Instinct – Der Tod in den Wäldern - David Gray - E-Book

Instinct – Der Tod in den Wäldern E-Book

David Gray

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Beschreibung

Europa in 100 Jahren: Um den Klimawandel aufzuhalten, haben sich die Menschen in hypermoderne Metropolen zurückgezogen und das Land dazwischen zu gigantischen Naturreservaten erklärt. Elena ist Wildhüterin in einer abgelegenen Überwachungsstation mitten in dieser Wildnis. Als sie seltsame Spuren entdeckt, glaubt sie zunächst an Wilderer. Könnten diese hinter dem mysteriösen Verschwinden ihres Vorgängers stecken? Elena und ihr Team gehen dem Rätsel nach, doch dies hat verheerende Folgen, denn die Wahrheit ist ebenso schockierend wie tödlich. Eine unbarmherzige Jagd beginnt …

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Ralf Reiter

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: www.buerosued.de, München

Covermotiv: Andrei Cosma / Trevillion Images

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitate

Motto

1. MetropoleFebruar

1

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2. HauptturmFebruar & März

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3. Der WaldMärz

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4. MassakerMärz

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5. MutterMärz

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Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

»Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, sondern diejenige, die am besten auf Veränderungen reagiert.«

Fälschlich Charles Darwin zugeschriebenes Zitat

»Es ist genug Angst für alle da.«

Holger Biermann, bildender Künstler, 2020

Nichts, wovon auf den folgenden Seiten die Rede sein wird, ist wahr.

Mit Ausnahme derjenigen Gedanken, Dinge und Ereignisse, die ich frei erfunden habe …

1. MetropoleFebruar

1

Die Urne, die man gerade in die Grube senkte, war leer. Sie schwankte daher auffallend zwischen den beiden silbernen Schnüren hin und her, an denen der Bestatter sie in das schmale Loch herabließ.

Achtzig Männer und sechs Frauen standen um das Grab herum. Der größte Teil der Trauergäste trug Ausgehuniform, und eine Ehrenformation aus zwölf Feldhütern präsentierte jetzt ihre Haenel-PX-48-Präzisionskarabiner, aus denen sie in wenigen Augenblicken eine Salve zum Abschied von Feldhüterleutnant Ulf Thomsen abgeben würde.

Elena schaute sich zu Thomsens Schwester und seiner Mutter um, die beide verweint auf die Urne starrten, als fürchteten sie sich vor den Blicken der übrigen Trauergäste.

Der Friedhof lag im Zentralquartier, war alt und voller Buchen und Erlen, aber auch einige prächtige Eschen wuchsen hier. Sie stellten eine Seltenheit dar, weil sie ganz besonders heftig vom großen Baumsterben vor achtzig Jahren betroffen gewesen waren. In den Metropolen hatten es nicht viele Eschen bis zu dieser prächtigen Größe geschafft. Zwischen den Gräbern und auf den Wegen lagen noch Reste von Schnee, grau und schmutzig. Es hatte in diesem Jahr später als sonst geschneit. Selbst, wenn es weniger Schnee gewesen war als erwartet.

Stimmt die Linie?, fragte sich Elena, blickte heimlich zur Seite und überprüfte dabei ihre sechs Kollegen hinter dem zu kleinen Grab, in dem gerade die Urne verschwunden war.

Alles in Ordnung, dachte sie erleichtert. Stand und Haltung ihrer Kollegen waren perfekt vorschriftskonform.

»Kamerad Ulf Thomsen! Unvergessen!«, rief Feldhüteroberstleutnant Demir Hallstein, woraufhin Elena und die Männer in ihrer Linie die Karabiner an die Schultern setzten und eine Salve in den Himmel feuerten.

»Kamerad Ulf Thomsen! Unvergessen!«, wiederholte der Oberstleutnant seinen Ruf, woraufhin eine zweite Salve, ein dritter Ruf und eine dritte Salve folgten.

Elena fühlte sich, anders als offenbar die meisten übrigen Trauergäste, nicht sonderlich ergriffen von den Ritualen, trotzdem vermittelte deren Strenge eine gewisse Sicherheit, die sie wiederum durchaus zu schätzen wusste.

Von den kurzen Reden ihrer beiden Vorgesetzten und der Ansprache des Trauerredners bekam sie kaum ein Wort mit, weil sie sich auf die Blicke und Gesichter der wenigen Zivilisten konzentrierte, die zu Thomsens Trauerfeier erschienen waren und zwischen den Uniformen etwas verloren wirkten. Sie fragte sich, ob achtzig Trauergäste eine gute Zahl war oder doch zu gering für das immerhin über vierzig Jahre währende Leben eines Feldhüteroffiziers, dem man nachsagte, er sei einer der Besten seines Fachs gewesen.

Beim Abtreten verpatzte ihr Kamerad James Herbert Jones seinen Einsatz um eine Sekunde, was einen unprofessionellen Eindruck machte. Herrgott, immer ist es James, der es nicht auf die Reihe kriegt, dachte Elena.

Auf dem Weg zu den Flugbussen mischten sich Zivilisten und Uniformierte. Da Elena keinen der zivilen Trauergäste kannte und auch keine Lust auf die leise geführten Gespräche ihrer Kollegen hatte, hielt sie sich etwas abseits. Offenbar nicht abseits genug, denn Oberst Dorothea Willms tauchte neben ihr auf, hakte sich ungefragt bei ihr unter und schaute verdrossen unter ihrer Schirmmütze hervor zu den dunklen Flugbussen.

»Sie wissen, dass ich mich gegen Ihre Beförderung gestellt habe, Leutnantin Mikoyan?«, fragte Willms.

»Das war nicht zu ignorieren, Frau Oberst«, antwortete Elena vorsichtig, aber wahrheitsgemäß.

Frau Oberst war überdurchschnittlich groß und kurvig, sie hatte dunkle, halblange Locken, war Anfang vierzig und trug neben ihren Rangabzeichen den kleinen Button der Sisterhood of Light am Uniformrevers. Was zwar nicht ausdrücklich untersagt war, aber bei offiziellen Anlässen wie der Beerdigung eines im Dienst gefallenen Offiziers zumindest von schlechtem Geschmack zeugte.

»Ich will nur sichergehen, dass Ihnen meine Gründe dafür klar werden. Ich halte Sie für eine sehr fähige Feldhüterin und ganz klares Offiziersmaterial. Die Führung des Teams, dem die Verantwortung für den östlichen Abschnitt des mitteldeutsch-polnischen Nationalparks obliegt, ist eine der komplexesten Aufgaben in unserem Beruf. Ihre fachlichen Qualifikationen reichen dafür zwar aus, aber ich zweifle an der dafür nötigen menschlichen Reife. Dass man mich bei der Entscheidung überstimmte, kann ich Ihnen selbstverständlich nicht vorwerfen. Doch Ihnen sollte vollkommen klar sein, dass ich Sie sehr genau im Auge behalten werde und Ihre Berufung rückgängig mache, sobald Sie einen Fehler begehen, der zu groß ist, als dass er sich unter den Teppich kehren ließe.«

Na klar, du verklemmte Krähe, dachte Elena bissig. Die mangelnde menschliche Reife, die du mir vorwirfst, ist doch nur vorgeschoben. Eigentlich geht es dir darum, dass ich mich niemals mit deinem blöden Späthippieverein eingelassen habe. Die Sisterhood of Light hatte einst als harmloser Verein für Yogajüngerinnen, Selbstoptimierungsfanatikerinnen, Esoterikerinnen und Tantra-Coaches begonnen. Sie alle vereinte, dass sie der Schulmedizin nicht vertrauten und Psychiatrie und Psychologie für Teufelswerk hielten. Die Pandemiewellen, die zu Beginn und Mitte des 21. Jahrhunderts über die Welt gerollt waren, bescherten der Sisterhood eine Explosion ihrer Mitgliederzahlen. Ihre Mischung aus cremefarbenem Gesundheitsfanatismus und aggressiver Esoterik kam vor allem bei jungen Frauen gut an. Inzwischen setzten sich die Sisters auch für eine Verschärfung der Prostitutionsgesetze, ein Verbot des Verkaufs von Sexpuppen und gegen die Zulassung neuer Stundenhotels ein. Radikalere Teile der Sisterhood petitionierten inzwischen auch für ein vollständiges Abtreibungsverbot von weiblichen Föten.

Elena betrachtete zwar jede Art von Vereinsmeierei mit Skepsis, aber sie fand, dass die Sisterhood mit ihrem weiblichen Ausschließlichkeitsanspruch ganz besonders aus der Zeit gefallen war und sich längst ebenso überlebt hatte wie Rassismus, Benzinmotoren oder Pferdefuhrwerke.

»Ehrlich gesagt, finde ich es geschmacklos von Ihnen, gerade hier meine Karriere zu besprechen, Frau Oberst.«

»Die Sorte von Geschmack, von der Sie reden, Mikoyan, kann frau sich in meiner Position nicht mehr leisten. Aber allein, dass Sie damit anfangen, beweist einmal mehr Ihre mangelnde Qualifikation für die Position, die man Ihnen zugeschanzt hat«, entgegnete Frau Oberst und wünschte Elena noch einen guten Tag.

Elena war zornig und verunsichert. Um sich abzulenken, schaute sie über den Friedhof hinweg zur Skyline der Metropole. Die konnte ihr jedoch auch keine Antwort darauf geben, ob Frau Oberst mit der Analyse ihrer Befähigung zur Kollektivleiterin wirklich so falschlag, wie Elena sich das wünschte.

»Scheiß drauf!«, flüsterte sie schließlich halblaut.

»Genau. Und scheiß auf die Sisterhood!«, antwortete Zweiter Feldhüterobermeister James Herbert Jones neben ihr.

Elena überspielte ihre Selbstzweifel mit einem Lächeln. »Genau, James Herbert! Lauter Yoga-Hippies mit zu viel Geltungsbedürfnis!«

»Klar, kein Wunder, dass Frau Oberst sich in dem Scheißverein so wohlfühlt, was?«, grinste Jones. »Einige von uns haben eine Bar im Seequartier klar gemacht. Bier, Mixgetränke und Cannabis bis zum Anschlag!«

Elena lachte und folgte ihm zu dem autonomen Flugbus, der die siebzig Kilometer Entfernung zum Seeviertel in weniger als einer Viertelstunde überwinden würde.

»Einsteigen!«, riefen die übrigen zwanzig Feldhüter, die bereits im Flugbus saßen. Einige von ihnen förderten Flachmänner aus ihren Uniformen zutage.

Elena klemmte ihren Karabiner in eine Halterung und nickte ihren Kameraden erleichtert zu. Ein Besäufnis, fand sie, wäre womöglich genau das, was ein Doktor mir gerade heute verschrieben hätte, wäre ich so waghalsig gewesen, mich bei einem danach zu erkundigen.

Der Bus hob ab und pendelte sich auf Verkehrsflughöhe ein.

2

Das Seeviertel lag gerade noch im Innenbereich der Metropole und wirkte ein wenig heruntergekommen, ohne sich als ganz und gar vernachlässigt zu qualifizieren. Einige der über zweihundert Jahre alten Gründerzeithäuser erschienen mit ihren Begrünungen sogar malerisch vor den deutlich wuchtigeren Holz-, Glas- und Stahlbauten aus der Anfangsphase der ersten digital-industriellen Revolution.

Elena war schon lange nicht mehr so weit über die Stadt hinweggeflogen. Es ergriff sie jedes Mal, die einzelnen Stadtteile unter sich zu sehen. Sie wirkten wie Städte innerhalb der Stadt. In einem von ihnen hatte sie ihre Kindheit verbracht und später dann einige Semester hier in der Metropole auch studiert. Damals war das Seeviertel etwas besser erhalten gewesen. Es war aber offenbar immer noch dasjenige mit den meisten Vergnügungslokalen, und sogar die fünf Zentren für sexuelle Dienstleistungen existierten noch im Schwarzen Dreieck, einem Block, der schon so lange als Kneipen- und Tanzvergnügenschwerpunkt diente, dass wahrscheinlich schon ihre Großeltern dorthin gegangen waren, um zu komischem Techno zu tanzen oder Konzerte von inzwischen als neuklassisch geltenden Musikkombos zu hören.

Elena mochte die Beständigkeit, die darin lag. Die beiden luxuriösen Muschelhotels am Platz mussten ziemlich neu sein, denn sie konnte sich nicht an sie erinnern. Muschelhotels vermieteten ihre Räume stundenweise an Paare oder Einzelpersonen für Sex. Eines der beiden warb mit der breitesten Kollektion an Liebesspielzeug in der Metropole, während das andere auf seine vollautomatische Bar und den angeblich riesigen Selbstpflege- und Wohlfühlbereich setzte.

Elena kannte das Lokal nicht, das ihre Kameraden ausgesucht hatten, aber sie lächelte, als sie den Haferkornplatz betrat und direkt gegenüber dem Lokal die Denkmäler für Königin Christine, Onkel Fritz, Frollein Dodenhöller und Herrn Kreisler – der Kuh, dem Bullen, dem Legehuhn und dem Truthahn – entdeckte, deren Stammzellen einst die Grundlage für die meisten der heute in der Bundesrepublik verkauften Laborfleischprodukte gebildet hatten. Sie fand die bunten, etwas verrückten Statuen der vier ungleichen Tiere lustig und freute sich, sie wieder einmal zu sehen.

Das Innere des Lokals, das sie dann betraten, war ganz auf urig und rauchig getrimmt. Kopien alter Zeitungen und Familienporträts, wie man sie heute nur noch in Museen sah, schmückten die Wände. Außerdem bediente hier Personal die Gäste und keine Gastroroboter – was für Elena den entscheidenden Unterschied zwischen guten und schlechten Bars ausmachte. Personal war teuer, und das schlug sich in den Preisen nieder, weswegen sie über ihre Kollegen und Kameraden staunte, die bei den Bestellungen nicht aufs Geld schauten. Sie selbst hielt sich zunächst zurück. Es würde keinen guten Eindruck auf ihre Untergebenen machen, fand sie, wenn die sie angetrunken oder von einer der Substanzen auf der hauseigenen Drogenkarte bedröhnt erlebten.

Die Unterhaltung kam rasch in Gang, auch wenn sie sich zunächst nur um die Beerdigung drehte. Später driftete sie in Lästern über Kollegen und Kameraden ab, die man an Thomsens Grab zum ersten Mal seit Langem wieder getroffen hatte. Es war unvermeidlich, dass das Gespräch sich schließlich den Umständen seines Todes zuwandte – selbst wenn der, streng genommen, gar nicht verbürgt war. Seine Urne war immerhin leer gewesen.

»Thomsen war zu gut, um sich von einem Wisent erwischen zu lassen«, rief Zweiter Feldjägerobermeister Alexander Nemzew quer über den Tisch hinweg gerade einer der beiden weiblichen Verwaltungsangestellten zu, die ihren Kragen geöffnet und die Jacke ausgezogen hatte. Sie musste Zweifel an der etablierten These über Thomsens Verschwinden geäußert haben.

Nemzew war viele Jahre Thomsens Beigänger gewesen und hatte mit ihm so einige Abenteuer durchgestanden. Die fingen bei Drohnenversagen an, betrafen unerwartete Begegnungen mit Raubtieren im Park oder Gefechte mit Wilderern. Gerade hatte einer der anderen Nemzew aufgefordert, über eine besonders dramatische Suche nach aus den Metropolen verschwundenen Arbeitsmigranten zu berichten.

Nemzew war ein gut aussehender Mann mit einem V-Kreuz, sehnig-muskulösen Armen und einem klar geschnittenen Gesicht.

Die Verwaltungsangestellte, die er offensichtlich mit seinen Berichten zu beeindrucken versuchte, zählte zu jenen fitten, gesunden jungen Frauen wie die, mit denen Elena vor einigen Jahren Ökobiologie studiert hatte. Sie alle waren fleißig, höflich und gut erzogen gewesen, aber sparten auffallend mit ihren Reizen. Auf Elena, deren Vorfahren einst aus dem Kaukasus hierher emigriert waren, wirkten sie so gefestigt langweilig und in sich ruhend wie ein Teller Biosauerkraut mit Kartoffeln und einer Portion Kulturfleischkassler.

Die Urgroßmütter dieser Frauen hatten noch die Schule geschwänzt, um sich von der Polizei bei Klimademos verprügeln zu lassen, oder hatten die Prestigekunstsammlungen von Ölmilliardären mit Tomatensuppe und Kartoffelbrei beworfen, weil sie aus gutem Grund befürchtet hatten, entweder von Sturmfluten weggespült, von Hitzewellen ausgedörrt, von Diktatoren gefoltert oder Terroristen in die Luft gejagt zu werden. Trotzdem – oder wahrscheinlich gerade deshalb – veranstalteten sie illegale Elektropartys und passten sich später, als die ganz großen Katastrophen ausblieben, nur widerstrebend in die Karrieretretmühlen ein. Ihre Enkelinnen hingegen führten gemessen daran ein Leben, das so prüde, vorhersehbar und eintönig ausfiel wie Hochhausfassaden.

Ihre Urgroßmutter warf Elena zuweilen vor, zu verkopft und eigensinnig zu sein, und behauptete, dass die deutschen Männer dies nicht mochten, weswegen Elena niemals einen Partner finden würde. Aber Elena fand, dass das, was ihre Urgroßmutter für Eigensinn hielt, einfach nur eine gewisse Hartnäckigkeit war, die ihr bisher zumindest in ihrer Karriere nicht geschadet hatte.

Die Verwaltungsangestellte, mit der Nemzew flirtete, streifte eben ihre Jacke wieder über und schloss sie sogar. Trotzdem schaute sie Nemzew weiter kokett an. Seltsame Art, auf eine Anmache zu reagieren, dachte Elena. Schon möglich, dass sie selbst ein bisschen zu nachdenklich war, um so häufig zum Zug zu kommen, wie sie es angesichts ihrer Anziehungskraft gekonnt hätte. Aber dieses Mädchen zählte offenbar zur wirklich prüden Sorte.

Die Bevölkerung der gesamten westlichen Welt schrumpfte in einem nie erwarteten Ausmaß, weil alte Umweltschäden die Zeugungsfähigkeit einschränkten und die Menschen eine gewisse Unlust erfasst hatte, Kinder zu bekommen. Aber, dachte sie, wenn dann schon mal eine zur vollen Geschlechtsreife heranwuchs, war die auch noch so verkniffen, prüde und sterbenslangweilig wie diese Verwaltungsschickse. Kein Wunder, dass die Sisterhood of Light immer mehr an Mitgliederinnen und Einfluss hinzugewann. Diese Sauerkraut-Verwaltungsschickse hatte ihren Mitgliedsantrag sicher auch schon längst ausgefüllt und abgegeben.

Fünf Minuten später bestellte Elena doch eine Cannabiszigarette aus der Drogenmenükarte. Man servierte sie hier altmodisch stilecht in Glasröhrchen und mit Bauchbinde. Nachdem sie die ersten Züge genommen hatte, fühlte sie sich etwas befreiter.

Nemzew wechselte den Platz und setzte sich neben die Verwaltungsschickse, wo er sofort auf sie einzureden begann.

»Und, haben Sie auch eine Theorie über Ulfs Tod?«, erkundigte sich einer der Kameraden aus dem südwestlichen Nationalpark bei Elena.

»Ich glaube nur, was ich sehe. Aber bisher hat nun mal keiner Leutnant Thomsens Leiche gesehen.«

»Ach, kommen Sie schon, Chefin! Jeder hier hat doch eine Meinung dazu!«, rief Nemzew zu ihnen herüber.

»Ich nicht«, antwortete Elena nur teilweise aufrichtig.

Thomsen war vor drei Jahren und zwei Monaten mit einer Drohne in östlicher Richtung ins Parkinnere geflogen. Er hatte dazu weder eine offizielle Autorisation gehabt, noch war in den digitalen Logbüchern ein Notfall vermerkt gewesen, dem er hätte nachgehen müssen.

Die letzten automatisierten Statusmeldungen der Drohne waren von einem Savannengelände gekommen, das regelmäßig von Wisenten als Weide genutzt wurde.

Als einige Stunden später die Suchkommandos dort ankamen, fanden sie seine Drohne unbeschädigt vor und folgten Thomsens Spuren zu einem etwa achtzig Hektar großen Waldstück, in dem sie sich unvermittelt verlor. Selbst die Untersuchungen mit Restspurenaufbereitern, Metallsonden und extra in den Park eingeflogenen forensischen Spezialisten förderten keine brauchbaren Spuren zutage. Und das war so geblieben, bis man Thomsen im Januar für tot erklärte und seine Beerdigung auf diesen Samstag im März ansetzte.

»Thomsen war mein bester Freund! Auf Thomsen!«, rief Nemzew plötzlich und hob sein halb gefülltes Bierglas.

Du hast doch auch keine plausible Erklärung dafür, was ihm zugestoßen ist, dachte Elena. Und du kannst hier den pathetisch-tragischen Helden geben, solange du willst, aber wenn bei der Hauptturmwache in der Wildnis gegen drei oder vier Uhr morgens die Erinnerungsdämonen kommen, hast du genauso viel Angst vor der wilden Weite da draußen wie wir anderen.

»Thomsen, Thomsen, Thomsen!«, brüllten sechs oder sieben der Männer und schlugen dazu im Takt ihre Gläser auf den Tisch.

Das, dachte Elena, wird ein Drei-Cannabis-Zigaretten-Abend.

Mindestens.

3

Elena lag in der Badewanne ihrer Wohnung und ließ sich von klassischer Populärmusik berieseln. Sie mochte es zuweilen nostalgisch, und gerade lief eine irische Punkband namens Touts, die über die Unmöglichkeit von Vergessen und die hartnäckige Erinnerung an Bürgerkriege sang.

Der Zufallsgenerator ihres Kom schlug ihr nach den Touts einen Künstler namens Kanye »Ye« West vor, dessen Name ihr nichts sagte und der sowieso zu sehr nach Rap aussah. Das war nichts, worauf sie stand. Hip-Hop und Rap waren wie Jazz – längst nur noch etwas für Connaisseure und Experten für Popgeschichte. Dieser blöde Algorithmus war angeblich intelligent, dachte sie mit missmutig geschürzten Lippen, trotzdem schlug er ihr nach Kanye eine deutsche Band namens Fanta Vier vor, von der sie ebenfalls noch nie etwas gehört hatte.

Sie war seit fast sechs Wochen in der Stadt, und allmählich wurde es Zeit, zurück in den Park zu kommen. Den größten Teil ihres Aufenthaltes hier hatte sie mit einem Personalführungskurs oder Bürokratie verbracht, die mit ihrer Beförderung zur Kollektivleiterin zusammenhing.

Außerdem hatte sie ihre Urgroßmutter in dem Mehrgenerationenhaus besucht, war am Grab ihrer Mutter und Großmutter gewesen und hatte – wieder einmal – vergeblich versucht, ein Abendessen mit ihrem Vater zu arrangieren, der jedoch so von Arbeit und seiner neuen Flamme eingenommen war, dass er ihr Essen zweimal absagte. Jetzt war er unterwegs nach Prag, wo er an der Karlsuniversität eine Rede über die Geschichte des Neoschamanismus hielt. Obwohl er von Haus aus Literaturwissenschaftler war, hatte er es nach einem Buch über den Niedergang der christlichen Kirchen zu einer gewissen Berühmtheit als Experte für neuere Religionen gebracht.

Sie verdrängte jeden Gedanken an das seltsame Verhältnis zu ihrem Vater, das von einem regelmäßigen Wechsel aus Nähe und Distanz geprägt war. Eine Berührung auf ihrem Kom sorgte dafür, dass die Wände ihres Badezimmers mit dem Video des legendären Idiot Prayer-Livekonzerts von Nick Cave im Alexanderpalast in London gefüllt wurden, aufgenommen im Pestjahr 2020. Sie erinnerte sich an einen alten Werbespruch, den sie in einem historischen Film gesehen hatte: »Mittendrin statt nur dabei«.

Genauso fühlte es sich jetzt an, hier in der Wanne liegend, ihren Kopf gegen ein Kissen gelehnt, während sie Nick Cave zuhörte.

Zu Beginn ihres Stadturlaubs hatte sie seit Ewigkeiten wieder Sex gehabt. Und zwar ziemlich befriedigenden Sex.

Kamil Aziz war Spanier, diente als Feldhüterleutnant im Brüsseler Zentralbüro und hatte einen der Vorträge in ihrem Kurs für Personalführung gehalten.

Kamil war etwas jünger als sie. Elena mochte grundsätzlich eher den ruhigeren Sex, aber trotz eines etwas zu stürmischen Beginns verlief ihre Begegnung letztendlich sehr befriedigend.

Kamil hatte sie nach dem Vortrag in sein Hotelzimmer eingeladen, Elena bestand jedoch darauf, in ihre eigene Wohnung zu fliegen, wo sie sich sicherer fühlte und ihn jederzeit hätte hinauswerfen können, falls er sich als zu übergriffig, ungeschickt oder schlichtweg nervig erwiesen hätte.

Für ein sexuelles Abenteuer, von dem beiden klar war, dass es keine Andeutung auf irgendeine Art längerer Beziehung beinhaltete, war ihre Begegnung überraschend vertraut und offen ausgefallen.

Kamils Vorfahren waren mit der letzten großen Flüchtlingswelle Anfang der Dreißigerjahre aus Marokko übers Mittelmeer gekommen und hatten sich in Spanien niedergelassen, wo bereits sein Vater bei den Feldhütern diente. Vielleicht, dachte sie jetzt, hatte sie über die reine sexuelle Anziehungskraft, die sie vom ersten Moment an gespürt hatten, ja auch ihr gemeinsamer Migrationshintergrund einander nähergebracht. Angeblich dauerte es mehr als zwei Generationen, dieses latente Gefühl, trotz allem fremd im eigenen Land zu sein, gänzlich loszuwerden.

Elenas Urgroßmutter kam nach dem vorletzten Armenienkrieg ganz allein mit einem Baby an der Brust und einem weiteren im Bauch über den Landweg nach Berlin und erfuhr dort, dass ihr Mann auf der Nordbalkanroute von einem Frontexbeamten erschossen worden war. Heute war sie siebenundneunzig, lebte in einem Mehrgenerationenhaus, versank immer häufiger in Erinnerungen an ihre Kindheit und betrachtete an wachen Tagen die Gemeinschaftsküche als ihr ganz persönliches Königreich. Sie stritt regelmäßig mit ihren Mitbewohnern, weil die sie hartnäckig zur Veganerin zu erziehen versuchten. Aber einer der großen Vorteile von Elenas Posten war das Wildbretkontingent, das man Feldhütern zugestand, sodass die Versorgung ihrer Familie mit echtem Wisent-, Rotwild- oder Wildschweinfleisch jederzeit gewährleistet war. Solange sie lebte, auf ihren beiden Beinen stand und selbst kochen konnte, würde es ihrer Urgroßmutter nicht an einem Braten im Ofen mangeln, mit dessen Duft sie ihre Mitbewohner ärgern konnte.

Elena selbst genügte in der Regel das Kulturfleisch, das es überall in den Onlinesupermärkten gab, zumal sie während der monatelangen Außendienste draußen in den Haupttürmen im Parkinnern genug frisches Wild auf den Teller bekam.

Kamil hatte ihr nach dem Sex zu ihrer Beförderung gratuliert und schien sie sogar dafür zu bewundern, es mit Ende zwanzig bereits zur Kollektivleiterin gebracht zu haben. Was ihr nach Oberst Willms’ Vorwürfen, sie sei ungeeignet für ihren Posten, gutgetan hatte.

Elena fand das Schweigen, das er hin und wieder zuließ, angenehm, weil es von seiner Selbstsicherheit zeugte. Es war jedoch unvermeidlich gewesen, dass Kamil schließlich auf das Verschwinden ihres Vorgängers zu sprechen kam. Der Fall Ulf Thomsen hatte damals bei sämtlichen europäischen Kameraden Aufmerksamkeit erregt, und die Berichterstattung im Vorfeld seiner Beerdigung hatte das Interesse erneuert.

Sie erklärte, dass man Thomsens Verschwinden als Unfall zu den Akten gelegt hätte – selbst wenn einige ihrer Kameraden und Kameradinnen sich nicht damit hatten abfinden wollen, dass man die Suche nach ihm endgültig aufgab. Feldhüter war ein gefährlicher Beruf. Die Ehrentafel der Gefallenen im mitteldeutschen Hauptquartier enthielt elf Namen von Frauen und Männern, die seit Gründung des Parks im Dienst ihr Leben gelassen hatten. Nur Berufssoldaten, Eisenbahngleistechniker, Drohnentestpiloten und Polizisten verloren noch öfter ihr Leben im Dienst als Feldhüter.

Kamil hatte nicht widerstehen können, seine eigene Theorie zu Thomsens Verschwinden aufzustellen. Er glaubte, ihr Vorgänger sei einem Wisent zum Opfer gefallen, woraufhin Aasfresser seine Überreste verschleppt und vertilgt hätten. Diese Erklärung mochte banal sein, aber sie war realistisch. Immerhin waren vier der elf Feldhüter, deren Namen man in die Ehrentafel im Hauptquartier eingraviert hatte, Begegnungen mit Tieren zum Opfer gefallen.

Elena glaubte trotzdem nicht daran, dass Thomsen von einem Wisent zertrampelt oder einem Raubtier gerissen worden war. Zwar durchstreiften Dutzende Wolfsrudel und auch einige Bären regelmäßig das Gebiet, in dem er verschwunden war, und es gab dort auch Herden von Wisenten, die Menschen gefährlich werden konnten. Aber Elena war überzeugt, dass man während der intensiven Suchaktionen damals auf Spuren und Reste der Leiche hätte stoßen müssen. Zumal die Überwachungsdrohnen Standorte und Zugmuster sämtlicher Herden und Raubtiere zur fraglichen Zeit recht exakt aufgezeichnet und dabei keinerlei Unregelmäßigkeiten registriert hatten. Selbst, wenn einzelne Tiere den Drohnen entgangen sein sollten, schien ihr unwahrscheinlich, dass Thomsen einem dieser Einzelgänger zum Opfer gefallen war.

Die zweite, nahezu ebenso populäre These zu Thomsens Verschwinden erschien ihr sogar noch unwahrscheinlicher. Denn die besagte, dass er Wilderern in die Quere gekommen und von ihnen getötet worden war. Woraufhin sie seine Leiche anschließend irgendwohin transportiert und sie unbehelligt von den Suchtrupps begraben hatten.

Wilderer waren tatsächlich ein Problem. Besonders kurz nach Einrichtung der Parks hatte die Wilderei sich als echte Plage erwiesen. Es existierten nur noch wenige, streng überwachte Herden von Schlachttieren, und echtes Biofleisch war überall in der EU unverschämt teuer. Bis heute herrschte besonders bei Teilen der unterqualifizierten und ärmeren Bevölkerung eine hartnäckige Abneigung gegen das auf Nährlösungen herangezogene Kulturfleisch, obwohl das rein biologisch keinerlei Unterschiede zu Fleisch von Weiderindern, Schweinen oder Geflügel aufwies. Bei den Wohlhabenden hatte es einige Zeit für schick gegolten, zu Dinnerpartys illegal geschossenes Wildbret zu servieren. Und es fanden sich immer Leute, die für gute Gewinne hohe Risiken eingingen. Die Aktivitäten der Wildererbanden waren bei Thomsens Verschwinden jedoch schon länger rückläufig gewesen. Konsequente Verfolgung durch Feldhüter und Polizei hatte dafür gesorgt, dass ihr Risiko, erwischt und eingesperrt oder gar erschossen zu werden, gefährlich anstieg. Aktuell waren es vor allem organisierte Banden, die in den Parks wilderten, und sie taten es erst in zweiter Linie für das Fleisch, weil die höheren Gewinne aus den Trophäen – Fellen, Hörnern, Geweihen oder Raubtierzähnen – zu erzielen waren. Die zu besitzen oder als Schmuck zu tragen, war unter einer bestimmten Schicht wohlhabender Anhänger verschiedener Neoschamanen zum Statussymbol geworden. Die Wilderer, die diesen Markt bedienten, waren Profis, die in der Regel sehr genau wussten, wie man den Feldhütern aus dem Weg ging.

Außerdem war Thomsen tief im Inneren des Parks verschollen – zu weit für die gewöhnlichen Transportdrohnen, die die Profiwilderer nutzten. Die hätten auch kaum das Risiko eingehen müssen, sich so weit ins Herz des Parks vorzuwagen, wie Thomsen es getan hatte. Schon ein paar Dutzend Kilometer hinter den Parkbegrenzungen erwartete sie reichlich Beute. Bei einem Raubzug von Wilderern kam es auf Schnelligkeit und Präzision an. Je tiefer sie in den Park eindrangen, desto höher fiel ihr Risiko aus, von der Luftüberwachung entdeckt, gestoppt und verhaftet zu werden.

Während Elena Kamil ihre Zweifel an seiner Theorie erläuterte, hatte er seine große, etwas raue Hand flach auf ihren Bauch gelegt. Was sich sexy und sicher zugleich angefühlt hatte.

»Das verstehe ich«, gab er zu. »Aber wenn er keinem Unfall zum Opfer fiel und auch nicht von Wilderern getötet wurde, was ist ihm dann passiert?«

Elena hatte ihre ganz persönliche Hypothese zu Thomsens Verschwinden bisher für sich behalten. Nicht einmal mit ihren Vorgesetzten oder den Kameraden im Hauptturmkollektiv hatte sie die je geteilt. Kamils Hand auf ihrem Bauch fühlte sich immer noch so sicher und selbstverständlich an, und er würde in ein paar Stunden in einen Expresszug steigen, um nach Brüssel zurückzukehren. Es gab keinen Grund für Zurückhaltung.

»Am Rande des Quadranten, in dem er verschwand, liegt ein Geisterdorf. Das ist zwar auch überprüft worden, aber nur aus der Luft, weil ihm damals keiner zugetraut hatte, dass er allein zu Fuß dahin gegangen wäre, wenn er mit der Transportdrohne auch dort hätte landen können. Es sind über dreißig Kilometer Wegstrecke durch teilweise dichte Bewaldung von dem Ort, an dem er seine Drohne landete, bis zu dem Geisterdorf. Ich glaube trotzdem, dass er dort ist.«

»Hm, weshalb sollte er dorthin laufen, wenn er hätte fliegen können? Was hat er denn in dem Geisterdorf gewollt?«, sagte Kamil und stützte den Kopf auf seine freie Hand.

»In unserem Park sind in den letzten zwölf Jahren drei weiße Wisentkälber geboren worden«, antwortete Elena. »Zwei sind inzwischen tot. Aber das letzte war ein Bulle, und der hat nachweislich drei Jahre überlebt. Ich glaube, dass Thomsen dort draußen war, um ihn zu schießen. Dabei suchte er in einem der Häuser Schutz und hatte dort einen Unfall. Die Häuser sind extrem baufällig. Da bricht man schon mal durch eine Decke oder fällt in einen Keller. Ganz allein dort draußen? Vielleicht mit einem gebrochenen Bein? Das ist ein Todesurteil.«

Kamil hatte einige Zeit erstaunt geschwiegen.

»Ein weißes Wisentfell ist Unsummen auf dem Schwarzmarkt wert. Haidur oder Hel würden dafür wahrscheinlich sogar Morde begehen«, antwortete er schließlich. Haidur und Hel waren die beiden Neoschamanen mit der größten Anhängerschaft in Mitteleuropa. Ihre Rituale füllten Stadien, und ihre Auftritte in den Metaräumen wurden von Millionen angeklickt.

»Klar, aber ich glaube nicht, dass er korrupt war und den weißen Bullen schießen wollte, um dessen Fell zu verschachern.«

»Sondern?«

»Thomsen wollte den Bullen töten, weil er ihn für eine Abnormität hielt, der er keine Existenzberechtigung in seinem Park zugestand.«

Kamil hatte überrascht seine Hand von ihrem Bauch genommen.

Den Moment, in dem er sie so ungläubig anschaute und seine Hand von ihrem Bauch zog, hätte sie lieber vergessen. Obwohl er es zu überspielen versuchte, spürte sie, dass er ihr nicht glaubte. Aber im Gegensatz zu ihm hatte sie Thomsen gekannt und einige Zeit mit ihm im Hauptturm gedient. Bei monatelangem Dienst auf engstem Raum lernte man sich zwangsläufig besser kennen, als einem lieb sein konnte. Thomsen war offen und mutig gewesen, absolut verlässlich, wenn es galt, einen von ihnen aus einem Schlamassel zu helfen. Aber er hatte eben auch eine dunkle Seite gehabt.

Weil Kamil ihr offenbar nicht glaubte, erzählte Elena ihm nicht, weshalb sie so sicher war, dass Thomsen unterwegs gewesen war, um den weißen Bullen zu schießen.

Drüben im Wohnzimmer schrillte der Weckton, den sie gesetzt hatte, um rechtzeitig vor der Besprechung mit ihrem Vorgesetzten Franz Hanka aus dem Bad zu kommen.

Elena unterbrach abrupt Nick Caves Lied, stieg aus der Wanne und trocknete sich in der Luftdusche ab, bevor sie einen grauen Kapuzenpullover, Höschen und die olivfarbene Cargohose ihrer Felduniform überstreifte.

Weil sie noch einige Minuten Zeit hatte, brühte sie sich einen Tee und ging mit dem dampfenden Becher in der Hand zum Schreibtisch im Wohnzimmer. Die Besprechung würde in einem der Metaräume des Hauptquartiers stattfinden, was es Elena ersparte, ihre Wohnung verlassen zu müssen. Ihr offizieller Titel lautete »Dienstantrittsvergatterung«, und Elena rechnete damit, dass sie einige Stunden dauern würde. Thema der Besprechung war ihr bevorstehender Einsatz im Zweiten Hauptturm des Parks – ihr erster als Kollektivleiterin. Trotz des Tees und des entspannenden Bades ergriff sie eine gewisse Spannung. So fühlte sich wohl Lampenfieber an, dachte sie.

Angesichts der Trockenheit der letzten Tage und der erweiterten Wetterprognosen, die sie heute Morgen überprüft hatte, ging sie davon aus, dass ihr Vorgesetzter bei der Besprechung auf die gestiegene Brandgefahr im südöstlichen und nordwestlichen Quadranten hinweisen würde. Dort befanden sich große Flächen, die von Buschwerk bedeckt waren, das teilweise im vergangenen Winter abgestorben und jetzt so ausgetrocknet war, dass es sich bei den ersten Frühjahrsgewittern entzünden könnte.

2. HauptturmFebruar & März

4

Die XC60-»Wiesel«-Transportdrohne war alt, und ihr Antrieb bestand aus einem schwachen Wasserstoffaggregat aus den Vierzigerjahren. Sie wog immerhin um die acht Tonnen und erinnerte mit ihrer Keilform, den beiden Stummelflügeln, den Propellerantrieben und dem Tarnanstrich eher an einen kleinen Panzer als an ein Fluggerät. Keiner traute der veralteten Autosteuerungssoftware, sodass Hassan Runggaldier, das jüngste Mitglied von Elenas Feldhüterkollektiv, es nicht wagte, die Steuerkanzel zu verlassen. Seit zehn Minuten saß er konzentriert an den Steuerhebeln und schaute aus der breiten Frontscheibe auf die Stadtlandschaft hinaus, die das Wiesel mit geruhsamen achtzig Stundenkilometern überflog.

Im Mannschaftsraum der Drohne herrschte keine ausgelassene Fröhlichkeit.

Nemzew wirkte verkatert und hatte außer einem genuschelten »Moin« bei seiner Ankunft am Drohnenhafen kein Wort über die Lippen gebracht. James Herbert Jones hatte vor einigen Minuten zum dritten Mal vergeblich versucht, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, es aber nach einem verärgerten Blick von Nemzew endgültig aufgegeben.

Auch Elena war nicht nach Konversation zumute. Während der nächsten dreieinhalb Monate draußen in der Wildnis würden sie alle noch genug miteinander reden. Erfahrungsgemäß würde nicht jedes dieser Gespräche angenehm verlaufen. Bei ihrer Vergatterung gestern hatte zwar die erhöhte Brandgefahr in den südöstlichen und nordwestlichen Quadranten tatsächlich eine wichtige Rolle gespielt, doch den Hauptteil der Sitzung hatte Major Hanka Personalfragen gewidmet. Er betonte, dass sie Alexander Nemzew ganz besonders im Auge behalten sollte, weil er mehrfach Außeneinsätze dazu genutzt hatte, nach seinem verschollenen Freund Thomsen zu suchen. Hanka fand das zwar »menschlich nachvollziehbar«, aber der Fall Thomsen war spätestens mit der Beisetzung abgeschlossen, und man konnte es sich nicht leisten, wertvolle Ressourcen an aussichtslose Privatmissionen zu verschwenden.

Bisher hatte Nemzew als kommissarischer Kollektivleiter größere Freiheit bei der Auswahl seiner Flugziele gehabt und konnte so nahezu ungehindert dieser Suche nachgehen, wann immer keine akuten Probleme anstanden, die seine Aufmerksamkeit erforderten.

»Er wird bestimmt versuchen, Sie herauszufordern, aber ich vertraue da ganz auf Ihr Fingerspitzengefühl, Elena. Lassen Sie einfach nicht zu, dass er Ihnen unter die Haut geht«, hatte Hanka ihr zum Schluss geraten.

Elena hatte ihre erste Vergatterung als Kollektivleiterin mit einem italienischen Wein und zwei leichten Cannabiszigaretten gefeiert und war danach früh zu Bett gegangen. Ihre Sachen waren gepackt, und sie schlief am Vorabend eines neuen Einsatzes sowieso nie gut, sodass sie früher als nötig aufgewacht war und sich länger als üblich am Rudergerät abquälte und anschließend sogar noch ihren Sandsack mit Kickboxtritten bearbeitete. Danach hatte sie geduscht und war noch im Dunkeln zum Drohnenhafen aufgebrochen.

Dort hatte Hassan bereits gewartet und sich nach einer knappen Begrüßung über die alte Drohne ausgelassen, die man ihnen für diesen Außeneinsatz zugewiesen hatte. »Das Teil hätte längst ausgemustert werden müssen, Chefin! Ich garantiere bei dem Ding für nichts.«

Hassan war der Techniker und Sanitäter des Kollektivs und so biodeutsch wie Dresdner Christstollen. Er war Anfang zwanzig, aufmerksam und nach eigener Auskunft zufrieden mit seinem Leben. Während der Turmdienste zockte er hin und wieder mit Nemzew und James Herbert Jones in einem Metaraum Kriegsspiele. Wobei er gegen Nemzews Reaktionsschnelligkeit und Ruchlosigkeit kaum je einen Stich hatte. Er befasste sich hin und wieder selbst nach Dienstschluss mit Laborarbeiten, sammelte seltene Pflanzen und füllte akribisch die Lücken im Logbuch, das jede Hauptturmwache der Feldhüter zu führen hatte. Als Techniker war er talentiert und wusste das auch. Verglichen mit Nemzew und Elena selbst, ging er höchstens als durchschnittlicher Schütze durch, aber die beiden belegten eben auch regelmäßig die Spitzenplätze in den internen Wettbewerben der mitteldeutsch-polnischen Feldhütereinheit. Seine Art, sich zu bewegen, ganz gleich, ob draußen im Park oder auf den Straßen der Metropole, war die effizienteste, die Elena je an einem Menschen beobachtet hatte. Sie spiegelte vielleicht einfach nur seine innerliche Aufgeräumtheit wider, um die Elena ihn hin und wieder heimlich beneidete.

James Herbert Jones, der sich in den Drohnensitz neben Elena geschnallt hatte, war sechs Jahre älter als Hassan. Er war mittelgroß, achtete auf seine Figur und ging selbst im Winter kaum je ohne Sonnencreme in den Park, weil er fürchtete, dass seine ungewöhnlich zarte, helle Haut mit der Zeit dieselbe lederhafte Anmutung annehmen könnte wie Nemzews. James Herbert war Single, schwul und führte angeblich ein ausschweifendes Sexleben in der Metropole. Obwohl er kein intellektueller Gipfelstürmer war, hatte er an einigen Verhaltensstudien größerer Säugetiere mitgewirkt und hätte jederzeit auch als Wissenschaftsassistent an einer Metropolenuniversität eine Anstellung bekommen. Doch er zog den Posten als Feldhüter vor, obwohl er es bei seinen Qualifikationen und Dienstbewertungen sicher nie zu mehr als zum Rang eines Ersten Feldhüterobermeisters bringen würde. Was bedeutete, dass er für immer Befehlsempfänger blieb. Als Fährtenleser war Nemzew ihm deutlich überlegen, und die Wetterdaten und Populations- und Herdenbewegungsmuster, die er zu dokumentieren hatte, waren auch nichts, was einen erwachsenen, durchschnittlich intelligenten Mann überfordert hätte. Das einzige herausragende Talent, das Elena in ihm sah, bestand darin, dass er unter ihnen der beste Koch war.

James Herberts Neigung zu Schweißausbrüchen und seine stets etwas gehetzt wirkende Atemweise stießen Elena insgeheim ab, doch sie war sich auch klar darüber, dass er loyal war und man sich in der Wildnis jederzeit auf ihn und seinen Gemeinschaftssinn verlassen konnte.

Blieb noch Alexander Nemzew, der Mann, der nicht aufgeben würde, das Rätsel um das Verschwinden von Ulf Thomsen aufzuklären. Er war mit Abstand der älteste und erfahrenste in der Truppe. Eigentlich hätte er längst vom Zweiten Obermeister zum Offizier befördert werden sollen. Major Hanka hatte Nemzews immer wieder verschobene Beförderung damit erklärt, dass er es wiederholt versäumt hätte, sich für die letzten beiden Qualifizierungskurse einzuschreiben. Elena ahnte jedoch, dass das eine Ausrede war. Was Nemzews Karriere im Wege stand, waren in Wahrheit weder Trägheit noch mangelnder Ehrgeiz, sondern der Fakt, dass er darauf bestand, ausschließlich in einem der drei Türme im mitteldeutsch-polnischen Park zu arbeiten, und deswegen jede Versetzung von vornherein ablehnte. Offiziere wurden vom Hauptquartier jedoch grundsätzlich alle vier Jahre versetzt, um einerseits ein zu enges Verhältnis zu ihren Untergebenen zu verhindern und andererseits sicherzustellen, dass sie ihre in den jeweiligen Parkabschnitten gesammelten Erfahrungen auch in anderen Gebieten zur Anwendung bringen konnten.

Nemzew war intelligent, und seine Erfahrung, kombiniert mit seinem Talent zum Fährtenlesen und seiner Sicherheit als Schütze, machte ihn im Feld jedem Kollegen überlegen. Elena war die Einzige im Kollektiv, die es beim Schießen beinahe mit ihm aufnehmen konnte. Zweifellos hätte Nemzew Oberst Willms’ Einschätzung, dass Elena als Teamleiterin ungeeignet war, vorbehaltlos zugestimmt.

Er war groß und wirkte trotz seines V-Kreuzes eher sehnig als muskulös. Sein Gesicht mit den dünnen, aber gut geformten Lippen hatte etwas altertümlich Kantiges an sich, und er bewegte sich bedächtig, so als führe er jede Geste, jeglichen Schritt nur mit einem gewissen Widerwillen aus. Thomsen, der gedrungener gebaut gewesen war, sich hektisch bewegte, stets schneller als nötig ging und dessen Gesicht fleischig und verlebt gewirkt hatte, hatte schon äußerlich einen solchen Kontrast zu Nemzew gebildet, dass Elena sich zuweilen fragte, ob die beiden Männer wirklich so eng befreundet gewesen waren, wie Nemzew behauptete. Vielleicht suchte Alexander Nemzew ja gar nicht aus reiner Freundschaft und Trauer so hartnäckig nach einer Antwort auf das Rätsel um Thomsens Verschwinden, sondern weil er sich tief in seinem Innern aus irgendeinem Grund mitschuldig daran fühlte.

Unter ihnen lagen die Schienen der Expressbahn, die die mitteldeutsche Metropole mit der Berliner und den drei norddeutschen verband. Sie schnitt eine sechsgleisige Schneise zwischen die letzten Vorstädte und die ersten Landwirtschaftsflächen für die Zucht von Gemüse, die sich bis zu den Sperrzonen um die Parkgrenzen hinzogen. Obwohl es auch in den Metropolen große, voll automatisierte Gewächshäuser gab, reichte deren Kapazität nicht, um den Bedarf der Bevölkerung zu decken. Zwischen den von Robotern bewirtschafteten Feldern ragten Windparks auf, die Hassans Aufmerksamkeit erforderten, weil viele der Windräder bis in ihre Flughöhe ragten und er ihnen auszuweichen hatte.

Die Expresszüge des TGV und ICE waren deutlich schneller als Transportdrohnen und hatten den innereuropäischen Flugverkehr nahezu vollständig ersetzt. Nur für einige Dutzend Langstrecken lohnte sich Fliegen in Europa noch. Zumal die Waggons der Züge üppig eingerichtet waren. Sie verfügten sowohl über Betten als auch private Arbeitsstationen und boten eine weite Auswahl an Unterhaltungsmöglichkeiten. Kein Flugzeug konnte bei dieser Ausstattung mithalten. Vier der Gleise dienten dem Güterfrachtverkehr, die übrigen den Passagierzügen.

»Mann, das Ding ist so alt, die haben in der Betriebsanleitungssoftware sogar noch einen Teil in Englisch!«, wunderte sich Hassan eben in der Steuerkanzel.

»Kannste kein Englisch? Haste in der Schule nicht aufgepasst, oder wie?«, neckte ihn James Herbert Jones. Dessen Englisch war perfekt, weil seine Eltern aus Schottland stammten, in einer Bank in der Rhein-Main-Metropole arbeiteten und ihn zweisprachig aufgezogen hatten.

»Mann, ich hatte Deutsch, Spanisch, Französisch und Russisch, aber doch kein Englisch! Das ist bloß noch was für Idioten, Amerikaner und Diplomaten!«, antwortete Hassan gereizt.

Die Koms beherrschten Spontanübersetzungen und Besprechungen in über hundert Sprachen. Sprachlehrer und Übersetzer waren längst überflüssig geworden. Dass Hassan mehr als drei Fremdsprachen beherrschte, machte ihn zu einer krassen Ausnahme.

»Schotten und Iren sprechen auch Englisch«, berichtigte Nemzew ihn träge.

Ende der Leseprobe