Ins Westeis - Tor Even Svanes - E-Book

Ins Westeis E-Book

Tor Even Svanes

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Beschreibung

Ein Robbenfangschiff verlässt den Hafen von Tromsø ganz im Norden Norwegens, sein Ziel: die Eiswüste von Grönland. An Bord nur die Mannschaft und ihr Kapitän – und Mari, eine junge Tierärztin, die im Auftrag der norwegischen Fischereiaufsicht die Expedition überwachen soll. Mari spürt schnell, dass sie als einzige Frau an Deck ein Fremdkörper ist: Es beginnt mit kleinen Schikanen, doch dann erreicht das Schiff die Fanggebiete und Mari wird Zeugin der skrupellosen Tötungsmethoden der Männer. Als sie ankündigt, die Missstände zu melden, schlägt die Ablehnung der Männer in echten Psychoterror um. In der Enge des Schiffs ist Mari zunehmend unerträglichen Anfeindungen und sexuellen Belästigungen ausgesetzt. Als die Mannschaft in grönländisches Fahrwasser vordringt und eine dänische Schiffskontrolle an Bord kommt, wähnt Mari sich endlich in Sicherheit, doch ihre Hoffnung auf Rettung wird jäh zerstört… Tor Even Svanes inszeniert ein Psychoschauspiel von atemberaubender Spannung und kompromissloser Intensität. Ins Westeis ist ein Thriller, eine Horrorgeschichte, ein Abenteuerroman. Es ist eine Erzählung über Macht und Verletzbarkeit. Es führt den Leser in eine Welt, in der die eisige Isolation der Wildnis nicht die einzige Bedrohung ist.

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Tor Even Svanes

Ins Westeis

Tor Even Svanes

INS WESTEIS

Roman

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann

Osburg Verlag

Titel der norwegischen Originalausgabe: Til Vestisen Coypright © CAPPELEN DAMM AS, 2016

This translation has been published with the financial support of NORLA.

Erste Auflage 2016 © der deutschsprachigen Ausgabe Osburg Verlag Hamburg 2016www.osburgverlag.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste ISBN 978-3-95510-115-2

»Ins Westeis« ist ein Roman. Einzelne Elemente der Jagdbeschreibungen stammen aus existierenden Berichten von Inspektoren, aber die Menschen im Buch und das, was sie einander antun, sind erfunden.

1

NACH TROMSØ

 

»Ich bin gebeten worden, davon zu erzählen, was geschehen ist, zusätzlich zu dem Bericht, den ich bereits geschrieben habe. Was im Bericht steht, ist der Grund, aus dem Sie privat mit mir sprechen möchten.«

Sagte sie. Und nickte.

»Ein wenig Geduld«, sagte jemand vor dem Vernehmungsraum. Der Anwalt. Ihr Anwalt. »Sie wird auf traumatische Stressleiden untersucht. Hat noch immer Probleme damit, die einzelnen Erinnerungsstücke zusammenzusetzen. Naja. Also Probleme mit der Chronologie.«

»Du hast keine Angst davor, rauszukommen«, sagt die Stimme. »Nach all dem Scheiß, den du uns vor den Latz geknallt hast, kannst du ja wohl keine Angst davor haben, rauszukommen.«

Sie ist so ruhig, diese Stimme. Wird nicht lauter, wird nicht leiser, wie es eine lebendige Stimme tun würde. Macht keinen Versuch, sich davon zu überzeugen, dass niemand anderes es hört. (Aber wer? Wer sollte das denn sein?) Ihr geht auf, dass er zum ersten Mal etwas gesagt hat, während er vor ihrer Kabinentür steht. Das bestätigt nur, was sie schon die ganze Zeit gewusst hat.

Aber es ist seltsam, dass sie nicht heraushören kann, wer von ihnen es nun ist.

»Dir passiert hier doch nichts, weißt du. Hure. Dir passiert nichts, worum du nicht selbst gebeten hast. Was du dir nicht selbst gewünscht hast. Das weißt du. Du bittest doch seit dem Moment darum, als du an Bord gekommen bist.«

Sie hat schon früher an die Türen gedacht.

Später, als es vorüber ist und sie von allem wegfährt, sitzt sie in einer Dash 8 auf dem Weg von Tasiilaq nach Nuuk. Das Grönlandeis unter ihr ist von so scharfem Weiß, dass sie eine Sonnenbrille aufsetzen muss, um überhaupt aus dem Flugzeugfenster blicken zu können.

Ab und zu überfliegen sie türkise Wassergruben, bei denen es sich in Wirklichkeit um riesige Binnenseen in der gewaltigen Eismasse handeln muss, die aus ihrer Höhe aber einfach aussehen wie Augen im Weißen. Es kommt eben immer auf den Zusammenhang an (davon geht sie aus). Sie könnten Schmucksteinen ähneln. Sie hätte an Perlmuttglanz denken können, nicht an diese feuchten Augen, die sie mustern. Die ihr noch immer hinterherstarren, als das Flugzeug längst darüber hinweggeflogen ist. Die sie nicht loslassen.

Augen mit Makuladegeneration. Sie denkt an den bläulichen, milchigen Schleier auf der Netzhaut kranker Pferde.

In diesem Flugzeug ist sie allein, abgesehen von den beiden Piloten und der Flugbegleiterin, die Dorte heißt und einen dänischen Vater hat. Dorte fragt, ob sie ihr etwas bringen könne.

»Wodka«, antwortet sie. »Mit Orangensaft?«

»Tut mir leid«, sagt Dorte. »Wir haben nur Baguettes. Mit Schinken und Käse.«

Die Baguettes sind in Plastikfolie eingewickelt. Sie schmecken auch danach. Und sie haben lange im Kühlfach gelegen.

Sie fühlt sich allein mit Propellern und Eis, mit einem Rhythmus, an den sie sich in gewisser Weise gewöhnt hat.

Beim Anflug auf Nuuk wird sie ins Cockpit eingeladen. Zerklüftete graue Berge ragen unmittelbar vor ihnen in den Himmel, machen sich lustig über Norwegen, aber sie weiß, dass sie nur so dramatisch wirken, weil es der restlichen Landschaft an hohen Landmarken fehlt.

Sie weiß nicht mehr, welche Uniformen die Piloten getragen haben. Lieber will sie die vergessen als die Berge.

Sie wohnten im Ishavshotel in Tromsø. Sie nannte ihren Namen. Die Rezeptionistin gab ihn ein. Die Schlüsselkarte liegt in dem kleinen Hotelausweis und wird vorsichtig zu ihr hingeschoben, der Tresen ist aus Larvikit, die Rezeptionistin ließ die Karte routiniert über die glatte, polierte Fläche segeln, dann lächelte sie.

»Frühstück ist ab sieben«, sagt die Rezeptionistin. »Wir haben solche Energieshots. Die sind sehr gut. Richtig belebend. Ich weiß nicht genau, wie heißen die noch mal? SolcheSchnapsgläser. Wie Smoothies. Ingwer und Apfelsine. Limone und Kiwi. Machen total fit, echt. Diese Antioxidantien.«

Das Hotel sieht neu aus, aber der Fahrstuhl wirkt alt, viel Messing, Spiegel in allen Ecken. Die Teppiche und Tapeten in diesem Hotel erinnern sie an die Olympischen Winterspiele in Lillehammer.

Wie das Haus, in dem sie aufgewachsen ist. Ockergelbe Täfelung. Fertighaus von der Firma Block Watne am Rand einer Neubausiedlung, wo aber die Rückseite des Grundstücks zu einer mit Kiefern bewachsenen Senke abfiel. Tische vor der schrägen Wand im Wohnzimmer. Grüne Wände. Gelbe Wände. Geborgene Kindheit.

Ihre Mutter hatte das Wohnzimmer renovieren wollen. Die Küche auch, aber das war, ehe der Vater den Herzstillstand hatte. Der kam, wie Infarkte das wohl tun: plötzlich. Unerwartet. Die Mutter beschloss danach, nichts zu ändern, weil das den Vater verwirren könnte. Ihn beunruhigen. Ihn von den Erinnerungen trennen, und damit von ihnen. Besser, mit dem Renovieren zu warten, bis die Reha Ergebnisse zeigte.

Aber er wurde nie wieder richtig klar, und eines Tages wird ein Makler das Haus betreten und es gepflegt, aber unzeitgemäß nennen. Ist unzeitgemäß ein echtes Wort?

Wenn sie »sie« in der Mehrzahl sagt, meint sie sich und ihren Betreuer, Håvard, der am ersten Tag dabei ist, bis das Fangschiff ablegen wird. Denn das hier ist ihre allererste Reise ins Westeis.

Es war Håvard, der nachher für die Fischereibehörde sprach. Dem die Frage gestellt wurde, ob die Behörde es denn habe vertreten können, eine junge Fischereiinspektorin loszuschicken. Ohne Erfahrung. Allein. Sechs Wochen. An den Eisrand Grönlands. Auf einem Schiff nur mit Männern, Männern, die sie nicht kannte. Als ihre erste Reise.

Sie hatten gemeint, das vertreten zu können.

Es sei ja nicht vorauszusehen gewesen, es sei denn, man nimmt immer das Schlimmste von anderen an oder lässt sich von Vorurteilen leiten.

Und darüber hatte sie sich erhaben gefühlt.

Das Wetter legt ihnen winzige Tropfen auf die Stirn. Håvard hat einen Tisch in einem Fischrestaurant im Hafen bestellt, und auf dem Weg dorthin redet er ununterbrochen.

Sie fragt nach den Inspektionsberichten.

»Das ist alles nicht so dramatisch«, antwortet er. »Wenn du nur unterwegs Notizen machst. Verschossene Munition. Erlegte Tiere. Angeschossene Tiere. Wenn du immer die Kästchen in den Vordrucken ankreuzt, kannst du es kurz machen. Du kannst natürlich auch die offenen Felder ausfüllen, wenn du das für nötig hältst.«

Was ist kurz in diesem Bericht und was ist zu ausführlich? Wie soll sie wissen, wofür sie sich entscheiden soll? Was sind hier Details, was ist einfach nur unwichtig?

Håvard hat einen erfahrenen Inspektor zum Essen eingeladen, er soll seine Erfahrungen mit ihr teilen und »Insidertipps« geben. Håvard malt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, als er das sagt.

Der Inspektor sitzt schon mit einem Halben an einem Tisch in dem halbleeren Lokal, als sie hereinkommen. Håvard klopft ihm auf die Schulter und wirkt dreißig Jahre jünger als der andere. Sie nennt ihren Namen.

Mari.

Sie versteht seinen Namen nicht, oder erinnert sich danach jedenfalls nicht mehr daran. Nimmt nur den Geruch von gestern wahr, den der Mann an sich hat.

»Die willst du mit Arentz losschicken?«, fragt er. Er hält noch immer ihre Hand fest – und sie hat das Gefühl, dass dieser feste Zugriff ihr etwas sagen will –, aber sein Gesicht ist Håvard zugewandt. »Dann müsst ihr euch wohl einen neuen Titel ausdenken? Inspektrice? Das kann man sicher sagen.«

Etwas später erzählt er ein wenig über den Mann, mit dem sie fahren wird, und das ist auch das Einzige von dem, was er sagt, das sich nicht direkt auf ihn selbst bezieht.

»Peder Anker Arentz«, sagt er. »Nein, ich war nicht mit ihm fangen, aber du kennst ihn doch, Lange?«

Lange ist Håvards Nachname.

»Solider Bursche. Fachmann für polare Verhältnisse. Ist auch Forscher.«

»Ach«, rutscht es ihr heraus. »Wo hat er veröffentlicht? Ich konnte nichts finden.«

Der Inspektor mustert sie über den Rand seines Bierglases, das er nach jedem Schluck zurückstellt in denselben Ring aus Feuchtigkeit auf dem Tisch. »Veröffentlicht?«

»Um sich Forscher nennen zu können, muss man seine Forschungsergebnisse doch wohl veröffentlicht haben?«

»In Oslo vielleicht, ja«, antwortet der Inspektor.

Es ist nicht so, dass Håvard kein Gespür besäße. »Old school« sagt er auf dem Rückweg zum Hotel, aber ihm ist nicht aufgefallen, dass der Inspektor betont hat, er sei mit Arentz nicht fangen gewesen.

Im Restaurant gab es auch keine Fischsuppe. Seeteufel und Chorizo. Steinbeißer und Fenchelpüree.

In der folgenden Zeit googelt sie sich fieberhaft selbst, einmal dieWoche, sie kann es nicht lassen, und besonders intensiv wird es, als ihr Bericht zuerst in der Lokalpresse wiedergegeben wird, dann in den landesweiten Zeitungen und schließlich im Fernsehen. In dieser Zeit sitzt sie meistens zu Hause, ihre Finger scheinen konstant an krampfhaften Zuckungen zu leiden, und sie hat eine klare Vorstellung davon, wie oft sie mit dem Kopf nicken muss, ehe sie aufstehen kann. Ähnlich ist es dann, als ihr Fall zur Verhandlung kommt.

Und hier taucht er wieder auf. Sie findet den Namen des Inspektors in einem Forum auf einer Website für Jäger, wo ihr Fall diskutiert wird. Dort sondert er denselben frauenfeindlichen Schlamm ab wie ihr gegenüber im Restaurant, nun allerdings in einem eher triumphierenden Tonfall.

Als ehemaliger Walfanginspektor (und der Erste, der einen zuverlässigen Report geliefert hat!) habe ich durchaus meine Ansichten über diesen Bericht.

Wir sollten vielleicht eine neue Berufsbezeichnung einführen – »Inspektrice«! Es war eine Frau, die hier als Inspektor eingesetzt wurde. Offenbar eine junge Dame ohne Sinn für Humor – wenn sie sich also durch die scherzhaften Bemerkungen der Mannschaft beleidigt fühlte.

Ansonsten sind die Namen von Inspektrice und Kapitän öffentlich bekannt. Der Kapitän gilt allgemein als einer unserer wichtigsten Experten (und Forscher) für polare Verhältnisse – während ich über die Inspektrice nur in Erfahrung bringen konnte, dass sie Tiermedizin studiert hatte und dann eine eigene Firma gegründet hat, als sie (unversehrt) von dem grauenhaften Seeräuberschiff an Land gehen konnte.

Alles in allem läuft es wohl darauf hinaus, dass man sehr gute Noten braucht, um einen Studienplatz für Tiermedizin zu erlangen, dass das allein aber keine Garantie dafür ist, dass so eine (unerfahrene) Studentin praktisches Wissen über Jagd oder Fang besitzt.

Am Ende sucht sie häufiger nach dem Namen dieses Inspektors als nach ihrem eigenen.

»Chronologie?«

»Hm? Ja. Entschuldigung.«

Am nächsten Morgen hat sich der Nieselregen verzogen, aber in den höheren Luftschichten treibt der Wind die Wolken nach Norden. Regen schneidet feine Wunden in die Wolkendecke, erreicht aber nicht den Boden. Der Asphaltbelag im Hafen ist hier und dort gerissen, und was gestern noch Meer oder Niederschlag war, ist heute zu Pfützen an Land geworden. Die Möwen müssten am Werk sein, aber keine ist zu sehen, abgesehen von zwei jungen, die mit der Luft verschwimmen.

Die M/S Kvalfjord liegt vor ihnen – alles rot: Rumpf, Achtern, Bug und Steuerhaus. Der Rest ist weiß gestrichen. Am Achterende gibt es eine Luke für Drähte und Tauwerk. Sie sieht die Tonne am Vormast, bestimmt zehn Meter über Deck. Radar und andere Elektronik sind am Großmast befestigt, unter anderem der Telefonmast, aber sie wäre nicht auf die Idee gekommen, dass er dort gefährdet sein könnte. Sie achtet kaum auf das Äußere.

Håvard sagt, die Kvalfjord sei irgendwann in den fünfziger Jahren gebaut worden. Sie hätte das nicht erraten. Für sie sieht die Kvalfjord aus wie jeder andere Trawler oder Fänger, ein Schiff, das genauso gut auch vom Stapel hätte laufen können, als ihr Fertighaus auf den LKW geladen wurde, irgendwann in den Achtzigern.

Obwohl die Roststreifen an dem weiß gestrichenen Teil achtern um Luken und Speigatt von Wunden in einem alten Rumpf zeugen.

Peder Anker Arentz kommt in einem marineblauen Thermopullover über die Laufplanke auf sie zu. Es ist die Sorte Pullover, die fusselt. Die einen Reißverschluss am Hals hat. Sie hatte einen größeren Mann erwartet, aber in Wirklichkeit ist er ziemlich klein und untersetzt. Sie schätzt ihn auf um die sechzig. Die dichten kurzen Locken werden grau, der Bart hat eine dunklere Farbe behalten. Seine Augen sind eisblau. Klar. Furchen und Rinnen und Falten, die sich zu den Wangen hinunter- und zur Stirn hochziehen, deuten eine gewisse Wehmut an, als ob er an etwas denkt, das ihn quält.

Außerdem sind sie feucht. Das ist die beste Beschreibung, die sie liefern kann. Dass seine Augen feucht gewirkt haben.