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Eines Frühlingsmorgens schlägt Bettina Melker ihren beiden Geschwistern einen Überraschungsbesuch bei ihrem verwitweten Vater vor. Er wird 77, im Oktober, am Nationalfeiertag. In den Monaten bis zu dem Fest verdichten sich die Spannungen im Leben der alternden Kinder – als ob sie Rechenschaft ablegen müssten vor einem beobachtenden Auge. Doch schließlich reisen sie mit ihren Partnern oder dem Hund – und mit einigen Selbstzweifeln – ins beschauliche Westfalen. Was hält Familien zusammen? Woran bemisst sich ein gelungenes Leben? Mit viel Sinn für Komik und einer eigenwillig schönen Sprache erzählt Elke Schmitter in ihrem neuen Roman von einem Familientreffen auf schwankendem Grund.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Elke Schmitter
INNERES WETTER
Roman
C.H.Beck
Eines Frühlingsmorgens schickt Bettina Melker an Bruder und Schwester eine Mail: Sollten sich nicht alle drei zum Geburtstag ihres Vaters bei ihm einfinden? Eine Überraschungsparty im Oktober? Und ob sich der Vater, der ein ruhiges Witwerdasein in Westfalen führt, wohl darüber freuen wird?
In den Monaten bis zum Fest verdichten sich die Spannungen im Leben von Bettina, Sebastian und Huberta unerwartet – als ob sie, nun selbst in der Lebensmitte, Rechenschaft ablegen müssten vor einem beobachtenden Auge. Was macht eine gute Ehe aus? Was hält Familien zusammen, was nagt an ihren Fundamenten? Woran bemisst sich ein gelungenes Leben? Und so reisen diese alternden Kinder schließlich aus allen Himmelsrichtungen an, mit ihren Partnern oder dem Hund, mit ihren Verletzungen, Vorwürfen und Geheimnissen, und niemand weiß, was geschehen wird. Mit viel Sinn für Komik und einer eigenwillig schönen Sprache dringt Elke Schmitter in tiefe seelische Regionen vor und erzählt von einem Familientreffen auf schwankendem Grund.
Elke Schmitter studierte Philosophie in München, seit 2001 ist sie Mitglied der Kulturredaktion des «Spiegel». Ihr Debütroman «Frau Sartoris» (2000) wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Außerdem veröffentlichte sie die Romane «Leichte Verfehlungen» (2002) und «Veras Tochter» (2006), Gedichte, Essays und das Kinderbuch «Ich, Kasimir – an Bord des Piratenschiffs» (2015).
INNERES WETTER
EIN TAG IM FRÜHLING
ZWEI TAGE IM SOMMER
DREI TAGE IM HERBST
Theure Freundin geliebte, von mir einzig gekannte Pauline! diese Zeilen sollen Ihnen blos sagen daß solche wie wir beide Edelsteine der Natur sind und nicht ändern. daß meine Sehnsucht nach Ihnen die alte ist; und mit mir nur neue Gestalten annimmt. daß Frühling ist, und sie auf’s höchste gesteigert ist. daß ich im scharlottenburgergarten wo ich und ein Freund ganz allein – beynah kein Gärtner – am Rand spatziren gehen und ich laut Ihren nahmen rufe. daß ich dort von unserer Vergangenheit erzehle: und so die Gegenwart betrüge, und daß ich doch noch zu Ihnen nach Paris komme, oder sie nach Südddeutschland kommen laße, ehr wir an Krüken gehen! Haben sie den Freund noch um sich, der weinte aus Liebe? Ist der Todt nicht genug? Soll man noch alt werden? Aber nichts wiegt das Wunder des Lebens auf. Und so mit sage ich Ihnen mit den beßten Umarmungen adieu! Goldtaube! Ich habe alle deine Briefe. Aber ich war so erdrükt und erstokt daß, ich’s Schreiben für nichts hielt für unmöglich. Nun aber ist ein Frühling: und er löst mir das Herz und dies grüßt Sie. Schreiben Sie mir. Varnh: grüßt sehr.
Rahel Levin Varnhagen aus Berlin an Pauline Wiesel; Frühjahr 1821
Rahel Levin Varnhagen: Briefwechsel mit Pauline Wiesel. Herausgegeben von Barbara Hahn unter Mitarbeit von Birgit Bosold; C.H.Beck; 1997
Wir sitzen alle in Platons Höhle, und diese Höhle ist unser Schädel.
Stephen LaBerge Lucidity Institute; Tucson, Arizona
Das Rätsel unseres Bewusstseins; Arte-Doku; Cécile Denjean; 2015
Bettina Melker 17. 4. 2014, 06:47
An: [email protected]; [email protected] cc: [email protected]
Betreff: der Oktober, der wird
Liebe Zwei, liebe Mora, dieses Läuten kommt früh, aber ich wollte doch schon vorsichtig die Geburtstagsglocke Vater betätigen, weil ich annehme, dass auch Ihr (wie ich + family) nicht unbedingt zu Weihnachten auf Zug oder Autobahn wild seid, es mir aber doch scheint, ein gemeinsamer Besuch wäre angebracht zum 77. – oder eben christmas, jedenfalls noch in diesem Jahr. Überraschungsvisite wäre denkbar, sein Geb. fällt auf einen Samstag; wenn er nichts Besonderes plant (kann man ja telefonisch in Erfahrung bringen), könnten wir Freitag anreisen und mit ihm reinfeiern. Und da in ganz Deutschland gefestet wird, sind die Autobahnen nicht so voll, und wir hätten alle den Sonntag wieder zu Hause. Für Johannes u Sophie kann ich noch nicht sprechen, aber ich denke, die Kerntruppe Geschwister sollte sein, alles andere fakultativ nach Lust & Zeit; was meint Ihr? –- Hier ist alles in Ordnung, viel zu tun, der übliche Kram und noch ein bißchen mehr (neue Nachbarschaftswebsite, endlos viele Details, die mich langweilen und: überfordern; das geht gut zusammen, man weiß nur nicht, was Henne, was Ei); ich hoffe, bei Euch auch – hat Adriana schon ihre große Reise geplant? Sophie ist intensiv mit ihren kids beschäftigt, die Mohameds von Spandau sind natürlich interessanter als bürgerliche Eltern;–) Herzlichst, Bettina
Drei weiße, langgezogene Streifen durchziehen den frisch gewaschenen, blauen Himmel, als Sebastian Kupfer, die schwarze Ledertasche unter dem Arm, am Gleis Richtung München steht. Heute Abend wird er den Rasen nicht sprengen müssen, gestern hat es ausgiebig geregnet; so stark, dass man es durch das Küchenfenster hörte, durch das Klappern und die Gespräche am Tisch, und noch einmal, als er im Bett die letzten Akten durchsah. Die Luft ist kühl. Aber das Wollfutter seines Mantels wurde schon im Keller verstaut, Frau Elsner hat mit seiner Frau die Garderobe für Frühjahr und Sommer sortiert; dabei war auch die blaue Badehose wieder aufgetaucht, die noch immer gemischte Gefühle in ihm auslöst. All die Bahnen sind darin verwahrt, die er im Müller’schen Volksbad gezogen hat, möglichst am Beckenrand, um an einer Seite Ruhe zu haben. Der wattierte und zugleich verstärkte Klang der Stimmen, der ihn im Hintergrund begleitete, der wechselnde Chlorgeruch – alle zwei Wochen besonders stark, dann abklingend Tag um Tag –, das leuchtende Türkis der Kachelung, das weiche, durchsichtige Wasser. Mäandernde Gedankenreste, die irgendwann von einem festen, beunruhigenden Vlies zu einem lockeren Gewebe wurden, die Bewegungen seines Körpers, sein Prusten und Schnaufen, das Glickern des Wassers, das Mitzählen der Bahnen und die erwärmte Luft mit ihrem diffusen Strom von menschlichen Geräuschen – all dies hatte ihn trudeln lassen in einen Zustand von aufgelöster Zufriedenheit. Sein Leib, jetzt gerade verwahrt in einem möwengrauen Anzug aus leichtem, aber knitterfestem Stoff, erinnerte sich an die zahllosen Nachmittage im Freibad, an das Schreien und Jauchzen in sicherer Entfernung, an die braun-gelb karierte Decke im Gras, auf der er ganze Science-Fiction-Kosmen durchwandert hatte; anfangs vollkommen hingegeben, später untergründig gelangweilt von der Vorhersehbarkeit der Konflikte, von der ärmlichen Sprache, von der Durchschaubarkeit der Figuren, die sich, bis auf charakterstarke Ausreißer, in gut und böse einteilen ließen wie die Heiligen und die Sünder in der Bibelschule von Pater Immanuel.
Er mustert die Handvoll Menschen, die mit ihm auf dem Bahnsteig stehen, und wünscht sich diese Sicherheit zurück oder eine Art von Menschenkenntnis, die nicht nur aus flüchtigen Vorurteilen besteht. Oder wenigstens das leidenschaftliche Interesse, mit dem er die Menschen um sich herum betrachtet hat, weil er etwas von ihnen wollte, weil er von einem Begehren nach Bewunderung, nach Liebe oder nur Wahrnehmung getrieben war; eine Leidenschaft, die ihm abhandengekommen ist.
Die Türen öffnen sich mit einem pneumatischen Seufzer, und er findet eine Bank am Fenster, wo er sich anlehnen und hinter der Zeitung verschwinden kann, während an jeder weiteren Station Pendler wie er dasselbe versuchen: die Fahrt zu ignorieren; so zu tun, als wären sie ungestört.
Doch sie hatten getaugt, die bunten Bücher. Um sich dahinter zu verstecken, um die Zerrissenheit zu kaschieren, die ihn quälte – zu jung, um den Freundinnen seiner Schwestern mehr zu sein als eine selbstverständliche Begleitung. Stark genug, um ihnen die unförmigen Taschen mit den nassen Bikinis, den feuchten Badetüchern und den leeren Thermosflaschen zu ihren Fahrrädern zu tragen; zuverlässig genug, um auf ihre bestickten, kleinen Portemonnaies und ihre neuen Tischtennisschläger aufzupassen; gut genug, um mit ihnen ein Match zu spielen, damit sie die langen Haare fliegen lassen konnten, bis irgendein Kai oder Achim oder die schönen Zwillinge aus der 11b ihn überflüssig machten. Und alt genug, um zu spüren, dass seine Zeit noch nicht gekommen war, dass sie vielleicht nie kommen würde. Er war mollig und ungelenk, sein Haar spielte ins Rötliche, er interessierte sich nicht für Fußball, und es war lange her, dass man ihn «süß» genannt hatte.
All das hatte ihn dahin geschoben, in die feuchte Wärme der Halle im heitersten Jugendstil. Er musste etwas für seinen Körper tun – aus Vernunft, auf Anraten von Fassbaur, der vor Rückenbeschwerden warnte («du sitzt den ganzen Tag, Sebastian, und einmal Rasenmähen pro Woche ist wirklich nicht genug –»), und auf die Seitenblicke Moras hin, wenn er morgens das Schlafanzugoberteil über den Kopf streifte und seinen erschlaffenden Bauch spürte wie etwas, das nicht zu ihm gehörte. Damals, in seinen letzten zwei Jahren vor dem Abitur, war er frühmorgens zum Schwimmen gefahren, hatte die Wohnung vor allen anderen verlassen und war so dem Familienfrühstück entgangen, das ihn sonst in seiner Mischung aus gereizter Hektik und Unausgeschlafenheit überfordert in den Tag schickte. Stattdessen hatte er sich in klösterlicher Ruhe, in einem Haus voller Schlafender, zwei belegte Brote gemacht, sie akkurat in seine Frühstücksbox aufeinandergelegt und war durch die stille Vorortsiedlung geradelt, allein mit sich und, wie er im Rückblick feststellte, in köstlicher, vitaler Selbstzufriedenheit.
All dies schwang mit, wenn im letzten Sommer der Wecker um fünf Uhr fünfzehn brummte und Mora sich auf die andere Seite drehte, wenn er in der Küche einen Espresso trank und ein Müsli aus einer weißen Porzellanschale verzehrte. Und wenn er in der Kabine stand, das Gemisch aus Plastik, Putzmitteln und Chlor atmete, sein Oberhemd über dem Bügel ordnete und auf nackten Füßen in seiner blauen Badehose zum Spind am Ende des Ganges tappte, wenn er sich das Plastikbändchen um das Handgelenk fummelte und schließlich am langen Beckenrand, da, wo es am tiefsten war, seinen Körper in die Schwerelosigkeit sinken ließ.
Erst nach Wochen wurde er gewahr, dass an diesem Ort nicht nur Gewohnheitstiere wie er genügsam ihrer Verpflichtung oder ihrem Vergnügen nachkamen, hin und wieder mit einem höflichen Nicken des Wiedererkennens, aber für sich und ohne Erlebnisbedarf – sondern dass auch hier etwas geschah. Am Rand des großen Beckens, auf der anderen Seite, lief sommers ein dicht tätowierter junger Mann auf und ab und machte hin und wieder akzentuierte Bewegungen; im Herbst wurde er von einer Frau abgelöst, deren Gewandtheit, kraftvoll und von federnder Eleganz, die Aufmerksamkeit auf sich zog. Schwimmunterricht.
Er hatte sich beim Lernen immer wohlgefühlt, möglicherweise im Ausgleich für die widersprüchlichen, unvorhersehbaren Anforderungen, die seine Mutter an ihn stellte. Eine Rechenaufgabe meistern, einen Einkauf im Eckladen erledigen, den Müll hinausbringen, das war die Hilfsschule seiner Liebe zu ihr. Dann kam, auf der zweiten Stufe, die systematische Entwicklung dessen, was sie seine Begabungen nannte: das schwarze Piano mit den schweren Verzierungen, der Tennisschläger mit dem noblen, hölzernen Schaft, die Barockflöte und die Esperantobücher gehören zu diesem Inventar der weitgespannten Hoffnungen; all diese Dinge, die, bis auf das Piano, im Keller in diversen Kisten ihrer (seiner) Erlösung harren, so wie der türkisfarbene Skianzug, der die verfehlten Ambitionen der späten Achtzigerjahre in seinen drastischen Streifen birgt. Immerhin, er könnte in Esperanto noch heute ein Alltagsgespräch bestreiten, nur gibt es vermutlich niemanden mehr außer ihm in Europa, der mit Kiel vi fartas? eine Unterhaltung begönne. Das Lernen selbst, die vorhersehbare, portionierte Aufnahme von Informationen zum Zweck ihrer Abrufbarkeit, erschöpfte sich aber niemals in seinem Reiz; noch immer erklimmt er jeden Hügel mit jener hoffnungsvollen Strebsamkeit, die damals die kleine Rettung war aus unerfüllbaren Erwartungen; nie genau formuliert, aber stets gegenwärtig, ein Hintergrundzittern der Atmosphäre.
Er dachte, dass sein Bruststil verbesserungswürdig war; er hielt den Kopf steif und das Kinn halb über dem Wasserspiegel, wie die alten Frauen mit ihren geblümten Badekappen, die ihm würdig und walrossartig entgegenkamen. Und wie damals hatte er das Gefühl, dass seine Beine eher hilflos als mit rhythmischer Bestimmtheit die Vorwärtsbewegung der Arme stützten. Nach einer halben Stunde war er an den falschen Stellen erschöpft: im Schultergürtel, der nach Entspannung verlangte, im Becken, das sich eher steif als locker anfühlte.
An einem Dienstagmorgen ging er zu der verglasten Kabine, in der eine massige Frau im weißen Kittel eine Liste mit Bleistifthäkchen versah, und fragte, ob man hier Schwimmunterricht vermittelte. Er bekam einen Zettel mit einer Telefonnummer und einem Namen, den er nicht ganz entziffern konnte; jedenfalls hieß sie Lena, und irgendwas Polnisches kam hinterher.
Es war einfach, eine Verabredung zu treffen; er war immer ein Frühaufsteher gewesen, und niemanden außer ihn interessierte die Stunde um sechs Uhr dreißig. Lena studierte Sport und Geschichte auf Lehramt, sie war methodisch und von fröhlicher Unerbittlichkeit; er konnte sich gut vorstellen, wie sie in wenigen Jahren eine Horde Halbwüchsiger bis zur Erschöpfung domptieren würde – was vermutlich ein größerer Dienst an der Gemeinschaft war, als die meisten Pädagogen im Rahmen ihrer Anstellung zuwege brachten. Ihre private Uniform aus einem Trainingsanzug in Blau, dunkelgrauer Schirmkappe und klobigen weißen Sportschuhen machte aus ihr eine neutrale Erscheinung; nur der wippende, blonde Schweif erinnerte daran, dass es auch eine zivile Lena gab, die nachts vielleicht in jenen kleinen Bars in Schwabing und Haidhausen abhing, die er vor zwanzig Jahren frequentiert hatte – falls es die überhaupt noch gab. Ihre Stimme hatte einen metallischen Klang und ihre Aussprache eine Härte, die es leicht machte, sie zu verstehen, wenn sie ihm vom Beckenrand aus ihre Korrekturen zurief; immer nur einmal, als wollte sie jetzt schon ihre Autorität perfektionieren. Auch lobte sie ihn nie, was er als angenehm empfand: Ihr Vertrag war einer unter Erwachsenen, um ein sachliches Ziel zu erreichen. An einem besonders warmen Herbstmorgen erkannte er sie, als er das Bad verließ, einzig an ihrem federnden Schritt: Sie ging etwa fünfzig Meter vor ihm, eine überraschend grazile Gestalt in einem geblümten Rock, das ausgebreitete Haar wie ein Fächer über der roten Jacke leuchtend, eine Aktentasche unter dem linken Arm, so wie er.
So hätte es weitergehen können, bis er auch das Rückenschwimmen beherrschte.
Doch eines Abends im Dezember hockte sie allein an der Bar des Italieners, in dem seine Abteilung die Weihnachtsfeier absolvierte. Noch vor halb zehn löste sich die Tafel auf, weil sie direkt vom Büro hierhergezogen waren; beim Hinausgehen sah er sie vor einem Campari sitzen. Sie nahm ihre kleine Tasche vom Hocker neben sich und legte sie auf den Tresen; ein weiches Etui mit einer applizierten Blume aus Filz, das ihn an die Hippiephase seiner Schwestern erinnerte. «Ist das schon retro oder immer noch modern?», fragte er, während er sich auf den Hocker neben ihr schob, weil ihm alles andere grob unhöflich erschienen wäre. «Haben Sie Kinder, oder sind Sie im Modebusiness?», fragte sie zurück.
Erst da fiel ihm auf, dass sie nichts von ihm wusste; sie hatte ihr Studium bei ihrem ersten Zusammentreffen erwähnt, weil es ihre Qualifikation bewies, während es für seinen Schülerstatus ganz unerheblich war, dass er als Jurist in gehobener Laufbahn Verwaltungsprozesse betreute. «Interessiert Sie das wirklich, oder ist das eine Retourkutsche, weil ich nicht gesagt habe, dass ich Sie bezaubernd finde?» Das konnte man so oder so verstehen; es war ihm herausgerutscht. «Trinken Sie einen Campari, oder nehmen wir einen Caffè?» Zu dieser Frage gab er dem jungen Mann Bescheid, der hinter der Theke Gläser nachfüllte und die Espressomaschine zischen ließ. Zwischen ihnen gab es keine Antworten an diesem Abend; sie schoben nur Fragen hin und her, eine Art Schiffeversenken, bei dem ein Treffer sich lesen ließ aus den Bewegungen der Körper, den Pausen und, hin und wieder, den Blicken. Der ungewohnte Alkohol, der Zufall der Begegnung, die dunkle Nische am Rande des freundlich lärmenden Betriebs riefen ein zweites Ich in ihm auf, das nach Verzauberung verlangte und dem ein Schwebezustand nicht als ein Durchgangsstadium der Existenz erschien, sondern als ihre höchste Präsenz. Im Kern der physischen Realität, so hatte er unlängst verstanden, herrschte die Unbestimmtheit, jedenfalls nichts Materielles mehr; wir bestehen nicht aus Teilchen, sondern aus Verhältnissen, aus Spannungszuständen, die unentwegt in Bewegung sind.
Als er das Interview mit dem Quantenforscher las, wahrscheinlich im «Spiegel» oder in der «Zeit», die zu Hause in Vaterstetten gewöhnlich halb zerlesen auf dem Couchtisch lagen, war ihm das widersinnig erschienen, doch es handelte sich wohl nicht um die Spinnerei eines Einzelnen, sondern den Stand der Forschung. In diesen Stunden im Dezember schien die Erkenntnis atmosphärische Gestalt anzunehmen, mit einer Ladung von Energie, die Raum und Zeit, die Anwesenheit fremder Menschen und ihre Geräusche und Gerüche zu einer einzigen Dimension verschmolz, ohne Wünsche außer dem einen, dass diese ungeheure Gegenwärtigkeit ihm bleiben sollte. Er spürte sein Gesicht und seine Füße auf dem Barhocker, seine langen Gliedmaßen und seinen Puls, sogar seine Augenbrauen und Ohren, und er fühlte, irgendwann, seine Hände in den ihren, auf ihren Knien, wie warme, zufriedene Tiere, die sich aneinanderlegen zum Schlaf und die man nicht auseinanderreißen durfte, weil sonst die Welt einen Riss bekam.
Er hatte nie begriffen, was flirten heißt. Was er im Fernsehen sah, erschien ihm läppisch, was er im Kino sah, zu roh, und was er um sich herum beobachtete, auf dem Schulhof und in der Uni, auf Feten und manchmal in Diskotheken, ging über seinen Verstand: Wie fiel diese Entscheidung, einen fremden Menschen an sich heranzulassen, seine Berührung zu suchen, einen Auslieferungsantrag zu stellen? Wie kamen diese Blickwechsel zustande, in deren Sekunden ganze Verhandlungen geführt wurden, von stummer, beredter Kraft, mit einem Ergebnis, das zwei Leben tumultieren konnte?
Du bist ja ein Romantiker, Sebastian!, hatte sein Kommilitone Marco mit sarkastischem Lächeln festgestellt, im Biergarten, wo sie nach einem Prüfungstag die Spannung abtranken, unter den gütigen Kastanien mit ihrem spielenden, späten Licht, und er ihm seine Ratlosigkeit offenbarte. Aber so läuft das nicht. Du checkst aus, was geht, und vielleicht wird was draus, und wenn nicht, dann hatten beide ihren Spaß, wo ist das Problem? Während sie sprachen, fuhr er sich wiederholt durch den in die Stirn fallenden, schwarzen Schopf, und die dralle Kellnerin mit den leuchtenden Oberarmen kam öfter an ihren Tisch, als nötig gewesen wäre. «Wie geht’s euch, Jungs, alles klar bei euch?»
Und später warteten sie auf diese Stefanie, während deren Kollegen die letzten Gläser einsammelten, die Aschenbecher in die scheppernden Blecheimer entleerten und leger über die Holztische wischten, während die Glut in den Steckerlfisch- und Fleischgrillen zischend gelöscht wurde und qualmend niederging, und noch, als aus der Kette mit bunten Glühbirnen, die der Szenerie einen Touch von Kindergeburtstag und Kirmes verliehen hatte, ein melancholisch durchhängendes, kahles Gewinde geworden war. Ein Renoir hatte sich binnen einer halben Stunde in einen de Chirico verwandelt. Und eine Stefanie in einem weit ausgeschnittenen T-Shirt und Jeans stand plötzlich vor ihnen, «das Dirndl gehört mir nicht, was glaubt denn ihr?», und sie zogen in eine Bar am Isartor, wo die Discokugel aus dem Platz vor dem Tresen eine kleine Tanzfläche machte und alles engen Kontakt erzwang: die laute Musik, das unruhige Halbdunkel, die mühsamen Wege zum Ausschank; ein Gitterwerk aus bedrohlichen Stimulierungen für Schüchterne wie ihn und eine selbstverständliche Umgebung für Marco und Stefanie, die schon eng miteinander tanzten, als er mit zwei Flaschen Bier und einer Weißweinschorle zurückkam; entmutigt von der Gleichgültigkeit, mit der die blonde Kellnerin sein großzügiges Trinkgeld eingestrichen hatte, und gestresst von der Angst, die eiskalte Schorle einem der wippenden Menschen um ihn herum in den Ausschnitt zu schwappen. Stefanie machte ihn schreiend mit zwei Freundinnen bekannt, die eng nebeneinander an der Wand lehnten und, soweit er verstand, ebenfalls vom Kellnern in einem Biergarten kamen. «Feierabend!», erriet er die ostentative Lippenbewegung der hochgewachsenen Mageren mit viel dunklem Haar, als sie ihre Bierflasche hob, um mit ihm anzustoßen.
Mitten in diese Gedanken läutet sein Telefon. Moras Stimme ist angespannt; eine feine, zitternde Linie schwingt über der heiseren Melodie, die ihm so oft das Bedürfnis einhaucht, sich zusammenzurollen.
«Deine Schwester hat uns geschrieben. Sie schlägt vor, dass wir deinen Vater zu seinem Geburtstag besuchen. Oder jedenfalls du.»
Ihre Bereitschaft, gekränkt zu sein, überrascht ihn immer wieder. Es kommt ihm so vor, als sei sie über die Jahre gewachsen, vor allem in letzter Zeit, seit Ben das Haus bereits mit aufgesetzten Kopfhörern verlässt, eine Blackbox auf sehr langen Beinen.
«Bettina?»
«Natürlich. Wann haben wir von Huberta zuletzt auch nur ein Wort gehört?»
«Sie hat zu Adrianas Geburtstag geschrieben.»
«Und einen Schein dazugelegt, wie jedes Jahr. Bloß, um sich keine Gedanken machen zu müssen.»
«Vielleicht hat sie sich zu viele Gedanken gemacht. Wir sind ja auch nicht die Weltmeister im Schenken.»