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Inklusion ist eine der größten und wichtigsten Herausforderungen, vor denen Pädagogen und Pädagoginnen heute in der Praxis stehen. Pädagogisches Wirken beginnt bei der pädagogischen Fachkraft und so beginnt auch Prof. Dr. Ferdinand Klein bei seinem eigenen Werdegang als Heilpädagoge und beim Kinderarzt und Pädagogen Janusz Korczak, um sich dem Begriff und der Aufgabe des Heil- und Sonderpädagogen zu nähern. Zudem bietet das Buch vielfältige Fallbeispiele, konkrete Tipps und Hilfestellungen zum Umgang mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen, praxisgerecht, leicht verständlich und direkt umsetzbar.
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Seitenzahl: 242
Veröffentlichungsjahr: 2025
© 2018Burckhardthaus bei Oberstebrinkc/o Körner Medien UG, München
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe sowie der Übernahme auf Ton-/Bildträger vorbehalten. Ausgenommen sind fotomechanische Auszüge für den eigenen wissenschaftlichen Bedarf.
Für die Abdruckgenehmigung der beiden Bilder von Itzchak Belfer, dem Maler des Holocaust (Seiten 53 und 54), danken Autor und Verlag Herrn Siegfried Steiger, Vorsitzender der Deutschen Korczak-Gesellschaft e.V.
Umschlaggestaltung: Tobias SchudokUmschlagillustration: Robert Kneschke/fotolia.comFotos: S. 13, 46, 85, 121, 153Olesia Bilkei/fotolia.com, S. 49, 81dglimages/fotolia.com, S. 108 rastlily/fotolia.com, S. 140Joni Hofmann/fotolia.com; weitere Abbildungen: Abdruckgenehmigungen liegen dem Autor vor.Satz und Layout: ism Satz- und Reprostudio, MünchenDruck und Verarbeitung: Sagalara, Lodz, Polenwww.burckhardthaus-laetare.deISBN 978-3-96304-725-1
Für Hanka, einen einzigartigen Menschen,
und
für Armin, einen wunderbaren Freund und Kollegen.
Zeitreise
„Nimm ein Kind an die Hand und lass dich von ihm führen.
Betrachte die Steine, die es aufhebt, und höre zu,
was es dir erzählt.
Zur Belohnung zeigt es dir die Welt,
die du längst vergessen hast.“
Autor unbekannt
Inhalt
Einführende Gedanken
Kapitel 1:Heilpädagogik ist vertiefte Pädagogik
1.1 Die Aufgabe
1.2 Die Praxiswissenschaft Pädagogik antwortet auf diese Aufgabe
1.3 Selbstverständnis der Heilpädagogik
1.4 Einblick in mein Denken und Handeln
1.5 Stationen meines beruflichen Wirkens
1.6 Aspekte einer sinnerfüllten Praxiswissenschaft
1.7 Pädagogisches Handeln beachtet die logotherapeutische Praxis
1.8 Epilog: Wie Pädagogik den Nihilisten antworten kann
Kapitel 2:Was wir von Janusz Korczak lernen können
2.1 Sein Lebenswerk weckt Neugier
2.2 Wie Armin Krenz das pädagogische Vermächtnis von Janusz Korczak versteht
2.3 Was mir Korczaks facettenreiche Pädagogik sagt
2.3.1 Friedenspreis wurde erstmals einem Toten verliehen
2.3.2 Zur Biografie Korczaks und zu den Kinderrechten
2.3.3 Jeder kann seinen eigenen Korczak finden
2.3.4 Wie und warum orientieren sich Menschen an Janusz Korczak
2.3.5 Mit Janusz Korczak das wirkliche Kind sehen und verstehen
2.4 Die Korczakpädagogik steht als Angebot
Kapitel 3:Praxis der inklusiven Frühpädagogik
3.1 Grundlegende Perspektiven zur frühpädagogischen Professionalität
3.1.1 Auf Korczaks Spuren: Mit den Augen des Kindes fühlen und an seine Kompetenz glauben
3.1.2 Mit Korczak und Kindern unterwegs
3.1.3 Die Erzieherin Anne Sullivan und das taubblinde Kind Helen
3.1.4 Erkenntnisse und Einsichten für das (früh-)pädagogische Handeln
3.1.5 Martin, ein Menschenkind wie du und ich
3.2 Das Kind auf dem Weg seiner Selbstfindung einfühlend verstehen
3.2.1 Das pädagogische Interesse in der Beziehungssituation
3.2.2 Situationsorientiert begleiten und unterstützen
3.2.3 Das Für- und Miteinander hat tiefe Wurzeln
3.2.4 Vertiefte pädagogische Hilfe für zunehmend mehr Kinder
3.2.5 Durch Teamarbeit und Supervision Grenzen überwinden und eigene Ressourcen entdecken
3.3 Erziehungsdiagnostisches Handeln
3.3.1 Das Sein der pädagogischen Fachkraft ist das erste Wirkende
3.3.2 Beobachten, wahrnehmen, deuten und verstehen
3.4 Erziehungskunst folgt der Idee des Guten
3.5 Praxis achtet die Entwicklung des Kindes
3.5.1 Polaritäten wahrnehmen und dem Kind ermöglichen
3.5.2 Pädagogik der Achtung begleitet den Lernwillen des Kindes
3.5.3 Pädagogik der Achtung folgt den Impulsen des Kindes
3.5.4 Zusammenfassende Grundsätze für das achtsame Begleiten
3.6 Praxis der Spiel- und Lernkultur in der inklusiven Kindertagesstätte
3.6.1 Esthers Geheimnis
3.6.2 Fredi Saal auf Esthers Spur
3.6.3 Was ist Spiel?
3.7 Frank auf seinem Lebensweg unterstützen
3.8 Die inklusive Bildungseinrichtung
3.8.1 Hineinwachsen in gelebte Verantwortung ermöglichen
3.8.2 Das verlorene Vertrauen des Kindes wieder gewinnen und eine inklusive Spiel- und Lernkultur gestalten
3.8.3 Im Dialog Vertrauen und Empathie schenken Bubers Dialogisches Prinzip
3.9 Zusammenfassende Einsichten und Erkenntnisse
3.10 Plädoyer für eine berufsethische Haltung
Literaturhinweise
Zum Autor
Einführende Gedanken
Das Kind fühlt sich in Albert Schweitzers Armen geborgen
„Die Menschen der Zukunft werden die sein,
die ihre Herzen in ihren Gedanken sprechen lassen.“
Albert Schweitzer
Liebe Leserin, lieber Leser,
mit diesem Praxisbuch möchte ich meine langjährigen Erfahrungen in verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern für die gegenwärtigen Aufgaben der inklusiven Frühpädagogik praxisnah darstellen. Bei diesem Vorhaben werden auch biografische Aspekte berücksichtigt, denn nach meinem Verständnis ist das Erzieherische stets persönlich oder existenziell. Es möchte intersubjektives Erkennen und Handeln ermöglichen.1 Im Fokus steht also die biografisch orientierte inklusive pädagogische Arbeit, die ganz bewusst auch historische Persönlichkeiten zu Wort kommen lässt. Ihr Denken und Handeln überdauert die Zeit und legt Spuren für die heute zu reflektierende Praxis. Insofern ist das Buch auch gegen das Vergessen geschrieben.
Das Werk, das Sie in Ihren Händen haben, ist in einem langen Prozess nicht nur am Schreibtisch entstanden. Es verdankt sein Entstehen den vielen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (Eltern), die mir im Laufe der (heil-) pädagogischen Arbeit begegnet sind. Gerade junge Menschen haben mich gelehrt, wie sie geliebt, begleitet und geleitet werden wollen: Diese Erziehungskunst entdecke ich bis heute in Korczaks Lebenswerk, das die Eigenschaft hat, nicht zu altern, sondern sich zu erneuern, um die Gegenwart mit offenem Blick zu sehen.
Anfang August des Jahres 2017 jährte sich zum 75ten Male der mörderische Tod des polnischen Arztes, Pädagogen und Schriftstellers Janusz Korczak, seiner Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska und ihrer 200 Kinder. An die Lehren, die aus diesem Menschheitsverbrechen zu ziehen sind, kann nicht genug erinnert werden. Das Erinnern hat eine einzigartige Beziehung zur deutschen Pädagogik, Heil- und Sonderpädagogik. Es beinhaltet den Wunsch, etwas anzuregen, das in die Zukunft weist. Dieser zweifachen Richtung des Erinnerns müssen wir uns gewahr werden. Hier bleibt das Versagen in der Vergangenheit bewusst, und das wachsame Hören in der Gegenwart wird gepflegt. Durch diese Erinnerungskultur wird immer wieder neu auf die Hoffnung aufmerksam gemacht, dass Auschwitz nicht noch einmal passiert.
Ich mache bis heute in der Praxis Erfahrungen, die mir ein Lernen ermöglichen und meine Anschauung (Theorie) wandeln. Diese Erfahrungen beeinflussen mein Denken. Hier verändert die Praxis meine Theorie, und die Theorie ermöglicht eine bewusstere Praxis. Dieses erfahrungsbezoge-ne Denken gründet in der Tradition der Heilpädagogik, die ich als vertiefte kindorientierte Pädagogik verstehe. Ich knüpfe an meine Praxisstudie zur „Früherziehung des entwicklungsbehinderten Kindes“ an, die unverändert als Doktorarbeit erschienen ist (Klein 1979): Das einzelne Kind war im recht verstandenen Sinne mein Lehrer. Und dies ist bis heute so geblieben. Sein Antlitz bewegt mein Herz, mein Denken und Handeln, das keine pädagogischen Begriffe und Konstrukte duldet, die wie Worthülsen praxisfern ihr Eigenleben führen.
Ich versuche meine Erfahrungen mit erlebten Inhalten zu füllen, die gedacht und gefühlt werden und eine am wirklichen Kind orientierte inklusive Praxis ermöglichen können. Meine Gedanken verstehe ich also als persönliche Anregungen zur Reflexion Ihrer praktischen und wissenschaftlichen Erfahrungen, die Sie vor allem auch im intersubjektiven Austausch, im Gespräch mit anderen Menschen, mit Eltern und Professionellen der Pädagogik und anderen Wissenschaften für Ihr eigenes Handeln wandeln, deuten und interpretieren und weiterentwickeln können.
Aufmerksame Leserinnen2 und Leser werden bald wahrnehmen, dass erzieherisch bedeutsame Sachverhalte wiederholt beschrieben werden, allerdings in einem neuen Bedeutungszusammenhang. Das liegt daran, dass pädagogisches Handeln in einem äußerst komplexen Bedingungs- und Beziehungsfeld steht und das Ganze nicht gleichzeitig dargestellt werden kann, sondern nur nacheinander. Das geschieht in organischen Einheiten, in exemplarisch ausgewählten Modellen und Beispielen.
Die Darstellung mit anschaulichen Begriffen ist nahe an den Erfahrungen in der Praxis. Die Begriffe wollen ansprechen, und ihre Inhalte wollen erlebbar und einfühlbar sein, Neugierde und Interesse für das eigene Handeln wecken. Das lehrt uns auch die Geschichte der Pädagogik: Zuerst kommt die Erfahrung, die jeder durch sein Nachdenken über die gelungene, weniger gelungene oder misslungene Erziehungssituation deuten und interpretieren, verbessern und wandeln kann. Hier wird die praktische Erfahrung durch das Nachdenken eine bewusstere. Erst die erlebte konkrete Erfahrung bildet das Bewusstsein in einem nicht abschließbaren Prozess, bei dem der Weg das Ziel ist. So bleiben wir neugierig wie ein Kind unterwegs. Mit dieser am Kind orientierten Praxis betrachte ich nun in den drei folgenden Kapiteln die inklusive frühpädagogische Aufgabe. Die ersten beiden weisen vor allem auf die pädagogische Haltung hin. Diese Haltung ist für eine gute Praxis im zunehmend komplexer werdenden Erziehungsfeld geboten; sie wird im abschließenden Kapitel facettenreich dargestellt.
Die Erziehung des einzelnen Kindes fordert die pädagogische Fachkraft persönlich oder existenziell heraus. Jedes Kind stellt ihr eine individuelle Aufgabe, die in den wechselnden Situationen möglichst gut zu lösen ist. Sobald sie versucht, ein Kind nach der gleichen Methode und mit den gleichen Mitteln wie das andere Kind zu erziehen, zu begleiten und zu unterstützen, hat sie mindestens einem Kind Unrecht getan. Gefragt ist das individualisierte und möglichst situationsgerechte Handeln. Wie ich versucht habe dieser Aufgabe möglichst gerecht zu werden, das möchte ich mit einigen Lebens- und Berufserfahrungen selbstkritisch vorstellen. Sie prägen meine Haltung, mein Denken und Handeln bis heute (Kapitel 1).
Meine Erfahrungen führen mich zunehmend stärker zur größten Erzieherpersönlichkeit des vergangenen Jahrhunderts, zum Arzt, Pädagogen und Schriftsteller Janusz Korczak, dessen Pädagogik der Achtung heute gefragt ist. Der „polnische Pestalozzi“, wie er auch genannt wird, hat Albert Schweitzers Vision (siehe Leitzitat) bis zur letzten Konsequenz gelebt und sein Herz in seinen Gedanken sprechen lassen. Für ihn ist Kindsein von Beginn an Menschsein und In-Beziehung-Sein. Auf Korczaks aspektreiches Werk machte ich in zahlreichen Veröffentlichungen aufmerksam. Sein medizinisch-therapeutisches und pädagogisches Interesse ist zu meinem heilpädagogischen Interesse geworden, das ein vertieftes und vorbeugendes Nachdenken in erschwerten oder gefährdeten Erziehungssituationen ermöglicht (Kapitel 2).
Die Korczak-Pädagogik, die ich als vertiefte Pädagogik verstehe, trifft heute im Grunde für alle Kinder zu. Sie ist nach meinen Praxiserfahrungen besonders für die inklusive Frühpädagogik geboten, die in ihrer ganzen Vielfalt für die selbstreflexiv handelnde pädagogische Fachkraft dargestellt wird. Ihre Arbeit erfordert heute eine innere Haltung, eine anspruchsvolle Professionalität, eine nie endende persönliche Anstrengung zur Selbstführung, eine Selbstkultur für sich, für den anderen und für die zu lösenden Aufgaben, die Tag für Tag und immer wieder neu zu reflektieren sind (Kapitel 3).
Haben wir es bei der inklusiven Früherziehung mit einer Sisyphusarbeit zu tun? Darauf gebe ich in gleicher Weise wie mein Lehrer Janusz Korczak keine hinreichende Antwort, denn jeder ist eingeladen, die Antwort für sich selbst zu suchen. Nur das möchte ich sagen: Sisyphus war der griechischen Sage nach dazu verurteilt, einen Felsbrocken einen steilen Berg hinaufzuwälzen, von wo er kurz vor dem Gipfel immer wieder herunterrollte. Aber am Ende seines Weges ist er ein glücklicher Mensch geworden. Er bejahte seine Haltung und sein Handeln und konnte in dieser trotzigen Vergeblichkeit eine Art Würde, ja Glück erleben. In diesem Sinne wünsche ich den Leserinnen und Lesern viele Momente des Glücks und der Freude. (vgl. Klein 2015, S. 8)
1 Darauf weist auch der wissenschaftstheoretische Diskurs der Postmoderne in der postfaktischen Zeit hin, in der alles, was behauptet wird, auch das Unwahre und Falsche, wahr und richtig ist, wahr und richtig sein kann – und das intersubjektive Erkennen und Handeln bleibt dann auf der Strecke.
2 Um im Folgenden den Lesefluss nicht zu stören, wähle ich in der Regel mal die weibliche und mal die männliche Sprachform, es soll aber die jeweils andere mitverstanden werden. Auch die neutrale Form „pädagogische Fachkraft“ bietet sich an. Stets dürfen sich beide Geschlechter verschiedener Professionen (Pädagogen und Erzieher, Eltern, Pflege- und Betreuungskräfte, Heilpädagogen, Sonder-, Rehabilitations- und Behindertenpädagogen, Sozialpädagogen, Ärzte, Therapeuten, Studenten oder Schüler) angesprochen fühlen.
Kapitel 1:Heilpädagogik ist vertiefte Pädagogik
„Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts.“
Friedrich Fröbel
1.1 Die Aufgabe
Es geht der Heilpädagogik um das Überschreiten der unsichtbaren Grenzen, die Menschen mit Behinderung von Menschen ohne Behinderung trennen. Diese Vision hatte in meinem Geburtsjahr 1934 schon der russische
Human- und Sprachwissenschaftler Lew Wygotskij im Blick. Sie ist der vertieften Pädagogik, der helfenden oder heil- und ganzmachenden Pädagogik aufgegeben:
„Möglicherweise ist die Zeit nicht mehr fern, dass die Pädagogik es als peinlich empfinden wird, von einem defektiven Kind zu sprechen, weil das ein Hinweis darauf sein könnte, es handle sich um einen unüberwindbaren Mangel der Natur.
In unseren Händen liegt es, so zu handeln, dass das (behinderte) Kind nicht defekt ist.
Dann wird auch das Wort selbst verschwinden, das wahrhafte Zeichen für unseren eigenen Defekt.“
(Wygotskij, 1934/2002, S. 8)
Um dieses humanistische Anliegen geht es der 2006 verabschiedeten UNCharta über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz UN-Behindertenrechtskonvention. Sie ist mit der großen Hoffnung verbunden, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Menschlichkeit werden kann. Nach ihrem Untergang im 20. Jahrhundert wird nun entschieden darauf hingewiesen, dass Menschen mit Behinderungen einen bedeutsamen Beitrag zur Humanisierung der Menschheit leisten.
Diese Konvention hilft uns, jeden Menschen zu achten, uns wirklich für ihn zu interessieren, sie gibt uns einen Spiegel in die Hand, mit dem wir ihm bei seiner Entwicklung beistehen, ihm so weit helfen können, bis er das werden kann, was in ihm keimhaft angelegt ist: dass er aus eigener Initiative seine Entwicklung selbst in die Hand nimmt und gestaltet. Danach sehnt sich in der Tiefe seines Herzens jeder Mensch.
Die Konvention stellt Inklusion als umfassende kulturelle Herausforderung ins Zentrum der weltweiten öffentlichen und fachlichen Diskussion. Sie will für alle Bürger ein Leitbild moderner Sozialpolitik und ein verbindlicher
Handlungsrahmen für die Praxis sein. Sie spricht von der Verpflichtung in allen Bereichen und bei allen Mitgliedern der Gesellschaft, ein Bewusstsein für die Rechte und Würde behinderter Menschen zu schaffen, diskriminierende Praktiken und Vorurteile abzubauen. In Artikel 26 der Konvention heißt es: „Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, […] um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren. […]“ (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, 2014)
Die Konvention wird seit März 2009 in deutsches Recht umgesetzt. Sie
geht davon aus, dass Behinderung ein soziales Phänomen ist, das aus einstellungs- und umweltbedingten Barrieren resultiert; dadurch wird die volle gesellschaftliche Teilhabe eines Menschen mit Behinderung verhindert oder beeinträchtigt.
würdigt Behinderung als Teil der Vielfalt menschlichen Lebens.
versteht die gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern von der frühen Kindheit an als Menschen- und Bürgerrecht – und nicht als Wohltätigkeit.
will Teilhabe stärken und Ausgrenzungen verhindern.
Alle Menschen mit Behinderungen haben nun von Anfang an einen Rechtsanspruch auf gemeinsame Erziehung und (Aus-)Bildung sowie gesellschaftliche Teilhabe ohne Diskriminierung und Marginalisierung. Ihre volle gesellschaftliche Teilhabe ist ein einklagbares Recht. Diese uneingeschränkte Anerkennung und Achtung der Würde jedes Menschen und die daraus folgende Gleichheit der Verschiedenen sind im beginnenden 21. Jahrhundert ein zentrales ethisches Prinzip geworden. Das Prinzip kann als Antwort auf extrem demütigende Erfahrungen vieler Menschen in zurückliegenden Jahrhunderten, besonderes im 20. Jahrhundert, und damit als Ergebnis eines Bildungsprozesses der westlichen Demokratien verstanden werden. Das Recht ist die Basis für unser Zusammenleben. Es schützt die unantastbare Würde des Menschen.
Das Bewusstsein der gleichen Würde jedes Menschen hat sich durchgesetzt. Es erfordert eine Vertiefung und Erweiterung der frühpädagogischen Professionalität. Wie kann die (Früh-)Pädagogik in Wissenschaft, Forschung und Praxis dieser Aufgabe nach und nach entsprechen?
1.2 Die Praxiswissenschaft Pädagogik antwortet auf diese Aufgabe
Geboten ist eine menschenwürdige Wissenschaft
Wir kennen in den postmodernen Geistes- und Sozialwissenschaften zahlreiche Methoden, die den Herausforderungen der Praxis nicht mehr entsprechen. Sie folgen in ihrem Streben nach Objektivität der Doktrin der strengen Ableitung theoretischer Aussagen aus dem Fundament messbarer Fakten. Dadurch blenden sie schon im Ansatz Bildung und qualitative Forschung aus. Diese Methoden priorisieren das, was nützlich ist. Schon kleine Kinder sollen Kompetenzen erwerben, die sich primär „auf Verwertbares im Sinne der Gesellschaft und Wirtschaft“ beziehen. (Speck 2014, S. 88)
So wird heute eine Leistung definiert, die eigentlich eine Maschine besser erzielen kann als der Mensch. Und das Hauptanliegen der Erziehung, nämlich den Menschen zum Menschen zu bilden und ihm zu einem gelingenden Leben zu verhelfen, bleibt auf der Strecke – und der Weg vom Verwertungsblick zum Entwertungsblick gerade bei Menschen mit schwerer Behinderung ist wieder begehbar geworden.
Von der Quantität zurück nach vorn zur Qualität
Die heutige Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Systematisieren und Analysieren von nachweisbaren Daten über bestimmte verifizierbare oder falsifizierbare Sachverhalte, um daraus Gesetzmäßigkeiten, zumindest aber Wahrscheinlichkeiten von möglichen oder zu erwartenden Folgen abzuleiten. Durch diesen Objektivismus reduziert sie aber individuelle Qualitäten auf abstrakte Quantitäten und entwurzelt dadurch den Menschen als Subjekt mit seiner tiefen Sehnsucht, „den Dingen eine neue Bedeutsamkeit, einen tieferen Sinn, einen Eigenwert zu verleihen“. (Simmel 1922, S. 449) Dieses Verständnis des Kulturphilosophen und Soziologen Georg Simmel (1858 – 1918) hatte auch der Schweizer Heilpädagoge Heinrich Hanselmann (1885 – 1960) im Sinn. Hanselmann kritisierte die um Objektivität und Neutralität bestrebte Wissenschaft mit folgenden Worten: „Sollten aber Wertung und Wissenschaft unvereinbar miteinander sein, so ist damit noch nichts gegen die Berechtigung und Notwendigkeit wertender Tätigkeit gesagt, sondern höchstens gegen die Zulänglichkeit der Wissenschaft.“ (Hanselmann 1955, S. 33)
Verlorenes unter den Bedingungen der Gegenwart wiedergewinnen
Geboten ist eine qualitative Praxisforschung, die ein vertieftes pädagogisches Nachdenken und Handeln ermöglicht. Durch diese „Qualitative Research“ kann das, was verloren gegangen ist, wiedergewonnen werden. Es geht mir nicht um ein Forschungsobjekt, sondern um ein Auseinandersetzen meines forschenden Bemühens mit mir selbst: Es geht um Autoethnografie und narrative Forschung. Dadurch werden Aspekte der Erziehungswirklichkeit, die durch die positivistische Wissenschaft ausgegrenzt wurden, in eine menschenwürdige Forschung integriert.
Bei diesem Erkenntnisweg wird der abstrakte Begriff, der bei näherem Hinsehen eine Reduktion der Wirklichkeit ist und auf eine Materialisierung des Menschen hinausläuft, in ein intuitives und vertrauenswürdiges Verstehen des Mitmenschen gewandelt. (Majorek 2004, S. 200) Durch diese verstehende Haltung ändert sich das Erfahren der Wirklichkeit. Und der Wissenschaftler, Theoretiker oder Praktiker kann Bildung pflegen: nämlich die erlebte Wirklichkeit vom Standpunkt des anderen Menschen betrachten.
Beispiele: In der pädagogischen Situation den anderen sehen und ihm auf Augenhöhe antworten
Eine Heilpädagogin erzählte mir von der Begegnung mit Angelchen, einem schwerbehinderten Kind: „Angelchen ist ein zierliches, blondlockiges Kind mit ernsten Augen, die nicht wahrzunehmen scheinen. ‚Frühkindlicher Autismus‘ lautet die Diagnose. An der Hand der Großmutter nimmt sie bei Aktivitäten unseres Spielkreises teil. […]. Angelchen brummt vor sich hin. ‹MMM – MMM› ist zu hören. Ich meine, sie will mir etwas sagen – warum antworte ich eigentlich nicht in ihrer Sprache? Jetzt weiß ich plötzlich, worauf sie vielleicht wartet: Ich antworte ihr im gleichen Rhythmus ‹MMM – MMM›. Angelchen dreht den Kopf zu mir und wiederholt erstaunt fragend ‹MMM – MMM›. Kurze Pause, ich antworte wieder in unserer nun gemeinsamen Sprache. Angelchen ist hellwach, ihre Augen blicken nicht mehr ins Leere, sie schaut mich an, wir begegnen uns. Das Gespräch geht zwischen uns hin und her [...]“
Hier begegnen sich zwei Menschen von Angesicht zu Angesicht und gestalten gemeinsam ihr Dasein, das unvermeidlich in die Verantwortung führt. Der andere wird zum Du. Die Heilpädagogin ist ganz im Sinne des griechischen Wortes „therapeuein“ tätig. Sie begleitet das Kind mit einer helfenden und dienenden Haltung. Ihre „therapeutische Erziehung“ (Klein/Neuhäuser 2008) wendet sich aus innerstem Menschsein dem Bedürfnis und Bedarf des Kindes zu und antwortet ihm mit ihrer Professionalität, ihrer Werthaltung, ihrer Wissens-, Handlungs- und Sozialkompetenz. Sie ist fähig, sich in Sinnzusammenhänge und Entscheidungsstrukturen des Kindes einzufühlen, und ermöglicht ihm spurenhaft den Aufbau eines inneren Halts, um den sich der moderne Reformpädagoge und Arzt Janusz Korczak (1878 – 1942) bei der Erziehung seiner Waisenkinder bemühte (Klein 1997): Korczak ging es bei seinem forschenden Lernen weniger um ein Vermitteln von Inhalten, die sich das Kind aneignen soll. Vielmehr wollte er durch schöpferisches Tun beim Kind seine individuellen Sichtweisen, Denkformen und Handlungsmöglichkeiten anregen, die es aus eigener Kraft gleichsam selbst schöpferisch und spielerisch gestalten kann.
Bei diesem unmittelbaren Dialog von Mensch zu Mensch wird das Du wie das Ich erlebt, und das Ich wird wie das Du erlebt. Wie das gemeint ist, das können uns die Worte eines jungen Menschen mit Schwierigkeiten im Verhalten lehren, der dazu neigt, ohne ersichtlichen Anlass einem anderen die Haare auszureißen: Peter schrieb seinem Erzieher: „Ich spreche mit meinen Augen, mit meinem Lachen, mit meiner Fröhlichkeit, mit meiner Traurigkeit unverfälscht pur. Das ist meine Sprache. Wenn du dein Herz aufmachst, wirst du mich verstehen.“
In dieser Sprache des Herzens begegnen sich zwei Menschen auf Augenhöhe. Und der Erwachsene lernt aus dieser Begegnung mit dem jungen Menschen: Sein Du wird zu meinem Ich, und mein Ich wird zu seinem Du. In dieser helfenden, ganz machenden oder heilenden pädagogischen Situation ist das zu begleitende, zu leitende und zu unterstützende Kind kein Gegenstand mehr. Wird dagegen das Kind mit Autismus (wie Angelchen) oder das Kind mit Aggressionen (wie Peter) zum reinen Gegenstand, dann entsteht keine Begegnung von Ich und Du, und das Kind kann distanziert als Objekt behandelt, abgerichtet und manipuliert werden.
Erfahrungserkenntnis bewusst machen
Das Hinwenden zur Erfahrung darf nicht als Rückkehr ins Vorwissenschaftliche verstanden werden, denn Erfahrungserkenntnis soll ja selbst zur wissenschaftlichen Erkenntnis werden. Hier erfahren Wissenschaftler und Praktiker das, was wirklich ist, und sie erfahren das, was möglich ist.
Erfahrungserkenntnis ist eine Erkenntnisart, die sich auf Erfahrungen gründet. Darauf hat der bedeutendste Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant (1724 – 1804), in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft hingewiesen. Die Erfahrung kommt zu Wort, die nicht gleich verallgemeinert wird. Vielmehr wird die Erfahrung mit eigenen Worten beschrieben, und die Begriffe bleiben auf empirische Situationen bezogen.
Gerade das Erfahren der eigenen Fehler hält schöpferische Kräfte in Bewegung. Darauf hat bereits Christian Gotthilf Salzmann (1744 – 1811), Aufklärer, Philanthrop und Reformpädagoge, in seinem „Erziehungsplan für Erzieher“ aufmerksam gemacht: Der Erzieher habe für die Fehler zuallererst den Grund „in sich selbst“ zu suchen. Es gehört zu seinem Beruf, dass er in der Erziehungssituation Fehler macht. Diese kann er aufspüren, wenn er zu seinem Handeln inneren Abstand nimmt.
Zum eigenen Handeln inneren Abstand nehmen
Das Abstandnehmen zum eigenen Handeln kann gelernt werden. Nicht im Sinne einer ständigen Selbstreflexion, denn dies würde nur unsicher machen und die schöpferischen Kräfte würden erlahmen.
Das pädagogische Handeln ist nach den aus eigener Erfahrung erkannten Grundsätzen (Prinzipien) methodisch zu gestalten. Dadurch kann auch den von außen kommenden Ratschlägen, die heute die „Trickkunde“ der Ratgeberliteratur anbietet, entkommen werden, weil die handelnde Fachkraft ihre Erfahrungen der (selbst-)bewussten Kontrolle durch Prinzipien unterzieht, nach denen sie ihr Handeln methodisiert. Diese Selbstkontrolle ist erlernbar und führt zu einer in der Person der Pädagogin verankerten methodischen Haltung (Haltungsmethode) sich selbst und den Aufgaben gegenüber. (Klein 2013)
„Pädagogischen Takt“ pflegen
Das meint nichts anderes als den „pädagogischen Takt“, den der Philosoph, Pädagoge und Psychologe Johann Friedrich Herbart (1776 – 1841) in die Erziehungswissenschaft eingeführt hat. Im Modell des pädagogischen Takts ist die Theorie im Sinne der Prinzipien der Erziehung nicht mehr allein der Regent der Praxis. Die Regentenaufgabe hat die im Gewissen verankerte pädagogische Verantwortung, die sich durch wechselseitige Kontrolle von Theorie und Praxis, von Prinzipien und Praxiserfahrungen ausbildet. Diese Kontrolle kann jede Pädagogin und jeder Pädagoge allein oder im Team üben: Sie können überlegen, prüfen, abwägen – und dann entscheiden, was sie tun und wie sie es tun.
Durch diese Selbstreflexion erlebt sich die pädagogische Fachkraft als lernende Person und entdeckt neue Wege. Sie bewegt sich auf noch Unbekanntes zu und überwindet dadurch die alltägliche Routine. Ihr Denken bleibt auf empirische (erfahrbare) Situationen bezogen. Genau das hatte Herbart im Modell des „pädagogischen Takts“ im Blick: Durch das wechselseitige Verknüpfen von Prinzipien und Praxis bilden sich Dispositionen für ein möglichst situationsgerechtes Gestalten der pädagogischen Situation.
Hier werden Wissen und Können in der Auseinandersetzung mit theoretischen Fragen und praktischen Problemstellungen zur pädagogischen Haltungskompetenz erweitert und vertieft. Und die pädagogische Beziehungsgestaltung kann in ihren tiefer liegenden Zusammenhängen erfahren und erprobt werden. Das kann auch mit schmerzlichen Prozessen verbunden sein.
Selbstbildung – eine nie endende Aufgabe
Die auf diese Weise sich bildende pädagogische Fachkraft wächst mit konkreten Erfahrungen des Erfolges und Misserfolges, der Freude und des Leids in die Verantwortung. Genau hier beginnt ihre Selbstentwicklungsaufgabe: Im Einsatz für die konkrete Aufgabe vollzieht sich jene innere Reifung, die die Bedingungen der pädagogischen Situation sensibel erfasst, die eigenen Wirkungen auf das Kind reflektiert und zugleich fähig ist, den inneren Abstand von sich selbst zu wahren und Distanz zu pflegen. Distanz ist notwendig, um den Erziehungsprozess und die Stabilität der eigenen Persönlichkeit nicht zu gefährden.
Fazit
Das pädagogische Handeln geht von der Praxis aus. Es achtet den pädagogischen Takt, die wechselseitige Kontrolle von Prinzip und Erfahrung. Hier werden neues Wissen und Können für die weitere Praxis generiert. Und es bildet sich eine in der Person verankerte und intersubjektiv nachprüfbare methodische Haltung aus. Diese in der Person verankerte Haltungskompetenz wird auch die zunehmende Pluralisierung der Lebenswelten und den sozialen Wandel beachten.
Durch die wechselseitige Kontrolle von Prinzip und Erfahrung wandelt sich die Pädagogik als Technik in eine Erziehungskunst der gemeinsamen Gestaltung des Daseins. Hier wird der „einfühlsame Dialog“ zur bewegenden geistigen Kraft. Und das Objektivitätsdenken verändert sich hin zur Bewusstseinskultur, auf die uns die UN-Behindertenrechtskonvention ganz zentral hinweist. Das hatte bereits der amerikanische Philosoph, Sozialwissenschaftler und Reformpädagoge John Dewey (1859 – 1952) im Blick. Dewey sah in den gemeinsam geteilten Erfahrungen der Lehrenden und Lernenden aller Bildungsstätten eine Stärkung der Demokratie als Lebensform – keinesfalls nur als Regierungsform. Die Realisierung dieser Idee ist der Praxiswissenschaft Pädagogik/Frühpädagogik aufgegeben.
1.3 Selbstverständnis der Heilpädagogik
Von der gegebenen zur aufgegebenen Politik
In seinen moralischen Schriften spricht der Humanist und Semiotiker Umberto Eco (1932 – 2016) davon, dass er durch die Kraft des Wortes „Freiheit“ neu geboren wurde: „Wir müssen wachsam bleiben, damit der Sinn dieser Worte nicht wieder in Vergessenheit gerät. Der Ur-Faschismus ist immer noch um uns, manchmal in gutbürgerlich-ziviler Kleidung. Es wäre so bequem für uns, wenn jemand auf die Bühne der Welt träte und erklärte: ‚Ich will ein zweites Auschwitz, ich will, dass die Schwarzhemden wieder über Italiens Plätze marschieren!‘ Das Leben ist nicht so einfach. Der Ur-Faschismus kann in den unschuldigsten Gewändern daherkommen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven und mit dem Finger auf jede seiner neuen Formen zu zeigen – jeden Tag, überall in der Welt. […] Freiheit und Befreiung sind eine niemals endende Aufgabe. Unser Motto muss heißen: ‚Nicht vergessen!‘“ (Eco 2000, S. 67 f.)
Heilpädagogik hat auch ein politisches Mandat: Weil der Ur-Faschismus gerade heute wieder den Humanismus in seiner Substanz bedroht, stellt sich der vertieften Pädagogik die Aufgabe, die Achtung des anderen in Freiheit und Verantwortung öffentlich bewusst zu machen. Denn ohne das achtsame Miteinander, auch im Streit mit dem vernünftigen Argument, gelingt kein demokratischer Prozess in der westlichen Kultur, die nach Eco die Fähigkeit entwickelt hat, ihre eigenen oft widersprüchlichen Bedingungen freimütig offenzulegen. Bei diesem Prozess spielt die Heilpädagogik an vorderster Stelle mit. Sie kann den Ur-Faschismus durch ihre sinnzentrierte Praxis entlarven, die sich durch eine „gemeinsame Daseinsgestaltung als gemeinsamer Gestaltungsprozess vollzieht.“ (Kobi 2004, S. 74) Das zeigen auch die Anfänge der Heilpädagogik, die mein Denken und Handeln begleiten. Auf einige Aspekte der heilpädagogischen Bewegung weise ich im Folgenden kurz hin. (vgl. Klein 2015, S. 77 ff.)
Von der gegebenen zur aufgegebenen Heilpädagogik
Prähistorischen Forschungen zufolge gab es schon in den vorchristlichen Kulturen verschiedene Formen des sozialen Umgangs mit körperlich und gesundheitlich beeinträchtigten Menschen. Sie blieben Teil des Ganzen. In ihrer Not bekamen sie Beistand und Hilfe. Mitmenschliches Beistehen in Notlagen ist ein zentraler Bestandteil jeder Kultur.
In der neueren Zeit hat Johann Amos Comenius (1592 – 1670) das Lehrbuch „Didactica magna“ (Große Didaktik) geschrieben und den Begriff „remedium“ (Heilmittel) eingeführt. Er bezog den Begriff auf Menschen, die heute als geistig behindert und lernbehindert bezeichnet werden, ebenso auf Blinde, Taube und „auf Menschen ohne Hände“. Nach seiner allumfassenden Pädagogik sind alle Menschen lernfähig, denn immer „ist ein Eingang zu der vernünftigen Seele vorhanden“. Durch „ heilende Erziehung“ muss in jeden Menschen „ein Licht hineingetragen werden“. Noch heute weist der englische Begriff „remedial education“ auf den alle Menschen mit Beeinträchtigungen umfassenden pädagogischen Ursprung hin. Comenius ging es um die Bildung des Menschen zur Menschlichkeit in der Gemeinschaft.
Der Begriff Heilpädagogik wurde 1857 von dem Philosophen und Pädagogen Johann Daniel Georgens (1823 – 1886) und dem medizinisch ausgebildeten Pädagogen Heinrich Marianus Deinhardt (1821 – 1880) in den wissenschaftlichen und praktischen Sprachgebrauch eingeführt. Sie gründeten in Baden bei Wien die „Heilpflege- und Erziehanstalt für geistes- und körperschwache Kinder“, genannt Levana, nach Jean Paul Friedrich Richters (1763 – 1825) Buch „Levana oder Erziehlehre“. Levana („die sich Erhebende/Aufhebende“) war eine altrömische Göttin des Sonnenaufgangs und Beschützerin der Neugeborenen. Sie wurde angerufen, wenn ein neugeborenes Kind in die Familie aufzunehmen war.
Als Pädagogen gründeten Georgens und Deinhardt die Levana. Sie sprachen vom Recht auf Erziehung für alle Kinder. Dieses Recht realisierten sie durch die Aufnahme in ihre Einrichtung, die sie als Teil des gesamten Erziehungssystems verstanden. Die beiden Levana-Pädagogen wirkten im Geist der Humanität. Ihr Motiv war das uneingeschränkte Ja zu jedem Kind. Sie verstanden das im Denken oder Verhalten, in den Bewegungs- oder Sinnesfunktionen beeinträchtigte Kind als Rechtssubjekt. Es ging ihnen um ein verfeinertes und gründliches pädagogisches Handeln, um „Modifikationen“ (Abwandlungen) der Erziehung. Denn wo Sinne fehlen oder beeinträchtigt sind, der Wille zum Lernen, das Lern- oder Sozialverhalten nicht oder nicht hinreichend ausgebildet sind, da muss die pädagogische Kunst umso größer sein. Ihr pädagogisches Programm umfasste die Erziehung von körper- und geistesschwachen Kindern zusammen mit gesunden und vollsinnigen Kindern. Sie waren die ersten Pädagogen, die eine gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder begründeten.
Georgens und Deinhardt pflegten die Zusammenarbeit mit der Medizin und strebten eine Gesamtwissenschaft vom Menschen an. Ihre pädagogische Praxis verstanden sie als Zwischengebiet, das zwischen Medizin und Pädagogik angesiedelt ist. Sie wollten eine „Doppelwirkung“ erreichen: Medizinische Behandlung und pädagogische Hilfe ergänzten einander. Arzt und Erzieher suchten gemeinsam nach Wegen der Gesunderziehung und lernten bei dieser interdisziplinären Praxis ihre eigenen Grenzen zu erkennen und auszuweiten. Der Kompetenztransfer ermöglichte ihnen, das einzelne Kind besser zu verstehen und ihr pädagogisch-therapeutisches Handeln bewusster und situationsgerechter zu gestalten.