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Jeder will ein Tattoo der New Yorker Künstlerin Heather, denn ihrer Tinte werden magische Kräfte nachgesagt. Und wirklich: Als die achtzehnjährige Riley sich einen Pegasus stechen lässt, weckt das ungeahnte Fähigkeiten in ihr. Doch kurz darauf verschwindet Heather spurlos, und Rileys Tattoo fängt an, sich auf ihrer Haut zu bewegen – die Kräfte werden immer unkontrollierbarer. Auf ihrer Suche nach der verschollenen Tätowiererin stößt Riley auf eine Welt im Untergrund von New York, die mehr als nur ein Geheimnis birgt. Inkville ist der Ort, an dem alles beginnt … und an dem alles ein Ende nehmen könnte. Schon bald sind das Tattoo und die magischen Kräfte Rileys geringste Sorge. Denn in der verborgenen Stadt geht etwas Ungeheuerliches vor sich, das droht, New York in den Abgrund zu stürzen. Und Riley ist bereits mehr in die Vorkommnisse verwickelt, als ihr lieb ist.
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Seitenzahl: 484
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Kapitel 1 - Tätowierung
Kapitel 2 - Identität
Kapitel 3 - Rausch
Kapitel 4 - Erwachen
Kapitel 5 - Chaos
Kapitel 6 - Verbündete
Kapitel 7 - Wahrnehmung
Kapitel 8 - Theater
Kapitel 9 - Inkville
Kapitel 10 - Erkenntnis
Kapitel 11 - Enthüllung
Kapitel 12 - Abstammung
Kapitel 13 - Annäherung
Kapitel 14 - Durchhaltevermögen
Kapitel 15 - Misstrauen
Kapitel 16 - Ungnade
Kapitel 17 - Konfrontation
Kapitel 18 - Illusion
Kapitel 19 - Auflösung
Kapitel 20 - Prüfung
Kapitel 21 - Verantwortung
Kapitel 22 - Familie
Kapitel 23 - Bündnis
Kapitel 24 - Jagd
Kapitel 25 - Ungleichgewicht
Kapitel 26 - Umbruch
Kapitel 27 - Träume
Kapitel 28 - Verschwinden
Kapitel 29 - Schwur
Kapitel 30 - Botschaft
Kapitel 31 - Verrat
Kapitel 32 - Abrechnung
Kapitel 33 - Neuanfänge
Kapitel 34 - Zukunft
Nachwort
Sarah-Maria Köpf
Inkville
Urban Fantasy
Inkville
Jeder will ein Tattoo der New Yorker Künstlerin Heather, denn ihrer Tinte werden magische Kräfte nachgesagt. Und wirklich: Als die achtzehnjährige Riley sich einen Pegasus stechen lässt, weckt das ungeahnte Fähigkeiten in ihr. Doch kurz darauf verschwindet Heather spurlos, und Rileys Tattoo fängt an, sich auf ihrer Haut zu bewegen – die Kräfte werden immer unkontrollierbarer. Auf ihrer Suche nach der verschollenen Tätowiererin stößt Riley auf eine Welt im Untergrund von New York, die mehr als nur ein Geheimnis birgt. Inkville ist der Ort, an dem alles beginnt … und an dem alles ein Ende nehmen könnte. Schon bald sind das Tattoo und die magischen Kräfte Rileys geringste Sorge. Denn in der verborgenen Stadt geht etwas Ungeheuerliches vor sich, das droht, New York in den Abgrund zu stürzen. Und Riley ist bereits mehr in die Vorkommnisse verwickelt, als ihr lieb ist.
Die Autorin
Sarah-Maria Köpf, geboren 1997 in Leipzig, studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie Multimedia-Journalismus. Sie arbeitet als freie Journalistin und ist seit vielen Jahren in der Bloggerszene aktiv. Ihre größte Leidenschaft gilt aber schon von klein auf dem Lesen und der Literatur, weshalb sie stets mit einem Buch in der Hand und einem Notizbuch in der Tasche anzutreffen ist.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Juli 2025
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2025
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
Lektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms
Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-350-9
ISBN (epub): 978-3-03896-351-6
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für alle, die ihren Weg noch suchen.
E-Mail Entwurf
Von: [email protected]
Betreff: Bewerbung um Tattoo-Termin
Liebehey Hallo Heather,
was würdest du tun, wenn dein Leben so richtig den Bach runtergeht? Tja, wenn ich eine Antwort darauf hätte, dann würde ich diese E-Mail jetzt wahrscheinlich nicht verfassen.
kennst du das Gefühl, wenn jemand in deinem Leben die Pause-Taste drückt und dann die Fernbedienung wegwirft, sodass du keine Kontrolle über die Zukunft hast? Genau so fühle ich mich gerade. Vor ein paar Monaten habe ich meinen Schulabschluss gemacht und damit sollte mir die Welt offenstehen. Doch bisher geht einfach alles schief.
Doch stattdessen hat mein Freund mich verlassen, weil er keine Lust auf eine Fernbeziehung hat, alle Universitäten haben mich für mein Traumstudium abgelehnt und ich hänge in einem Aushilfsjob fest, den mir meine Mutter besorgt hat. Kann man noch tiefer sinken?
Nichts habe ich bisher aus eigener Kraft geschafft. Doch ich glaube fest daran, dass ein Termin bei dir der Anfang eines neuen Lebensabschnitts sein könnte. Ein Tattoo, das auch nur ein bisschen Magie in meinen tristen Alltag bringt und mir Flügel verleiht, um meine Träume zu erreichen.
Deshalb würde es mir unheimlich viel bedeuten, wenn diese eine Sache nicht schiefgehen würde. Wenn du mir eine Chance gibst.
Ich würde mich sehr freuen, wenn es klappt, und du dir die Zeit für einen Termin mit mir nimmst. Dein Ruf eilt dir voraus, aber das weißt du ja sicherlich und es wäre mir eine große Ehre, ausgewählt zu werden.
Viele Grüße In freudiger Erwartung,
Riley Grey
»Das darf einfach nicht wahr sein! Ich werde niemals rechtzeitig da sein!«, keuchte ich außer Atem.
Energisch presste ich mir die Kopfhörer tiefer ins Ohr und versuchte zum wiederholten Mal, mein Leihfahrrad an der Station abzustellen.
»Kannst du es nicht woanders versuchen?«, fragte meine beste Freundin Yuna mit ruhiger Stimme auf der anderen Seite der Leitung.
Ich hatte sie direkt angerufen, nachdem ich an der rettenden Fahrradstation angekommen war. Da hatte ich allerdings noch nicht gewusst, dass der Mechanismus mich nicht ausloggen wollte. Wenn ich mein Rad jedoch nicht abstellen konnte, kostete mich das Geld, das ich nicht hatte. Denn fast mein gesamtes Erspartes ging für diesen Termin drauf.
Mein Blick wanderte über die Fahrräder, die sich neben mir aufreihten.
»Keine Chance. In Brooklyn benutzt anscheinend jeder sein eigenes Rad. Hier ist alles voll.« Kopfschüttelnd blickte ich auf die Uhr, die schon wieder eine vergangene Minute anzeigte. »Was macht das bitte für einen Eindruck bei Heather?«, murrte ich und ärgerte mich über mich selbst.
Hätte Cason, mein Kollege aus der Bibliothek, nicht seine Aufgaben auf mich abgewälzt, hätte ich noch die letzte U-Bahn vor dem Streik geschafft und wäre pünktlich beim Tattoo-Studio angekommen. So hatte ich allerdings vergeblich am Gleis gewartet und schließlich eines der Fahrräder genommen, die in der Straße gegenüber standen. Normalerweise wäre ich nie auf die Idee gekommen, die fünf Meilen mit dem Rad zurückzulegen. Aber besondere Vorkommnisse erforderten besondere Maßnahmen. Und der Termin bei Heather war es wert, mich abzustrampeln.
Denn ich hatte unfassbares Glück, diese Chance zu erhalten. Die Tätowiererin war nahezu unerreichbar, ein Termin bei ihr zu bekommen wie ein Sechser im Lotto. Der Standort ihres Studios blieb geheim, um ihre Privatsphäre zu schützen. Heather hatte keine Social-Media-Accounts und absolvierte selten öffentliche Auftritte.
Diejenigen, die von ihr tätowiert wurden, sprachen nicht nur von ihrem unglaublichen Talent als Künstlerin, sondern auch von der außergewöhnlichen Wirkung, die die Bilder unter der Haut auf den Betrachter auslösten.
Obwohl die Termine rar waren, hatten sich die Gerüchte über Heather wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Zunächst nur in den Nachtclubs und Bars von Brooklyn, dann in der Kunst- und Musikszene und wenig später in Manhattan. Die sozialen Netzwerke waren voller Spekulationen über die Frau hinter den beeindruckenden Tattoos und wie man seine Chance für einen Termin bei ihr erhöhen konnte. Sogar die Medien berichteten über die Tätowiererin, die einen regelrechten Kult ausgelöst hatte.
Alle sprachen über sie, doch nur die wenigsten durften sie auch wirklich kennenlernen. Es war eine Exklusivität, völlig unabhängig von Geld und Status. Ihre Regeln blieben unklar und New York liebte sie dafür.
Ich liebte sie dafür.
Und deshalb war es unfassbar, dass ich zu dem Termin, auf den ich wochenlang hin gefiebert hatte, zu spät kommen würde.
»Wird schon nicht so schlimm sein. Immerhin hat Heather dich ausgewählt. Da wird sie auch noch fünf Minuten warten können.«
Yuna war wie immer optimistisch, doch für mich stand zu viel auf dem Spiel.
»Okay, hör mir zu«, fuhr sie fort. »Du checkst auf der App noch mal die freien Plätze an den anderen Stationen und fährst dann so schnell es geht dorthin. Wenn du Glück hast, kostet dich das kaum Zeit.«
Sie hatte recht: Ich musste einen kühlen Kopf bewahren. Doch mein Herz pochte hektisch und ich wünschte mir, ich hätte mein Abo fürs Fitnessstudio öfter genutzt. Dann würde mich meine Kondition heute nicht so im Stich lassen.
Auf dem Handy öffnete ich die App und stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Die nächste Station ist nur zwei Blocks entfernt und hat zwei freie Plätze.«
Mit Yuna im Ohr schwang ich mich wieder auf den Sattel und legte die Strecke in Rekordzeit zurück. Nachdem sich das Vorderrad in die Vorrichtung einrasten ließ, leuchtete endlich das ersehnte grüne Licht. Ich hatte es geschafft.
Erst jetzt nahm ich meine Umgebung genauer wahr. Brooklyn war jedes Mal wie ein kleiner Schock. Der Stadtteil war so anders als Manhattan, wo man an nebeligen Tagen nicht einmal die Spitzen der Hochhäuser erkennen konnte. Hier war alles offener, freier und die Luft frischer.
Ich eilte durch die Schatten, die die warme Frühlingssonne auf dem Asphalt hinterließ, schlängelte mich durch die Menschenmassen, die sich über die vollen Straßen schoben.
»Ich wusste, dass du es schaffst«, jubelte Yuna in meinem Ohr. »Die zehn Minuten Verspätung machst du locker mit Smalltalk wett.«
»Bei dem Glück, das ich gerade habe, hat Heather schneller Ersatz für mich gefunden, als dass ich eine Entschuldigung vorbringen kann.«
Halb rennend überquerte ich den nächsten Fußgängerüberweg, ignorierte das Hupen des Autos, das ich dabei ausbremste, und wich ein paar leeren Pizzakartons aus.
War New York schon immer so dreckig gewesen? Ich erinnerte mich nicht. Doch als Kind sah man die Welt ohnehin mit anderen Augen. Sobald man erwachsen wurde, verlor vieles seinen ursprünglichen Glanz.
»Was hatten wir gesagt?« Yunas Stimme holte mich in die Realität zurück.
»Heute beginnt ein neuer Lebensabschnitt«, wiederholte ich augenrollend das, was wir am Abend zuvor gemeinsam beschlossen hatten.
Wir hatten auf meinem Bett gelegen und ich hatte Yuna schwören müssen, dass ich nie wieder auf Aidens Profil klicken würde.
Für mich war es nach unserer Trennung fast schon Routine geworden, am Abend durch seine Fotos zu scrollen. Eine schlechte Angewohnheit, die ich einfach nicht abstellen konnte.
Wie immer hatten meine Finger für einen Moment über dem Display geschwebt, als überlegte mein Gehirn, ob ich bereit für das war, was kommen würde. Den Schmerz, die Sehnsucht und die Scham, weil ich noch nicht über ihn hinweg war. Weil in meinem Herz weiterhin eine tiefe Wunde klaffte, die nicht verheilte.
Sein Profilfoto hatte ich damals in New Haven aufgenommen, als wir davon überzeugt waren, gemeinsam das College zu besuchen. Yale hatte zwar niemals in unserer Reichweite gelegen, trotzdem waren wir für ein Wochenende nach Connecticut gefahren, um uns den Campus anzuschauen. Die Vorstellung, wir könnten eines dieser Paare sein, deren Liebesgeschichte zwischen alten Bäumen und Backsteingebäuden ihre Blütezeit erlebte, war berauschend gewesen.
Doch stattdessen hatte ich es nie aus New York herausgeschafft, während er an die Westküste gezogen war, um ein neues Leben zu beginnen. Und nichts hatte mich darauf vorbereiten können, seinen ersten Post seit Monaten zu sehen.
Mein Herz hatte sich zusammengezogen, bevor mein Kopf überhaupt realisieren konnte, was ich da vor mir hatte.
Sein breites Grinsen, die Frisur verstrubbelter als sonst, von der Sonne aufgehellt. Und neben ihm eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren, die einen Kuss auf seine Wange drückte.
Ich hatte gewusst, dass dieser Augenblick kommen würde. Niemand von uns würde ewig single bleiben. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so bald passieren würde. Denn wenn ich die Augen schloss, konnte ich noch immer seine Umarmung spüren. Sie war stets ein Anker gewesen, der mir eine Basis gab, obgleich die Welt um mich herum im Chaos versank.
Ich hatte das Handy sinken lassen und kurz die Augen geschlossen, was mir einen fragenden Blick von Yuna eingehandelt hatte.
Seit meine Eltern auf Weltreise waren, war sie praktisch bei mir eingezogen und behauptete, im Studentenwohnheim nicht schlafen zu können. Doch insgeheim vermutete ich, dass sie mich im Auge behalten wollte, damit ich keine Dummheiten anstellte.
»Mit dem Tattoo wirst du die ganzen letzten Monate hinter dir lassen«, sagte Yuna jetzt am Telefon und riss mich damit aus meinen Gedanken. Ich sah förmlich, wie sich ihre schmalen Lippen zu einem Grinsen verzogen. »Scheiß doch auf die Uni. Wer dir keinen Studienplatz gibt, ist selbst schuld! Du wirst deinen Weg auch so gehen. Dass du den Termin bekommen hast, ist erst der Anfang. Das spüre ich.«
»Endlich ein Traum, der in Erfüllung geht.« Ich nickte zustimmend und ein warmes Gefühl kribbelte in meiner Brust. Doch ich wurde schnell von der Realität eingeholt. »Falls ich irgendwann am Studio ankomme.«
»Wie weit ist es noch?«
»Ich muss die Straße runter und dann nach links.«
Den Weg kannte ich auswendig, seitdem Heather mir die Location geschickt hatte. In der Mail waren außerdem eine Handvoll Dokumente angehängt gewesen, die ich zu unterschreiben hatte und in denen ich versicherte, mich an die strengen Auflagen für den Termin zu halten. Keine Begleitung, keine Fotos und Stillschweigen über das, was im Studio passieren würde. Wenn ich die Regeln brach, kostete mich das nicht nur mein Tattoo, sondern auch eine fette Strafe.
»Du solltest rennen.«
Ich hob die Augenbrauen. Mein Atem hatte sich gerade erst beruhigt und meine Beine zitterten von der Anstrengung der letzten Stunde. Doch meine Frisur war ohnehin ruiniert und ganz frisch roch ich bestimmt auch nicht mehr. Es machte keinen Unterschied.
»Wir sehen uns später. Ich gebe mein Bestes!«, sagte ich mit einem Seufzer.
»Ich denk an dich!«, rief Yuna und legte auf.
So schnell ich konnte, lief ich die Straße hinunter. Der Laden lag in einer Seitengasse und war von der Hauptstraße aus kaum zu erahnen.
Das war Teil ihrer Strategie.
Wäre Heathers Studio für jeden erreichbar, stünden die Leute davor Schlange. Einige von ihnen würden töten, um jetzt an meiner Stelle zu sein.
Heather war ein Star. Eine Künstlerin der Superklasse. Sie war eine Göttin. Und ja, ich hob sie auf ein Podest und würde wahrscheinlich gleich enttäuscht den Laden verlassen, wenn meine Vorstellungen nicht mit der Realität übereinstimmten.
Doch das mussten sie einfach – so viel hing davon ab. Einzig der Gedanke an das Tattoo hatte mich in den vergangenen Wochen durchhalten lassen.
Und gleich würde ich DIE Heather Young treffen. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen und das Herz schlug mir bis zum Hals.
Das Studio wirkte von außen fast unscheinbar. Die Schaufensterscheiben waren dreckig und mit weißen Tüchern verhangen, sodass ich nicht erkennen konnte, was drinnen vor sich ging. Vom roten Rahmen der Tür blätterte die Farbe ab und nebenan lag ein verwildertes Grundstück, auf dem sich Müll und sicher auch Ratten sammelten. Kein Wunder, dass niemand das Geschäft eines zweiten Blickes würdigte. Es passte nicht zu dem glamourösen Bild, das sich um Heather rankte.
Mit den Fingern fuhr ich mir durch meine dunkelbraunen Locken, die an den Spitzen in opalgrüne Highlights übergingen.
Ich hatte mir extra Mühe mit dem Look gegeben, von dem jetzt nicht mehr viel übrig war.
Dreimal atmete ich durch, dann klopfte ich mit Nachdruck an die Tür, so wie wir es vereinbart hatten.
»Ist offen«, rief eine tiefe Stimme aus dem Laden.
Ich zuckte zusammen und griff zur Klinke. Vorsichtig schob ich die Tür auf.
Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an das schummrige Licht, dafür umfing mich ein Lavendelduft, sobald ich einen Fuß ins Innere gesetzt hatte.
Entgegen meinen Erwartungen wirkte der Raum einladender, als es der äußere Anschein vermuten ließ. Die Wände waren in einem dunklen Bronzeton gestrichen und von feinen schwarzen Linien durchzogen. Beim näheren Hinsehen entpuppten sich die abstrakten Wirbel als das Abbild rankender Pflanzen, die dem Laden eine Dynamik gaben, die ich so noch nie erlebt hatte. Hölzerne Bilderrahmen zeigten Skizzen und Collagen. Vor mir befand sich ein schmaler Empfangstresen, der bis auf ein paar Vasen leer war.
All das nahm ich in nur wenigen Sekunden wahr, denn mein Blick wurde von ihr angezogen.
Heather.
Sie saß in der Mitte des Raumes in einem breiten roten Sessel und musterte mich von oben bis unten, als wollte sie alles von mir in sich aufsaugen. Ihre schwarzen Augen waren durchdringend und hatten exakt die Farbe ihrer langen Haare, die ihr bis zu den Hüften reichten. Sie sah so aus, wie ich sie von Fotos kannte, und trotzdem würden die es niemals schaffen, ihre wahre Präsenz einzufangen.
»Du musst Riley sein«, durchbrach ihre Stimme die Stille. Erst da fiel mir auf, dass ich bisher kein Wort gesagt hatte, was ziemlich unhöflich war.
So viel zum Thema lässig und cool.
Ich räusperte mich, um zu verhindern, dass meine Stimme in der Aufregung versagte. »Freut mich, dass es klappt. Und sorry für die Verspätung. Ich wusste nicht, wie ich dich erreichen kann.«
Wow, Riley. Was für eine Meisterleistung!
Wenn Heather meine Wortkargheit störte, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Ist das dein erstes Tattoo?«, fragte sie und erhob sich von ihrem Platz, ohne auf die Entschuldigung einzugehen.
Sie war einen halben Kopf größer als ich und trug ein eng anliegendes Kleid, das asymmetrisch geschnitten war. Während ein Arm von schwarzem, samtigem Stoff bedeckt war, gab der andere den Blick auf in sich verschlungene Tattoos frei, die Heather wie eine Rüstung umschlangen. Ein dunkles Band zog sich ausgehend von ihrem Nacken bis hinunter zu ihren Fingerspitzen. Ein Pinsel schob sich aus ihm empor und versprühte Tintenspritzer auf dem Oberarm. Auf ihrem Handrücken loderte eine Fackel und sandte feine Rauchschwaden aus.
Heather vollbrachte nicht nur Kunst auf der Haut anderer, auch sie selbst war ein Kunstwerk, von dem ich den Blick kaum abwenden konnte.
»Das wird mein erstes Tattoo.« Ich biss mir nervös auf die Lippen, doch Heather lächelte und winkte mich näher zu sich.
»Irgendwann muss man anfangen«, sagte sie und schob mich auf eine schwarze Liege im hinteren Teil des Raumes zu. Eine alte Stehlampe warf einen langen Schatten auf den dunklen Holzboden unter meinen Füßen.
»Meine Eltern sind da anderer Meinung.« Die Worte rutschten mir heraus und am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Obwohl die Aussage der Wahrheit entsprach.
Meine Eltern würden mich töten, wenn sie wüssten, was ich vorhatte. Jedoch schipperten sie meilenweit entfernt über den Panamakanal, bevor sie weiter zu einer Farm in Chile reisten. Bis sie nach ihrer Weltreise wieder in New York ankamen, hatte ich mir entweder eine gute Entschuldigung für das Tattoo überlegt oder trug von da an nur noch lange Sachen. Wahrscheinlich würde es auf Letzteres hinauslaufen, aber darum konnte ich mich kümmern, wenn es so weit war.
»Zum Glück bist du alt genug für eigene Entscheidungen«, erwiderte Heather und etwas Herausforderndes lag in ihrem Blick.
Doch so schnell dieses Blitzen aufflammte, so schnell erlosch es auch wieder.
»Ich habe mir schon immer ein Tattoo gewünscht.« Ich sprach die Worte mit fester Stimme, denn Heather sollte nicht glauben, dass das Ganze hier eine spontane Aktion war. Keine Ahnung, warum ich mir so viele Gedanken machte, was sie von mir hielt. Aber sie war es, der ich gleich nicht nur meine Haut, sondern auch die Auswahl des Motivs anvertraute, das mich ein Leben lang zieren würde. Eine gewisse Spannung knisterte in der Luft, das vergrößerte den Reiz des Verbotenen.
Heather baute neben mir ihr Equipment auf. »Ist das so?«, sagte sie beiläufig, als hörte sie diesen Spruch nicht das erste Mal.
Ich nickte und rutschte auf der Liege hin und her. Der lederne Bezug war angenehm kühl auf der Haut.
»Mein Vater ist Tätowierer.« Ich wusste nicht, was mich dazu brachte, Heather dieses private Detail zu verraten, doch die Worte kamen wie von selbst aus meinem Mund. »Er heißt Alec O’Halloran. Ich habe ihn jedoch nie kennengelernt«, fügte ich hinzu, um mögliche Fragen gleich im Keim zu ersticken.
Heather zuckte nicht mal mit der Wimper und kurz war ich mir nicht sicher, ob sie mir überhaupt zugehört hatte. Sie war mit der Farbe zugange, doch wenig später schob sie sich einen Hocker heran und setzte sich neben mich.
»Das tut mir leid«, sagte sie und sah wieder zu mir.
Ich zuckte mit den Schultern. »Nichts für ungut. Er war ohnehin ein Arschloch.«
»Dann bist du ohne ihn besser dran.«
»Das versuche ich mir auch immer zu sagen. Und immerhin habe ich einen tollen Stiefvater.« Ich seufzte und fragte mich, warum ich einer völlig Fremden von meinen Familienproblemen erzählte. Doch Heather hatte etwas an sich, das mir die Zunge lockerte. Normalerweise war ich in der Hinsicht eher wortkarg.
»Hast du Angst?«, fragte sie und sah mir direkt in die Augen.
»Ich vertraue dir.«
Heather lächelte. »Gut, dann legen wir mal los.« Sie schaltete die Lampe neben sich ein, die mich kurz blendete.
Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen, doch mein Gefühl sagte mir, dass alles gut werden würde.
»Und du verrätst mir ganz sicher nicht, was du dir überlegt hast?«
Eine der Besonderheiten von Heathers Tattoos war, dass sie selbst festlegte, welches Motiv sie stach. Keine Ahnung, wie sie diese Entscheidung traf, doch ich war gleichzeitig gespannt und voller Furcht. Ein seltsamer Gefühlscocktail, der durch meine Venen floss.
Heather legte den Kopf schief und musterte mich. »Du kennst die Regel. Wenn du dir unsicher bist, dann steht es dir frei, zu gehen.« Sie hob eine Augenbraue.
Schnell schüttelte ich den Kopf und ließ mich ein wenig tiefer auf die Liege gleiten. »Auf keinen Fall. Ich bin so was von bereit.«
Und das war ich.
Endlich war da etwas, das mich mit Freude und Zuversicht erfüllte. Wenigstens ein Traum, der wahr wurde, während all die anderen in der Warteschleife hingen. Die vergangenen Monate waren scheiße gelaufen. So richtig. Dass alle Universitäten mich abgelehnt hatten, war nur der Gipfel des Eisbergs gewesen.
Doch das Tattoo zeigte mir, dass selbst die verrücktesten Träume Realität werden konnten, wenn man es nur versuchte. Immerhin saß ich gerade neben Heather.
DER Heather.
Sie streifte sich Handschuhe über und verteilte Vaseline auf der Innenseite meines Oberarms. Die Stelle für das Tattoo hatten wir schon im Vorfeld besprochen. Hierbei hatte ich Mitspracherecht.
Heather nahm die Nadel aus einer sterilen Verpackung und sah mich wieder an. »Unsere Haut erzählt eine Geschichte. Von den Jahren, die wir gelebt haben, den Kämpfen, die wir ausgetragen, und den Bildern, die wir darauf gezeichnet haben. Narben, Sommersprossen und Tattoos zieren uns und machen uns zu dem, was wir sind. Zu etwas, was wir sein können, wenn wir nur fest genug daran glauben.«
Ich lächelte unsicher, während sich Heathers Blick in meinen bohrte. »Ich bin bereit, meine eigene Geschichte zu schreiben«, erwiderte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.
Heather nickte und setzte die Nadel auf die Haut, ohne vorher eine Skizze anzufertigen. Für einen Moment spürte ich nur die Kühle des Metalls, dann ein Kribbeln, das kurz darauf von einem leichten Schmerz abgelöst wurde, der in meinem Oberarm aufglomm.
Meine Wangen glühten. Gleichzeitig bildete sich erneut eine Gänsehaut auf meinen Armen.
Heather lächelte derweil. »Du gewöhnst dich gleich daran.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich daran gewöhnen möchte«, murmelte ich mit zusammengekniffenen Lippen.
Ich schielte mehrmals zu dem, was Heather tätowierte, konnte aber nichts erkennen. Jedoch spürte ich förmlich, wie die Nadel die Tinte unter die Haut brachte. Mein Arm erwärmte sich und jeder Stich, jede feine Linie, brannte wie Feuer. Ich versuchte, nur an das Ergebnis zu denken und nicht zusammenzuzucken, wenn Heather erneut die Nadel ansetzte, immer wieder an der gleichen Stelle.
Der Schmerz trieb mich jetzt fast in den Wahnsinn.
Heathers Blick blieb konzentriert. Ihre langen schwarzen Haare umspielten sanft ihre kantigen Gesichtszüge und bewegten sich sacht auf und ab, wenn sie den Kopf mal in die eine, mal in die andere Richtung wandte.
Die Zeit verwandelte sich in etwas, das ich nicht so recht greifen konnte. Ich hätte nicht einmal sagen können, wie lange ich schon im Studio saß. Aus Angst zu stören, wagte ich es nicht, mich zu bewegen.
Als Heather schließlich meinen Arm losließ und mich kritisch musterte, brauchte ich eine Weile, um aus der Trance zu erwachen, in die ich verfallen war.
»Fertig!«, sagte sie und wischte ein letztes Mal mit einem Küchenpapier über meinen Oberarm. »Wie fühlst du dich?«
Lächelnd setzte ich mich auf. »Ich bin gespannt auf das Ergebnis.«
»Komm mit mir zum Spiegel.« Vorsichtig zog sie mich nach oben.
Meine Beine zitterten und für einen Augenblick drehte sich der Raum.
Als hätte Heather geahnt, wie es mir ging, reichte sie mir ein Glas Apfelschorle und zwang mich, es bis auf den letzten Tropfen zu leeren. Dann folgte ich ihr auf die andere Seite des Raumes. Auf einer halbhohen Kommode aus dunklem Akazienholz war ein Gegenstand unter einem Tuch versteckt.
»Bereit?«, fragte sie.
Ich schluckte, denn ich fühlte mich plötzlich doch unsicher. Was, wenn mir das Motiv nicht gefiel?
»Es kann losgehen«, sagte ich trotzdem – es war ohnehin zu spät. Das Tattoo war unter meiner Haut, wie mir der nicht nachlassende Schmerz deutlich machte.
Heather umfasste das Tuch und zog es weg. Darunter kam ein alter schwarzer Spiegel mit goldenen Ranken zum Vorschein. Er wurde nur von einem schmalen Sockel gehalten, fast als würde er schweben.
Ich trat einen Schritt näher heran, sah mein Gesicht, das fettig glänzte. Ein paar Haarsträhnen klebten an den Seiten. Allen Mut zusammennehmend hob ich den Arm.
Da war es: mein erstes Tattoo.
Ich sog die Luft ein, weil so viele Emotionen auf mich einströmten.
Erleichterung, weil das Motiv wunderschön war.
Freude, weil ich ein Tattoo von Heather hatte.
Dankbarkeit, dass ich all das erleben durfte.
»Er ist perfekt«, flüsterte ich und ging noch einen Schritt näher an den Spiegel.
Auf der Innenseite meines Oberarms schwang sich ein Pegasus in die Höhe. Mit weit ausgebreiteten Flügeln stieß er sich vom Boden ab. Das Gefühl von Freiheit, das er dabei verspüren musste, erfüllte mich. Der Wind wehte seine lange Mähne nach hinten.
Die Nadelstiche waren präzise gesetzt. Ich erahnte nicht nur jedes einzelne Haar, sondern auch jede filigrane Feder seiner imposanten Schwingen. Trotz der geröteten Einstichstellen und der Folie, die Heather für die Wundheilung darüber geklebt hatte, wirkte der Pegasus fast echt – als hätte man ein magisches Wesen eingefangen und mir unter die Haut gesetzt.
Obwohl ich mich nicht an meinem Tattoo sattsehen konnte, löste ich den Blick vom Spiegel.
»Warum hast du dich für dieses Motiv entschieden?«, fragte ich, nachdem ich eine Weile beobachtet hatte, wie sie ihr Equipment säuberte und die Farbbehälter in einen fahrbaren Wagen packte.
»Hast du das Gefühl, dass es nicht zu dir passt?« Sie blickte nicht auf, sondern räumte weiter ihre Materialien zusammen.
»Auf keinen Fall!« Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Aber ich habe mich nie als Pferde-Mädchen gesehen und mit Fantasy habe ich auch nur wenig am Hut.« Verlegen strich ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr.
Heather lächelte. »Nur weil du dich nicht so siehst, heißt es nicht, dass diese Seite an dir nicht existiert.«
Wollte sie mir sagen, dass sie mich besser kannte als ich mich selbst?
Bevor ich nachhaken konnte, erklärte sie mir bereits, wie ich meine gereizte Haut nach dem Abnehmen der Folie pflegen musste. Zweimal täglich sollte ich die Stelle eincremen und größere Anstrengungen erst einmal vermeiden.
Ich zahlte den vereinbarten Preis, der im Vergleich zu dem Trubel, der um Heather gemacht wurde, erstaunlich niedrig war – obgleich er meine kompletten Rücklagen fraß. Dann stand ich wieder vor ihrem Laden und wusste nicht, wie mir geschah. Ich sah gerade noch, wie die letzten Sonnenstrahlen hinter den Häuserdächern verschwanden und die Straßen von Dunkelheit umhüllt wurden.
NEW YORK Culture DAILY
Der Zauber der Tattoos
Lange ist es her, dass New York von einer Welle aus Spekulation überrollt wurde. Doch hört man sich aktuell in den Nachtclubs und Bars der Stadt um, fällt ein Name immer wieder: Heather Young.
Eine junge Tätowiererin, die Motive zaubert, die an Magie grenzen. So erzählt man es sich. Selbst Stars wie Orlando Corner oder Elise Lowe reden über sie, befeuern den Hype. Doch entgegen all der Aufmerksamkeit hält sich die Künstlerin bedeckt, scheut die Öffentlichkeit. Auf Partys ist sie nur zu finden, wenn sie ohne Presse stattfinden. Die Adresse ihres Studios ist unbekannt, einen Social-Media-Auftritt oder eine Webseite gibt es nicht.
Ungewöhnlich in einer Zeit, in der an Marketing ohne soziale Netzwerke kaum mehr zu denken ist. Doch vielleicht geht ihre Strategie gerade deswegen auf. Weil sie gegen den Strom schwimmt. Der Meinung ist zumindest Marketing-Experte Alexander Cole Newmann von der NYU. »Diese Art der Inszenierung ist eine Klasse für sich. Gerade weil sie sich so rar macht, ist ihr Name in aller Munde«, sagt er.
Charly Lee ist Barbesitzer des ›Dragons Alley‹ in Dumbo, Brooklyn. Auch er hat schon viele Gerüchte über die junge Tätowiererin mitbekommen. »Mittlerweile habe ich jeden Tag Kundschaft, die nach Heather fragt. Als wüsste ich mehr als alle anderen.«
Hört man sich in der Bar um, hat jeder in New York eine Meinung zu Heather Young. Manche hoffen, dass ihr Angebot bald für die breite Masse zugänglich wird, andere wiederum wünschen sich, dass die Exklusivität erhalten bleibt.
Sie selbst schweigt bisher dazu.
Doch in der Stadt, die niemals schläft, wartet vielleicht schon morgen das nächste Phänomen auf uns.
In der Nacht bekam ich kein Auge zu.
Der Tattootermin kam mir in der Dunkelheit noch surrealer vor. Immer wieder wanderten meine Gedanken zu Heather und dem Pegasus.
Irgendwann gab ich es auf und schaltete die Nachttischlampe ein.
Ich schob den Ärmel nach oben und betrachtete das Kunstwerk, das meinen Oberarm zierte. Die Rötung war zurückgegangen, die präzisen Striche kamen dadurch noch besser zur Geltung. Beinahe konnte ich fühlen, wie über die Tinte unter meiner Haut neue Energie durch meine Adern floss.
Vielleicht war das endlich die Gelegenheit, die Worte aufs Papier zu bringen, die meine Zukunft veränderten. Vielleicht war ich jetzt so weit.
Mein Schreibtisch stand neben dem Bett, sodass ich direkt aus den weichen Laken auf den dunkelblauen Samtstuhl kletterte. Ich schob ein paar Bücher zur Seite und sammelte die Dokumente und Zettel auf, die überall auf der Arbeitsfläche verteilt lagen. Wenn in meinen Gedanken Chaos herrschte, brauchte ich Ordnung um mich herum. Das half mir, mich zu fokussieren.
Mit einer schnellen Bewegung klappte ich den Laptop auf und öffnete ein neues Dokument.
Das erste Mal seit den letzten Wochen war mein Kopf nicht wie leer gefegt. Das Treffen mit Heather hatte so viele Gedanken ausgelöst, dass ich das Bedürfnis verspürte, sie loszuwerden.
Endlich.
Trotzdem hielt mich eine unsichtbare Kraft zurück.
Ich hatte schon immer gewusst, dass ich schreiben wollte. Selbst, wenn ich kein Blatt zur Hand hatte, formten sich Worte in meinem Kopf zu fertigen Gedichten. Zu Geschichten und kurzen Texten – ohne dass ich mich groß anstrengte. Manchmal waren die Sätze nur so aus mir herausgeflossen und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie die ganze Zeit in mir hatte halten können.
Doch seit einigen Monaten war alles anders.
Das weiße Blatt verhöhnte mich und der blinkende Text-Cursor auf dem Laptop war mein Feind, genauso wie der Stift in meiner Hand, der die Bewegungen, die ich für selbstverständlich gehalten hatte, nicht ausführte.
Und das Schlimmste war: Ich wusste genau aus welchem Grund. Denn das Gespräch mit Mom und meinem Stiefvater hatte sich mir so ins Gedächtnis gebrannt, dass ich die Szene selbst im Traum immer und immer wieder sah.
»Du braucht einen Plan B«, hatten sie zu mir gesagt. »Wenn du es nächstes Mal nicht schaffst, musst du dir etwas anderes überlegen. Niemand kann nur von Luft und Liebe leben. Vor allem nicht in New York. Wir können das nicht länger unterstützen.«
Dass ich gar nichts anderes machen wollte und das Creative Writing Studium mein Traum war, wollten sie gar nicht erst hören. Sie hatten mir ein Ultimatum gesetzt: Ich musste es zur kommenden Bewerbungsphase ins Programm schaffen, sonst blühte mir ein Wirtschaftsstudium, durch das ich mich am Ende nur quälen würde. Jedoch zahlten meine Eltern einen Großteil der Gebühren, also wollten sie ein Mitspracherecht.
Wenn ich jetzt auf dieses leere Dokument starrte, war es, als bohrten sich Moms dunkelgrüne Augen noch immer in mich. Und die Angst zu versagen, legte sich wie Krallen um meine Gedanken, hinderten die Worte daran, sich zu formen, obwohl ich es so sehr wollte.
Wie paralysiert saß ich vor dem Laptop, bis ich es irgendwann doch wieder aufgab und zurück ins Bett kletterte.
Die Enttäuschung, dass sich trotz des Pegasus nichts geändert hatte, schwappte über mich wie eine Welle. Und einmal mehr fragte ich mich, ob meine Eltern nicht doch recht hatten. Vielleicht fehlte mir das nötige Etwas, um es in eines der begehrten Programme zu schaffen. Vielleicht verschwendete ich meine Zeit und es war ein Zeichen, dass alle Unis mich abgelehnt hatten. Vielleicht war ich einfach nicht gut genug.
Am nächsten Morgen klingelte mich der Wecker wach und es war, als würde ich von den Toten auferstehen. Ich stolperte ins Bad, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und folgte dann dem herben Geruch von frischem Kaffee.
Yuna stand vor unserer weißen Kücheninsel und schob mir eine große Tasse voll dampfend heißer Flüssigkeit entgegen.
»Du siehst echt scheiße aus.« Lächelnd nahm sie einen Schluck von ihrem eigenen Getränk. Das ausgewaschene graue Shirt, das sie trug, reichte ihr bis zu den Knien. Obwohl sie gerade erst aufgestanden war, sah sie phänomenal aus. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem lockeren Dutt gebunden und ihre Nase zierte ein dünnes Brillengestell.
»Dir auch einen schönen guten Morgen«, murrte ich und nahm die Tasse dankend entgegen. Ein Kaffee würde bei meinem Müdigkeitslevel jedoch nicht ausreichen.
»Schlechte Laune?« Yuna hob ihre schwarzen Brauen und musterte mich eindringlich. »Du siehst nicht so aus, als ob heute der erste Tag eines neuen Lebensabschnitts wäre. Ich dachte, du würdest mir ab jetzt den Kaffee machen.« Sie sagte es mit einem Zwinkern, doch ich hörte den Unterton heraus.
Sicherlich war sie es leid, die schlechte Laune zu ertragen, die neuerdings mein ständiger Begleiter war. Yuna wohnte zwar freiwillig hier, weil sie ein zu großes Herz besaß, doch im Grunde wünschte sie sich ihre beste Freundin zurück. Und so gern ich ihr diesen Wunsch erfüllen wollte, der Plan schien fehlgeschlagen.
Meine Schreibblockade hatte sich nicht urplötzlich aufgelöst, nur weil ich nun ein Tattoo hatte. Zu allem Überfluss war das Erste, was ich am Morgen auf meinem Handy gesehen hatte, eine Nachricht von Mom, die wissen wollte, wie es mit den Collegebewerbungen voranging. Etwas, das ich in den vergangenen Wochen gekonnt vor mir her geschoben hatte.
Alles war wie immer. Nichts hatte sich geändert.
Bis auf den Umstand, dass ein Pegasus auf meinem Oberarm prangte.
»Tut mir leid, hab nur schlecht geschlafen. Das ist alles«, sagte ich und band mir die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen.
»Das Tattoo?«, mutmaßte Yuna und schaute zu meinem Oberarm.
»War nicht einfach, eine gute Schlafposition zu finden.« Das war immerhin die halbe Wahrheit. Yuna sollte sich nicht unnötig sorgen.
Meine beste Freundin stellte ihren Kaffee auf die Arbeitsplatte und kam zu mir. Ich hob den Arm, damit sie das Motiv betrachten konnte.
»Ist es über Nacht sogar noch schöner geworden?«, murmelte sie voller Hochachtung. »Diese Perfektion!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich könnte schwören, dass der Pegasus mich direkt ansieht.«
Ich lächelte. »Heathers Ruf ist nicht unbegründet.«
»Ich bin so neidisch! Unglaublich, dass du diese Chance bekommen hast.«
»Und trotzdem hatte ich gehofft, dass ich mich heute irgendwie anders fühle. Freier und vielleicht auch erwachsener.«
Yuna sah mich an und nahm meine Hand. »So etwas passiert nicht von heute auf morgen, Riley. Du brauchst Geduld!«
Ich seufzte. Geduld war das Einzige, was ich nicht hatte.
»Fährst du gleich in die Bibliothek?«, wechselte Yuna das Thema und ging zurück, um sich einen Apfel aufzuschneiden.
Ich nickte und ließ meinen Blick über unsere offene Küche schweifen, die rechts von mir in den Wohnbereich überging. Auf der roten Couch fand ich, wonach ich gesucht hatte. Ich umrundete den Raumteiler, den wir als Bücherregal benutzten, und schnappte mir die schwarze Strickjacke vom Polster.
Auf der Arbeit musste nicht jeder mein neues Tattoo sehen. Das würde nur unnötige Fragen nach sich ziehen, für die ich heute keine Energie hatte.
»Was steht bei dir an?«, fragte ich derweil.
»Ach das Übliche. Eine Vorlesung und zwei Seminare. Am Abend gehe ich mit ein paar Kommilitoninnen was essen. Komm doch mit.«
Ich rang mir ein Lächeln ab. Ihr Angebot war nett gemeint, trotzdem würde ich es nicht ertragen, mir ihre Begeisterung über das Campusleben anzuhören. Selbst Beschwerden über die Fülle an Unterrichtsstoff würden mich nur schmerzhaft an das erinnern, was ich nicht haben konnte.
»Ich sollte mich nach der Arbeit an die Bewerbungen setzen. Mom drängelt schon.« Demonstrativ verdrehte ich die Augen.
»Schreib mir, wenn du es dir anders überlegst.«
»Mach ich.« Ich schnappte mir meinen Rucksack und drückte Yuna ein Küsschen auf die Wange, bevor ich das Haus verließ.
Auf der Lower West Side herrschte geschäftiges Treiben und es fühlte sich gut an, in der anonymen Masse zu verschwinden. Zumindest bis ich wieder aus der Subway auftauchte und die Public Library erreichte.
Von klassischen Bauten in Paris und Rom inspiriert, wirkte das Gebäude zwischen den modernen Wolkenkratzern der Fifth Avenue fast fehl am Platz. Die ersten Besucher schoben sich bereits die breiten Treppen nach oben und passierten die beiden Löwen, bevor sie unter einem der drei großen Torbögen verschwanden.
Ich schloss mich ihnen an und betrat die weitläufige Eingangshalle. Wie jedes Mal verschlug es mir die Sprache. Der weiße Marmor, aus dem die gesamte Astor Hall bestand, versetzte mich in eine andere Zeit, in der ich womöglich als Thronerbin auf dem Weg zu einem pompösen Ball war.
Die Arbeitstage im Hauptgebäude der New York Public Library waren meine liebsten. Ich konnte mich weder an den alten Lesesälen mit den hohen Bücherregalen noch an den von Fresken verzierten Gängen sattsehen. Da spielte es fast keine Rolle, dass ich den Job nur dank meiner Mom erhalten hatte. Etwas, das mir wie ein Stachel im Nacken saß.
Normalerweise wählte die Bibliothek ihre Mitarbeitenden und selbst die Aushilfskräfte mit größter Sorgfalt aus. Ein Studium war Voraussetzung. Doch Mom war mit einer der Abteilungsleiterinnen befreundet, die für mich ein gutes Wort eingelegt hatte. Ein Beweis, dass Beziehungen am Ende mehr Einfluss hatten, als sie sollten. Aber immerhin hatte ich so eine sinnvolle Aufgabe, die mich von meinem Versagen bei den Unibewerbungen ablenkte. Und ich verbrachte die Tage zwischen Büchern. Zumindest fast.
Die meiste Zeit saß ich nicht in den wunderschönen Sälen, sondern in einem fensterlosen Großraumbüro. Trotzdem war ich gern hier.
Die murmelnden Stimmen meiner Teammitglieder, die Anrufe entgegennahmen, Auskünfte über Bücher gaben oder mühselig erklärten, wo sich bestimmte Werke befanden, waren eine angenehme Geräuschkulisse. Und wenig später war ich ein Teil davon, sodass ich die Zeit komplett vergaß.
Ich war gerade dabei, die Post zu sortieren, als mein Kollege Cason zu mir herüberkam. Er hatte längere dunkelblonde Haare, helle Haut und trug einen schwarzen Pullover zu dunkelblauen Jeans. Sein Ausdruck war ernst, fast genervt, was nichts Gutes erahnen ließ. Unwillkürlich versteifte ich mich und hielt in der Bewegung inne.
»Kannst du die hier in die erste Etage bringen? Und von den Anfragen brauche ich jeweils drei Kopien. Am besten innerhalb der nächsten halben Stunde.« Er knallte mir zwei dicke Ordner sowie einen Hefter mit Ausdrucken auf den Tisch.
Ich hob die Brauen und sah zu ihm auf.
Casons Blick huschte durch den Raum, als würde ich gar nicht existieren. Für ihn war ich nur die Aushilfskraft, die von allen Universitäten abgelehnt wurde. Solche Gerüchte verbreiteten sich schnell.
Er dagegen war einer der Elitestudenten. Wenn ich mich richtig erinnerte mit Architektur und Wirtschaft im Hauptfach. Nicht dass er mir das erzählt hätte. Der Flurfunk tat jedoch sein Übriges.
»Ich sehe, was ich machen kann«, sagte ich mit einem Seufzen.
Cason richtete seine Aufmerksamkeit das erste Mal direkt auf mich. »Es ist wichtig.«
»Natürlich ist es das.« Ich verdrehte die Augen und stieß ein Schnauben aus.
Normalerweise gab ich keine Widerworte, weil ich wusste, wo ich in der Rangordnung stand. Doch der Pegasus auf meiner Haut schien etwas in mir auszulösen. Die Wut, die ich sonst immer hinuntergeschluckt hatte, ließ sich heute nicht bändigen.
»Hey, hast du ein Problem?« Cason runzelte die Stirn und stemmte seine Hände in die Hüften.
»Wie kommst du darauf?«
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Du solltest deine Arbeitsmoral überdenken, wenn du auf ein positives Empfehlungsschreiben für deine College-Bewerbung hoffst.«
Ich stieß ein freudloses Lachen aus. »Keine Sorge. Abgesehen von dir hat sich bislang niemand beschwert.«
Eine Weile starrten wir uns an, bis Cason sich abwandte, als hätte es diesen kleinen Schlagabtausch nicht gegeben. »Eine halbe Stunde«, raunte er mir noch zu, bevor er wieder verschwand und ich ihm grimmig hinterherstarrte.
Was für ein Arschloch!
Als meine Schicht vorbei war, setzte ich mich in einen der Lesesäle und zog meinen Laptop aus dem Rucksack.
Die hohen Regale waren bis oben mit Büchern gefüllt und vermittelten mir ein Gefühl von Geborgenheit. Ab und an vernahm ich das Rascheln von Buchseiten, wenn jemand einen der dicken Wälzer umblätterte. Manchmal knackte ein Holztisch oder ein leises Quietschen ertönte, wenn ein Stuhl zurückgeschoben wurde.
All diese Geräusche wurden durch den Hall des Raumes verstärkt. Zwar hatte ich mir einen der kleineren Säle ausgesucht, doch die Decken waren auch hier ausgesprochen hoch.
Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, als ich das Dokument öffnete. Vielleicht hatte ich Glück und die Arbeitsatmosphäre der anderen Besucher färbte auf mich ab.
Eine weiße Seite, der blinkende Text-Cursor und meine Gedanken drehten sich wie ein Karussell. Ich wollte Wörter finden, die gut genug waren, damit ich meinen Traum verwirklichen konnte, doch nichts von dem, was mir in den Sinn kam, wurde meinen hohen Ansprüchen gerecht.
Um Autorin zu werden, brauchte ich das Studium nicht, das wusste ich. Trotzdem musste ich etwas zu Papier bringen, wenn ich mit dem Schreiben eine Zukunft haben wollte.
Wie automatisch wanderte mein Blick zu meinem Oberarm, auf dem ich den Pegasus selbst durch den schwarzen Baumwollstoff spürte. Hitze stieg in mir auf und ich trennte mich von der Jacke.
Vorsichtig fuhr ich mit dem Finger die feinen Linien auf der Folie nach.
Dann stockte ich.
In meinem Kopf tauchte ein Satz auf, der dort zuvor nicht gewesen war. Ein Satz, den ich sofort aufschreiben musste.
Ehe ich mich versah, flogen meine Finger wie von selbst über die Tastatur. Es entstanden immer mehr Sätze und jedes Wort löste das nächste aus. Ich konnte die Tasten kaum schnell genug drücken, um alles aufs digitale Papier zu bringen.
Es war ein Rausch, der mir weder Zeit zum Atmen noch zum Aufschauen ließ. Wie gefangen vergaß ich die Public Library und die Menschen um mich herum, als hinge mein Leben davon ab, die Sätze in den Laptop zu tippen.
Als ich dann doch aufschaute, war ich fast allein im Saal. Nur in der Ecke saß ein Mann, der lieblos durch einen Bildband blätterte. Ich blickte auf die Uhr und bekam einen Schreck. Es waren drei Stunden vergangen, seitdem ich mich gesetzt hatte!
Die Bibliothek würde in wenigen Minuten schließen.
Mein Mund war ausgetrocknet wie nach einer heftigen Einheit im Fitnessstudio und meine Finger schmerzten. Ich knetete die Handgelenke, bevor ich hastig meine Sachen zusammenpackte und den Raum verließ.
Was war das denn gewesen?
Ich hatte fast sechzehn Seiten geschrieben, konnte mich jetzt aber an keines der Worte erinnern. Mein Gehirn war wie leer gefegt.
Kopfschüttelnd vertrieb ich die Gedanken. Sicherlich war das nur die Erschöpfung nach einem langen Tag.
Doch die Stimme in mir, die sagte, dass gerade etwas Seltsames passiert war, ließ sich nicht zur Ruhe bringen.
Ich war wie fremdgesteuert gewesen, als hätte mir jemand die Worte ins Ohr geflüstert und mich gezwungen, sie aufzuschreiben.
Zuhause würde ich lesen, was ich geschrieben hatte. Vielleicht verstand ich dann, was hier los war. Es musste eine logische Erklärung dafür geben.
Die Drehtür des Haupteingangs schickte mich nach draußen in die eisige Kälte. Wind kam auf und wirbelte mir Staub in die Augen.
Ich rannte die Treppen hinunter und wog dabei ab, ob ich die zwei Blocks bis zur Grand Central Station im Trockenen zurücklegen konnte.
Dunkle Wolkenberge türmten sich am Himmel und keine drei Minuten später tropften mir die ersten Regenspritzer ins Gesicht. Mein Optimismus schwand.
Ein erneuter Windstoß zerzauste mir die Haare und ich flüchtete mich unter eines der ›Sidewalk sheds‹ – die Baugerüste, die die Fußwege der Stadt zahlreich säumten.
Dankbar für den Schutz wurde ich langsamer und achtete darauf, genügend Abstand zur Fahrbahn zu halten, auf der sich erste Pfützen bildeten. Das nächste vorbeifahrende Taxi würde mir sonst eine ungewollte Dusche verpassen.
Doch das schützende Gerüst endete zu schnell. Bis zum Subway-Eingang gab es nun keinen Unterschlupf mehr. Auf der anderen Straßenseite war der Weg zwar ebenfalls eingerüstet, doch bei dem Regen blieb ich kaum trocken, würde ich dorthin wechseln.
Auf einmal fegte ein heftiger Windstoß durch die Straße. Der Regen peitsche mir ins Gesicht.
Ein Knacken ertönte, gefolgt von einem Quietschen und nur Sekunden später löste sich auf der anderen Seite eine der Streben des Gerüsts und krachte mit einem ohrenbetäubenden Knall auf die Straße. Mir gefror das Blut in den Adern und instinktiv sprang ich einen Schritt zur Seite.
Das ganze Konstrukt schwankte im Sturm, verlor zunehmend an Stabilität, während ein Mann mit weißem Schirm den Durchgang betrat.
»Achtung!«, schrie ich, doch Regen und Wind verwehten meine Stimme.
Das darf nicht wahr sein.
Ohne darüber nachzudenken, sprintete ich los, war in nur einem Wimpernschlag auf der anderen Straßenseite.
Meine Finger umgriffen den Arm des Mannes und zogen ihn runter vom Fußweg, so weit weg von dem Gebäude wie nur möglich.
Hinter uns ertönte ein markerschütterndes Scheppern und eine Staubwolke hüllte die Straße in einen undurchsichtigen Dunst, nahm mir die Sicht.
Die Metallkonstruktion musste endgültig in sich zusammengebrochen sein.
»Was zur Hölle?«, murmelte der Mann neben mir und blickte mich entsetzt an.
»Ein Danke wäre angebracht«, gab ich keuchend zurück und ließ seinen Arm los, den ich noch immer umklammert hielt. Mein Herz raste und ich realisierte kaum, was eben passiert war.
Erst jetzt betrachtete ich den Mann genauer und erkannte, dass er derjenige war, der mit mir im Lesesaal gesessen hatte. In seinem kurzen schwarzen Haar hatte sich Dreck verfangen.
Der Nebel lichtete sich und ich schielte zu dem Gerüst, das jetzt Fußweg und Straße versperrte. Schaulustige versammelten sich und sahen geschockt zu dem Metallhaufen oder zeigten mit den Fingern auf uns.
»Ich habe gar nicht gesehen, dass jemand hinter mir gelaufen ist«, sagte der Mann skeptisch und musterte mich aufmerksam.
»Ich habe von der anderen Straßenseite gesehen, wie das Gerüst ins Wanken geriet und bin losgelaufen.« Doch schon als ich die Worte aussprach, merkte ich, wie unrealistisch das klang.
Ich hätte es niemals in dieser Zeit auf die andere Seite schaffen können. Der Einsturz des Gerüsts musste sich in Sekunden ereignet haben.
Niemand konnte so schnell rennen. Vor allem nicht ich.
»Das ist unmöglich«, bestätigte der Mann meine Gedanken. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Nasenwurzel.
Im Hintergrund vernahm ich Sirenen. Irgendjemand hatte die Polizei alarmiert.
Immer mehr Menschen fanden sich ein, die Autos auf der Straße waren stehen geblieben, Türen öffneten sich, weitere Personen stiegen aus.
Meine Kehle schnürte sich zu. Der Regen hatte mich komplett durchnässt und Kälte kroch in meinen Knochen empor. Ich machte erst einen, dann zwei Schritte zurück.
»Es tut mir leid, aber ich muss los«, murmelte ich und rannte weg.
Meine Füße trugen mich fast von allein und ich ignorierte das »Hey, wo willst du denn hin?«, das mir der Mann hinterherrief.
Erst drei Blocks später bemerkte ich, dass ich in die falsche Richtung lief und mich immer weiter von der Grand Central Station entfernte.
Doch mein Herz hämmerte in der Brust, während die Bilder des einstürzenden Gerüsts in Endlosschleife vor meinem inneren Auge abliefen.
Wie hatte ich das nur geschafft?
Was geschah bloß mit mir?
Heather Young gibt erstes exklusives Interview
Heather Young ist erst vor wenigen Monaten auf der Bildfläche erschienen, schon gilt sie als die erfolgreichste Tattookünstlerin des 21. Jahrhunderts. Ihre Motive sind filigran und bergen einen Realismus, der selbst die größten Kunstbanausen zum Erbleichen bringt. Sie selbst hält sich aus der Öffentlichkeit zurück, offizielle Termine gibt es nicht. Interviews hat die Künstlerin bisher nicht gegeben, doch NEW YORK Culture DAILY konnte die wohl gefragteste Frau der Stadt für ein Telefoninterview gewinnen.
Heather, was für eine Ehre, dass du dir die Zeit nimmst. Du hältst dich sonst ja eher bedeckt.
HJ: Das ist richtig. Doch mittlerweile habe ich das Gefühl, der Stadt ein paar Antworten schuldig zu sein.
Heißt das, wir werden in Zukunft etwas mehr über dich erfahren?
HJ: Für mich geht es allein um die Kunst, nicht um mich als Person. Und nur, wenn niemand Erwartungen an mich stellt und ich freie Hand habe, kann ich arbeiten.
Die breite Masse wird sich also weiterhin nicht auf den gängigen Wegen um einen Termin bei dir bewerben können?
HJ: Diejenigen, denen es bestimmt ist, ein Tattoo von mir zu erhalten, werden ihren Weg zu mir finden.
Ist da also so etwas wie Schicksal im Spiel?
HJ: Ich meine, es gibt immer Mittel und Wege.
Erinnerst du dich noch, welches das erste Motiv war, das du jemals gestochen hast?
HJ: Ganz klassisch: eine Lotusblüte. Sie steht unter anderem für Widerstandskraft. Lotusblumen wachsen im Sumpf und kämpfen sich trotzdem zum Licht. Diese Bedeutung hat mich schon immer fasziniert.
Gehen wir doch noch einen Schritt zurück: Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass du Tätowiererin geworden bist?
HJ: Ich wuchs in den Straßen New Yorks auf. Als Teenager waren Graffiti meine große Leidenschaft und ich bin deswegen nicht nur einmal in Schwierigkeiten geraten. Bis ich jemanden traf, der mir zeigte, dass ich meine Kunst auch anders ausdrücken kann. Er brachte mir das Tätowieren bei und so führte eins zum anderen.
Das Besondere an deiner Arbeit ist, dass du die Motive für deine Kundinnen und Kunden selbst aussuchst. Etwas, das dich grundlegend von anderen Artists in der Szene unterscheidet. Was hat es damit auf sich?
HJ: Die Menschen kommen zu mir, weil sie etwas Bestimmtes wollen. Oft wissen sie selbst nicht genau, was das ist. Doch meine Tattoonadel und ich machen diese verborgenen Wünsche sichtbar. Kunst stellt diese besondere Verbindung her.
Vielen Dank, Heather, für deine Zeit.
Keine Ahnung, wie ich es nach Hause geschafft hatte, denn als Yuna mich in die Arme schloss, war ich ein nervliches Wrack. Ich murmelte zusammenhanglose Sätze, die meine beste Freundin dazu veranlassten, mich zunächst aus den nassen Klamotten zu schälen und mich dann mit einer Wärmflasche und einer Tasse heißen Kakao auf die Couch zu verfrachten.
»Warum bist du überhaupt schon zuhause?«, fragte ich irgendwann, um ihrem besorgten Blick zu entgehen.
Sie unterdrückte ein Gähnen und ließ sich neben mich fallen. »Die Stimmung war im Keller, als der Professor die Themen für die Zwischenprüfungen angekündigt hat. Sieht so aus, als würde ich die nächsten Tage entweder im Labor oder in der Bibliothek verbringen.« Auf ihren Lippen zeichnete sich ein kleines Lächeln ab, was mir wiederum ein Glucksen entlockte. Niemand außer Yuna konnte sich über solch eine Nachricht freuen. »Willst du mir erzählen, was passiert ist?«, sagte sie dann und blockte damit meinen Versuch, das Thema zu wechseln, ab.
Mit schnellen Worten, bei denen ich mich nicht nur einmal verhaspelte, fasste ich zusammen, was ich erlebt hatte. Dass ich zuerst eine krasse Erleuchtung hatte und in einen regelrechten Schreibrausch verfallen war, an den ich so gut wie keine Erinnerung mehr hatte. Und dann durch übermenschliche Schnelligkeit einen Typ davor bewahrt hatte, von einem Baugerüst zerquetscht zu werden.
Laut ausgesprochen klang die Geschichte noch abstruser und ich rechnete fast damit, dass Yuna mich für verrückt erklärte und mich nun noch stärker im Blick behalten wollte.
Für ein paar Minuten breitete sich Stille im Raum aus, in der Yuna vor sich hin starrte.
Ich nahm einen Schluck Kakao. Die Flüssigkeit rann mir warm die Kehle hinunter, belebte meine Sinne. Nichts ging über die Macht von Schokolade und Zucker. Selbst jetzt.
»Kann ich lesen, was du in der Bibliothek geschrieben hast?«, fragte Yuna schließlich.
Obwohl ich meine unbearbeiteten Entwürfe sonst niemandem zeigte, nickte ich. Normalerweise schämte ich mich für das Chaos meiner Sätze und die unausgereiften Gedankengänge. Aber da ich mich nicht an den Text erinnern konnte, gab es nichts, was ich zu befürchten hatte.
Obwohl: Vielleicht war es doch keine gute Idee, Yuna das Dokument zu geben, ohne vorher selbst einen Blick darauf geworfen zu haben. Wer wusste schon, was für dunkle Geheimnisse ich zu Papier gebracht hatte.
Den Rucksack hatte ich zuvor achtlos im Flur abgestellt. Jetzt schnappte ich mir den Laptop daraus und öffnete ihn, sodass nur ich den Bildschirm sehen konnte.
Es war seltsam: Die ersten Sätze waren mir völlig fremd, doch sie erzeugten ein kribbeliges Gefühl in meinem Bauch. Die Worte wurden zu Bildern in meinem Kopf, die so detailreich waren, dass mir ganz schwindelig wurde.
»Zeig schon her!« Yuna rutschte neben mir auf und ab.
»Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, das geschrieben zu haben«, gab ich zu. »Aber die Geschichte ist gut. Richtig gut sogar. Mit dem Text in der Bewerbungsmappe könnte ich an der Uni angenommen werden.« Hoffnung durchströmte mich und verdrängte die Besorgnis über das, was passiert war.
Yunas Keuchen holte mich zurück in die Realität. »Schau dir das mal an.« Sie deutete auf eine Zeile in der Mitte der ersten Seite.
»Der Pegasus erhob seine Schwingen und mit ihm verlor die Schwerkraft dieser Welt ihre Bedeutung.« Schon beim Vorlesen runzelte ich die Stirn.
Die Kurzgeschichte handelte von Mythologie, einer Metapher für Veränderungen. Es war nicht überraschend, dass ich unbewusst über den Pegasus auf meinem Arm geschrieben hatte. Immerhin hatten sich meine Gedanken in den letzten Stunden um kaum etwas anderes gedreht.
»Das kann kein Zufall sein«, meinte Yuna und zog den Laptop zu sich rüber. »Welche Bedeutung hat der Pegasus noch mal?«
Ich seufzte. Das war die Frage, die ich mir selbst seit gestern stellte. Warum hatte Heather sich für dieses Motiv entschieden?
»Bisher bin ich noch nicht dazu gekommen, genauer zu recherchieren. Ich schätze mal, ein Pegasus steht fürs Fliegen? Oder dafür, etwas Besonderes zu sein?«
Yuna verdrehte die Augen. »Ein Pegasus ist kein Einhorn.«
»Aber die Ähnlichkeit kannst du nicht abstreiten.« Ich beugte mich etwas weiter zu ihr, damit ich sah, was sie auf dem Laptop eingab. Bis sie einen spitzen Schrei ausstieß.
»Was ist?«, rief ich alarmiert und schnappte mir den Computer, während meine Freundin begann, auf und ab zu laufen.
»Das macht alles total Sinn«, murmelte sie.
Auf dem Bildschirm flimmerte eine altmodische Seite über Mythologie. In der oberen Ecke prangte das Bild eines Schimmels mit strahlend weißen Flügeln, der meinem Tattoo nicht unähnlich sah.
»Pegasus ist das Kind von Poseidon, dem Meeresgott, und der Gorgone Medusa«, las ich vor. »Pegasus brachte Zeus Blitz und Donner und kehrte später zum Berg Olymp zurück. Der Sage nach ließ sein Hufschlag zwei Brunnen entstehen – einer davon auf dem Gebirge Helikon. Aus der Quelle trinken angeblich Dichter.«
Ich stutzte. Pegasus und Dichtkunst?
Davon hatte ich bisher nichts gewusst. Vielleicht war Heathers Motivwahl doch nicht so weit hergeholt gewesen.
»Sie tranken aus der Quelle, weil sie dadurch besser Schreiben konnten. Ein Pegasus gilt als Dichtross und verspricht Weisheit.« Yuna fixierte mich mit ihrem Blick und hob die Augenbrauen.
»Das ist nur eine Legende«, wandte ich ein.
»Riley, der Pegasus, dein Schreibrausch, der Text, an den du dich nicht erinnern kannst. Das alles passt zusammen!«
Ich schluckte und blickte auf meinen Arm. Das Tattoo wurde von der Jacke bedeckt, doch ich spürte die feinen Linien aus Tinte förmlich auf der Haut. Der Pegasus war da und offenbar hatte er einen seltsamen Einfluss auf mich.
»Das kann nicht sein«, murmelte ich und wischte mir über die Stirn. »Und was ist mit dem Baugerüst?« Ich musste realistisch bleiben und durfte mich nicht in die Sache hineinsteigern. Denn wenn das stimmte, hätte etwas anderes die Kontrolle über mich übernommen.
Allein der Gedanke daran verursachte erneut ein Schwindelgefühl.
Yuna setzte sich wieder zu mir und nahm den Laptop. »Hier!« Sie deutete auf einen Textabschnitt weiter unten. »Die Markenzeichen eines Pegasus sind weißes Fell, Flügel, Schnelligkeit und Unzähmbarkeit. Etwas, das ihn zu einem der bedeutendsten und auch beliebtesten Wesen der Mythologie macht.«
»Das heißt, dass ich die Kräfte eines Pegasus habe? Das ist doch verrückt! Fehlt nur noch, dass ich mich verwandle.«
»Aber immerhin hast du einem Menschen das Leben gerettet.«
Ich seufzte. »Trotzdem. Das kann alles nicht sein.«
Yuna klappte den Laptop zu und nahm meine Hände in ihre. »Was weißt du noch mal über Heather und ihre Tattoos?«
Obwohl sie die Antwort kannte, tat ich ihr den Gefallen und fasste das, was wir über die Tätowiererin gehört hatten, zusammen. »Alle feiern ihre Motive, weil sie auf den Betrachter eine besondere Wirkung haben. Sie sehen aus wie echt.«
Yuna nickte eifrig. »Doch nur Wenige haben überhaupt ein Tattoo von Heather gesehen. Jede Person dichtet etwas hinzu oder verändert den Sinn. Das ist wie bei Gerüchten.«
»Und so wird von besonderer Wirkung gesprochen, während ursprünglich besondere Fähigkeiten gemeint sind?« Ich schüttelte den Kopf. »Dann müsste man doch schon mal etwas über Superhelden in New York oder woanders auf der Welt gehört haben.«
Meine beste Freundin zuckte mit den Schultern. »Dafür könnte es jede Menge Erklärungen geben.«
»Und eine davon ist unwahrscheinlicher als die andere.« Ich rieb die Hände aneinander, um das restliche bisschen Kälte zu verbannen.
Je länger ich hier saß und über die ganze Sache nachdachte, desto missmutiger wurde ich. Es konnte doch nicht sein, dass ein Tattoo dafür verantwortlich war, dass übernatürliche Dinge passierten. Dass ich mich veränderte zu einem … Ja, zu was? Zu einem Pegasus? Zu einer Superheldin?
Für einen Traum fühlte sich das Ganze leider viel zu real an. Aufwachen war damit ausgeschlossen.
»Es gibt nur eine Person, die dir Antworten liefern kann«, sagte Yuna und riss mich wieder aus meinen Gedanken.
»Heather«, flüsterte ich und sprang auf, um mein Handy aus dem Rucksack zu holen.
Der Kontakt mit ihr war ausschließlich über Mail gelaufen, nachdem ich die Adresse von einem Barkeeper in Brooklyn zugesteckt bekommen hatte, dem ich eines Nachts mein Leid geklagt hatte. Ich hatte es zunächst für einen Scherz gehalten und nicht damit gerechnet, dass meine halb ironisch, halb verzweifelte E-Mail jemals beantwortet, geschweige denn mir einen Termin verschaffen würde.
»Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, warum sie gerade mich ausgewählt hat«, murmelte ich und rief unseren Mail-Verlauf auf.
Bisher hatte mich das nicht gekümmert, doch jetzt kam ich nicht umhin, jedes kleine Detail erneut anzufassen, nach Fehlern und Ungereimtheiten zu suchen. Vielleicht konnte ich so einen Hinweis finden, was mit mir passierte.