Insel der Sturmpferde 2: Ein Abenteuer aus Nebel und Wildnis - Eva Hierteis - E-Book

Insel der Sturmpferde 2: Ein Abenteuer aus Nebel und Wildnis E-Book

Eva Hierteis

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Beschreibung

Auf der Insel Maolis hat jeder Mensch ein Seelenpferd und das Band ihrer magischen Freundschaft ist unzertrennlich – ein Leben lang! Gemeinsam reiten sie schnell wie der Sturm! Band 2: Nilla, Luna und ihre Seelenpferde Windtänzer und Mondlicht reisen zum Windpalast, Lunas Heimat. Hier steht ihnen die Wildnisprüfung bevor. Jedes Kind muss sie zusammen mit seinem Seelenpferd bestehen und im unheimlichen Nebelwald übernachten. Doch schnell wird den Freundinnen klar – im Nebelwald schleicht etwas Geheimnisvolles umher. Eine fantastische Freundschaft zwischen zwei Mädchen und ihren Seelenpferden - magisch, spannend und geheimnisvoll! Eine Geschichte voller Magie, Freundschaft, wehender Mähnen und Hufgetrommel auf Sand. Die perfekte Pferde Fantasy Reihe für Mädchen ab 9 Jahren.

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Eva Hierteis

Insel der Sturmpferde

Ein Abenteuer aus Nebel und Wildnis

Mit Illustrationen von Bente Schlick

Auf der Insel Maolis hat jeder Mensch ein Seelenpferd und das Band ihrer magischen Freundschaft ist unzertrennlich – ein Leben lang! Gemeinsam reiten sie schnell wie der Sturm!

Nilla, Luna und ihre Seelenpferde Windtänzer und Mondlicht reisen zum Windpalast, Lunas Heimat. Hier steht ihnen die Wildnisprüfung bevor. Jedes Kind muss sie zusammen mit seinem Seelenpferd bestehen und im unheimlichen Nebelwald übernachten. Doch schnell wird den Freundinnen klar – im Nebelwald schleicht etwas Geheimnisvolles umher.

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Windtänzer schnaufte laut. Seine Flanken hoben und senkten sich. Nilla beugte sich auf seinem Rücken vor und streichelte seinen Hals. „Gleich hast du es geschafft.“

Sie umrundeten die letzte Spitzkehre und schlängelten sich um knorrige Latschenkiefern herum. Dann waren sie oben auf dem Pass. Der Wind, der hier aus allen Richtungen gleichzeitig heranbrauste, griff mit seinen kühlen Fingern in Nillas dunkle Locken und Windtänzers silberweiße Mähne. Er zauste sie so wild, dass man gar nicht mehr wusste, welche Strähne zu wem gehörte.

Blinzelnd raffte Nilla ihre Haare mit einer Hand zusammen und die Aussicht, die sich ihr dann bot, raubte ihr den Atem. Bis zum Meer konnte man von hier aus sehen, auch wenn es in der Ferne und im Dunst nur zu erahnen war. Nillas Blick wanderte nach Norden über die grünen Hügel, die vor ihnen lagen wie Wellenkämme. Am Himmel darüber segelten Wolken wie Schiffe dahin.

„Schau nur“, flüsterte sie Windtänzer zu und schmiegte sich an ihr Pferd, „ganz schön groß, unsere Insel … und ganz schön schön“, fügte sie lachend hinzu.

Wie auf Kommando wandten Anila, wie sie eigentlich hieß, und Windtänzer gleichzeitig die Köpfe. Sie blickten zurück in die Richtung, in der ihr Dorf lag, weit, weit hinter unzähligen Hügeln, Wäldern und steinigen Ebenen verborgen. Früh am Morgen waren sie mit Luna, Mondlicht, Meister Jun und Wolke aus Meakamea aufgebrochen, um am Abend in der Inselhauptstadt zu sein. Nilla vermisste ihr Dorf jetzt schon: das Hämmern und den Rauchgeruch der Schmiede, ihre Nachbarin Elanor, die wie eine Mutter für sie war, ihren zahmen Gecko Früchtchen, ihre Hängematte am Fluss, die Perlenbucht.

Als hätte Windtänzer ihre Gedanken erraten, hob er den Kopf und rieb seine Wange an ihrer. Ob er seine Herde auch schon vermisste?

Nilla schielte zu Luna und ihrer Stute Mondlicht hinüber. Die beiden hatten den Pass auch erklommen und sahen nach Westen, wo die Berge langsam abflachten und in bewaldete Hügel übergingen. Irgendwo dahinter zerschnitt die Tiefe Schlucht die Insel in zwei Hälften. Nilla wusste genau, was Luna bei dem Anblick durch den Kopf ging – und Mondlicht schien es nicht viel anders zu ergehen, denn die nachtschwarze Stute tänzelte unruhig und ihre Ohren zuckten.

Jenseits der Tiefen Schlucht, auf der dunklen Seite der Insel, lebten die Pferde der Verlorene Herde. Einst war Maolis durch einen gewaltigen Vulkanausbruch in zwei Teile gerissen worden. Dabei wurden einige Seelenpferde von ihren Menschen getrennt. Es gab eine alte Legende, die besagte, dass ein finsterer Herrscher die Nachkommen dieser Tiere gefangen hielt, um seine Lebenskraft aus ihnen zu ziehen. Doch ob das stimmte, wusste keiner, nicht einmal Jun. Denn auch wenn das Gerücht ging, dass immer wieder einmal Pferde mit oder ohne ihre Menschen dorthin verschwanden, so war doch niemand von der anderen Seite zurückgekehrt. Mondlicht war die Einzige, die jemals die Himmelsbrücke, jene geheimnisumwobene Verbindung zwischen der Ost- und der Westhälfte, in der Gegenrichtung überquert hatte. Damals war sie ein ganz junges Fohlen gewesen und Nilla und Luna fragten sich oft, ob sie ihre alte Herde vermisste und wie es den Pferden dort drüben wohl ging. Das Rätsel um die Verlorene Herde ließ die Mädchen einfach nicht los.

Unvermittelt riss Luna den Blick von der Tiefen Schlucht los und Mondlicht schüttelte sich leicht. „Ob es noch weit ist bis Windhoka?“, fragte sie und drehte sich mit einem Strahlen auf dem Gesicht zu Nilla.

Nilla grinste. „Keine Ahnung. Ich war ja noch nie dort.“ Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie sehr Luna den Palast und ihre Eltern vermisst haben musste.

Königin Sinari und König Randolf hatten ihre Tochter zum Windfest in Meakamea besucht. Doch gleich am nächsten Tag waren sie mit ihrem Hofstaat und den Kronreiterinnen wieder in die Hauptstadt Windhoka zurückgekehrt, um alles für die bevorstehende Wildnisprüfung vorzubereiten. Schließlich würden im Laufe der nächsten Tage junge Reiter und Reiterinnen aus allen Ecken und Winkeln der Insel in der Hauptstadt eintreffen.

Alle paar Jahre durften Mädchen und Jungen zwischen zehn und dreizehn Jahren mit ihren Pferden einen halben Mond oder länger in Windhoka verbringen. Hier lernten sie unter Juns Anleitung, wie man sich in der Wildnis zurechtfand.

Normalerweise fand dieses Ereignis etwas später im Jahr statt, doch diesmal wurde es vorgezogen, da Luna und Mondlicht jede Menge Nachholbedarf hatten und sich das nun möglichst schnell ändern sollte.

Nilla war ganz kribbelig vor lauter Aufregung. Wie sehr hatte sie immer all jene beneidet, die zu diesem Abenteuer aufgebrochen waren, und wie sehr hatte sie Jun beim letzten Mal angefleht, sie mitzunehmen. Aber er hatte ihr nur durch die Locken gewuschelt und gesagt: „Noch ein bisschen Geduld, meine Windstochter.“

Jetzt war es endlich so weit! Doch Nilla lockte nicht nur das Abenteuer, sondern auch die Privilegien, die man nach bestandener Prüfung genoss.

Es war auf Maolis nichts Ungewöhnliches, dass kleine Kinder allein mit ihren Pferden unterwegs waren. Da Pferde schneller reiften als Menschen, passten sie auf ihre Menschenkinder auf, solange diese noch klein waren. Später wendete sich das Blatt allerdings. Und diese Zeit war nun gekommen. Nach der Wildnisprüfung gaben die Menschen ein bisschen mehr auf ihre Pferde acht als umgekehrt. Außerdem durfte man danach weitere Ausritte unternehmen als zuvor und über Nacht wegbleiben.

So gesehen war die Prüfung ein großer Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden und Nilla träumte schon von Übernachtungsritten mit ihren beiden besten Freunden. Denn nicht nur Luna, sondern auch Tommo nahm dieses Jahr teil. Einzig und allein dass auch York dabei war, trübte ihre Vorfreunde ein wenig. Er und Tommo sollten bald mit den anderen jungen Reiterinnen und Reitern in der Hauptstadt eintreffen. Luna und Nilla ritten nur deshalb mit Jun voraus, weil das Königspaar seine Tochter endlich wieder bei sich haben wollte. Und Luna hatte darauf bestanden, dass ihre beste Freundin gleich mitkam.

„Den größten Teil des Weges haben wir schon zurückgelegt“, ertönte auf einmal eine Stimme hinter Nilla und Luna. Sie hatten gar nicht bemerkt, wie Jun auf seiner großen Apfelschimmelstute, die sorgsamer mit ihren Kräften umging als die beiden jüngeren Pferde, hinter sie getreten war. „Wenn wir weiter so gut vorankommen, werden wir noch vor Einbruch der Dämmerung in Windhoka sein. Da vorne geht es lang.“ Nillas Ziehvater deutete auf ein kniehohes, aus flachen Steinen aufgeschichtetes Türmchen in der Ferne, das nach oben hin immer schmaler zulief. Diese sogenannten Steinweiblein dienten einerseits als Wegweiser, andererseits halfen die lustig flatternden bunten Bänder, die unter den obersten Steinen eingeklemmt waren, dabei, den Wind zu besänftigen. Denn der war gleichermaßen gefürchtet und geliebt auf Maolis, dieser sturmumtosten Insel inmitten des Ozeans. Er war Helfer und Zerstörer, brachte den dringend benötigten Regen für die Felder, konnte jedoch auch ganze Ernten vernichten. Deshalb tat man alles, um ihn gnädig zu stimmen. Es gab sogar eigens Windfütterer, die ihm Gaben darbrachten und ihn mit Liedern betörten. Jun war einer von ihnen.

Auch auf Reisen galt es, sich mit dem Wind gut zu stellen. Gegen ihn anzukämpfen zehrte immens an den Kräften und bedeutete, dass man deutlich langsamer vorankam. In wolkenverhangenen Nächten wurde es dann schnell gefährlich, denn in der Finsternis war es für die Pferde in unbekanntem und unwegsamem Gelände schwer, die Hufe sicher zu setzen.

Ebenso gut konnte der Wind einem aber auch helfen, und so kannte Nilla ihn viel besser. Wie oft schon hatte sie das Gefühl gehabt, er würde ihr seine unsichtbare Hand in den Rücken legen und sie und Windtänzer sanft anschieben oder ihrem Hengst den letzten Schubs geben, den es brauchte, damit er für kurze Zeit den Boden unter den Hufen verlor. Dann wurden seine Schritte so ausgreifend, dass es war, als würden sie fliegen.

Juns Stute stieß ein lautes Schnauben aus.

„Wolke will uns wohl sagen, dass wir langsam weitermüssen“, meinte Jun und tätschelte ihr lachend den Hals. „Wer zuerst bei dem Steinweiblein ist, führt die Truppe an.“

Das ließen sich die Pferde nicht zweimal sagen. Nach der kurzen Verschnaufpause stürmten Windtänzer und Mondlicht los, noch ehe Nilla und Luna ihnen einen Schenkeldruck geben konnten, beide bestrebt, als Erste auf den schmalen Pfad zwischen Geröll, Felsbrocken und hüfthohen Kiefern zu gelangen.

Mondlicht machte das Rennen. Aber so schnell gab Windtänzer sich nicht geschlagen. Nach und nach wurde das Gelände flacher und der Weg breiter, bis er sich im Gras verlor. Nun konnten sie nebeneinanderreiten. Sofort fielen Windtänzer und Mondlicht in Galopp. Nilla beugte sich weiter vor, machte sich ganz leicht und ging mit Windtänzers Bewegungen mit, spürte seine Kraft, seine Ausgelassenheit, den Wind in den Haaren. Das war ganz nach ihrem Geschmack. Mal lag Mondlicht eine Pferdelänge vorn, dann wieder Windtänzer. Es war wie ein wilder, wunderbarer Tanz immer und immerzu umeinander herum. Ihre Hufe trommelten um die Wette und Nilla und Luna lachten um die Wette.

Wolke sprengte mit großen, weit ausgreifenden Sprüngen hinterher und schüttelte ab und zu den Kopf über die beiden jüngeren Pferde, und auch Jun schmunzelte unter seinem Bart. Es war schön, die zwei unterschiedlichen Mädchen so zu sehen, denn es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie sich angefreundet hatten. Sie hatten sogar länger als ihre Pferde gebraucht. Doch nun hielten sie zusammen wie Ross und Reiterin.

Jun passte sich an das Tempo seiner Schützlinge an und ließ ihnen ihren Spaß. Inzwischen standen Luna und Mondlicht Nilla und Windtänzer in nichts nach. Noch vor Kurzem hätten sie dieses Tempo jedoch nicht über eine längere Strecke halten können. So einen weiten Ritt wie diesen hätten sie, wenn überhaupt, nur mit Mühe durchgestanden, waren sie doch im Palast wie in einem goldenen Käfig aufgewachsen.

Luna war die Prinzessin von Maolis. Eine Prinzessin allerdings, die den Palast nicht hatte verlassen dürfen. Zu besorgt waren ihre Eltern um ihr einziges Kind gewesen. Bei Lunas Geburt war in der Herde von Windhoka nämlich kein Fohlen zur Welt gekommen. Dann war wie aus dem Nichts Mondlicht aufgetaucht und hatte sich als Lunas Seelenpferd zu erkennen gegeben. Nur durch einen Zufall hatten die Gelehrten das versteckte mondsichelförmige Zeichen auf ihrer Stirn entdeckt. Das Zeichen der Verlorenen Herde!

Aus Angst, die junge Stute würde die Prinzessin zu ihrer Heimatherde auf die dunkle Seite der Insel führen, ließ man die beiden nicht mehr hinaus. Doch mit den Jahren wurde Mondlicht immer unruhiger, bis sie eines Tages ausriss. Der Hof war in heller Aufregung, denn von seinem Pferd getrennt zu sein, war das Schlimmste, was einem widerfahren konnte. Ohne sein Seelenpferd wurde man krank. Man verlor sein Lachen und seine Lebensfreude, manche Menschen sprachen nicht mehr oder fielen gar in einen tiefen Schlaf. Zum Glück war es nicht so weit gekommen. Doch Mondlicht war erst nach mehreren Tagen zurückgekehrt, als Luna schon völlig entkräftet war.

Damals hatte man die Prinzessin und ihr Pferd in Meister Juns Obhut gegeben, weil man dachte, die beiden wären bei ihm in Sicherheit. Als der Vollmond nahte, riss die Stute allerdings auch in Meakamea aus, fand wie durch ein Wunder die Himmelsbrücke und brachte Luna und sich selbst in große Gefahr. Wären Nilla und Windtänzer nicht in letzter Sekunde aufgetaucht und hätten Mondlicht zur Umkehr bewogen, wäre Luna Mondlicht und dem Ruf ihrer Herde auf die andere, dunkle Inselseite gefolgt.

Doch all das schien weit fort, als die Mädchen lachend durch den Sonnenschein jagten und über ihnen Wildgänse und Tölpel dahinzogen und Murmeltiere mit schrillen Warnpfiffen in ihren Erdlöchern verschwanden. Der Mond nahm wieder ab, die Himmelsbrücke hatte sich hinter ihnen in Wolkenfetzen aufgelöst. Und so ähnlich verhielt es sich auch mit ihrer Angst: Nur noch selten stand sie ihnen klar und deutlich vor Augen. Meist war sie nicht greifbar, sondern wabernd und diffus.

Die sechs kamen gut voran. Manchmal plätscherte ein Bach neben ihnen, einmal begleitete sie ein größerer Fluss, an dem sie Rast machten und ihre Pferde trinken ließen. Danach trabten sie über schier endlose, mal grüne, mal karge schwarze Hügel aus Lavagestein, durch Wälder, über Lichtungen und plötzlich, als die Sonne bereits tief am Horizont stand, auch durch Felder.

Es waren viel mehr und auch viel größere Felder, als Nilla es von Meakamea kannte. Wie ein bunter Flickenteppich aus goldwisperndem Getreide und grünwogendem Mais, zwischen dem Kürbisse und Melonen schlummerten, überzogen sie die Landschaft, und Nilla wurde klar, dass sie Windhoka sehr, sehr nah sein mussten.

Und tatsächlich: Als sie aus dem Schatten eines Maisfeldes ritten, lagen ausgedehnte Pferdewiesen vor ihnen und dahinter die Stadt, die wie Meakamea zum Schutz vor dem Wind in ein Tal geduckt war.

Noch nie hatte Nilla so viele Häuser gesehen – und so viele Pferde. In verschiedenen Verbänden standen sie unter Obstbäumen. Manche grasten friedlich, andere sprengten umher. Manche waren auf dem Weg in die Stadt, andere kamen von dort.

Obwohl die Häuser schon im Schatten lagen, leuchteten sie im Gegensatz zu den graubraunen Holzhütten, die Nilla kannte, ungewohnt weiß. Sie waren ebenso niedrig wie die in Meakamea, in ihrer Mitte jedoch wuchs ein Gebäude empor, wie Nilla es sich nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Es hatte einen runden Grundriss und streckte seinen spitz zulaufenden Turm wie eine gigantische Hörnchenmuschel in den flammend roten Himmel, als wollte es nach den Wolken greifen. In der Abendsonne hatte es einen pfirsichfarbenen Schimmer angenommen und von der Spitze des Turms wehten silberne Fahnen wie Pferdeschweife.

Nilla verschlug es die Sprache und Windtänzer stand ganz still – und das kam nicht oft vor. Weder bei ihr noch bei ihm.

Eine alte Korbmacherin, die vor ihrem Haus saß, ließ das Weidengeflecht sinken, an dem sie gerade arbeitete.

„Meister Jun?“, murmelte sie verwundert. Dann kniff sie die Augen zusammen und musterte erst Nilla und dann Luna mit ihrem kostbaren Seidenkleid in königlichem Himmelblau. „Prinzessin?“, fragte sie ungläubig, „Prinzessin Luna?“ Und als Luna nickte, rief sie laut: „Seht nur, die Prinzessin ist da!“

„Prinzessin Luna, Prinzessin Luna!“, erscholl es plötzlich von überallher, als Luna, Nilla und Jun auf ihren Pferden durch die Gassen Windhokas ritten. „Und guckt mal, der Pferdemann begleitet sie“, wurde getuschelt und die Leute warfen Jun ehrfürchtige Blicke zu, während sie Luna lauthals zujubelten.

Die Nachricht von Lunas Heimkehr sprach sich schneller herum, als heiße Lava floss. Dass aber auch alle wussten, wer Jun war, erstaunte Nilla. Als Hufschmied und Windfütterer bekleidete er in Meakamea wichtige Ämter. Aus den entlegensten Teilen der Insel kamen Leute zu ihm, weil er sich wie kein anderer mit Pferden auskannte. Wie bekannt ihr Ziehvater war, war ihr allerdings nicht bewusst gewesen. Nilla kam sich neben den beiden fast schon unsichtbar vor. Dabei hatte doch Luna jahrelang den Beinamen „die Unsichtbare“ getragen.

Eine Horde Kinder rannte neben ihnen her und immer mehr Leute drängten sich am Straßenrand und winkten mit Tüchern und Haarbändern. Ein Mann schwenkte sogar eine Pfanne zum Gruß. Einige Pferde kamen ganz nahe heran und versuchten, sie zu beschnuppern, und ein paar besonders neugierige stupsten Windtänzer, Wolke und Mondlicht behutsam mit den Nüstern an.

Mondlicht machten die vielen Menschen und Pferde ein wenig nervös und so setzte sich Juns Stute an die Spitze und bahnte ihnen zügig einen Weg durch die Menge, während Windtänzer und Nilla die Köpfe reckten und sich umsahen. Es gab so viel zu entdecken, dass sie gar nicht wussten, wo sie zuerst hinschauen sollten.

Die Straßen waren viel breiter hier. Die eine Seite war mit Steinen gepflastert, die andere nur mit Sand aufgeschüttet, was für die Pferde sehr viel angenehmer war, trugen doch viele keine Hufeisen. Anders als in Meakamea waren die Eingänge der Häuser nicht mit Muschelschnüren verhängt, sondern hatten zweiflügelige Türen, die in der Mitte aufschwangen, wenn man dagegendrückte. Auf diese Weise konnten die Pferde sie ungehindert passieren.

So viele Häuser waren es, an denen sie vorüberritten, so viele Gassen, so viele Menschen und Pferde, dass Nilla schon bald den Überblick verlor.

Und dann standen sie plötzlich vor dem Windpalast, der inmitten des Flusses auf einer Insel aufragte. Aus der Nähe war er noch beeindruckender.

Viel Zeit zum Staunen blieb Nilla allerdings nicht. Schon klackerten die Hufe der Pferde über eine Holzbrücke, die den Flussarm überspannte, dann befanden sie sich auf einem großen, fast runden Sandplatz, der von Heckenrosen und Bäumen gesäumt war. Blumen gab es nicht. Blumenbeete und Pferde passten einfach nicht gut zusammen. Am anderen Ende das Platzes standen auf einer Grasfläche ein Back- und ein Waschhaus, zwischen denen Wäsche im Wind flatterte.

Der Palast hatte gleich mehrere Tore, die alle weit offen standen und aus denen schwere himmelblaue Samtvorhänge wehten. Zwei Kronreiterinnen hielten sie ihnen auf.

„Sie sind hier! Prinzessin Luna ist da!“, rief eine der beiden in den Palast hinein und an die drei Reisenden gewandt fügte sie hinzu: „Ihr werdet schon erwartet. Sehnsüchtig.“

Hoch zu Ross ritten Luna, Nilla und Jun durch die Tore, die so groß waren, dass zierliche Pferde wie Windtänzer und Mondlicht mitsamt ihren Reiterinnen sogar zweimal durchgepasst hätten, und standen gleich darauf auf einem weiteren runden Sandplatz im Inneren.

Der Windpalast machte seinem Namen alle Ehre. Ungehindert pfiffen Böen hindurch und spielten mit den Kronleuchtern, bis sie sich drehten und die Muschelketten daran klimperten. Mit dem allgegenwärtigen Hufgetrappel und dem Hall verband sich all dies zu einer eigentümlichen Melodie.

Die Wände waren mit Abertausenden von Muscheln besetzt. In der Abendsonne, die durch hohe Fenster oben im Turm hereinfiel, schillerten sie perlmuttfarben. Fast unsichtbar saßen mehrere weiße Kakadus an den Wänden, begutachteten die Neuankömmlinge und krächzten ein vielstimmiges, heiseres Willkommen, willkommen! Kommen! Will! Omm!. Manche konnten deutlich besser sprechen als andere.

Um den Innenhof verlief eine leicht ansteigende Rampe, die sich Stockwerk um Stockwerk in enger werdenden Kreisen den Turm hinaufwand. Nilla wurde beim Hochschauen fast schwindelig.

„Die Pferde können auch hier überallhin, wie in Meakamea“, erklärte Jun, der ihrem Blick gefolgt war. „Sogar bis hinauf in die Bibliothek.“ Er deutete ganz nach oben.

Tatsächlich! Als Nilla und Windtänzer erneut hinaufsahen, entdeckten sie die Köpfe zweier Pferde, die neugierig über die Brüstung zu ihnen herunterspähten.

„Luna!“ Eine Tür wurde aufgerissen und das Königspaar trat heraus, gefolgt von zwei schlanken grauen Stuten. Im nächsten Moment rannten Königin Sinari und König Randolf mit fliegenden sommerhimmelblauen Umhängen los und schlossen ihre Tochter noch auf Mondlichts Rücken in die Arme und die nachtschwarze Stute gleich mit. Halb hoben, halb zogen sie Luna von Mondlicht und drückten sie, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sie auf dem Boden absetzten, während ihre Pferde die schwarze Stute beknabberten.

Nilla wandte den Blick ab und ließ sich von Windtänzers Rücken gleiten. Es versetzte ihr jedes Mal einen Stich, wenn sie so etwas sah. Jun, der das ahnte, legte ihr den Arm um die Schultern und Windtänzer seinen Pferdekopf auf ihren Scheitel.

Nillas Eltern waren in einer rauen Sturmnacht verschollen, als sie noch ganz klein und Windtänzer ein langbeiniges Fohlen gewesen war. Damals hatte Windtänzer mit Nilla vor Juns Tür gestanden und Jun hatte sie aufgenommen und war ihr seither ein Vater, wie sie sich keinen besseren hätte wünschen können. Dennoch fühlte es sich manchmal an, als würde ein Stück von ihr fehlen. Das Einzige, was sie von ihren Eltern besaß, war die abgewetzte ozeanblaue Samtdecke, in die sie damals gewickelt gewesen war und die sie auch jetzt sorgsam zusammengerollt in ihrem Bündel bei sich trug.

Als Luna sich schließlich lachend aus der Umarmung ihrer Eltern befreite, nahm Königin Sinari Nillas Hand. „Nilla, wie schön, dich hier im Palast begrüßen zu dürfen. Dich natürlich auch, Jun“, fügte sie hinzu.

Nilla wusste nicht so genau, wie sie darauf reagieren sollte. „Äh … ja. Ja-ja.“ Verstohlen guckte sie zu Jun, der der Königin nur zulächelte und leicht den Kopf neigte. Genau wie Wolke. Und das tat Nilla dann auch.

Windtänzer dagegen schnupperte so ungestüm an Sinaris Krone, dass er sie ihr fast vom Kopf stieß. Dann wirbelte er herum und galoppierte zum einen Tor des Palasts hinaus und zum anderen wieder herein. Dabei lief er mitten in die langen Vorhänge, sodass sie sich über ihn legten und er für einen Moment wie ein samtblaues Gespenst aussah, bis sie wieder von ihm abglitten.

Alle lachten, nur Luna gähnte verstohlen dabei und Mondlicht legte den Kopf auf ihre Schulter und stieß ein leises, erschöpftes Prusten aus.

Der König lächelte sie an. „Es war ein weiter Ritt. Ihr seid bestimmt hungrig und müde.“

„Vor allem hungrig“, rief Nilla.

„Vor allem müde“, murmelte Luna.

„Na, dann kommt mal mit“, meinte Randolf und ging mit den Mädchen und den Pferden in die Schlossküche, wo Möhren, Hafer, Haferbrei und Kakao bereitstanden.

Nilla suchte nach Muschelschalen, mit denen man in ihrem Dorf aß. Doch hier gab es stattdessen lange muschelförmige Holzdinger mit Stielen daran. Löffel, wie Luna ihr erklärte.

Gierig machten sie sich über das Essen her. Windtänzer schnappte sich so viele Möhren auf einmal, dass ihm die Hälfte wieder aus dem Maul fiel. Den Rest zermalmte er krachend, während Mondlicht vornehm kleine Bissen nahm.

Nachdem sie alles ratzeputz vertilgt hatten, sah Luna Nilla an. „Soll ich dir noch den Palast zeigen?“, fragte sie und sah dabei so müde aus, dass Nilla lachen musste.

„Morgen ist auch noch ein Tag“, sagte sie.

Luna lächelte sie dankbar an. „Gut, dann gehen wir direkt nach oben.“