Inselträume - Sandra Lüpkes - E-Book

Inselträume E-Book

Sandra Lüpkes

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Beschreibung

Dünen, Meer und Liebeschaos Eigentlich läuft es rund für Jannike: Ihr kleines Hotel neben dem Leuchtturm ist bis in den Herbst ausgebucht. Die Gäste schwärmen vom zauberhaften Flair und der familiären Atmosphäre. Nur in Herzensdingen herrscht Flaute. Denn in der Beziehung zu Mattheusz kriselt es gewaltig. Auch um sich abzulenken, beginnt Jannike Sport zu treiben. Bald schon trainiert sie für ein Wettschwimmen in der Nordsee, das der Bademeister des örtlichen Wellenbads initiiert hat. Nils Boomgarden ist ein ausgesprochen attraktiver Insulaner. Er flirtet sogar mit Jannike. Und während die Situation für Jannike langsam zu heiß wird, beginnt ein Feuerteufel auf der Insel sein Unwesen zu treiben … Nach dem Erfolg von «Das kleine Inselhotel» und «Inselhochzeit» der dritte Band um Jannike Loog und ihr charmantes Leuchtturmwärterhaus.

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Seitenzahl: 437

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Sandra Lüpkes

Inselträume

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Dünen, Meer und Liebeschaos

 

Eigentlich läuft es rund für Jannike: Ihr kleines Hotel neben dem Leuchtturm ist bis in den Herbst ausgebucht. Die Gäste schwärmen vom zauberhaften Flair und der familiären Atmosphäre. Nur in Herzensdingen herrscht Flaute. Denn in der Beziehung zu Mattheusz kriselt es gewaltig. Auch um sich abzulenken, beginnt Jannike Sport zu treiben. Bald schon trainiert sie für ein Wettschwimmen in der Nordsee, das der Bademeister des örtlichen Wellenbads initiiert hat. Nils Boomgarden ist ein ausgesprochen attraktiver Insulaner. Er flirtet sogar mit Jannike. Und während die Situation für Jannike langsam zu heiß wird, beginnt ein Feuerteufel auf der Insel sein Unwesen zu treiben …

 

Über Sandra Lüpkes

Sandra Lüpkes kennt sich an der Nordsee und auf den Inseln bestens aus: Die Autorin ist auf Juist aufgewachsen und war viele Jahre selbst Gastgeberin für Nordseeurlauber. Sie hat zwei Töchter und wohnt seit einigen Jahren mit dem Schriftsteller und Drehbuchautor Jürgen Kehrer in Münster. Zahlreiche Romane, Sachbücher, Drehbücher und Erzählungen hat Sandra Lüpkes bereits veröffentlicht.

Inhaltsübersicht

HinweisEnde August riecht ...Sie hatten ihn ...Sie saßen um ...Was die Sache ...Endlich wieder Zeit ...Rollo hätte die ...Vier Kilometer am ...«Kapier ich nicht», ...Manchmal hört man ...War das etwa ...Es gab lässigere ...«Zweimal Piroggen für ...Das Klima war ...Wäre Pepsi kein ...Drei Tage ohne ...«Tip.»Irgendetwas Schlimmes war ...Es waren 172 Stufen. ...Gerd Bischoff hatte ...Ganz früher, vor ...Sieben Inseln, geformt ...Pepsi kann nicht ...Wie leicht es ...Sofort, als Bogdana ...«Nein, auf gar ...Sonka Waltermann hatte ...Es gibt ja ...Manchmal gibt es ...Personal im kleinen InselhotelWovon Autoren träumenLeseprobe «Inselfrühling»

Die Handlung dieses Romans könnte exakt so passiert sein, ist sie aber nicht. Genau wie es die Personen theoretisch geben könnte – eine Übersicht über alle erfundenen Inselbewohner findet sich am Ende des Buches.

Ende August riecht die Insel wie ein warmer Sandkuchen. Süß vom reifen Deichgras, das sich strohgelb zu färben beginnt. Alle Hitze verdunstet aus den Poren der weichen Kruste, die das Meer bei Ebbe freilegt. Inzwischen kühlt die Luft sich langsam auf Herbsttemperatur ab, legt morgens dicke Tränen aus Tau auf die knallroten Hagebutten der Inselrose, als verspüre sie denselben Abschiedsschmerz, der die Menschen ergreift, wenn sie das Eiland verlassen müssen. Ach ja, die Ferien sind bald vorbei. Die Tage werden kürzer. Der Wind frischt auf. Fegt alles weg, was an die Sorglosigkeit von Juli und August erinnert.

Kaum noch Strandkörbe jenseits der Dünen, und die Eisdiele am Kurplatz hat keine zwanzig verschiedenen Sorten mehr im Angebot, sondern nur noch Zimt, Schokolade und Rumrosine. Ein Kanalreinigungswagen scheppert durch die Gassen.

Tatsächlich hatte die Nachsaison etwas von der Ruhe nach dem Sturm, fand Jannike, die im leeren Speisesaal ihres kleinen Hotels stand und durch die bodentiefen Fenster das Naturschauspiel draußen im Garten betrachtete. Die Sanddornbeeren waren reif, leuchteten zwischen den Halmen des Strandhafers, der stets tanzte, wenn eine Windböe durch die Dünen pfiff. Der bewölkte Himmel wölbte sich darüber wie ein Baldachin. Ein attraktives Fotomotiv für Touristen, dachte Jannike, obwohl die meisten von ihnen bereits abgereist waren.

Vor einer Woche waren auf jeden Insulaner zehn Gäste gekommen. Eine Menschenflut, die durch die Straßen strömte und so manches unmöglich machte. Privatsphäre zum Beispiel.

Aber ab heute war das Hotel nur noch zur Hälfte belegt, und das Restaurant gönnte sich den ersten Ruhetag seit Mai. Am Fahnenmast wehte die rote Flagge, auf der Foffteihn moken geschrieben stand – Pause machen –, ein weithin sichtbares Zeichen für die Gäste, dass die Küche im Roten Hering an diesem Abend kalt blieb und sie sich nicht herbemühen mussten.

Denn Jannike hatte sich etwas vorgenommen. Etwas, wozu sie wer weiß wie lange nicht mehr gekommen war. Also, es war natürlich einiges auf der Strecke geblieben, beispielsweise am Strand joggen, die Augenbrauen zupfen, im Garten den Giersch rausreißen, damit noch Platz für die anderen Küchenkräuter blieb, ein Buch lesen, mit Freundin Mira einen Tee trinken, Katze Holly nach Zecken absuchen … Doch das meinte Jannike nicht.

Sie wandte ihren Blick ab und ging zurück in die blankgewienerte Küche, wo Mattheusz noch immer die Küchenmesser schärfte und in die passenden Schlitze des Holzblocks sortierte. Fast schien er enttäuscht, heute keine Verwendung für seine wie neu glänzenden Klingen zu haben. Womöglich dachte er an Berge von Roter Bete, Deichlamm und frisch gebackenem Roggenbrot, die er damit zerteilen könnte. Tja, an Ruhetage musste der Hotelkoch sich wohl erst einmal gewöhnen. Er schaute hoch, und Jannike fing seinen Blick auf.

Mattheusz’ Lächeln war von kurzer Dauer. «Hab ich was zwischen den Zähnen?», fragte er und fuhr sich vorsichtshalber mit der Zunge durch den Mund.

«Nein, alles schneeweiß.»

«Warum guckst du mich dann so kritisch an?»

Kritisch? Hatte sie kritisch geguckt? So weit war es also schon gekommen. Sie hatte ihrem Liebsten eigentlich einen verführerischen Blick zuwerfen wollen, der auch ohne große Worte das heutige Abendprogramm klärte, mit gesenktem Kinn, Augenaufschlag, ein wenig gespitzten Lippen – doch Mattheusz fühlte sich wie eine Labormaus unter der Lupe des ehrgeizigen Wissenschaftlers. Sie hatte es wohl inzwischen verlernt.

Konnte wirklich sein. Denn das letzte Mal, dass sie beide etwas anderes gemacht hatten, als zu arbeiten oder über Dinge wie Spülmaschinenreinigungsmittel im Zwölferpack oder die Nahrungsunverträglichkeiten der Zwillinge aus Zimmer 5 zu diskutieren, war lange her. Mindestens drei, vier Wochen. Oder sogar mehr.

Bei Paaren, die schon kurz vor der Silberhochzeit standen, war das vielleicht kein Grund, sich ernsthaft Gedanken zu machen. Aber Mattheusz und Jannike waren erst seit einem Jahr, zwei Monaten und fünfzehn Tagen zusammen.

«Also, was ist? Hab ich was falsch gemacht?»

Mattheusz würde nicht von selbst darauf kommen, so viel stand fest. Eventuell lag es auch an der Umgebung, denn sie standen gerade neben dem großen Kühlschrank, in dem die Frühstückssachen untergebracht waren und aus dem es seit ein paar Tagen komisch roch. Mattheusz hatte im Internet nach der Ursache gesucht. Angeblich gab es irgendwo hinter der Kühlung einen verborgenen Kasten für Kondenswasser, der regelmäßig geleert werden musste, was allerdings in der Gebrauchsanweisung der Küche komplett verschwiegen worden war.

«Ich kann das Ding auch jetzt gleich reparieren», schlug Mattheusz nun mit Blick auf den Kühlschrank vor.

«Quatsch, heute haben wir beide doch frei», half Jannike ihm auf die Sprünge, und um ihr Anliegen zu unterstützen, ging sie auf Mattheusz zu, legte ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn auf den Mund. Dass er nicht zurückwich, war ein gutes Zeichen. Und als sie seine Hände an ihrem Hinterkopf spürte, die Finger in ihrem Haar, da war die Sache wohl geritzt.

«Ich habe uns eine Flasche Weißwein kaltgestellt», flüsterte sie in sein Ohr und strubbelte genießerisch seine dunkelblonden Locken, versenkte ihre Nase in seiner Halsbeuge. Er roch so wunderbar nach Mattheusz. «Und Käse, Obst, Baguette, Schokolade nach oben gebracht. Wir müssen also weder verhungern noch verdursten, wenn wir jetzt in unsere Privatwohnung gehen, die Tür hinter uns zumachen und erst morgen früh wieder rauskommen.» Sie schaute ihn gespannt an.

Mattheusz grinste. «Zwischen hier und unserem Schlafzimmer liegt gefühlt ein Kilometer. Wir könnten unterwegs Oma Maria begegnen, die heute noch Senfgurken einkochen will …»

Sie nahmen sich bei den Händen und schlichen aus der Küche, als hätten sie etwas Verbotenes vor. Der Flur war menschenleer, zum Glück.

«… oder einer der Zwillinge aus Zimmer 5 steht im Flur, um uns zu sagen, dass ihm noch eine weitere Speise eingefallen ist, auf die er mit Magenkrämpfen reagiert …»

Die Holztreppe, die neben der Rezeption nach oben führte, gab dieses vertraute Knarzen von sich, eine Mischung aus Entenquaken und Schweinegrunzen.

«… oder Frachtschiff-Ingo braucht Trost, weil er mal wieder Krach mit meinem Schwesterchen Lucyna hat.»

Jetzt waren sie im zweiten Stock angekommen, von wo nur noch die schmalen Stufen zu den Personalzimmern unterm Dach führten, ansonsten war das hier ihr Reich. Mattheusz schloss die Tür auf. Jannike kicherte.

Es war ja nicht so, dass sie keine Lust aufeinander hatten. Ihre Beziehung war glücklich, nur selten gab es Streit, und nachdem es sehr lange gedauert hatte, bis sie im letzten Jahr endlich zusammengekommen waren, fanden sie dann vergleichsweise zügig zu einer angenehmen Vertrautheit, die die ideale Voraussetzung war für ein erfülltes Liebesleben, das auch die eine oder andere Überraschung beinhaltete, die eine oder andere Spielerei.

«Weißt du, ich habe eigentlich überhaupt keinen Durst!», sagte Mattheusz und zog Jannike an der kleinen Küche vorbei Richtung Schlafzimmer.

Das Bett, in das sie sich fallen ließen, war ungemacht und mit Mattheusz’ scheußlichster Bettwäsche bezogen, ein Relikt seiner Junggesellenzeit. Eventuell zeigten die komischen, blau-roten Embleme sogar das Logo eines polnischen Fußballvereins, so genau hatte Jannike nie nachgefragt, denn es kam nicht drauf an. Weder, wenn sie darin schliefen – da waren ihre Augen ja geschlossen, nach einem harten Arbeitstag auch meistens ziemlich schnell –, noch in Momenten wie diesem, denn dann nahm Jannike nur ihren Geliebten wahr, zwei Grübchen über dem Hintern, eine Blinddarmnarbe mit den Umrissen von Kuba. Und natürlich Mattheusz’ geschickte Hände und …

Die Tür flog auf. «Überraschung!»

Wer? Wie? Was?

Jannike zog ihren Arm unter Mattheusz’ Oberschenkel hervor. Mattheusz seinen Ellenbogen unter Jannikes Rücken. Als sie sich vollständig entknotet hatten, stand da ein schick gekleideter Typ auf dem Kopf, ach nein, Jannike lag noch verkehrt herum, jetzt setzte sie sich aufrecht hin. «Danni!»

«Stör ich?»

«Wonach sieht’s denn aus?»

«Soll ich ehrlich sein? Nach einer Mischung aus Yoga und Breakdance!»

«Na toll.»

Danni war sich offensichtlich keiner Schuld bewusst. Was wollte er hier? Warum trug er seinen marineblauen Anzug mit den goldenen Knöpfen? Außerdem war er so aufgeregt, dass er von einem Bein auf das andere trat wie ein kleiner Junge, der dringend aufs Klo musste.

Zum Glück waren Jannike und Mattheusz zwar zerzaust, aber noch bekleidet, sonst wäre es Jannike ziemlich peinlich gewesen. Selbst wenn Danni schon seit Ewigkeiten ihr allerbester Freund war und sie vor der gemeinsamen Hotelübernahme einige Jahre in Köln als WG gelebt hatten, wo man sich natürlich immer mal wieder bei irgendetwas erwischt hatte.

«Siebelt und ich haben was vorbereitet!», verkündete Danni stolz.

«Jetzt? Heute ist unser freier Abend.»

«Genau deswegen passt es ja so gut. Endlich haben wir alle mal richtig schön Zeit.» Sprach’s, machte eine zackige 180-Grad-Wende – tatsächlich, jetzt sah Jannike es, er trug sogar seine Hochzeitsschuhe, was war denn los? – und verließ die Wohnung.

Jannike schnaubte, und Mattheusz versuchte etwas unbeholfen, sie zu trösten, indem er ihr ein Kissen auf den Scheitel warf, ganz sanft nur, liebevoll. Doch Jannikes Laune war im Eimer.

«Ist doch keine Katastrophe.» Mattheusz küsste ihre Schulter. «Wir können doch später. Oder morgen, hm?»

«Morgen ist wieder Betrieb.»

Echt, es hätte so schön werden können.

Ganz besonders schön sogar. Denn Jannike hatte vor ein paar Tagen ein bisschen gerechnet. Diese üblichen Zahlen: Ein Datum im August plus vierzehn eben. Der von Jannike spontan ausgerufene Ruhetag im Hotelrestaurant Roter Hering war nämlich kein Zufall, sondern das Ergebnis ihres aktuellen Hormonhaushalts. Mit über vierzig musste man da mit spitzem Bleistift rechnen.

Sie standen auf, Jannike ordnete ihre Kleider und fuhr sich mit den Fingern durch die zerwühlten Haare. «Siehst super aus», sagte Mattheusz, der schon in der Tür stand und wartete. Ihm machte der Prä-Coitus interruptus wohl nichts aus. Natürlich nicht. Er war ein Mann, zudem fünf Jahre jünger – und hatte keine Vorstellung von Jannikes plötzlichem Interesse an körpereigener Mathematik. Vielleicht freute er sich sogar über Dannis Besuch. Mattheusz mochte Überraschungen.

Und Danni war ein Meister der Spontanität. Erst letztes Jahr hatte er innerhalb von wenigen Stunden beschlossen, den Inselbürgermeister Siebelt Freese zu heiraten – und es am selben Tag in die Tat umgesetzt. Was er heute wohl vorhatte? Jannike beschloss, sich zu entspannen, schließlich waren Überraschungen, die von Danni kamen, immer besonders verlockend.

Und wirklich: Sie folgten einem Duft, der köstlicher wurde, je näher sie der kleinen, versteckten Gartenecke kamen, zu der Hotelgäste keinen Zutritt hatten. Es roch nach Fisch, gegrillt, mit Knoblauch und Zitrone. Dannis Spezialität, die es nur zu besonderen Anlässen gab.

Jannikes Drei-Generationen-Team saß erwartungsfroh am gedeckten Gartentisch: Oma Maria Pajak, die sonst das Zepter fest in der Hand hielt, wenn es ums Kochen ging; Mutter Bogdana Pajak, deren Spezialität eher darin bestand, für Sauberkeit bis in die letzte Ritze zu sorgen; und Tochter Lucyna Pajak, der heimliche Star im Roten Hering, denn keiner servierte die polnisch-friesischen Leckereien so charmant wie sie.

Bunte Lampions schaukelten am Efeu, und rings um die verwitterten Steine der Backsteinmauer steckten Fackeln im Sand. Noch war es zu hell, der Leuchtturm nebenan hatte seinen Dienst noch nicht angetreten, aber schon jetzt war klar: Sobald die Dämmerung einsetzte, der Fisch gar war und das erste Glas Wein getrunken, würde es hier so wunderbar werden, so wohlig und entspannt, dass Jannike die Hoffnung auf ausgiebige Zweisamkeit mit ihrem Liebsten für heute aufgab. Das war schade, aber wie Mattheusz sagte: keine Katastrophe.

Siebelt winkte sie heran, schenkte eiskalten Roséwein in Gläser, die sofort beschlugen, und legte für jeden Gast eine Stoffserviette bereit. Alle wandten sich gespannt an Danni. Der war absolut in seinem Element, kein Zweifel, der würde die Situation auskosten und es richtig spannend machen.

«Ratet mal, warum wir diese kleine Party schmeißen.»

Oma Maria, die nur wenig Deutsch verstand, aber trotzdem alles mitbekam, sagte: «Wegen Essen. Und Trinken.» Alle lachten.

«Nein», sagte Quizmaster Danni. «Noch ’ne Idee?»

«Wir haben die Hauptsaison geschafft», versuchte es Lucyna. «Ohne Tote und Verletzte.»

«Stimmt, das ist auch ein Grund zum Feiern, das machen wir aber ein anderes Mal.»

Nun war die Energie der Ratenden verpufft, und alle nippten lieber am Wein, als Danni zuliebe bis in alle Ewigkeit weiterzurätseln.

«Okay, ihr kommt sowieso nicht drauf!», sagte er dann, stellte sich neben seinen Mann und strich über dessen Bauch. Der Bürgermeister war nie schlank gewesen, doch seit er verheiratet war, erging es ihm nicht viel anders als den meisten Ehemännern – und manchen Ehefrauen: Seine Körpermitte zeigte eine beachtliche Kugel.

«Siebelt ist schwanger!», platzte Bogdana mit dem heraus, was wahrscheinlich auf den Zungen aller gelegen hatte.

«Fast!», jubelte Danni. Dann stellte er sich aufrecht hin, als ginge es hier mindestens um eine Ordensverleihung, und atmete tief durch. «Ich darf euch die erfreuliche Nachricht überbringen, dass wir bald zu dritt sind!»

So ein Quatsch, dachte Jannike und kicherte. Doch Danni blieb für seine Verhältnisse außerordentlich ernst.

«Er heißt Lasse und wird ab nächster Woche unser Pflegesohn sein.»

Sie hatten ihn verarscht. Aufs Übelste.

Getraut hatte er denen sowieso nicht: «Und wenn ich das Teil ausfülle und so, ganz ehrlich, dann ist das doch scheißegal, und keine Sau kratzt es, was da steht, also kann ich es gleich bleibenlassen – und fertig.»

Weil, er hatte in den letzten zwei Jahren haufenweise Formulare ausgefüllt, Kursfächer gewählt für die Oberstufe, Anträge gestellt für die Nachprüfung, dann den ganzen Kram mit dem Anwalt, mit den Bullen und dem Jugendamt, ernsthaft, er hatte tausend Kreuzchen gesetzt und achttausendmal unterschrieben, seine Mutter auch, und dann rechtzeitig abgeben und so weiter. Echt, er war sechzehn. Er hatte Besseres zu tun, als diese Frage-Antwort-Spielchen mitzumachen, bei denen er sowieso immer der Loser war.

Genau deswegen hatte er die Schnauze voll, als der vom Jugendamt ihm vor zwei Wochen den Zettel unter die Nase hielt von wegen Zukunftsperspektive. Was er wolle. Was er erwarte. Wofür er sich interessiere. Blabla.

Womit würden Sie sich langfristig gern beschäftigen?

Eine dieser Tiefseefragen. Kam harmlos daher wie Wie viel Uhr ist es oder Wann geht die letzte Bahn nach Hürth, konnte aber interpretiert und analysiert und weiß der Henker was werden, sodass der vom Jugendamt ihm anhand der Antworten bis tief auf den Grund seiner Seele schauen konnte.

Also hatte Lasse es einfach auf den Punkt gebracht. Die Wahrheit hingeschrieben. Sich nicht besser oder schlechter gemacht, als er nun mal war. In der Hoffnung, dass sie ihn dann in Ruhe ließen, weil es an der Wahrheit nicht so viel zu interpretieren und analysieren und weiß der Henker was gab.

Womit würden Sie sich langfristig gern beschäftigen?

Da hatte er geschrieben: Schnelle Autos und nackte Weiber.

Und jetzt stand er hier und hatte einen Frauenhintern vor sich, in greifbarer Nähe sozusagen, aber trotzdem fühlte er sich … war «verarscht» der richtige Ausdruck?

«Lasse!»

Er drehte sich nicht um. Er hatte keinen Bock.

«Lasse, hey!»

Der Hintern war mindestens siebzig Jahre alt und von grauem Meeresschlick überzogen.

Eine schwere Hand legte sich ihm von hinten auf die Schulter.

«Trauste dich nicht?», fragte Nils.

Lasse hielt die Klappe.

«Nur zu, junger Mann», sagte die Frau, die zu dem Hintern gehörte. «Ich bin keine Warmduscherin!»

Nils überreichte ihm eine Art dicken Gartenschlauch und drehte den Wasserhahn auf. Der Schwall, der aus der Öffnung kam, war schweinekalt. Ernsthaft, wie konnte man so etwas freiwillig abkriegen wollen?

«Jetzt aber!» Nils nahm seinen Arm, hob ihn an, sodass der Strahl die Wade der alten Frau traf. Die gab keinen Mucks von sich. Zuckte auch nicht. Schräg.

«Ist gut für den Kreislauf. Und das Immunsystem.»

Warum musste die Welt so unlogisch sein? Warum waren Sachen wie, keine Ahnung, Rauchen und Fastfood ungesund, Eiswasser auf nackter Haut aber angeblich total super? Wäre es anders herum, keiner seiner Kumpels käme auf den Gedanken, auf Döner zu verzichten, sich aber hinter dem Rücken der Erwachsenen zu diesen bescheuerten Kneipp’schen Güssen zu treffen. Es war nicht so, dass sie die Sachen, die sie machten, bloß gut fanden, weil sie verboten waren. Verkehrt gedacht. Es war nur so, dass die Dinge, die erlaubt waren, kalt oder anstrengend oder unbequem oder langweilig, manchmal sogar alles auf einmal waren. Er vermisste seine Kumpels. Die verstanden ihn wenigstens.

«Höher», sagte Nils. «Und wenn der Schlamm runter ist, kommst du rüber. In fünf Minuten ist der nächste Wellengang.»

Lasse nickte.

Sein Leben hatte sich verändert.

Vor einer Woche noch hatte er bis elf gepennt, danach gechillt und anschließend mit seinen Kumpels abgehangen, bis es Ärger gab, weil die Leute die Polizei holten wegen nächtlicher Ruhestörung oder so.

Jetzt zerfetzten alle halbe Stunde die Wellen im Meerwasserbrandungsbad Sprottengrotte seinen Tag. Weil er drauf reingefallen war. Auf den Deal mit der Zukunftsperspektive.

«Wenn du zwei Sachen aufschreibst, die dir langfristig wichtig sind, dann werden wir alles dafür tun, um wenigstens eine zu erfüllen.»

«Okay.»

«Und dann bleibst du dieses Mal von einer Jugendstrafe verschont.»

«Okay.»

«Letzte Chance, Lasse, ist dir das klar?»

«Jep.»

Und dann er eben: Schnelle Autos und nackte Weiber.

Das Ergebnis: Er war auf eine Insel verfrachtet worden, auf der nur der Arzt und die Feuerwehr motorisiert unterwegs sein durften, der Rest: Fahrräder, Kutschen, Bollerwagen und fertig. Die schlimmste Insel der Welt! Und die nackten Weiber waren allesamt über sechzig und ließen sich von ihm den muffigen Thalassoschlamm aus den Hautfalten spülen. Er wusste nicht, was er ätzender fand: dass der eine Wunsch abgelehnt oder der andere erfüllt worden war.

Der Gong ertönte. Noch drei Minuten bis zu den Wellen. Nichtschwimmer bitte in den Flachwasserbereich.

«Danke, junger Mann», sagte die Oma, schlurfte in ihren Clogs zu einem prinzessinnenrosa Bademantel, der an der Garderobe hing, und holte einen Euro aus der Tasche. «Hier, für Sie!»

«Danke», sagte er, obwohl nichts, was ihn interessierte, für einen popeligen Euro zu kaufen war. Auf der Insel war alles schweineteuer. Dosenbier gab es nicht, wegen öko. Nur Glasflaschen. Zwei Euro ohne Pfand. Na ja, die Alte hatte sich ’ne Zehnerkarte gekauft – Thalasso XXL zum Seniorenrabatt – und würde morgen wiederkommen. Er könnte sparen. Denn da, wo er wohnte, bekam er kein Bier. Obwohl er schon sechzehn war. Wegen irgendeiner Absprache mit seiner Mutter. Er musste der Thalasso-Oma also dankbar sein. «Bis dann!»

Lasse schlenderte Richtung Hallenbad. Es gab einen Extradurchgang für das Personal, die Badegäste mussten ihr Armband vor eine Lichtschranke halten und konnten dann rüber. Kriegten leider nicht alle hin. Gestern, als Nils gerade in der Mittagspause gewesen war, hatte Lasse einen kleinen Jungen retten müssen, der, keine Ahnung, warum, irgendwie untendurch gekrochen und dann zwischen den gegeneinanderlaufenden Drehkreuzen eingeklemmt worden war. Der arme Knirps hing wie eine Scheibe Weißbrot im Toaster fest und hat die ganze Bude zusammengeschrien. Britta von der Kasse hatte genauso laut gekreischt: irgendwas von noch nie passiert …, um Himmels willen …, wie man überhaupt auf so einen Gedanken kommen kann, da zwischen die Stäbe zu kriechen, warum die Eltern nicht besser aufpassen, das würde auch immer schlimmer werden mit den Kindern. Jedenfalls, während der Junge und Britta und später auch die Mutter von dem Jungen um die Wette gebrüllt haben, hatte Lasse den Werkzeugkoffer geholt, die Abdeckung mit dem Imbus aufgeschraubt, den Mechanismus gelöst – da war so ’n kleiner Knopf, den man mit dem Schraubenzieher eindrücken konnte, damit sich der Richtungsbetrieb ändert – und den Jungen herausgehoben. Der hatte noch nicht mal ’nen Kratzer.

Aber gelobt hatte ihn keiner dafür. Der Junge heulte noch immer. Die Mutter motzte rum, weil das Drehkreuz angeblich nicht kindersicher war. Und Britta hatte ihn angeschnauzt, weil der Werkzeugkoffer im Durchgangsbereich stand.

Das nächste Mal würde er das Kind einfach drin lassen. Man könnte dem Knirps ja Essen und Trinken durch die Stäbe reichen, bis er erwachsen war. Lasse wäre das egal.

Er würde sowieso nicht hierbleiben. Dann lieber Jugendknast als diese Insel und drei Jahre Ausbildung zum Fachangestellten für den Bäderbetrieb. Hundertpro.

Im Hallenbad war ein Höllenlärm. Kein Wunder, das Wetter war schlecht, der Septemberwind schneidend kalt, die Brandung am Strand lebensgefährlich – aber die Leute wollten trotzdem im Salzwasser schwimmen, dafür waren sie schließlich an die Nordsee gekommen. Unten im proppenvollen Becken sah man genauso viele hautfarbene wie chlorwasserblaue Stellen. Sah ein bisschen aus wie Nudelsuppe. Und die mit den orangefarbenen Badekappen, die man bei Britta an der Kasse kaufen konnte, waren die Karotten. Lasse musste grinsen.

Wieder der Gong. Die Wellenmaschine surrte los. Das Wasser schaukelte sich hoch. Die Nudeln und Karotten schwappten auf und nieder, auf und nieder.

Nils stand auf der anderen Seite des Beckens und nickte ihm kurz zu. Er war Lasses Meister. Und vielleicht war er auch in Ordnung. Mal sehen. Nach vier Tagen konnte man das noch nicht so beurteilen. Wenigstens sah er aus, als hätte er es drauf. Ein geiles Tattoo auf der Schulter, so ’n buddhistisches Zeichen für endlose Liebe, das auf den ersten Blick wie eine Brezel aussah, aber dann, beim genaueren Hingucken, zwei ineinander verhakte Herzen. Und eine Frisur, als wäre er heute Morgen mit dem Surfbrett zur Arbeit gekommen. Nils war echt nicht das Problem. Aber der Rest.

Auf und nieder, auf und nieder. Lasse war kein Psychologe. Doch er war trotzdem sicher, dass man die Menschen da unten einteilen konnte, also charaktermäßig, je nachdem, wo sie sich bei Wellengang aufhielten. Es gab drei Typen.

Die im Schwimmerbereich waren öde, denn sie blieben im Grunde die ganze Zeit, wo sie waren. Das Gesicht der Wellenanlage zugewandt, nahmen sie jeden Wasserberg ohne erkennbare Regung. Vielleicht kriegten sie noch nicht einmal den Unterschied mit, ob es im Becken flach oder wellig war, Hauptsache, die konnten sich mit minimalem Aufwand an der Oberfläche halten. Oder allein durch ihr Körperfett. Lasse konnte sich nicht vorstellen, hier wirklich mal jemandem helfen zu müssen. Die waren zu langweilig zum Ertrinken.

Fast genauso schnarchig waren die Badegäste, die im ganz Flachen saßen, mit steif ausgestreckten Beinen und dem Po schon fast im Trockenen. Die lachten zwar bei jeder Welle, die an ihren verschrumpelten Fußsohlen leckte, aber Lasse vermutete, das machten die nur, weil sonst in ihrem Leben nichts, aber auch gar nichts passierte und dieses Flachwasserabenteuer für sie schon das Nonplusultra war.

Wenn Lasse selbst schwimmen gehen würde, er wäre einer von denen im mitteltiefen Nichtschwimmerbereich. Da, wo man abwechselnd bis zum Knie oder bis zum Hals im Wasser stand und die Wellen sich brachen. Wo man hineintauchen konnte in den schäumenden Kamm oder sich mittreiben ließ, ein Wellenreiter im Miniaturformat sozusagen. Blöd war nur, dass man dann oft zwischen den Flachwasserabenteurern strandete. Und die beschwerten sich gleich wieder. Zu viel Abenteuer war auch nicht gut.

Aber die im Mitteltiefen, die waren in Ordnung. Die blieben nicht im Drehkreuz stecken, heulten nicht, wenn mal was blutete, und machten sogar manchmal Arschbombe vom Einer, obwohl sie dann Mecker von Nils kriegten. Das Einzige, was Lasse an den Mitteltiefen nicht geheuer war, war die Tatsache, dass sie ihre Zeit anscheinend freiwillig an einem Ort wie diesem verbrachten. In der Sprottengrotte. Es gab so viel Geileres in der Welt.

Die Wellen verebbten. Wieder mal keine Toten und Verletzten. Obwohl er bereits ein paar Rettungsübungen draufhatte, stabile Seitenlage und so. Ein bisschen hoffte er sogar, dass es mal einen Zwischenfall gab und er sein Können unter Beweis stellen durfte. Aber wie gesagt, die kamen hier nicht auf die Idee, für Action zu sorgen. Er könnte jetzt eine kleine Rauchpause machen, wenn Nils einverstanden war. Lasse wollte gerade ins Kabuff verschwinden, wo seine Zigaretten lagen, als die Tür zu den Weiberduschen aufging und zwei Mädels reinkamen. Die eine lang und sehr dünn mit Spaghettihaaren. Aber die andere …

«Pause?», fragte Nils, der ums Becken herumgelaufen war und plötzlich neben ihm stand. Er führte eine unsichtbare Zigarette an den Mund und grinste. «Nicht dass du auf Entzug kommst und ins Koma fällst.»

Aber er hatte keine Lust auf Nikotin. Die andere war klein und hatte einen Hintern, der mit Abstand das Beste war, was Lasse hier in den letzten vier Tagen zu sehen bekommen hatte, auch wenn er in einem Sportbadeanzug steckte. Aber das war noch nicht mal das Tollste. Sie hatte so eine süße Frisur, an den Seiten kurz und oben lang, eine nasse, rote Strähne fiel ihr ins Gesicht, die schob sie hinter die gepiercten Ohren. Da erst bemerkte Lasse die Augen, deren Farbe ihn an die Ölpfützen erinnerte, die sich zu Hause in Hürth auf dem Schrottplatz zwischen den gerupften Grasbüscheln breitmachten. Das klang jetzt vielleicht nicht so toll, Augen wie Ölpfützen, aber wer mal so richtig bewusst eine schmierig braune Lache im Sonnenschein betrachtet hatte, der wusste: Es gab sonst keine Farbe, die gleichzeitig satt und vollkommen, aber auch ein Versprechen auf den kompletten Regenbogen war. Wunderschön! Ernsthaft.

«Hi», sagte die Freundin mit den Spaghettihaaren.

«Hi», antwortete er.

Dann stiegen die beiden über die Leiter am Beckenrand ins Wasser. Und Lasse wusste, heute würde er aufpassen, wie noch nie ein Bademeister zuvor aufgepasst hatte. Wenn auch nur auf eine einzige Person.

Sie saßen um den großen Holztisch in der Hotelküche und blickten abwartend in die Runde. Die Butterkekse auf dem Teller in der Mitte blieben bislang unangetastet. Geredet wurde wenig, im Gegensatz zu sonstigen Zusammenkünften an diesem zentralsten Ort im ganzen Haus, wo schon so viele wichtige Dinge zur Sprache gekommen waren. Im Vergleich zum Alltag fühlte sich das heute an wie Schweigekloster.

Danni und Siebelt als Eltern eines Sechzehnjährigen? Jannike bekam es irgendwie nicht auf die Reihe. Normalerweise wurde Familienzuwachs ja mit Entzücken begrüßt. Mit Worten wie «niedlich», «süß» und «zum Knutschen» bedacht. All das passte bei Lasse, der mit unübersehbarer Unlust der Einladung ins Hotel zum ersten Kennenlernen gefolgt war, eher weniger. Er war gar nicht niedlich, denn er überragte Jannike um einen ganzen Kopf und trug eine an den Nähten ausgefranste rote Kapuzenjacke, die aussah, als hätte er darin schon mehrfach übernachtet, und zwar nicht im heimischen Daunenbett. Die Arme hatte er bockig über dem Graffiti-Logo verschränkt. Lasse war auch nicht im Geringsten süß, dazu hätte er ja mal den Mund aufmachen und zumindest guten Tag sagen können. Und man verspürte auch keine große Lust, ihn zu knutschen, denn da, wo gerade kein Pickel sprießte, wuchs ihm ein unregelmäßiger Bartflaum auf den Wangen.

Wen hatten Danni und Siebelt sich da denn angelacht? Jannike musste sich zusammenreißen, um ihre Enttäuschung nicht offensichtlich werden zu lassen. Denn irgendwie hatte sie mit etwas anderem gerechnet. Etwas Netterem. Dass dieser – ja, früher hätte man wohl «Halbstarker» gesagt – von nun an Mitglied in diesem kleinen, kuscheligen Männerhaushalt sein sollte, schien unmöglich. Bei Danni harmonierte jedes Kissen mit der Sofadecke, jede Stoffserviette mit dem Blumengesteck, jede Glaskaraffe mit dem frischen Obst in der Keramikschale. Dieser schlaksige Junge war dort fehl am Platz wie ein Außerirdischer, den ein Schiffbruch mit der Raumkapsel zur Notlandung auf einer Nordseeinsel gezwungen hatte. Jannike wusste nicht, wer ihr mehr leidtun sollte: Danni und Siebelt, die bestimmt schon bereuten, einen solchen Pflegesohn aufgenommen zu haben – oder Lasse, der bis jetzt sicher in einer dunklen Pubertätshöhle gehaust hatte, mit Staubschicht, Sockenberg und Schweißgeruch. Denn dass es so etwas bei Danni nicht geben würde, war sonnenklar. Zwar hatte er seinem neuen Ziehsohn ein Zimmer im Souterrain der Mansardenwohnung eingerichtet, für ein bisschen Distanz war also gesorgt, doch Jannike war sicher, der Raum war mit hübschem Schnickschnack ausgestattet, das würde Danni sich nicht nehmen lassen.

«Und? Wie war deine erste Arbeitswoche im Schwimmbad?», eröffnete Jannike das Gespräch, nachdem sie allen reihum den Kandiszucker in die kleinen Porzellantässchen gelegt hatte. Eine stilechte Teezeremonie zur Begrüßung, das war ihre Idee gewesen, denn draußen war es schon entsprechend kühl, und wie sonst sollte man einen Neuostfriesen passender willkommen heißen?

«Ganz okay», sagte Lasse und schob seine Hand über die Tasse, bevor Jannike einschenken konnte. «Habt ihr Cola?»

«Kannst du dir gern selbst zapfen», schlug Danni ganz ohne seine sonstige Ungeduld vor. Im Umgang mit diesem Jungen wirkte er wie ausgewechselt, überhaupt nicht hibbelig und überdreht, sondern männlich cool. «Im Speisesaal an der Theke. Gläser findest du in der Vitrine dahinter.» Lasse erhob sich und schlurfte aus der Küche. «Ist doch okay, wenn ich Lasse das erlaube? Der Junge soll sich schließlich zu Hause fühlen.»

Jannike nickte und goss weiter den Tee ein. Der Kandis knisterte, danach löffelte sie die Sahne über den Porzellanrand, betrachtete die kleine Wolke, die daraufhin in der Tasse emporquoll. Ein bisschen enttäuscht war sie schon, dass ihre Kostprobe der Friesenkultur von Lasse verschmäht wurde. Cola! Gab es schließlich überall.

«Er hat ein bisschen Heimweh, weißt du?» Dannis Blick war leicht zu deuten: Er bat um Nachsicht für seinen unhöflichen Filius.

«Kenne ich», sagte Mattheusz. «Wenn man neu hier ist, glaubt man, es keine vierundzwanzig Stunden aushalten zu können. Keine Fluchtmöglichkeiten, überall Wasser drum herum …»

«Das ging mir nie so», widersprach Jannike. «Als ich damals auf diese Insel gekommen bin, hatte ich das Gefühl, endlich am richtigen Ort zu sein.»

«Klar! Deshalb hast du gleich losgelegt und dir ein Hotel gekauft, fast wie bei Monopoly.» Siebelt lachte. «Aber soweit ich mich erinnere, übermannte dich keine Woche später der erste Inselkoller, und du hast im Rathaus erst einmal Alarm geschlagen, was hier alles anders und vor allem besser werden muss.»

Der Bürgermeister hatte recht. Ganz so rosig war das erste Inseljahr wirklich nicht verlaufen. Damals hatte Jannike sich an einem persönlichen Tiefpunkt befunden, ihre Beziehung zu einem verheirateten Produzenten befand sich kurz vor dem Aus, die Karriere als Sängerin und Moderatorin war bereits grandios den Bach heruntergerauscht, und sie war völlig orientierungslos auf die Nordseeinsel gefahren. Wenn nicht sogar geflüchtet. Dort hatte dann am westlichen Ende dieses romantische Leuchtturmwärterhaus zum Verkauf gestanden: efeubewachsener Backstein und holzvertäfelte Giebel, alte Dachziegel, grüne Fensterläden, Sonnenterrasse in den Dünen, acht Doppelzimmer mit Bad – kurz: ein Traum, der noch dazu direkt neben dem Seezeichen stand und somit begehrtes Ausflugsziel war. Dass sich das Inselleben dennoch alles andere als einfach gestaltete, hatte Jannike bald schon gemerkt und beinahe kapituliert, bevor der erste Gast überhaupt einchecken konnte. Doch als ihr bester Freund Danni dann in die Hotelleitung mit eingestiegen war, sie sich als Hochzeitshotel einen Namen machten, den Saunagarten gestaltet hatten und nicht zuletzt Oma Maria mit ihren Kochkünsten das Restaurant allabendlich füllte, war zumindest das Geldproblem zum Glück aus der Welt. Sie schrieben schwarze Zahlen, und die Gästeanfragen nahmen von Monat zu Monat zu. Also alles im Lot?

Nun, ein Traum war und blieb ein Traum. Die Realität sah immer etwas anders aus. Heute, zwei Jahre später, stand Jannike tatsächlich manchmal am Deich, schaute zum Festland hinüber und erinnerte sich mit leichter Wehmut an die Zeit, als sie noch spontan über den Wochenmarkt auf dem Maternusplatz schlendern, das Programmkino im Eigelsteinviertel besuchen oder einfach mit dem Auto in die Eifel fahren konnte. Hier, zwischen Deich und Dünen, war die Welt deutlich kleiner und die Möglichkeiten zur Zerstreuung überschaubar. Das musste man aushalten können.

«Wie lange wird Lasse bei euch bleiben?»

«Bis er seine Ausbildung beendet hat.»

«Drei Jahre?»

Siebelt und Danni nickten. Sie schienen nicht die geringsten Zweifel zu hegen.

Der Notruf aus Hürth war vor zehn Tagen gekommen: Maike, eine gute Freundin von Danni, suchte dringend eine Bleibe für ihren Sohn, der von der Schule geflogen und beim illegalen Autorennen erwischt worden war, beides übrigens zum wiederholten Male. Ein «Crash-Kid» mit prima Karriereaussichten, allerdings am ehesten in der Jugendknasthierarchie. Der komplette Neustart würde Lasse vielleicht retten, hoffte Maike, und das Jugendamt war wohl gleicher Meinung gewesen.

«Findet er es nicht komisch, zwei Papas zu haben?», fragte Mattheusz, der Maike nie kennengelernt hatte und somit nicht wissen konnte, dass es für Lasse wahrscheinlich eine willkommene Abwechslung bedeutete, nachdem er bislang mit zwei Mamas zurechtgekommen war. Maike und Senta hatten ihre Sache gut gemacht, Lasses älterer Bruder studierte inzwischen Medizin. Doch aufmüpfige Teenager kamen ja sprichwörtlich in den besten Familien vor.

«In Köln und Umgebung ist das nichts Besonderes», klärte Jannike auf.

Die Tür zum Restaurant quietschte, und Lasse kam herein, die Cola war gerstengelb und hatte eine Schaumkrone. Danni verzog den Mund. «Lasse!»

«Ich bin sechzehn. Ich darf das.»

«Es ist noch nicht mal halb fünf!»

Lasse nahm einen trotzigen Schluck. «Ich hab Feierabend!»

Oh, oh, dachte Jannike und griff vorsichtshalber den Gesprächsfaden von vorhin wieder auf. «Und, was machst du denn so vor deinem Feierabend?»

«Erste-Hilfe-Kurs.»

«Ach, spannend! Und was noch?»

Lasse zog die Schultern hoch. «Fliesen schrubben.»

«Nils Boomgarden meint, dass Lasse sich richtig gut anstellt», berichtete Siebelt, ganz der stolze Herr Vater. «Er übernimmt jetzt regelmäßig das Jugendtraining.»

«Das was?»

«Bis vor vier Jahren war Lasse Mitglied im Schwimmverein in Hürth. Ganz erfolgreich sogar. Und nun soll er die Teilnehmer für das Inselduell in Bestform bringen.»

Vom Inselduell hatte Jannike bereits gehört, ganz große Sache: Eine Brauerei veranstaltete am Ende des Monats ein Wettschwimmen. Dazu wurden die besten Sportler der Nachbarinseln erwartet, und die Konkurrenz, die ohnehin zwischen den ostfriesischen Eilanden brannte, würde noch weiter entflammen, denn der Siegerinsel winkten stolze 50000 Euro.

«Wer macht denn da mit?», fragte Jannike. Sie gab die Hoffnung nicht auf, mit Lasse ins Gespräch zu kommen.

«Ich», antwortete Lasse.

Danni sprang ein. «Außerdem trainiert Lasse zwei Mädchen und einen Jungen, in der Altersklasse sind wir also gut aufgestellt. Nur bei den späteren Semestern sieht es schlecht aus.» Er seufzte. «Wir brauchen zwei Männer und zwei Frauen. Und wenn wir nicht genügend Teilnehmer haben, fällt das Ganze buchstäblich ins Wasser.»

«Dabei könnte die Sprottengrotte das Preisgeld gut gebrauchen.» Siebelt hatte als Bürgermeister die Siegprämie natürlich bereits vor dem Startschuss sinnvoll eingeplant. «Wir hoffen auf einen Zuschuss für die Wasserrutsche.»

«Soll sie doch mitmachen», sagte Lasse das erste Mal mehr als drei Wörter am Stück. Und mit sie meinte er Jannike, das hatte also fast schon was mit Konversation zu tun, was er hier gerade betrieb.

«Ich? Bin nicht besonders sportlich!»

«Man muss bloß vom Westbad zum Leuchtturm schwimmen, das sind nur ungefähr tausend Meter.» Lasse sagte das, als ginge es um einen Spaziergang zur Eisdiele und nicht um einen Kilometer im offenen Meer gegen die Strömung und womöglich mit herbstlich hohem Wellengang.

«Das ist nicht mal eben um die Ecke!»

«Siegerehrung am Leuchtturm.»

«Schon deswegen kann ich nicht mitmachen. Wir sollen da nämlich das Catering übernehmen. Große Party für die Teilnehmer, mit allem Pipapo.» Jannike war regelrecht erleichtert, diese Ausrede gefunden zu haben. Denn die Idee, dass sie beim Inselduell an den Start gehen könnte, war hirnrissig.

«Das schaffen wir auch ohne dich», relativierte Danni leider.

«Trotzdem. Ich bin überhaupt nicht in Form.»

«Komm, Jannike, du joggst doch ab und zu am Strand», mischte Mattheusz sich jetzt ein. «Und die 172 Stufen, die du ständig im Leuchtturm rauf- und runtermusst, wenn du bei den Besuchertagen den Kontrollgang machst, sind auch ein Supertraining.»

Jannike starrte ihren Liebsten an. Der fiel ihr doch glatt in den Rücken, und sie musste sich beherrschen, damit sie keinen Schluckauf bekam, wie es ihr in letzter Zeit manchmal passierte, wenn sie sich furchtbar aufregte: Mattheusz war allen Ernstes dafür, dass sie in drei Wochen an einem Wettschwimmen teilnahm. Obwohl er doch wusste, dass sie, um es überhaupt nur in die Nähe des Ziels zu schaffen, einige Stunden und Tage Zeit investieren müsste. Zeit, die sie beide doch eigentlich auch mal für sich nutzen könnten. Ein bisschen schmusen und kuscheln und so weiter. Doch ihm war lieber, dass sie stattdessen einen auf Rocky Balboa machte und ein knallhartes Training absolvierte. Liegestütze und Sit-ups und Seilspringen womöglich. Wie romantisch.

«Tolle Idee», versuchte sie es mit beißender Ironie. «Und die Arme trainiere ich, indem ich ab heute das Geschirr von Hand spüle?»

«Warum nicht», sagte Mattheusz. «Kartoffelschälen mit gleichzeitigem Küchenbodenwischen soll übrigens besonders effektiv für die gesamte Körpermuskulatur sein.»

«Und wenn du dann noch nebenbei meinen Telefondienst übernimmst, hast du dich in puncto Belastbarkeit in Stresssituationen auch noch gestählt», schlug Danni vor. «Braucht man alles, wenn man im offenen Meer schwimmt.»

«Es könnte ja ein weißer Hai vorbeikommen.» Siebelt stimmte jetzt also auch mit ein.

Und Mattheusz nahm den Faden prompt auf. «Dann würde Jannike aber so richtig schnell werden. Tausend Meter kraulen in fünf Minuten.»

Alle lachten. Sogar Lasse bewegte seine Mundwinkel nach oben. Dabei waren diese Scherze auf ihre Kosten ganz und gar nicht witzig. Zumindest heute nicht. Vorhin erst hatte ein undichter Wasserhahn in Zimmer 8 ihren Plan von einem gemeinsamen Mittagsspaziergang am Strand torpediert. Und als sie sich stattdessen für eine halbe Stunde aufs Sofa setzen und Musik hören wollten, war eine wichtige E-Mail vom Steuerberater an der Rezeption angekommen, die Danni nicht ohne Absprache mit Jannike beantworten wollte. Es war wirklich wie verhext: Trotz Nachsaison kamen sie einfach nicht zur Ruhe. Und die Einzige, die sich daran zu stören schien, war anscheinend Jannike.

Weshalb bloß unterstützte Mattheusz jetzt noch diese bescheuerte Schnapsidee, fürs Inselduell zu trainieren? Es gab nur eine logische Erklärung: Jannike war ihm bestimmt zu unfit, zu schwabbelig, vielleicht sogar zu alt. Klar, er war fünf Jahre jünger und durch seine Arbeit als Hausmeister und Hilfskoch bestens in Schuss, er hatte leicht reden. Aber sie? Jannike schaute an sich herunter. Erblickte das Lieblings-T-Shirt, das weder figurbetont noch besonders modisch, sondern in erster Linie bequem und schmutzunempfindlich war. Darunter trug sie Unterwäsche vom Kaffeehändler. Mit Blümchen drauf. Keine Frage, in Sachen Sex-Appeal könnte sie durchaus eine Schippe draufschlagen.

«Was ist los, Jannike?», fragte Mattheusz jetzt auch noch total unschuldig.

«Was los ist?» Wenn in diesem Moment nicht die Klingel an der Rezeption gebimmelt hätte, wäre Jannike vielleicht in Tränen ausgebrochen, weil sie ihrem Freund eine solche Gemeinheit niemals zugetraut hätte. Aber so ergab sich die Chance, diese unerfreuliche Tischrunde schleunigst zu verlassen. Die Pflicht rief. Das war bestimmt die Anreise für heute, eine Frau Galinski, die sich für drei Nächte in Zimmer 6 eingemietet hatte. Eine schöne, problemlose, alltägliche Aktion also, die Jannike von den jüngsten Ärgernissen ablenkte.

Doch da hatte sie sich getäuscht. Denn Frau Galinski, eine hagere, nicht unfreundlich wirkende Mittfünfzigerin mit aschblondem Pagenschnitt und silberner Brille, war in Begleitung angereist.

«Sie haben einen Hund?», platze Jannike heraus, noch bevor sie ihren obligatorischen Willkommen-im-kleinen-Inselhotel-Gruß losgeworden war.

Frau Galinski folgte Jannikes Blick und erweckte beinahe den Anschein, dass sie selbst verwundert war, neben ihren Beinen einen weißen, plüschigen Wauwau zu entdecken. «Das ist Pepsi!», entgegnete sie dann, als würde das bedeuten: Nein, das ist kein Hund, sondern irgendetwas anderes, das so ähnlich aussieht, und weil ich ihm einen putzigen Namen verpasst habe, fällt es sowieso in eine andere Kategorie.

Heute kam der Ärger aber auch geballt, dachte Jannike, riss sich zusammen und begrüßte ihren neuen Gast dann doch erst mal, wie es sich gehörte, nahm der Frau das Gepäck ab und legte die Anmeldeformulare bereit. «Entschuldigen Sie, dass ich Sie vielleicht etwas barsch begrüßt habe, doch wir nehmen eigentlich keine Hunde auf.»

«Pepsi ist aber ein Bichon Frisé», war Frau Galinskis Reaktion. Das klang ja, als wäre sie mit einem französischen Patisserieteilchen unterwegs. Bichon Frisé, Baiser Soufflé …, und viel anders sah das Schoßhündchen mit dem glitzernden Halsband auch nicht aus. Jannike überlegte, ob sein zartwollenes Fell nicht vielleicht doch aus Zuckerwatte bestand. Und die schwarzen Knopfaugen aus Mokkabohnen, das Schnäuzchen aus Lakritz. Tja, wäre das Tier eine Süßigkeit gewesen, sie hätte ein Problem weniger gehabt. Aber so?

«Viele unserer Gäste leiden unter Allergien und sind genau deswegen auf die Insel gekommen.»

«Das ist mir klar, doch Bichon Frisé haaren nicht», klärte Frau Galinski auf und relativierte gleich: «Jedenfalls kaum. Pepsi ist ein Allergikerhund! Zudem gut erzogen, leise und absolut stubenrein. Und ich werde ihn auch nicht mit in den Speisesaal nehmen. Versprochen.»

Es war ja nicht so, dass Jannike keine Hunde mochte. Oder Tiere im Allgemeinen. Früher, in ihrer WG in Köln, hatte Dannis Siamkatze Holly bei ihnen gelebt, hier auf der Insel war sie jedoch zur Draußen-Mieze mutiert, die es sich in der hinteren Ecke des Gartens gemütlich gemacht hatte und dort – ungelogen – in trauter Zweisamkeit mit einem wilden Kaninchen lebte. Auch mit den manchmal etwas aufdringlichen Möwen hatte Jannike sich inzwischen arrangiert. Und zugegeben, dieser Hund sah nicht so aus, als könne er großen Schaden anrichten. Dennoch war es nervig, dass Frau Galinski sich einfach über die geltenden Regeln hinwegsetzte. Denn dass ins Hotel am Leuchtturm keine Tiere mitgebracht werden durften, war aus den Buchungsunterlagen eindeutig ersichtlich. So etwas passierte öfter, einige Insulaner hatten Jannike schon ihr Leid geklagt und von Gästen berichtet, die dachten, dass sie ihre drei Kinder nicht extra anmelden müssten, wenn diese doch alle bei ihnen mit im Doppelbett schliefen. Oder von geforderten Preisnachlässen, weil das Hotel keine eigenen Garagenplätze besaß – auf einer autofreien Insel, wohlgemerkt. Und heute hatte es eben sie erwischt: ein Hund im kleinen Inselhotel. Pech gehabt. Es nutzte nichts, heute ging ohnehin keine Fähre mehr zum Festland, und diese eine Nacht mussten Frau Galinski und ihr Pepsi ja schließlich irgendwo ihre Häupter betten.

Jannike könnte Danni um Rat fragen, doch der war heute viel zu sehr mit seinem neuen Familienmitglied beschäftigt. Oder vielleicht sollte sie Mattheusz’ Meinung hören? Nein, auf den war sie sauer, und zwar richtig.

In diesem Moment erschien Bogdana auf der Treppe, einen Eimer in der Hand. Jannikes Hausdame war das Beste, was diesem Hotel hatte passieren können. Die polnische Sauberkeitsexpertin liebte ihren Job und kannte wahrscheinlich jeden noch so vergessenen Winkel in diesem Gebäude, weil sie ihn regelmäßig mit Lappen und Putzzeug blank schrubbte. Doch jetzt, als Bogdana den Hund neben der Rezeption erblickte, ließ sie das erste Mal, seitdem Jannike sie kannte, alles stehen und liegen und kam die Stufen herabgerannt. «Was das ist!» Der Hund kläffte drollig, als er diese kleine, kräftige Frau auf sich zukommen sah. «Oh, mój słodziutki!» Jannike konnte leider noch immer kein Wort Polnisch, aber das dies eben eine Liebeserklärung aus Bogdanas Mund gewesen war, ließ sich nicht fehldeuten. Die sonst so resolute Frau schmolz beim Anblick des Vierbeiners regelrecht dahin.

Die Zuneigung schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen, Pepsi hüpfte aufgeregt auf und ab und wedelte so eifrig mit seinem im Fell versteckten Schwänzchen, dass er beinahe die schmale Bodenvase mit dem Sanddornstrauch darin umgeworfen hätte.

«Jesteś słodka jak cukierek!», rief Bogdana.

«Was heißt das?», fragte Frau Galinski amüsiert.

«Ist so süß wie Bonbons!» Bogdana kraulte die flauschigen Öhrchen. «Liebe ich Hunde wie diese!»

Na, damit war die Genehmigung doch schon so gut wie erteilt, fand Jannike. Und Bogdana war ja im Grunde genau die richtige Ansprechpartnerin für ihren Gewissenskonflikt. «Würde es dir etwas ausmachen, wenn Frau Galinski mit dem Hund …»

«Nein!», unterbrach Bogdana sofort. «Überhaupt nicht!»

«Aber die Haare …»

«Ist das kein Problem!» Bogdana strahlte. «Ich mache alles sauber hinterher. Wie neu, das ganze Zimmer. Für diese süße Bärchen mache ich alles!»

Jannike überlegte kurz, natürlich hatte sie Bedenken. Was, wenn demnächst ein Hundeallergiker … Ach, der würde dann ein anderes Quartier bekommen. Zum Glück hatte Mattheusz im letzten Winter aus allen Hotelzimmern die Teppichböden herausgerissen und Dielen verlegt, die ließen sich viel besser putzen. Außerdem lag das Zimmer 6 etwas abseits der anderen Gästeräume am Ende des Flurs im ersten Obergeschoss, direkt über dem Anbau, in dem sich auch der Fahrradschuppen befand. Sollte der Hund bellen, würde er also nicht unbedingt jemanden stören. Und allein Bogdanas strahlende Augen ließen keine andere Entscheidung zu. Liebe auf den ersten Blick, wenn es so etwas zwischen Mensch und Tier gab. Und es war ja nur für drei Tage.

«Na dann, herzlich willkommen!», sagte Jannike, händigte den Schlüssel aus und führte Frau Galinski und Pepsi in den ersten Stock.

Was die Sache mit den Haufen angeht, ist das hier wirklich eine Riesensauerei.

Selten hat Pepsi dermaßen gewaltige Kötel einfach so herumliegen sehen, braun, bröselig und rund wie die Tennisbälle, mit denen er ab und zu mal spielt. Die nach Pferd stinkenden Klumpen liegen dicht an dicht, so richtig mitten auf der Hauptstraße, wo kleine und große Menschen den ganzen Tag langspazieren – und keiner regt sich auf. Aber wehe, er muss mal ganz dringend und erledigt das sauber und ordentlich auf dem Rasen und in Gebüschnähe, dann treffen ihn gleich diese Blicke, bei denen er froh ist, dass sie bloß von Menschen kommen und nicht von einem Artgenossen, denn das wäre böse ausgegangen. Sogar wenn sein Frauchen gleich mit den Plastiktütenhandschuhen alles wegräumt, immer guckt einer fies. Aber diese Brocken da – so große Säckchen gibt es gar nicht, dass man die mit einem Handgriff wegräumen könnte. Da muss schon jemand mit Schaufel und Schubkarre kommen. Also, jetzt mal ehrlich, was ist denn an seinen Hinterlassenschaften so viel schlimmer als an diesen Pferdeäpfeln? Völlig unverständlich.

Dann diese Gemeinheit mit der Leine. Er versucht es mit seinem Spezialtrick: Das Frauchen von unten herauf anblicken, die Ohren in all ihrer Pracht aufstellen, das Schnäuzchen ein bisschen beben lassen, dazu ein feines Fiepen, wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist. Auf diese Weise bekommt er eigentlich immer alle Wünsche erfüllt, doch die Leine bleibt dran. Obwohl dieser gigantische Sandkasten, über den sie gerade spazieren, das absolute Paradies ist. So viel Platz zum Rennen, aber nein, er muss brav bei Fuß bleiben. Überall liegen Stöckchen herum, in allen Längen, als hätten gerade Tausende von Herrchen und Frauchen mit ihren Vierbeinern gespielt, doch für ihn wird kein einziger aufgehoben und geworfen. Nächster Nachteil hier: Es gibt keine richtigen Bäume. Nur komische bunte Häuser auf Stelzen, die sich zwar auch zum Beinchenheben anbieten, aber ziemlich weit voneinander entfernt sind, also in puncto Reviermarkieren nicht taugen.

Pepsi weiß wirklich nicht, was er von diesem plötzlichen Ortswechsel halten soll. Sonst sind sie ja immer zu Hause, wo er jeden Hund von weitem am Geruch erkennen kann, wo der Napf immer neben der Tür steht und die Zeiten für frische Luft und Auslauf fest geregelt sind. Nun leben sie auf einmal in einem großen Haus mit Garten, in dem es nach Katze und Kaninchen riecht, der Napf steht unterm Fenster, und niemals zuvor ist ihm ein solcher Wind durch das Fell geweht. Na ja, mit ihm kann man es ja machen, er ist schließlich gutmütig, sauber und unkompliziert.

Nur heimlich beneidet er manchmal die anderen Rassen, die laut sind, bissig, knurrig, sabbern, sich im Dreck suhlen und freche Kinder wegbellen. So wie die da hinten. Eine Hündin. Braunes Fell, schlappe Ohren, schöne, seidige Nasenhaare. Und vor allem: eine Duftnote zum Verlieben. Die darf hier am Strand frei herumlaufen. Kümmert niemanden. Nur er darf wieder gar nichts.

Aber wenigstens ist sein Frauchen nicht mehr so traurig. Seit sie hier sind, hat er sie kein einziges Mal heulen sehen. Zu Hause ist das jeden Tag der Fall. Meistens abends, nach dem letzten Spaziergang, wenn er auf den Sessel hüpfen und seinen Kopf auf ihren Oberschenkel legen darf, dann seufzt sein Frauchen, hat rote Augen und tupft mit einem Tuch das Wasser aus dem Gesicht. Oder wenn sie diese andere Frau besuchen, wo er nicht auf die Couch springen darf, obwohl sein Frauchen sich da hinlegt und die ganze Zeit redet und weint und redet und weint. Warum geht sie da überhaupt hin? Die andere Frau sagt nur ganz wenig, lächelt manchmal und hat auf ihren Beinen so etwas Viereckiges, das aus demselben Material besteht wie die Zeitung, die Pepsi morgens immer apportiert. Und ein sehr kleines Stöckchen in der Hand, mit dem sie geschwungene Linien aufmalt. Danach ist sein Frauchen nicht mehr ganz so traurig, aber meistens hält das nicht lange. Diese Traurigkeit kann Pepsi schon im Voraus wittern. Sie ist vergleichbar mit dem Geruch von weicher, feuchter, dunkler Erde im schattigen Wald, wo sie manchmal unterwegs sind. Irgendwie vertraut, und man weiß auch, dass es zu etwas gut ist, dass da etwas tief drinnen steckt, aber man kommt nicht so einfach dran.

Jetzt beißt ihn etwas anderes in der Nase. Sehr unangenehm. Kein Möwendreck, obwohl das auch schmerzhaft sein kann, wenn man den beschnuppert, hat er vorhin mal ausgetestet – nie wieder! Nein, das jetzt riecht anders, erinnert Pepsi an den Tag, als vor dem Haus mal ein Auto gegen seinen Stamm-Laternenpfahl geknallt ist und anschließend schwarzer Rauch aufstieg. Feuer!

Er bellt vorsichtshalber. Oder besser: kläfft. Bellen will ihm irgendwie nicht so richtig gelingen. Die Hündin da hinten hat mehr Wumms in der Stimme. Dagegen wirkt sein Fiepsen wirklich albern. Sein Frauchen versteht zudem wieder mal nicht, was er will. Das kennt er schon, die riecht immer erst, was Sache ist, wenn man es schon sehen kann. Er lässt nicht locker, zerrt ein bisschen an der Leine, kriegt natürlich einen Anschiss deswegen, aber der Gestank wird immer stärker, da muss man doch mal warnen dürfen.

Jetzt, da, schwarzer Rauch. Auf seine Nase kann Pepsi sich nun mal verlassen. Sie werden langsamer, bleiben stehen, schauen zu einem seltsamen, farbigen Kasten, der wie ein Sofa mit Dach drüber aussieht. Das Polster, auf dem es sich bestimmt ganz gemütlich sitzen und ein Nickerchen machen lässt, wird hässlich und dunkel, die Hitze lässt den Bezug Blasen werfen, und das ist es auch, was so furchtbar stinkt. Feuer sieht nämlich interessanterweise immer ganz ähnlich aus, riecht aber grundverschieden. Das Feuer, wenn sein Frauchen in der Wohnung diese Holzstücke anzündet und hinter eine Glasscheibe wirft, riecht scharf, aber gut. Das Feuer, mit dem sie nach dem Essen manchmal das Ende dieses kleinen Stöckchens zwischen ihren Lippen zum Glimmen bringt, riecht würzig, aber wenn es kalt wird, stinkt es ekelhaft. Doch dieses Feuer hier hat etwas Öliges, das Aroma legt sich einem auf die Nase wie ein klebriges Tuch. Scheußlich.

Pepsi würde jetzt gern abhauen. Doch sein Frauchen bleibt stehen und guckt den Flammen zu, als wäre das nun was besonders Tolles. Andere Menschen machen das auch.

Neben ihm steht zum Beispiel einer, der riecht extrem seltsam, erinnert Pepsi an … an dieses besonders blaue Wasser, an dem sein Frauchen und er manchmal vorbeispazieren, wenn es draußen warm ist. Normalerweise hat Pepsi es ja nicht so mit den Farben, sie interessieren ihn nicht, er findet sie langweilig, aber dieses besonders blaue Wasser befindet sich in einem Kasten, und lauter Menschen springen da rein und quieken. Er wollte dann natürlich auch mal hin, denn er liebt Wasser, aber sein Frauchen hat ihn nicht gelassen. «Naaiin!», hat sie gesagt. Es gibt viele Orte, an die man als Hund nicht hindarf, warum auch immer. Dieses besonders blaue Wasser im Kasten gehört anscheinend dazu. Nicht so schlimm. Es riecht ohnehin nicht so gut. Wie dieser Mensch da ganz in ihrer Nähe.

Ein paar andere Leute kommen angerannt, bis nah an den Brandherd. Sie haben lange Schläuche dabei und spritzen mit Wasser. Es zischt und qualmt. Pepsi wird ein bisschen schlecht. Zu viel um die Nase, das kann er nicht gut vertragen.

Die Wasserspritzer bellen, der eine, der besonders dick ist, am lautesten. Scheint der Leitmensch zu sein. Er hat noch ein anderes Ding dabei, aus dem Schaum kommt, damit deckt er den Rest des verkokelten Etwas ab. Was auch immer da gebrannt hat, es ist jetzt nur noch halb so groß, nicht mehr farbig, sondern schwarz, und ganz bestimmt würde sich da niemand mehr gemütlich hinsetzen und ein Nickerchen machen.

Kein Wunder, dass der Leitmensch so sauer ist. Er reckt seinen Arm in die Höhe. Sein Gesicht ist nicht so blass wie sonst bei den Menschen.