratungs- und Unterstützungsbedarf« holen zu können, muss die Bedeutung einer barrierefreien Gestaltung von Lehr-Lern-Settings für alle Lernenden stärker fokussiert werden: Barrierefreiheit schafft für alle ein Mehr an Sicherheit und eine bessere, komfortablere Nutzbarkeit. Die Texte in diesem Band werden zu belegen versuchen, dass Barrierefreiheit und Universal Design – gemeinsam gedacht – zu einer besseren Qualität eines Angebots führt, ob in der Infrastruktur, bei Publikationen, in der digitalen Welt oder im didaktischen Kontext über das Universal Design for Learning. Auf diesem Weg – so die Grundannahme – kann das menschenrechtliche Versprechen der Teilhabe an Bildung für alle Lernenden eingelöst werden.

Als Instrument für die Gestaltung der Teilhabe an Bildung für Menschen mit Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit in inklusiven Settings ist international das Expanded Core Curriculum (ECC) etabliert. In der deutschen Version wird dieser Ansatz als Spezifisches Curriculum seit nunmehr über zehn Jahren diskutiert. Der vorliegende Band trägt Potentiale, Grenzen und mögliche bzw. notwendige Entwicklungslinien hierzu in unterschiedlichen pädagogischen Handlungsfeldern zusammen. Dabei besteht die Hoffnung, dass die Illustration eines (allen bundesdeutschen Gepflogenheiten zum Trotz) nicht kompetenzorientierten spezifischen Curriculums auch für andere sonderpädagogische Schwerpunkte beim Übergang von einer Inklusion konterkarierenden Förderplanarbeit zu individuellen Bildungsplänen für alle Schülerinnen und Schüler beispielgebend sein kann.

Eine weitere, auch international nur ansatzweise ausdiskutierte Frage ist die nach der Wirkmacht des ECC/Spezifischen Curriculums bei der Gestaltung inklusiver Settings im Sinne der Bildungsteilhabe von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen und Beeinträchtigungen des Sehens. Diese Teilhabegestaltung muss einer Übermacht von Ansätzen widerstehen: Schonung, Verbesonderung, Therapie, Pflege und das Axiom, dass diese Gruppe chronologisch eher am Ende des Inklusionsprozesses relevant wird. Darauf bezogen werden kritische Diskussionsstränge zusammengetragen.

Fast schon ein wenig abgegriffen wirkt das Bekenntnis zu interdisziplinären Netzwerken und ihrer Bedeutung für die inklusive Entwicklung von Bildungssystemen. Der Gefahr der Plattitüdenbildung stellt sich die inklusiv ausgerichtete Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit mit historischen und aktuellen nationalen und internationalen Beispielen entgegen. Für das Gemeinsam-Denken von Digitalisierung und Inklusion braucht es die Verknüpfung der Expertise der Informatik und des digitalen Publizierens, der inklusive Schulbau gelingt nur durch intensive Abstimmung zahlreicher Disziplinen, und auch die über Jahrhunderte bewährten Dialoge zwischen Medizin, Gesundheits- und Erziehungswissenschaften erhalten in inklusiven Kontexten neue Impulse. Die beleuchteten rehabilitationswissenschaftlichen und erwachsenenpädagogischen Bezüge stehen exemplarisch für die Breite von Bildungsprozessen im gesamten Lebensverlauf. Hier muss der vorliegende Band Lücken lassen, so sind u. a. die inklusive Frühe Bildung sowie die inklusive berufliche Bildung nicht explizit abgebildet.

Aus den internationalen Netzwerken, in diesem Band drei Kontinente vereinend, werden inspirierende Impulse insbesondere zu organisatorischen Rahmensetzungen der progressiven Realisierung inklusiver Schule skizzenhaft vorgestellt. Modelle, die die o. g. Zweiteilung zwischen separierenden Sonderschulen (angeboten für die gesamte Schullaufbahn) und dem inklusiven Klassenzimmer (als einzigen und alternativlosen Lehr-Lern-Raum) auflösen sollen. Die spezifische Perspektive von Lernenden mit Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit auf die inklusive Gestaltung von Bildungsprozessen kann auch die Heterogenität von Organisationsmodellen sichtbar machen. Ein historischer Rückblick offenbart darüber hinaus, dass die Institutionalisierung der Blindenbildung im 18. Jahrhundert das Bildungsrecht blinder Kinder gestärkt hat und keine Aussonderungsschule war. Auch verweist der historisierende Blick auf die Verallgemeinerungsbewegung im 19. Jahrhundert und auf die Aussichtslosigkeit der Verpflanzung einer in Separation bewährten Blindenpädagogik in eine sich nicht ändernde Regelschule.

Eine weitere Spezifik der Inklusion bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit sind die Potentiale und Grenzen der Peer-Kontakte bei der Gestaltung von Lehr-Lern-Settings. Dieses Feld ist exemplarisch und im positiven Sinne des Wortes spannungsgeladen, denn über die Debatte der Ermöglichung intensiver Peer-Kontakte wird insbesondere durch Menschen mit Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit eine konkrete Kritik an schulischen Inklusionsmodellen laut, die zur Vereinzelung der Schülerinnen und Schüler führt oder führen kann. Hier wird die durch die Critical Blindness Studies/Disability Studies eindringlich formulierte Gefahr der Fremdbestimmtheit der Inklusionsdebatte besonders sichtbar.

Der Band kann die Diskurse aktuell bestehender Problemlagen in der sprachlichen Abbildung komplexer Sachverhalte nicht auflösen. Bereits der Titel besitzt konzeptionelle Sprengkraft: »Inklusion im Förderschwerpunkt Sehen« verbietet sich mittlerweile nach der neuen Sprachregelung der Kultusministerkonferenz. Aber auch die Formulierung »Inklusion im sonderpädagogischen Schwerpunkt Sehen« verlegt die Inklusion in ein sonderpädagogisches Fach. Würden die fast halbseitigen Titel der auch in diesem Band zitierten Fachbücher und Reiseberichte des 19. Jahrhunderts noch en vogue sein, wurde der Band vielleicht wie folgt heißen: »Inklusion und die Gestaltung zugänglicher, diskriminierungsfreier, chancengleicher und hochwertiger Lehr- und Lernsettings mit dem Ziel der Teilhabe von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung an Bildungsprozessen in allen Lebensphasen« ... aber auch hier wären berechtigte Anhaltpunkte für kontroverse Diskussionen auffindbar. Auch wenn es sprachlich nicht die eleganteste und keine eindeutige Variante ist, wird der Band unter dem Titel »Inklusion bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit« firmieren.

Ein Herausgeberband hat im Bereich des Umgangs mit Sprachregelungen im Wesentlichen zwei Optionen: alle Beiträge halten sich an eine Sprachregelung, oder es wird den Autorinnen und Autoren überlassen, sich – innerhalb eines ggf. gemeinsam abzusteckenden Rahmens – ihrer inhaltlichen Konzeption und Position oder der individuellen Tradition folgend sprachlich zu verhalten.

Die konzeptionellen Unterschiede bezogen auf das Verhältnis von Identität und Behinderung können an Formulierungen, wie z. B. Menschen mit Blindheit oder blinden Menschen festgemacht werden. Im vorliegenden Band wird die Begründung der Entscheidung für oder gegen eine der Varianten nicht durchgängig explizit ausgeführt.

Die Anerkennung der Bedeutung von Sprache und Sprachhandeln im Kontext von Diskriminierung, Gleichberechtigung, Inklusion und Respekt führt zu einer erhöhten Reflexion geschlechtergerechter Sprache und einem sehr präsenten Diskurs. Gleichsam sind die diskutierten und praktizierten Lösungen auch hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit zu fokussieren: so steht z. B. die Verwendung von Sonderzeichen innerhalb von Wörtern und die aufwändige Anpassung der Pronomen sowie der gesamten Satzstruktur in der Gefahr, das Leseverständnis (nicht nur) bei Nutzung von Screenreadern stark einzuschränken. Da sich die aktuellen Wertungen einzelner Varianten geschlechtersensibler Sprache in der bundesdeutschen (Fach-)‌Öffentlichkeit eher dichotom im Spannungsfeld von ungeteiltem Zuspruch oder vehementer Ablehnung bewegen und – auch als ein Ergebnis dieser angespannten Streitkultur – immer neue Varianten kreiert werden, hat sich der Herausgeber mit den Autorinnen und Autoren auf folgende Praxis für diesen Band verständigt: Alle Autorinnen und Autoren sind frei in der Wahl der gendersensiblen bzw. gendergerechten Sprache. Innerhalb eines Beitrages wird diese Version, mit Ausnahme wörtlicher Zitate, konsequent genutzt; die Kombination mit Ersatzformulierungen ist möglich.

Alle gewählten sprachlichen Versionen sind Ausdruck der Anerkennung der gesamten Breite von Genderidentitäten; keine Person wird durch eine konkret gewählte sprachliche Version aus der inhaltlichen Aussage des Satzes ausgeschlossen.

Diese Aussage wird häufig und vehement als Fortsetzung der sprachlichen Diskriminierung abgelehnt. An dieser Stelle darf jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, dass alle Versionen gendergerechter Sprache etwas meinen und für sich postulieren, dass genau diese Version, die allumfassendste und (einzig) nicht-diskriminierende ist. Eine Konsensbildung liegt nicht vor. Also appelliert dieser Band durch den gewählten Umgang mit gendersensibler Sprache an die Übertragung von Setzungen aus inklusiven Diskursen: die Anerkennung von Verschiedenheit und die Historizität gesellschaftlicher Diskurse.

Die Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit – so wie sie in diesem Band vorgestellt werden soll – ist stark von der Idee der Transformation beeinflusst und hat sich der inklusiven Gesellschaftsentwicklung vorrangig auf dem Feld der Bildung verschrieben. Seine Aufgaben in Forschung, Lehre und Transfer kann das Fach nur durch eine starke Einbindung in inter-/transdisziplinärer Netzwerke erfüllen.

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes bilden in dem Zusammenspiel ihrer unterschiedlichen und breit aufgestellten fachlichen und persönlichen Biografien diesen transformativen Netzwerkgedanken und die Potentiale von Vielfalt und Partizipation ab.

Versammelt sind neben mehreren Kolleginnen und Kollegen aus dem Fach Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit Vertreterinnen und Vertreter aus der Bildung und (Früh-)‌Förderung bei schweren Kommunikationsbeeinträchtigungen, der Mathematikdidaktik, der Mensch-Computer Interaktion, der Rehabilitations- und Gesundheitswissenschaft, Medizin und Psychologie, der Buch- und Bibliothekswissenschaft und der Architektur. Berufliche Wirkungsstätten der Autorinnen und Autoren sind Universitäten und Hochschulen, Kliniken und Sozialpädiatrische Zentren, Bibliotheken und inklusive schulische Handlungsfelder im Fach in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz, Japan, Schottland, Kuba, Luxemburg, der VR China, Spanien und den USA.

Der Herausgeber dankt allen Autorinnen und Autoren für das intensive, kommunikativ starke und kreative Mitwirken an diesem Buchprojekt. Insbesondere bleibt zu hoffen, dass das vom Herausgeber immer wieder gerne genutzte Zitat »Geben Sie mir ein Ping« nicht die Freude an der Rezeption des filmischen Originals schmälert.

Bei der Konzeption des Herausgeberbandes, der Zusammenstellung der Anfragen zur Mitarbeit und letztendlich auch bei fachlichen und formalen Abstimmungen in Detailfragen hat das »Hamburger Denkkollektiv« eine tragende Rolle gespielt. Die Tradition intensiver, kritischer und nachfragender Debatten im Team mit dem Ziel, wertschätzend mit Bewährtem und herausfordernd mit Veränderungsbedarfen umzugehen, hat auch bei diesem Projekt zu intensiven und zielorientierten Debatten geführt. Der Dank geht an Marie-Luise Schütt, Wiebke Gewinn und Christoph Henriksen! Für die intensiven, hinterfragenden und perspektiverweiternden Gespräche und gemeinsamen Projekte in Lehre, Forschung und Transfer zu dem Themenfeld des Verhältnisses von inklusiver Schulentwicklung und Inklusion und Partizipation im Sozialraum in nationalem und internationalem Rahmen geht ein besonderer Dank an Iris Beck und Joachim Schroeder.

Transformation ist ein intensiver Kommunikations- und Aushandlungsprozess. Auch für die Ausrichtung dieses Bandes war der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen im Handlungsfeld grundlegend; insbesondere ein starker Norddeutscher Verbund und die Plattform, die der Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V. (VBS) bietet, eröffnen Mitwirkungsmöglichkeiten und Einblicke in die Handlungsfelder, in Ideen und Konzepte für die Entwicklung der Einrichtungen und auch in die Grenzsetzungen schulpolitischer Vorgaben oder Praktiken. Ein besonderer Dank gilt dem VBS-Aktiv und den Mitstreiterinnen und Mitstreiter des VBS-Vorstandes für die streitbar-anregenden und fordernden Gespräche.

Den Kolleginnen und Kollegen des Verlags und den Herausgebern der Reihe »Inklusion in Schule und Gesellschaft« gilt der besondere Dank für die Ermöglichung dieses Bandes und die engmaschige und unterstützende Begleitung bei der Erstellung.

Allen Kolleginnen und Kollegen, den Studierenden, der Familie, den Freunden und Bekannten, die sich unter dem Verweis auf das Buch mit einem ungewöhnlichen Zeitmanagement und einer manchmal verkürzenden Kommunikation konfrontiert sahen, ist an dieser Stelle für ihre Nachsicht und das Verständnis zu danken.

Prof. Dr. Sven DegenhardtUniversität HamburgMai 2024

1 Inklusive Handlungsfelder bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit: Rückblick, Bestandsaufnahme und Ausblick

Sven Degenhardt

1.1 Inklusive Bildung

Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) konstatierte in dem Bericht an den Deutschen Bundestag »Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland. Juli 2021 – Juni 2022«:

»Nur wenige Bundesländer setzen das Menschenrecht auf inklusive Bildung jedoch mit großem Engagement um, darunter Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein. In den anderen Bundesländern zeigen sich gegenläufige Tendenzen. Nicht nur stagniert dort der Umsetzungsprozess der UN-BRK. Vielmehr hat die Debatte um die inklusive Bildung bedauerlicherweise einen Punkt erreicht, an dem die Bedeutung der menschenrechtlichen Vorgaben zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems sogar weniger ernst genommen wird als noch vor einigen Jahren (...). Aktuell wird mehreren Generationen von Schüler*innen mit Behinderungen in diskriminierender Weise ihr Recht auf Bildung verwehrt – und damit sowohl ihre selbstbestimmte Lebensgestaltung als auch ihre gesellschaftliche und politische Teilhabe wesentlich beeinträchtigt« (DIMR 2022, S. 23 f.).

Das DIMR sieht einen unzureichenden »politischen Willen zum menschenrechtlich erforderlichen Aufbau eines inklusiven Schulsystems« und konstatiert die Weigerung, »eine Gesamtstrategie für inklusive Bildung, deren Kernelement eine stärkere Kooperation von Bund und Ländern im Bildungsföderalismus sein sollte« (2022, S. 13), zu entwickeln.

Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen formuliert in seinen Abschließenden Bemerkungen zum kombinierten zweiten und dritten Staatenbericht Deutschlands in gleicher Schärfe:

»The Committee is concerned about the lack of full implementation of inclusive education throughout the education system, the prevalence of special schools and classes, as well as the various barriers children with disabilities and their families encounter to enroll in and complete studies at mainstream schools« (CRPD 2023, S. 11).

Die Berichte des CRPD und des DIMR-Berichts sind auch in den weiteren fokussierten Punkten mehr als Anregungen und Impulse. Sie sind auch eine Beschämung, insbesondere eingedenk der im politischen und medialen Raum vorgenommenen Rollenzuschreibung der Bundesrepublik Deutschland als unbeugsame Beförderin der Menschenrechte nach innen und außen. Im Kontext der Öffentlichkeitarbeit ist eine Beschämung eine legitime flankierende Maßnahme zur alternativen Rechtsdurchsetzung bei Diskriminierungsvorkommnissen (ADS-Bund 2021, S. 148). Die Öffentlichkeit hat 2023 ein breites Angebot von Informationen zum Stand der Entwicklung inklusiver Bildungssysteme: die aktuellen Berichte der unabhängigen internationalen und nationalen Menschenrechtsinstitution sowie zahlreiche erziehungswissenschaftliche Analysen, Daten und Fakten. Und ein Szenario wird immer deutlicher: die bildungspolitische Situation ist festgefahren. Es geht nicht weiter. Inklusion und Lernende mit Behinderung werden im politischen Raum eher als Last, denn als Chance im Rahmen von Schulentwicklungsprozessen wahrgenommen.

Und obendrein wird die inhaltliche Debatte um inklusive Bildung immer noch reflexartig, einengend und gleichzeitig zuspitzend auf die Existenz von Sonderschulen bezogen. Über zehn Jahre intensive, schulpolitische und erziehungswissenschaftliche Debatten scheinen kaum etwas geändert zu haben. Bereits 2010 nannte Speck das Thema Inklusion ein aufgeladenes »ideologisches Minenfeld«, in dem gegensätzliche Emotionen, Hoffnungen, Träume, Befürchtungen und Ängste aufeinandertreffen (2010, S. 7). Unter Verweis auf unterschiedliche theoretische Wurzeln des Inklusionsbegriffs als »politischer Reform- wie als wissenschaftlicher Reflexionsbegriff« (Beck/Degenhardt 2010, S. 74), seine internationale Perspektive und Eingebundenheit z. B. in die Education for all Bewegung sowie in das Problemfeld von sozialer Ungleichheit und Gerechtigkeit versuchten 2010 Beck und Degenhardt die Aussicht auf »deutsche Alleingänge und den (schul-)‌politischen Aktionismus« (S. 78) mahnend zu begleiten. Vor allem in der Auseinandersetzung mit der Drohkulisse des Förderschul-Schließ-Szenarios formierten sich bereits vor über zehn Jahren mehrere Interpretationscluster, die als die fünf »Inklusionstypen« beschrieben wurden (Degenhardt 2012, S. 156 ff.):

die Inklusionsträumer, die unter dem Motto Ganz-oder-gar-Nicht jede Abweichung von einer Schule-für-Alle zum Verrat an der Idee erklären,

die Inklusions-Ressourcen-Theoretiker, für die eine wahre inklusive Schulentwicklung nur über eine systemische und entpersonifizierte Ressourcenzuweisung umsetzbar erscheint,

die Inklusionspragmatiker, die alles als Inklusion bezeichnen, was umsetzbar und machbar ist, und die sich dabei insbesondere von der 80 % Inklusionsquote leiten lassen,

die Inklusionspiraten, die die UN-BRK »entern« und in ihr ein Wahlrecht der Eltern (Sonderschule oder inklusive Regelschule) finden und letztendlich

die Inklusionsaussitzer, die – wie bei den anderen Modewellen – darauf hoffen, dass auch diese vorbeigeht.

Der Vorschlag, diese Inklusionstypen in ihrem spezifisch bis extremen Zugang zu versöhnen und sich als reisender Inklusionsvagabund auszuprobieren, der sich im In- und Ausland und in anderen Handlungsfeldern anregen lässt und Modelle ausprobiert (Degenhardt 2012, S. 156 ff.), steht immer noch im Raum.

Vielmehr muss weiterhin der »inflationäre Gebrauch des Inklusionsbegriffs« (Ahrbeck 2020, S. 179) konstatiert werden. Der dabei fast liebevoll gepflegte und von Einigen mit einem belehrenden Unterton geführte Streit um den »engen« und »weiten« Inklusionsbegriff übersieht – sogar in Zeiten höchster sprachlicher Empfindsamkeit – die potentiell abwertende Konnotation von »eng«. Vertreterinnen und Vertretern, die die Umsetzung einer inklusiven Gesellschaftsentwicklung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention fokussieren, unterstellt man mit dem Verweis auf »Enge« die Unfähigkeit, das Große und Ganze zu sehen und andere Problemlagen aus dem Auge zu verlieren (Degenhardt 2020a, S. 8). Dieses Abrutschen zu einem »normativ-moralisierenden ›Schlagwort‹« (Schroeder 2016, S. 139) trifft gleichzeitig auf die Wahrnehmung, dass sich öffentlichen und fachliche Diskussion in der Breite zunehmend polarisieren.

Diese Polarisierung geht auch mit pauschalen Ablehnungen der »anderen Seite« einher, die nicht mehr im Einzelfall begründet werden oder begründet werden müssen. Nicht förderlich erscheint da auch die – unter Ausblendung differenzierter Konzepte – auf visuell (!) erfass- und zählbare Äußerlichkeiten abzielende Debatte um die Sichtbarkeit von Diversität, z. B. zur audiovisuellen Diversität in Film und Fernsehen (link 1.1)1. Dieser Trend zur Fokussierung und Zählung von singulären, schnell visuell wahrnehmbaren Details als vermeintlicher Repräsentant von Einstellungen, Konzepten, Qualitäten und Strukturen etc. lässt nicht verwundern, dass auch beim Blick auf inklusive Schulentwicklung dominant die (zählbaren) Äußerlichkeiten fokussiert werden. Die Pole »sichtbare Behinderung« (dominant verbunden mit dem Rollstuhl, dem Langstock und der Deutschen Gebärdensprache) im Regelschulklassenzimmer einerseits und das Schild »Förderschule« an der Tür eines Schulgebäudes andererseits verkennen gleichermaßen die Tiefe inklusiver Schulentwicklung und verhindern letztendlich Entwicklungen und Transformationen. Wenig förderlich erscheinen da auch Appelle zur Wahrnehmung von »Grenzen der Inklusion«, wenn z. B. die avisierte Win-Win-Situation eines gemeinsamen inklusiven Lehr-Lern-Setting als »Alle-Verlieren-Situation« gekennzeichnet wird (Bronfranchi/Dünki/Perret 2022, S. 96). So fallen Kreativität und Gestaltungswille schwer; zu stark erscheint die Macht der Erinnerung an die good old days.

Mit einem lösungsoptimistischen Modell des »Transformativen Inklusionsmanagements« begibt sich Koenig bewusst in »die Risikozone der Instabilität« (2022, S. 25). Diesen Optimismus teilt Markowetz (2016, S. 245 ff.), indem er das global präsente 4 A-Modell »describing governmental human rights obligations to make education available, accessible, acceptable and adaptable« (Tomaševski, 2004, i) in ein dynamisches 3P-Modell (Präsenz, Partizipation, Pädagogik) überführt. Dieses 3P-Modell lenkt den Fokus stärker auf Prozesse und fragt konsequent nach der Wirkung und Wirksamkeit inklusiver Entwicklungsprozesse z. B. bei der Partizipation im Sozialraum oder dem »Wie« bei der der Entfaltung einer inklusiven Pädagogik (▸ Kap. 1.4). Letztendlich sollte es gelingen, das »Feuer der inklusiven Euphorie« (Capovilla 2021, S. 48) nicht als Gefahr zu fürchten, sondern als Triebkraft für neue, innovative Modelle und Konzepte zu nutzen.

Die Gesamtheit der Veröffentlichungen zu theoretischer und handlungsfeldbezogener historischer, erziehungswissenschaftlicher, soziologischer, psychologischer ... Forschung über inklusive Bildung sind – allein im deutschsprachigen Raum – kaum noch ohne eine Metastudie überschaubar. Das »Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik« (Hedderich et al. 2022) fasst Beiträge von 138 Autorinnen und Autoren zusammen und bietet damit einen aktuellen, breiten und mehrdimensionalen Zugriff auf das Themenfeld. Darüber hinaus stark vertiefte Felder der Reflexion sind z. B. Inklusion im Ganztag, Inklusion im Bildungs- und Sozialraum (u. a. Beck 2016; Kratz et al. 2016, Ricken/Degenhardt 2019), Inklusion und Digitalisierung (u. a. Fisseler 2020; Schulz et al. 2022) sowie Inklusion und Professionalisierung (u. a. Rank/Frey/Munser-Kiefer 2021; Schütt et al. 2020).

Selbstverständlich entwickelt auch jeder sonderpädagogische Schwerpunkt vor dem Hintergrund seiner Geschichte, seiner Fachkultur und seinen sehr unterschiedlich aufgestellten regionalen, überregionalen, nationalen und internationalen Netzwerken einen eigenen Zugriff auf das Themenfeld der inklusiven Schulentwicklung (so in der Reihe »Inklusion in Schule und Gesellschaft« u. a. Fischer/Markowetz 2016; Leonhardt 2018; Benkmann/Heimlich 2018 und aus der Reihe »Inklusiver Unterricht kompakt« u. a. Truckenbrodt/Leonhardt 2016 sowie im Abschnitt »Entwicklungsbereiche und Förderschwerpunkte« in Hedderich et al. 2022, S. 214 – 270). Im Kanon dieser schwerpunktspezifischen Zugänge ist auch das Fach Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit vertreten (u. a. Hofer 2019; Lang/Thiele 2020; Lang 2022a). Bei der Entwicklung einer inklusiven Pädagogik spielen Fachdidaktiken eine zentrale Rolle. Auch in diesen Diskursen ist der spezifische blinden- und sehbehindertenspezifische Zugriff präsent (u. a. Giese/Katlun/Bolsinger 2017; DGVU 2020; Leuders 2016).

Explizit inklusionspädagogische Fragen werden auch in den genuin blinden- und sehbehindertenpädagogischen Publikationsfeldern aufgeworfen und diskutiert (u. a. in der Fachzeitschrift des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e. V. [VBS] »blind-sehbehindert«: Henriksen 2018; Drolshagen 2021; Gewinn 2021; Lang et al. 2022 und in den Berichten zu den Kongressen für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik: Degenhardt 2009; Lang/Heyl 2013; Adrian 2017). Im Rahmen der Arbeit des VBS als Fachverband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik werden regelmäßig Positionen zu konkreten Handlungsfeldern veröffentlicht; so seit einigen Jahren auch zur »Inklusion in schulischen Kontexten« (link 1.2). Die fachlichen Initiativen zur inklusiven Bildung blinder und sehbehinderter Lernender werden im VBS in der Arbeitsgemeinschaft »Inklusion in schulischen Kontexten« verankert. »Die AG Inklusion im VBS sieht in der Debatte um die UN-Behindertenrechtskonvention und die Inklusion eine Chance zur Weiterentwicklung von allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik« (link 1.3). In der weiteren Beschreibung der Arbeit der AG wird eine Formulierung genutzt, die auch seit der Implementierung integrativer Settings – also seit mehr als einem halben Jahrhundert – in sehr vielen Veröffentlichungen und Projekten als explizit oder implizit genutzter, Konsens sichernder, Leitsatz auftaucht: »Wenn die schulische Bildung und gesellschaftliche Teilhabe von blinden und sehbehinderten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen unabhängig von der Schulform, an der sie unterrichtet werden, gelingen soll, ...« (link 1.3).

Die Betonung unabhängig vom Lernort sichert die Trennung einer fachspezifischen Diskussion von der – oben beschriebenen – oft aufgeladenen Inklusionsdebatte erst recht in der Zuspitzung um die Existenzberechtigung spezifischer stationärer Einrichtungen! Unter dem Schirm unabhängig vom Lernort können sich Schonraumkonzepte, tradiertes blinden- und sehbehinderten-schul-pädagogisches Denken, Verfechterinnen und Verfechter der konsequent subsidiären Rolle des Faches und Inklusionsaktivistinnen und -aktivisten aller Couleur zusammenfinden. Vielleicht trägt dieses Miteinander auch zur Stärkung der Gruppe der reisenden Inklusionsvagabundinnen und -vagabunden (Degenhardt 2012, S. 157) bei! Gleichzeitig muss man sich aber auch der konzeptionellen und historischen »Endlichkeit« dieses Burgfriedens bewusst sein.

Exemplarisch für diesen Konsensschirm, der sich über die Bemühungen um hoch qualitative Bildungsangebote für blinde und sehbehinderte Lernende spannt, ist die Initiative des VBS um die Stärkung einer Curriculumdiskussion unter dem Label »Spezifisches Curriculum« (VBS 2011/2016; VBS 2013/2016; VBS 2016). Die internationale Curriculumdiskussion, z. B. in der Form des Expanded Core Curriculum (ECC), ist von ihrer Genese und im Schwerpunkt mit inklusiven Settings verbunden; in der bundesdeutschen Entwicklungslinie ist sie auch von dem Ziel getragen, die spezifische Qualität von stationären Einrichtungen in den unterschiedlichen Bildungsphasen abzubilden (dazu ausführlich in Degenhardt/Gewinn/Schütt 2016) und diese Qualitätsstandards z. B. im Rahmen der länderspezifischen Qualitäts- und Evaluationsdebatten einzubinden. In der Phase starker, formalisierter Qualitäts- und Evaluationsanstrengungen an bundesdeutschen Schulen hat ein im Auftrag des VBS erstelltes Gutachten (Degenhardt 2008) nämlich belegen können, dass in dieser Phase die Bemühungen um spezifische (segregierende, integrative oder inklusive) Settings für Lernende mit Behinderung allgemein und für blinde und sehbehinderte Lernende im speziellen kaum oder gar nicht in den Qualitätsstandards der Länder implementiert waren. Es fehlten Indikatoren zu vorhandenen Nachteilsausgleichen, zu spezifischen Assistiven Technologien und Hilfsmitteln, zu entsprechenden Schwerpunkten in den Schulprogrammen und Fortbildungsplänen u. v. a. m. (Degenhardt 2008, S. 25 ff.). Das Spezifische Curriculum konnte folgend auch in diesem Zusammenhang strukturgebend genutzt und die Weiterentwicklung der länderspezifischen Qualitätsstandards und Rahmencurricula flankiert werden.

Über Erfolge und Herausforderungen bei der Implementierung des ECC berichten auch Allman/Lewis/Spungin (2014) sowie Chiu/Wild (2023). Inklusive Schulentwicklung unter dem Fokus der Teilhabe blinder und sehbehinderter Lernender thematisieren im englischsprachigen Bereich u. a. Salisbury (2007), Davis (2016), Miyauchi/Gewinn (2020) und Miyauchi/Fast/Wild (2022). In zahlreichen online-Angeboten werden Erfahrungsaustausch und reflektierte Begleitung insbesondere der curriculumbasierten Implementierung inklusiver Bildungsprozesse für Lernende mit Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit angeboten (u. a. link 1.4 bis link 1.7)

1.2 Spezifik der Inklusionsdebatte im Fach Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit

Der Blick auf die Breite und Tiefe inklusionspädagogischer Debatten lässt die Frage aufkommen, welche Rolle die Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit in diesen Debatten spielt und in der Zukunft spielen kann oder sogar muss und welche spezifischen inklusionspädagogische Debatten innerhalb der Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit auszumachen sind.

Die erste und sofort präsente Idee folgt aus der Einsicht, dass die immer hervorgehobene »hohe Spezifik« auch die Inklusionsdebatte formt. Einen Aspekt dieser Spezifik teilt sich die Blinden- und Sehbehindertenpädagogik jedoch mit anderen sonderpädagogischen Fächern: bei der Umsetzung der UN-BRK, vornehmlich zum Artikel 24, wird der menschenrechtliche Ansatz auf Lernende mit Behinderung bezogen. Schulpolitische Entscheidungen und die Traditionen der »Besonderung, Separierung und Abgrenzung« (Ellger-Rüttgardt 2022, S. 27) haben im bundesdeutschen Kontext dazu geführt, dass ein großer Teil der diskutierten inklusiven Entwicklungsprozesse eher den Umgang mit Benachteiligung denn mit Behinderung fokussieren. Das UN-Handbuch für Parlamentarier »From Exclusion to Equality: Realizing the rights of persons with disabilities« veröffentlichte 2007 folgende Aussage:

»Experience has shown that as many as 80 to 90 per cent of children with specific education needs, including children with intellectual disabilities, can easily be integrated into regular schools and classrooms, as long as there is basic support for their inclusion« (UN 2007, S. 85).

Eine solche prozentuale Grenzsetzung rief förmlich dazu auf, das Ziel eines sich Auf-den-Weg-Machens oder einer fast vollständigen inklusiven Beschulung durch das definitorische Erweitern der Gesamtgruppe zu erreichen. Damit war die Erweiterung des Behinderungsbegriffs auf die schulpolitische Kategorie des sonderpädagogischen Förderbedarfs für das bundesdeutsche Bildungssystem ein statistischer, aber nicht ungewollter Schachzug: die 80 % Grenze von regelbeschulten Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf als erstes Ziel inklusionspädagogischer Bemühungen ermöglichte es, inklusive Schulentwicklung zu betreiben, ohne die Lehr-Lern-Settings von Lernenden mit Behinderung zentral und nachhaltig zu verändern.

Auch große Studien fokussieren in der Analyse zu den Gelingensbedingungen der »Trias aus heilpädagogischer Theorie, Profession und Institution« (Ellger-Rüttgardt 2022, S. 27) vornehmlich auf die sonderpädagogischen Schwerpunkte Lernen/Sprache/Emotional-soziale-Entwicklung (LSE) (u. a. Schuck/Rauer/Prinz, 2018; Melzer et al., 2015). Die Schärfe und Treffsicherheit der Beschreibung der Gelingensbedingungen nimmt aber mit der Größe der zu beschreibenden Spezifika in diesem Prozess ab.

Eine zweite Spezifik ist der Nimbus des »ewig vergessenen oder übergangenen Bereiches«. Eine Besonderheit von Modellen, die den Umgang mit Heterogenität fokussieren, ist die Reduktion von Komplexität: Katzenbach und Schroeder verweisen darauf, »dass alle Denkmodelle der Organisation von Schule mit irgendwelchen Formen der Reduktion von Komplexität arbeiten, und dass sie sich damit zwangsläufig Folgeprobleme – und Gegenbewegungen – einfangen« (2007, o. S.). Zu diesen Gegenbewegungen gehört auch das fast ritualisierte Konstatieren und Beklagen des Vergessens der spezifischen Bedarfe von blinden und sehbehinderten Lernenden bei schulpolitischen Gesetzesvorhaben, Modellen, Initiativen u. v. a. m.

Nun, leider ist diese Feststellung auch viel zu oft wahr: blickt man nur auf das herausfordernde Entwicklungsfeld der Digitalisierung, fällt z. B. auf, dass weder konzeptionell im DigitalPakt Schule 2019 – 2024 (link 1.8) noch in den Handlungsempfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) »Digitalisierung im Bildungssystem« (link 1.9) Barrierefreiheit in der zu erwartenden Nachdrücklichkeit als Qualitätskriterium eingebunden ist (dazu u. a. Degenhardt 2022). Auch verweisen die Berichte aus den Handlungsfeldern darauf, dass entgegen der Umsetzungsparanoia bezüglich der Datenschutz-Grundverordnung im pandemiebedingten Emergency Remote Teaching eine fast schon stoische »Unachtsamkeit« bei der Prüfung der Zugänglichkeit digitaler Tools weit verbreitet war (dazu u. a. im Themenheft »Beratung und Unterstützung sowie Unterricht auf Distanz im Aufgabengebiet der Pädagogik bei Blindheit und Sehbehinderung« blind-sehbehindert Heft 4/2020).

Da bei dem Konstatieren des »Vergessens der spezifischen Bedarfe« zumeist auf die konkreten Lernenden mit Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit Bezug genommen wird, wird gleichzeitig die Vorlage für die reflexartige Reaktion der schulpolitisch Agierenden mitgeliefert: Konzepte, die breit und umfänglich wirken müssen, sind mit einer Komplexitätsreduktion verbunden und können nicht die Bedarfe der zahlenmäßig kleinsten Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Beratungs- und Unterstützungsbedarf aus dem Bereich Sehen in allen Details berücksichtigen. Bei dieser Argumentation wird ein notwendig anstehender Paradigmenwechsel offensichtlich: Genaugenommen übergehen die Breitbandkonzepte inklusiver Schulentwicklung nicht (nur) die kleinste Gruppe und verstoßen damit gegen menschenrechtliche (Selbst-)‌Verpflichtungen, sie übersehen das umfangreichste und gleichzeitig hoch komplexe Feld potentieller Barrieren: die visuelle Dominanz in den Lehr-Lern-Settings. Die Nichtberücksichtigen der kleinen Zahl blinder und sehbehinderter Lernender und damit einhergehend das Nichtberücksichtigen der im Visuellen verankerten Barrieren führt dazu, dass das Ziel einer inklusiven Bildung nie erreicht werden kann. Jedes inklusive Modell, jede inklusive Didaktik und jedes Professionalisierungsmodell ohne Berücksichtigung des Spannungsfeldes Sehen und Nicht-Sehen kann immer nur maximal die Vielfalt der Sehenden berücksichtigen. Das Potential des sich Lösens von der visuellen Dominanz in didaktischen Settings ist ohne ein immanentes Insistieren von Menschen mit Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit, der Angehörigen, Freunde, Allies und der (sonder-/inklusions-)‌pädagogisch Professionellen in diesem Bereich nicht zu heben.

Ein weiterer Aspekt der Spezifik der inklusionspädagogischen Debatten innerhalb der Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit ist die Stärkung der Kategorie der Barriere als zentraler Begriff innerhalb inklusionspädagogischer Konzeptentwicklung (Heck 2012). Der Begriff der Barriere bewährt sich als verbindendes Element für eine Vielzahl von spezifischen Bereichen der Teilhabegestaltung z. B. im Rahmen der Etablierung einer Barrierefreien Kommunikation (u. a. Maaß/Rink 2019; Dobroschke/Kahlisch 2019; Benecke 2019; Schütt 2019; Capovilla 2019; Peter/Lühr 2021) und im Diskurs um das Universal Design for Learning (UDL) (u. a. Schütt 2020; Fisseler 2020).

Auf der Ebene der Entwicklungslinien der Institutionen kann die Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit auf eine über 200jährige Tradition der Entwicklung von separierenden Einrichtungen zurückschauen: von den ersten Institutionen der Blindenbildung in den Wohnungen der Initiatoren, wie z. B. August Zeune (Mehlitz 2003, S. 28 ff.; Ellger-Rüttgardt 2019, S. 83), bis hin zu den großen Anstalten (u. a. Matthies 1913) mit dem Leitbild »von der Wiege bis zum Grabe« (Pablasek 1867). Gleichsam gehörte die Blindenpädagogik – parallel zur Gehörlosenpädagogik – zu den Pionieren gemeinsamer Beschulung von Kindern mit Blindheit und Gehörlosigkeit an deutschen Ortsschulen. Das Motto »Daß der Blinden-Unterricht in die Familien und in die Ortschulen verpflanzt wird« (Klein 1845, S. 28) stand für die Bemühungen »einer größeren Verbreitung des Blindenunterrichts« (Klein 1845, S. 28) und wird in der jüngeren Literatur in Parallelität zur Geschichte der Gehörlosenpädagogik (auch) als Verallgemeinerungsbewegung gefasst und beschrieben (u. a. Degenhardt/Leonhardt 2017; Lang 2017a, S. 176; Ellger-Rüttgardt 2019, S. 115 ff.) (▸ Kap. 1.3).

Aber auch bei der Ausformung von regionalen und überregionalen Angebotsstrukturen für die Beratung und Unterstützung im integrativen Sinne hat das bundesdeutsche Bildungssystem bereits seit den 1970er Jahren bis heute innovative Modelle mit Alleinstellung entwickelt und implementiert (dazu u. a. Adrian/Hölscher/Döttinger 2019; Drave 2021) (▸ Kap. 1.4). Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal für regionale und überregionale Angebotsstrukturen für die Beratung und Unterstützung blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler ist die enge Verbindung mit Medienzentren. Die 1999 vollzogene Schaffung einer Netzwerkstruktur durch die Gründung eines bundesweiten Arbeitskreises der Medienzentralen sowie die Einrichtung der Zentralstelle für Anfragen nach Schulbüchern als Teil des Medienzentrums an der Johann-Peter-Schäfer-Schule Friedberg (link 1.10) ermöglichte ein effizientes, einheitliches und rechtlich abgesichertes Verfahren zur Erstellung, Überarbeitung und Bereitstellung zugänglicher Schulbücher für Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit. Der dazu 2014 abgeschlossene Vertrag zwischen dem Verband Bildungsmedien e. V. und dem Land Hessen (link 1.11) ist angesichts der Zielvorgaben des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG 2021) für die Umsetzung barrierefreien Publizierens ab dem Jahr 2025 wirklich »der Zeit voraus«. Aber auch in diesem Feld gilt es, den Wechsel von integrativen, den Barrieren »hinterherrennenden« zu inklusiven, die Barrieren antizipierende und barrierefreien Lösungen in den nächsten Jahren voranzutreiben.

Wocken nennt »vier Kardinalmerkmale, die eine zuverlässige Unterscheidung von allgemeiner und inklusiver Bildung, von Regelschule und Inklusion erlauben« (2019, S. 3): den inklusiven Personenkreis (alle Kinder), das inklusive Curriculum (vielfältige Bildung), den inklusiven Unterricht (gemeinsame Lernsituationen) und die inklusive Professionalität (Arbeiten im Team).

»Das Curriculum von Regelschulen und -klassen kann nie und nimmer den unterschiedlichen Bildungsbedarfen in heterogenen Lerngruppen vollauf genügen. Die Bildungsbedarfe einer vielfältigen, heterogenen Lerngruppe, die immer auch Kinder mit Behinderungen einschließt, sind in einem solchen Maße unterschiedlich, dass ihnen durch einen einheitlichen, undifferenzierten Lehrplan nicht entsprochen werden kann. Eine inklusive Lerngruppe braucht unabdingbar und notwendigerweise ein differenziertes, vielfältiges Curriculum, eine vielfältige Bildung« (Wocken 2019, S. 4).

Interessanterweise scheint die Forderung nach spezifischen curricularen Vorgaben in dem »Heimatschwerpunkt« Wockens, dem Schwerpunkt Lernen, schwer umsetzbar. Vorschläge, wie z. B. »sämtliche Bildungsinhalte, die sich im Repertoire bürgerlicher Curricula befinden, rigoros darauf hin zu überprüfen, ob und welche Relevanz sie für Lernende aus den verschiedenen Milieus haben« (Hiller 2020, S. 47), sodass Kinder und Jugendliche in prekären Lebenslagen jene spezifischen Kompetenzen entwickeln können, die für sie lebenspraktisch relevant sind (Hiller 2020, S. 48 f.), werden hingegen seitens der Inklusionspädagogik oftmals als segregierend abgelehnt (dazu auch Schroeder 2022, S. 120). Ursachen dafür können die lange Tradition von Separation förderlicher Lehrpläne für die Hilfsschule/Förderschule Lernen sein und die Angst, dass diese im Gewand gestufter Curricula im Sinn eines aufsteigenden Kompetenzmodells (Heimlich/Weigl 2020, S. 357) inklusive Intensionen konterkarieren. Aber auch innerhalb der Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit gibt es kritische Anfragen zur Strategie, die Erarbeitung (personenbezogener) individueller Bildungspläne durch das Hinzuziehen des Spezifischen Curriculums umzusetzen. So wird angefragt, »warum [...] für eine Insellösung votiert wird, die bis dato weder in der Erziehungswissenschaft noch in der Behindertenpädagogik Anknüpfungspunkte finden konnte« (Giese/Kohlstedt 2016, S. 248 f.).

Fast zeitgleich mit dieser grundsätzlichen Anfrage erhielt der Ansatz des Spezifischen Curriculums jedoch durch die Veröffentlichung des General Comment No. 4 durch das Committee on the Rights of Persons with Disabilities eine weitere Unterstützung auf globaler Ebene:

»The Committee emphasizes the need to provide individualized education plans that can identify the reasonable accommodations and specific support required by individual students, including the provision of assistive compensatory aids, specific learning materials in alternative/accessible formats, modes and means of communication, communication aids and assistive and information technology« (CRPD 2016, S. 9).

Auch die Kultusministerkonferenz hat nach Jahren der »curricularer Zurückhaltung« (dazu u. a. Degenhardt 2016a) das Instrument der Curricula wiederentdeckt:

»Für den Primarbereich, die Abschlüsse des Sekundarbereichs I und die Allgemeine Hochschulreife gelten länderübergreifend einheitliche Bildungsstandards in zentralen Fächern. Die Länder verpflichten sich, diese zu implementieren und anzuwenden; dies gilt insbesondere für die für den Unterricht maßgeblichen curricularen Grundlagen, die Schulentwicklung und die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte« (KMK 2020, S. 7).

Dass in diesen curricularen Grundlagen auch die Wocken'sche Idee eines inklusiven Curriculums für die vielfältige Bildung sichtbar wird, kann auch durch die offensive Fortführung der Implementierung des Spezifischen Curriculums im Schwerpunkt Sehen befördert werden.

Ein weiterer, spezifischer Zugang offenbart ein vertiefender Blick in die Wocken'sche Quadriga der Kardinalmerkmale, der inklusiven Professionalität, die er mit »Arbeit im Team« exemplarisch beschreibt: »Die Vermittlung einer inklusiven Bildung für eine heterogene, inklusive Lerngruppe erfordert unabweisbar die verlässliche Präsenz und vielfältige Kompetenz eines multiprofessionellen Teams von Pädagogen einschließlich einer auskömmlichen Ressourcenausstattung« (Wocken 2019, S. 4 f.). Der Verweis auf die Präsenz legt das Modell der Doppelsteckung nahe und damit die Platzierung des Teams im Klassenraum oder in der Schule. Inklusionspädagogisches Tun ist eng und parallel an die eigene Gestaltung von Bildungs- und Erziehungsprozessen gebunden. In diesem sehr verbreiteten Zugriff auf Professionalisierung in inklusiven Bildungsprozessen fehlt die Fokussierung auf die Bedeutung spezialisierter überregionaler Beratungs- und Unterstützungsstrukturen, die nicht durch »verlässliche Präsenz«, sondern durch ein komplexes Beratungs- und Unterstützungssystem das multiprofessionelle Vor-Ort-Team in die Lage versetzen, die Barrieren ihrer Lehr-Lern-Settings im visuellen Bereich zu erkennen und zu überwinden und damit die Teilhabe für blinde und sehbehinderte Lernende zu gewährleisten. Die damit einhergehenden Konsequenzen für gelebte Rollenmuster und die Abkehr von tradierten Konzepten der Aus-‍, Fort- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern muss durch die Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit verstärkt thematisiert und eingefordert werden (▸ Kap. 1.4).

1.3 Das ›Verpflanzen des Blindenunterrichts in die Ortsschule!‹ im 19. Jahrhundert – ein historischer Vorläufer der inklusiven Schule?

Der Einstieg in die Institutionalisierung der Bildung und Erziehung blinder und gehörloser Kinder wird mit dem tief in der Aufklärung verwurzelten »Nachweis der Bildbarkeit« sinnesbehinderter Menschen verbunden. Es war die Zeit des Aufbruchs in Europa: tradierte Handlungsmuster der Herrschenden in der Gesellschaft konnten die aktuellen Fragen nicht mehr beantworten, ja, ihnen vielleicht nicht einmal mehr folgen. Rasant stellten sich die Naturwissenschaft und Technik sowie die Medizin in ihrem Zuschnitt und ihren Methoden neu auf. Dies ging einher mit dem kaum noch zurückzudrängenden Forderungen und Ansprüchen des Bürgertums, das sich herausnahm, nicht nur über Entscheidungen informiert zu werden oder an ihnen beteiligt zu sein – nein, das aufstrebende Bürgertum wollte Verantwortung im Staat und in der Gesellschaft übernehmen. Die sich ausformende neue Rolle von Lesen und Schreiben und ein Bildungsverständnis, das sich nicht mehr nach Stand und Geburt ausrichtete, boten nun auch den Raum für den Blick auf bis dato durch Betteln und Verwahrlosung gekennzeichneten Gruppen, wie z. B. die Blinden und Tauben (dazu auch Degenhardt 2020b, S. 150 f.). Dass es dabei eben nicht nur um die Bildbarkeit im philosophischen Sinne, sondern (auch) um die Verwertbarkeit einer Arbeitskraft, die Beschäftigung und den Broterwerb und damit auch um das Beenden des Überlebensmodells Betteln ging, darf bei aller Heroisierung des »Nachweises der Bildbarkeit« nicht vergessen werden.

Vor diesem historischen Hintergrund ist das Déjà-vu erklärbar, welches aufkommt, wenn aktuell die Notwendigkeit hoch qualitativer schulischer und beruflicher Bildung von Menschen mit Behinderung mit dem Argumentationspaar Menschenrechte und Fachkräftemangel gegründet wird (z. B. in den zehn guten Gründen für Inklusion der Aktion Mensch: Grund 8: Inklusion verringert den Fachkräftemangel; link 1.12). Die Idee der bürgerlichen Brauchbarkeit, die die deutschsprachige Blinden- und auch Taubstummenpädagogik seit ihren ersten Schritten begleitet (u. a. Ernsdorfer 1810; Klein 1811; Klein 1819), scheint sich im Wechselspiel mit Moral und Menschenrechten ganz gut eingerichtet zu haben.

Nach einer ersten Phase fast experimenteller Gründungen im kleinen, familiären Stil folgte ein europaweiter »Wettbewerb um die größte Großherzigkeit« der Herrscherhäuser und ein starkes bürgerliches Engagement mit dem Ergebnis einer rasant anwachsenden Zahl von Blindenbildungseinrichtungen in Europa und darüber hinaus (Degenhardt 2006, S. 231; Degenhardt/Leonhardt 2017, S. 199). Die Zahl der Neugründungen war zwar ansehnlich, aber die Kapazität entsprach nicht annäherungsweise dem Bedarf, der – auch ohne die Idee einer Schulpflicht – allein aus der Präsenz weiterhin bettelnder blinder Kinder auf den Straßen der Städte und in den Dörfern auf dem Land entstand.

Vor diesem Hintergrund entstand eine »Besonderheit der frühen Jahre der institutionellen Blindenbildung [und zwar] der Versuch, durch das ›Verpflanzen des Blindenunterrichts an die Ortsschule‹ einerseits den Nachfragedruck von den bestehenden Blindenschulen zu nehmen, aber auch eine Art von Vorbereitung auf den Blindenunterricht zu organisieren. Anleitungen für die nötige Bildung blinder Kinder in den Ortsschulen gab es von mehreren Autoren – für die Hand der Lehrer in der Ortsschule und die der Eltern (Klein 1845; Knie 1851; Hientzsch 1851 und Pablasek 1883)« (Degenhardt/Leonhardt 2017, S. 201). »Das Hilfsmittel, wodurch der Blinden-Unterricht allgemeiner verbreitet und ohne besondere Kosten allen Blinden zugänglich gemacht werden kann, besteht darin: Daß der Blinden-Unterricht in die Familien und in die Ortsschulen verpflanzt wird« (Klein 1845, S. 28). Im Unterschied zur Gehörlosenpädagogik, die diese Bewegung konsequent als Verallgemeinerungsbewegung oder -pädagogik beschrieben hat (dazu Leonhardt 2018, S. 194 ff.; Leonhardt 2022, S. 244 ff.), findet sich der Begriff in blindenpädagogischer Geschichtsschreibung erst in den letzten Jahren.

»Die den Blinden gewidmete Hilfe muß sich künftig auf alle Blinden erstrecken. Dazu reichen die Blinden-Anstalten, wie sie jetzt bestehen, nicht hin; und denselben eine solche Ausdehnung zu geben, würde unverhältnismäßige Kosten erfordern; zudem, da die Blinden-Anstalten fast alle in Städten bestehen, die größte Anzahl von Blinden aber auf dem flachen Lande zu finden sind, so werden diese, durch die Aufnahme in eine Blinden-Anstalt, in Verhältnisse gesetzt, die für sie nicht passen und ihnen künftig keinen Nutzen verschaffen« (Klein 1845, S. 4).

Hier paart sich das Argument der direkten Kostenersparnis mit der Erfahrung (oder Befürchtung?), dass sich die Lebenswelten in städtisch gelegenen Anstalten nicht mit den Lebenswelten von blinden Kindern aus ländlichen Gebieten vereinbaren lassen. Dennoch ist es für Johann Wilhelm Klein (1765 – 1848) wichtig, »den Blindenunterricht ›an die Ortsschulen‹ zu verlegen und zwar als ›vollwertige‹, allgemein gültige Organisationsmaßnahme« (Bauer 1926, S. 94 in Degenhardt/Rath 2001, S. 14). »Nur wenn die Blinden in ihren eigenen Familien erzogen und beschäftigt, und in den Schulen ihres Wohnortes unterrichtet werden können, dann ist es möglich allen Blinden einen ihren Verhältnissen angemessenen Grad von Bildung zu verschaffen« (Klein 1845, S. 4).

Eine Argumentation, die eine indirekte Kostenersparnis in der Beschulung an der Ortsschule sieht und gleichzeitig eine Tür öffnet, die »Verpflanzung an die Ortsschule« mit dem Besuch der Blinden-Anstalt zu verbinden, legt Klein dann doch vor: »Die Erfahrung hat bisher gelehrt, dass blinde Kinder, welche vor ihrer Aufnahme in ein Blinden-Institut eine gewöhnliche Schule besucht haben, durch bloßes Zuhören sich mancherlei Kenntnisse verschafft, und zur Verwunderung, selbst des Lehrers, treffende Äußerungen und Antworten gegeben haben« (Klein 1845, S. 39). Anderenfalls, so Gottfried Johann Hientzsch (1787 – 1856) nur sechs Jahre nach dem Klein'schen Aufschlag, »vergeht dann ein halbes oder ganzes Jahr (...) also ein bedeutender Theil der ihnen zur Ausbildung in einer Anstalt vergönnten Zeit, ehe sie sich in die Schul- und anderen Unterrichtsgegenstände finden« (1851, S. 11).

Der Besuch der Ortsschule wird hier schon stärker (und fast ausschließlich) als Maßnahme gegen die Verwahrlosung und als Vorbereitung auf die Blindenanstalt konzipiert, damit diese bereits auf Grundlagen aufbauen und so erfolgreiche‍(r) agieren kann. Diese Wendung in der Argumentation setzt sich in dem Büchlein von Hientzsch fort. Einerseits leitet er seine Veröffentlichung mit einem Plädoyer ein, das, sprachlich ein wenig angepasst, auch heutzutage Zuspruch in normativen inklusiven Debatten finden könnte: »Blinde sind so gut Menschen, wie andere, und haben unveräußerliche Rechte an alle Mittel und Anstalten, welche zur Bildung und Veredlung der Menschen in den Gemeinden vorhanden sind« (Hientzsch 1851, S. 8). Andererseits argumentiert er fortan, warum blinde Kinder in Blinden-Anstalten unterrichtet werden müssten. Zwar gesteht er Eltern, die »auf andre geeignete Weise für diese ihre Kinder Rath schaffen können und auch fachgemäß wirklich schaffen« (Hientzsch 1851, S.14 f.), eine Beschulung ausschließlich in der Ortsschule zu. Dem folgt aber sofort der Vorwurf, dass dies »der schnödeste Undank« wäre, »wenn sie die Kosten und Mühwaltung, welche der Staat und Privatvereine (bei der Errichtung der Anstalten) haben, nicht dankbar anerkennen und gewissenhaft benutzen wollten« (1851, S. 15).

Die Beschulung an der Ortschule nur (!) als Vorstufe für die Blindenanstalt betont auch Matthias Pablasek (1810 – 1883). »Beim Unterrichte und bei der Erziehung blinder oder taubstummer Kinder sind aber besondere Rücksichten zu beobachten und specielle Aufgaben zu lösen, so dass für die allseitige Bildung solcher Kinder eigenartige Anstalten eine unabweisbare Nothwendigkeit sind« (1883, S. 49). Die Grenzen der Blinden-Unterrichts-Verpflanzung formuliert Friedrich Scherer (1823 – 1882), Absolvent der Blinden-Anstalt in München, ausdrücklich: »Wenn gleich dieses Ziel auf verschiedene Weise verfolgt und eben deshalb bald mehr bald weniger erreicht wird, so sind doch die Vortheile nicht zu verkennen, welche der Unterricht in Anstalten vor dem in gewöhnlichen Volksschulen immer voraus hat« (1860, S. 34). Die Vorteile sind, so Scherer, eine große Hilfsmittelsammlung und »Männer von ganz besonderer intellektueller wie moralischer Tüchtigkeit (...) sowohl für die Erziehung, wie für die Aufsicht« (1860, S. 34).

Die Fokussierung auf die spezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten der Lehrenden wurde aber auch durch die Protagonisten für die allgemeine Verbreitung des Blindenunterrichts herangezogen. Insbesondere in der gehörlosenpädagogischen Verallgemeinerungsbewegung gab es eine starke konzeptionelle und räumliche Nähe zwischen den sich gleichzeitig etablierenden Lehrerbildungsseminaren und Taubstummenanstalten oder -klassen an eben diesen Seminaren (Leonhardt 2018, S. 207 ff.). Eine vergleichbare Symbiose ist in der Geschichte des Überregionalen Förderzentrums für den Förderschwerpunkt Sehen Mecklenburg-Vorpommern in Neukloster auffindbar.

»Als Stätte der Gründung wurde der Ort Neukloster gewählt. Dabei war entscheidend, daß hierhin bereits 1862 das Großherzogliche Landes-Schullehrerseminar von Ludwigslust her verlegt war. Indem man 1864 auch die Blindenanstalt hierhin verlegt, wollte man dadurch zugleich für die zukünftigen Lehrer des Landes die Gelegenheit schaffen, mit der Erziehung und dem Unterricht blinder Kinder bekannt zu werden. Man hielt dies für um so wichtiger, als man anfänglich bei der Zweckbestimmung der Blindenanstalt von dem Gedanken ausging, daß blinde Kinder erst vom 12. (10.) Lebensjahr an in die Blindenanstalt aufzunehmen seien und bis zu diesem Alter die Volksschule zu besuchen hätten« (Lembcke 1913, S. 296).

Ein größeres Augenmerk wurde jedoch der Rolle der Blindenanstalten als Ausbildungsschule beigemessen. »Findet sich ein Volksschullehrer, der Gelegenheit hat, eine Blindenschule zu besuchen und sich in derselben die Methode des Blindenunterrichts anzueignen, (...) so kann das nur als eine ausnahmsweise Aufgabe angesehen werden und muss ihm als besonderes Verdienst angerechnet werden« (Pablasek 1883, S. 85).

Aber wie wollte man die Volksschullehrer zur Übernahme dieser (zusätzlichen) pädagogischen Herausforderung, zum Einpflanzen des Blinden-Unterrichts in ihren Alltag, motivieren? Die Ideen scheinen – zugegebenermaßen aus heutiger Sicht – gleichzeitig ein wenig hemdsärmlich und naiv.

»Den Schullehrern gebührt für die besondere Mühe und Zeit, die sie einem blinden Kinde widmen, eine angemessene Belohnung. Außer einer öffentlichen Belobung durch die Zeitung, werden ausgesetzte Prämien, für solche Schullehrer, welche sich in diesem besonderen Unterrichte auszeichnen, eine sehr gute Wirkung machen, und gewiß gelungene Erfolge veranlassen« (Klein 1845, S. 40).

An die Moral und Berufsehre der Lehrenden appellierend führt Hintzsch ins Feld:

»Ein Lehrer, welcher von rechter Liebe für seinen Beruf durchdrungen ist, welcher das, was die innere Mission von ihm jetzt verlangt, einigermaßen begriffen hat, wird dieselbe nicht scheuen. (...) Uebrigens machen blinde Kinder oft bessere Fortschritte und dem Lehrer also mehr Freude, als sehende. (...) Es ist daher nicht selten der Fall, daß sie in mehreren Gegenständen die besseren Schüler sind, der Schule eben so sehr zur Ehre, wie den andern Schülern zum Vorbild gereichen« (Hientzsch 1851, S. 8)«.

Und auch die folgende Argumentation ist 150 Jahre vor den inklusiven Kulturen des »Index für Inklusion« (Boban/Hinz 2003) zur Begründung des Miteinander an einer Schule angeführt worden.

»Das blinde Kind ist aber auch ein Prüfstein für jede Schule. Wenn die andern Kinder, statt dasselbe auch nur im Stillen – denn die Blinden haben es nicht gern – zu bedauern und ihm thätige Liebe zu beweisen, sich über dasselbe lustig machen, es necken und verhöhnen, ihm aus Muthwillen Beinchen stellen, daß es falle, und dergleichen, dann, Lehrer, steht es um den Geist Deiner Schule, um den Erfolg Deines Religions-Unterrichts schlecht! dann bist Du, dann sind Deine Schüler mehr zu bedauern, als das blinde Kind! Liebe Amtsgenossen! beherzigt diese Sätze gar wohl« (Hintzsch 1851, S. 9).

Auch wenn es natürlich schwerfällt, sich in den Alltag von Ortschullehrkräften des 19. Jahrhunderts einzufühlen – eines scheint sicher: der Appell an die Liebe zum Beruf und die Mischung aus Fakten, Versprechen, Emotionen und Moral hat auch vor über 150 Jahren (allein) nicht wirklich bewegt. Zudem ist den Protagonisten der Verpflanzung des Blinden-Unterrichts in die Ortschule-Bewegung ein fachlicher oder taktischer (?) Fehler unterlaufen: Sie haben durchweg den zusätzlichen Aufwand kleinargumentiert. »Es ist schon oben (...) angeführt worden, an welchen Unterrichts-Gegenständen der gewöhnlichen Schulen blinde Kinder unmittelbar Antheil nehmen können, und wie sie da, wo das Gesicht nicht entbehrt werden kann, durch leichte Hilfsmittel beschäftigt werden können« (Klein 1845, S. 39). Da ist die Idee wieder: Zuhören, Auswendiglernen und ein wenig Hilfsmittel. Auf jeden Fall soll sich das Lernen blinder Kinder an das der Sehenden anpassen.

»Je weniger Mühe man dem Volksschullehrer bei der Übernahme eines blinden Kindes in seine Schule macht, je einfacher seine Aufgabe, je geringer seine Arbeit ist, und je mehr man da den Grundsatz aufrecht erhält, den Blinden im Unterricht so wenig als möglich von dem Sehenden zu entfernen, desto leichter und schneller wird sich die aushilfsweise Verlegung des Blindenunterrichts in die Volksschule vollziehen« (Pablasek 1883, S. 85).